Briefe von niemandem

Mr. und Mrs. Dursley im Magnolienring Nummer 8 waren stolz darauf, ganz und gar normal zu sein, sehr stolz sogar. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sie könnten sich in eine merkwürdige und geheimnisvolle Geschichte verstricken, denn mit solchem Unsinn wollten sie nichts zu tun haben.

Mr. Dursley war ein mittelgroßer, sehr beleibter, um nicht zu sagen fetter Mann mit glatten, blonden Haaren, die er stets akkurat und ordentlich gescheitelt trug. Seine kleinen, wässrigen blauen Augen ließen sein ohnehin schon sehr rundes, rosanes Gesicht stark dem eines Schweins ähneln. Mr. Dursley war der Leiter einer Firma namens Grunnings, die Bohrmaschinen herstellte, und verdiente in diesem Posten nicht schlecht.

Seine Frau Cloe war schlank, hübsch, und hatte langes schwarzes Haar und braune Augen. Sie war Hausfrau und Mutter und wenn sie nicht gerade irgendetwas arbeitete, stand sie am Gartenzaun und tratschte mit der Nachbarin.

Cloe und Dudley Dursley hatten auch eine Tochter. Sie war 10 Jahre alt, hatte schwarzes Haar und beeindruckend grüne Augen. Ihr Name war Evelyn.

Es war ein ganz normaler Tag im August, mitten in den großen Ferien, und die drückende Schwüle des Sommers lag lastend über den Häusern des Magnolienringes. Familie Dursley saß beim Mittagessen. Dudley langte ordentlich zu, er schaufelte das Kartoffelpüree und die Bohnen in sich hinein, als habe er seit Tagen nichts zu essen bekommen. Cloe saß aufrecht am Tisch und schnitt mit einem Lächeln ihr Steak in kleine Stückchen. Nur Evelyn hockte lustlos über ihren Teller gebeugt und stocherte mit der Gabel darin herum.

„Evelyn, hast du keinen Hunger?", fragte Cloe freundlich. Das Mädchen schüttelte nur den Kopf. Aus den Augenwinkeln warf sie ihrem Vater einen angeekelten Blick zu.

„Liebling, du musst etwas essen!", sagte Cloe und seufzte. Sie hob die Hand, um Evelyn über das Haar zu streichen.

„Lass das, Mum!", meinte das Mädchen genervt und zog den Kopf weg. Cloe Dursley sah betreten wieder auf ihren Teller und fuhr damit fort, ihr Steak zu zerkleinern.

„Was gibt es neues im Büro, Schatz?", wandte sie sich nun an ihren Mann. Dudley schluckte den Bissen, den er gerade im Mund hatte, herunter und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen.

„Eigentlich nichts", erwiderte er, „wir werden wohl die Personalkürzung in der Marketingabteilung durchführen, aber das ist ja nichts neues."

Evelyn rollte mit den Augen und legte die Gabel etwas unsanft zurück auf den Tisch. Cloe zuckte zusammen. Etwas verwirrt blickte sie das Mädchen an, das sich nun mit verschränkten Armen in seinem Stuhl zurücklehnte.

„Was ist denn los, Liebling?", fragte sie besorgt. Evelyn blickte sie verächtlich an.

„Das fragst du?", meinte sie, „hätte ich mir ja denken können, dass du es nicht von alleine begreifst..."

Dudley blickte überrascht auf. Etwas Fett lief ihm aus dem Mundwinkel das Kinn herab, doch er schien es nicht zu bemerken. Evelyn blickte ihn angewidert an und sah dann in eine andere Richtung.

„Ehm...", räusperte Dudley sich, „stimmt irgendetwas nicht, Evelyn?" Doch es klang nicht sonderlich interessiert.

„Nein, alles in bester Ordnung!", meinte das Mädchen ironisch, „ist doch wunderbar, ist doch wie immer! Wir sitzen am Mittagstisch, Dad isst als hätte er keine Manieren und das einzige Thema, das interessiert sind die Neuigkeiten aus dem Büro!"

Dudley sah seine Tochter verblüfft an. Er begriff nicht, was sie damit meinte.

„Möchtest du uns etwas erzählen, Evy?", fragte Cloe und strich ihrer Tochter über die Wange.

„Mum, lass das!", zischte das Mädchen. Rasch zog Cloe die Hand weg.

„Ist... ist irgendetwas vorgefallen?", fragte sie, „war da wieder eines deiner komischen Erlebnisse?" Dudley räusperte sich und warf seiner Frau einen warnenden Blick zu.

„Komischen Erlebnisse?", echote Evelyn, „ihr sprecht immer darüber, als hätte ich eine Krankheit! Nein, war es nicht. Nur Sarahs Katze ist überfahren worden, aber das interessiert euch ja nicht!"

„Oh, Liebling, das tut mir wirklich leid!", sagte Cloe und machte Anstalten, ihrer Tochter über die Haare zu streichen.

„Mum, du sollst es lassen!", keifte Evelyn und funkelte ihre Mutter böse an. Sie war aufgesprungen. Bruchteile einer Sekunde später landete ihr gesamter Tellerinhalt im Gesicht ihrer Mutter. Kartoffelpüree, Bohnen, Steak, all das klatschte Cloe ins Gesicht und rutschte langsam ihren Hals herab auf ihre blassrosa Bluse und den dunkelblauen Rock. Sekundenlang herrschte Stille. Evelyn starrte ihre Mutter an. Cloe starrte ihre Tochter an. Dudley war weiß vor Angst. Dann wandte sich das Mädchen zornig um und stürmte aus dem Raum und die Treppe nach oben in ihr Zimmer. Dort warf sie sich mit Schwung auf ihr Bett und starrte an die Decke. Sie war ein bisschen geschockt von dem eben Geschehenen. Denn sie hatte ihren Teller nicht einmal berührt.

Am nächsten Morgen beim Frühstück war der Vorfall des vergangenen Tages wieder vergessen. Dudley hockte verschlafen und mit zerzaustem Haar in seinem Morgenmantel am Tisch, vor sich die Zeitung, in der er den Sportteil las. Cloe goss Kaffee in ihre und Dudleys Tasse und Evelyn hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und starrte versonnen aus dem Fenster. Draußen hockten zwei Meisen auf der Fensterbank und einige Tauben und Amseln flatterten umher. Evelyn mochte Vögel. Sie hatten so etwas unbeschwertes und leichtes. Ihr Blick fiel auf die Konturen eines anderen Vogels, der sich gerade kräftig mit den Flügeln schlagend davonmachte. Das Mädchen stutzte und rieb sich die Augen. Der Vogel hatte für einen kurzen Moment ausgesehen wie eine Eule. Doch jetzt war er schon zu weit weg, um das feststellen zu können. Wahrscheinlich bloß eine ziemlich große Taube. Was sollte auch eine Eule in einer Gegend wie dieser machen!

Cloe huschte nach draußen in den Flur, um die Post zu holen. Sie kam mit einem Stapel Briefe zurück und legte sie auf den Tisch. Es war Dudleys Sache, die Post zu öffnen. Evelyns Blick glitt über die Umschläge. Ihr Vater war noch immer vertieft in einen Bericht über irgendein Rugby-Spiel in der Region und machte keine Anstalten, die Post zu öffnen. Evelyns Blick blieb an einem großen dicken Umschlag hängen. Er war aus einem seltsamen Papier gefertigt, es wirkte irgendwie beige. Das Mädchen legte den Kopf ein wenig schief, um die Schrift erkennen zu können, die zum Teil zu sehen war und die offenbar mit smaragdgrüner Tinte geschrieben war. Sie konnte nicht alles entziffern, da der Umschlag von einigen anderen halb verdeckt wurde, doch in der ersten Zeile der Adresse stand eindeutig „Miss E. Dursley". Evelyns Herz klopfte schneller. Konnte es sein, dass dieser Brief an sie war? Sie streckte die Hand aus und zog den Brief zwischen den anderen hervor. Rasch überflog sie die Adresse.

Miss E. Dursley

Magnolienring 8

Little Whinging

Surrey

Kein Zweifel. Der Brief war an sie adressiert.

„Evelyn!", ließ ihre Mutter sich vernehmen, „was tust du da? Es gehört sich nicht, in der Post anderer Leute herumzuschnuppern!"

„Erstens", sagte Evelyn, „solltest du erst mal Dad erziehen, bevor du es bei mir versuchst. Und zweitens ist dieser Brief an mich adressiert!"

Cloe griff nach einem der Kekse, die in einer Schale auf dem Tisch standen.

„Tatsächlich?", fragte sie, und blickte das Mädchen überrascht an, „von wem ist er?"

Evelyn betrachtete den Briefumschlag. Ein Absender war nicht zu erkennen. Aber auf der Rückseite entdeckte sie ein rotes Wachssiegel, in dem ein Wappen zu sehen war. Sie kniff die Augen zusammen, um das Motiv erkennen zu können. Offenbar handelte es sich um einen Löwen, eine Schlange, einen Dachs und einen Adler, die sich um ein großes „H" wanden.

„Keine Ahnung", antwortete sie ihrer Mutter, „hier ist nur ein Siegel mit einem Wappen wo vier Tiere und ein ,H' zu sehen sind."

Cloe verschluckte sich an ihrem Keks. Sie hustete und starrte ihre Tochter erschrocken an. Dudley sah überrascht auf.

„Ein Wappen?", fragte Cloe, als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, „mit einem ,H' und vier Tieren?"

„Ja", erwiderte Evelyn. Sie verstand nicht, warum ihre Mutter so entsetzt reagierte, „na und? Was ist daran so schlimm?"

Doch Dudley kam seiner Frau zuerst, er war blass vor Angst.

„Mach ihn nicht auf!", rief er beinahe panisch und blickte den Brief an, als würde er jeden Moment in Flammen aufgehen, „mach ja nicht diesen Brief auf!"

Cloe blickte ihren Mann verblüfft an.

„Woher...?", fragte sie und brach ab.

„Warum soll ich ihn nicht aufmachen?", fragte Evelyn herausfordernd.

„Weil ich es dir verbiete!" Dudleys Stimme war nun beinahe schrill. „Ich will mit diesem Unsinn nichts zu tun haben!"

„Was für ein Unsinn?", hakte Evelyn nach.

„Tu einfach, was dein Vater dir sagt", schaltete Cloe sich ein. Auch sie war nun blass.

Evelyn blickte zwischen ihren Eltern hin und her. Sie verhielten sich alle beide recht merkwürdig.

„Dieser Brief ist für mich und deshalb lese ich ihn auch!", sagte sie bestimmt und brach das Siegel.

„Nein!", riefen Dudley und Cloe gleichzeitig und sprangen auf.

„Was ist los mit euch?", fragte Evelyn fassungslos, „was hab ihr denn? Warum soll ich denn diesen Brief nicht lesen?"

Doch ihre Eltern schwiegen beharrlich. Evelyn verzog trotzig den Mund und öffnete das Kuvert. Ihre Finger zitterten ein wenig, als sie das Blatt herauszog und zu lesen begann:

HOGWARTS-SCHULE FÜR HEXEREI UND ZAUBEREI

Schulleiter: Albus Dumbledore

(Orden des Merlin, Erster Klasse, Großz., Hexenmst.

Ganz hohes Tier, Internationale Vereinig. d. Zauberer)

Sehr geehrte Miss Dursley,

wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie an der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei aufgenommen sind.

Evelyn stockte. Sie runzelte die Stirn. Was hatte sie da gerade gelesen! Rasch überflog sie die Zeilen noch einmal. Dann sah sie auf. Ihre Eltern standen immer noch regungslos da und starrten sie angstvoll an. Evelyn verstand nicht ganz, was da gerade vor sich ging. Hexerei... Zauberei... Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei... Die Wörter schwirrten durch ihren Kopf. Was hatte das zu bedeuten?

„Mum? Dad?", fragte sie ein wenig unsicher, „sagt mir, was hier los ist. Ist das ein Scherz?" Doch die bleichen Gesichter ihrer Eltern sagten ihr, dass das alles kein Scherz war. Mit zitternden Fingern und schwirrendem Kopf senkte sie ihren Blick zurück auf den Brief und las weiter.

...Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei aufgenommen sind. Beigelegt finden Sie eine Liste aller benötigten Bücher und Ausrüstungsgegenstände sowie Ihre Fahrkarte für den Hogwarts-Express.

Das Schuljahr beginnt am 1. September. Der Hogwarts-Express fährt um elf Uhr von Gleis 9 ¾ am Bahnhof King's Cross in London ab. Bitte erscheinen Sie pünktlich.

Minerva McGonagall

Stellvertretende Schulleiterin

Evelyn starrte auf den Brief in ihren Händen. Sie wartete noch immer darauf, dass sie gleich aus irgendeinem haarsträubenden Traum aufwachen würde, doch nichts geschah.

"Mum?", sagte sie schließlich mit zitternder Stimme, "hier... hier steht irgendwas mit Hexen..." Sie blickte ihre Mutter hilfesuchend an. Cloe biss sich auf die Lippen.

"Evy, Liebes...", setzte sie an, "weißt du... da gibt es etwas, das ich dir nie gesagt habe..." Sie stockte und warf ihrem Mann einen unsichern Blick zu. Dudley blickte sie überrascht an.

"Hat es... hat es damit zu tun, dass ab und zu diese seltsamen Dinge passieren?", wagte Evelyn zu fragen.

"Ja", seufzte Cloe.

"Wie?", fragte Dudley und starrte seine Frau an, "heißt das... soll das heißen... weißt du etwa bescheid?"

"Worüber?", fragte Cloe und musterte ihren Mann skeptisch, "willst du mir etwa sagen, dass du von ihrer Existenz weißt?"

"Wenn du von diesen abnormalen Freaks sprichst...", meinte Dudley abfällig, "ja."

"Was für abnormale Freaks?", fragte Evelyn. Dass ihr Vater so abfällig darüber sprach, machte ihr die 'abnormalen Freaks' irgendwie sympathisch.

"Evy, Liebes", wandte ihre Mutter sich an sie, "tu mir einen Gefallen, ja? Mum und Dad müssen etwas besprechen, geh bitte vorerst in dein Zimmer. Wir... wir werden später über diesen Brief sprechen..."

Evelyns Augen huschten zwischen ihren Eltern hin und her. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass dieser seltsame Brief ein lang gehütetes Familiengeheimnis preisgegeben hatte. Sie öffnete schon den Mund, um zu widersprechen, doch dann nickte sie und stand auf. Vielleicht wäre es aufschlussreicher, wenn sie belauschen würde, was ihre Eltern sprachen.

Kaum hatte sie die Küche verlassen, als sie auch schon hörte, wie ihre Eltern begannen, sich mit mühsam gedämpfter Stimme zu unterhalten. Evelyn legte das Ohr an die Tür und lauschte angestrengt.

„Jetzt erkläre du mir doch mal bitte, wie es kommt, dass du darüber bescheid weißt!", sagte Cloe. Es folgte eine kurze Stille. Dann konnte Evelyn ihren Vater sprechen hören:

"Mein Cousin ist... ist einer von ihnen... er ist damals auch in diese... diese Beklopptenanstalt verschwunden."

"Warum hast du mir das nie erzählt?", fragte Cloe entsetzt, "warum hast du mir nie gesagt, dass in deinen Ader versteckt magisches Blut fließt?"

"Was ist denn mit dir?", protestierte Dudley, "wie kommt es, dass du weißt, dass es sie gibt?"

Diesmal war es Cloe, die schwieg.

"Also schön", sagte sie schließlich bitter, "meine... meine ganze Familie gehört dazu. Nur ich nicht. Ich konnte es nie, es hat bei mir einfach nicht funktioniert, egal was ich auch versucht habe, ich bin eine gottverdammte Squib!"

"Eine was?", fragte Dudley verdattert.

"Eine Squib", wiederholte Cloe, "ich dachte, du weißt über sie bescheid?"

"Ich weiß dass sie existieren", korrigierte Dudley sie, "aber ich lege keinen großen Wert darauf, viel über sie zu wissen. Was ist eine Skwip?"

"Eine Hexe, die nicht hexen kann", sagte Cloe dumpf, "du glaubst gar nicht, wie abfällig sie immer über mich gesprochen haben! Als sei ich eine Missgeburt oder so..."

"DIE sind die Missgeburten!", meinte Dudley abfällig.

"Sprich nicht so!", fuhr Cloe ihn scharf an, "deine Tochter ist ja jetzt wohl offensichtlich auch eine!"

Dudley schnaubte.

"Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich sie da hingehen lasse?", meinte er spöttisch. Cloe ließ ein leises, höhnisches Lachen hören.

"Du wirst sie nicht daran hindern können! Wenn wir sie nicht gehen lassen, dann kommen sie und nehmen sie mit, wenn sie will. Und du solltest Evelyn gut genug kennen, um zu wissen, dass sie nur zu gerne mitginge!"

Wieder herrschte eine Weile Schweigen.

"Also schön!", knurrte Dudley schließlich missmutig und das unheilvolle Knarzen von Holz verriet Evelyn, dass er sich auf seinem Stuhl niedergelassen hatte, "soll sie doch in diese Irrenanstalt gehen! Sie wird schon sehen, was sie davon hat. Sowas von abnormal..."

Stille trat ein.

"Ich glaube, ich gehe sie holen", sagte Cloe schließlich und ihre Stimme klang erschöpft, "ich... ich muss mit ihr darüber reden..."

Evelyn erschrak, als sich Schritte der Tür näherten. Es war zu spät, um noch über die Treppe nach oben zu huschen. Also biss sie sich auf die Lippen und machte sich auf einen Schwall vorwurfsvoller Worte über heimliches Lauschen an Türen gefasst.

Die Küchentür öffnete sich.

"Evy?", sagte Cloe und blickte ihre Tochter mit einem undeutbaren Blick an, "komm bitte, ich muss mit dir etwas besprechen..."

Evelyn stutzte, folgte Cloe jedoch zurück in die Küche. Ein wenig überrascht ob der ruhigen Reaktion ihrer Mutter ließ sie sich auf ihren Stuhl plumpsen. Den Brief hielt sie immer noch fest mit ihrer Hand umklammert, als hätte sie Angst, er könnte sich in Luft auflösen, sobald sie ihn losließ.

"Hast du alles gehört, was wir gesprochen haben?", fragte Cloe schließlich. Evelyn nickte stumm. "schön... dann weißt du ja, was los ist."

"Eigentlich nicht", erwiderte das Mädchen zögernd und ihre Augen huschten zu Dudley und wieder zurück zu Cloe, "ich meine... ihr habt irgendwas über irgendwelche Leute gesprochen... also, stimmt das? Gibt es - na ja - Hexen und Zauberer und sowas?"

"Ja, Evy", antwortete ihre Mutter etwas gequält, "ja, die gibt es... und du bist auch eine Hexe - ganz offensichtlich."

"Warum habt ihr mir das nie erzählt?", wollte Evelyn wissen.

"Weil wir es nicht wussten, Liebes!", erwiderte Cloe, "ich... ich dachte immer, wenn ich einen Muggel heirate, besteht die Gefahr nicht, dass meine Kinder Hexen oder Zauberer werden!"

"Einen was?", fragte Evelyn verdutzt und blickte ihren Vater an. Sie fand, das Wort 'Muggel' passte ihrgendwie zu seinem schwabbeligen Aussehen.

"Muggel sind Menschen, die nicht zaubern können", erklärte Cloe und wirkte leicht erschöpft.

"Ah", meinte Evelyn. Sie warf einen erneuten Blick auf den Brief. "Und was ist dieses", sie überflog die Zeilen noch einmal, "Hogwarts? Ich habe da noch nie was von gehört. Warum weiß denn keiner davon? Ich meine, das ist doch eine Schule, die muss doch jemand bemerken!"

"Was meinst du, wozu Magie gut ist?", fragte Cloe und es klang beinahe bitter, "all das läuft im Verborgenen ab, Zauberer und Hexen leben im Geheimen, sie wollen nicht, dass ihre Existenz auffliegt. Aber, Evy, ich wollte über etwas ganz anderes mit dir reden..." Sie fuhr sich über die Augen. "Dein Dad und ich - nun, wir sind nicht sehr begeistert von der Vorstellung, dass du zu diesen - Leuten gehören wirst. Es ist an dir, zu entscheiden, ob du dorthin willst. Aber ich bitte dich - überleg es dir gut. Weil diese Leute sind - komisch."

"Abartig sind sie, das ist alles!", warf Dudley verärgert ein, der die ganze Zeit über nichts gesagt hatte. Seine Augen musterten Evelyn mit einer Mischung aus Abscheu, Unbehagen und Ekel. Das Mädchen verengte die Augen zu Schlitzen.

"Ich will auf diese Schule gehen!", sagte sie bestimmt und blickte ihren Vater herausfordernd an, "und wenn es nur ist, weil es dir nicht passt!"

Später, als Evelyn wieder alleine in ihrem Zimmer auf dem Bett lag, las sie noch einmal den Brief von Hogwarts durch. Sie konnte noch immer nicht ganz glauben, dass das tatsächlich wahr sein sollte. In dem Briefumschalg hatte sie ein weiteres Blatt gefunden und las nun auch dieses durch:

HOGWARTS-SCHULE FÜR HEXEREI UND ZAUBEREI

Uniform

Im ersten Jahr benötigen die Schüler:

Drei Garnituren einfache Arbeitskleidung (schwarz)

2. Einen einfachen Spitzhut (schwarz) für tagsüber

3. Ein Paar Schutzhandschuhe (Drachenhaut o.Ä.)

Einen Winterumhang (schwarz, mit silbernen Schnallen)

Bitte beachten Sie, dass alle Kleidungsstücke der Schüler mit Namensetiketten versehen sein müssen.

Evelyn musste unwillkürlich grinsen. Vor ihrem geistigen Auge erschien ein Bild; sie sah sich selbst mit schwarzem Umhang und schwarzem Spitzhut, wie sie irgendwelche Zaubersprüche murmelte und aus einem Kessel voll blubbernder eklig grüner Brühe Schlangen und Spinnen heraufbeschwor. Ein wenig mulmig war ihr schon zumute. Vielleicht waren diese Hexen und Zauberer ja wirklich irgendwie komisch... Doch sie schüttelte ärgerlich den Kopf und las weiter:

Lehrbücher

Alle Schüler sollten jeweils ein Exemplar der folgenden Werke besitzen:

- Miranda Habicht: Lehrbuch der Zaubersprüche, Band 1

- Bathilda Bagshot: Geschichte der Zauberei

- Adalbert Schwahfel: Theorie der Magie

- Emeric Wendel: Verwandlungen für Anfänger

- Phyllida Spore: Tausend Zauberkräuter und –pilze

- Derric Pumpkin: Die hohe Kunst der Zaubertrankbrauerei

- Quirin Sumo: Dunkle Kräfte. Ein Kurs zur Selbstverteidigung

Evelyns Augen glitten ein weiteres Mal über die Buchliste. Ihr kam langsam etwas ins Bewusstsein: Wo in aller Welt sollte sie all das bekommen? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie diese Bücher und den restlichen Kram in irgendeinem normalen Geschäft bekommen würde. Mit leicht gerunzelter Stirn blickte sie zurück auf die Liste in ihren Händen und las weiter:

Ferner werden benötigt:

- 1 Zauberstab

- 1 Kessel (Zinn, Normgröße 2)

- 1 Sortiment Glas- oder Kristallfläschchen

- 1 Teleskop

- 1 Waage aus Messing

Es ist den Schülern zudem freigestellt, eine Eule ODER eine Katze ODER eine KRÖTE mitzubringen.

DIE ELTERN SEIEN DARAN ERINNERT, DASS ERSTKLÄSSLER KEINE EIGENEN BESEN BESITZEN DÜRFEN.

Evelyn schloss die Augen. Ihr schwirrte der Kopf von all dem Neuen. Es kam ihr noch immer so unwirklich vor, als stecke sie gerade in irgendeinem haarsträubenden Traum aus dem sie jeden Moment erwachen würde. Sie seufzte.

Besen... damit waren wohl kaum Besen zum Fegen der Zimmer gemeint. Ob die Schüler in Hogwarts wohl mit Besen zum Unterricht flogen? Denn dass Hexen auf Besen fliegen, war Evelyn klar. Sie hätte nur nie damit gerechnet, es einmal selbst zu tun.

Es klopfte zaghaft an der Tür. Evelyn sah auf.

„Ja?", rief sie und legte den Brief zur Seite. Mit einem leisen Quietschen wurde die Klinke heruntergedrückt. Cloe betrat den Raum und ging etwas zögernd auf ihre Tochter zu.

„Evy... ich... ich wollte mit dir noch ein wenig über die... die näheren Umstände dieser ganzen Sache sprechen...", sagte sie und setzte sich neben ihrer Tochter auf die Bettkante.

„Na dann", meinte Evelyn, „schieß los!"

„Hast du die Liste mit deinen Schulsachen schon durchgelesen?", fragte Cloe.

„Ja", antwortete Evelyn und warf einen raschen Blick auf das Blatt neben ihr, „aber, Mum, ich habe keine Ahnung, wo ich den ganzen Kram herkriegen soll. Oder kennst du zufällig ein nettes Geschäft hier in der Gegend, das Zauberstäbe verkauft?"

Cloe lächelte blass.

„Nein, nicht hier in der Nähe, Evy", erwiderte sie, „dafür müssen wir nach London."

„London?", fragte das Mädchen verdutzt, „du meinst... es gibt tatsächlich so ein Geschäft?"

„Oh, nicht nur eins, Liebes", erklärte ihre Mutter, „eine ganze Straße voll."

„Das glaub ich nicht!", entfuhr es Evelyn, „als ob das noch nicht längst jemandem aufgefallen wäre, dass da irgendwelche seltsamen Sachen verkauft werden!"

„Evy, ich habe dir doch schon gesagt, dass diese – Leute im Verborgenen leben", seufzte Cloe, „sie verstehen es, sich vor den Augen der Muggel zu verbergen."

„Also ist diese Straße unsichtbar, oder wie?", hakte Evelyn nach.

„Nicht ganz... es ist schwer, das zu erklären, Evy", sagte Cloe, „wir werden morgen hinfahren. Dann können wir deine ganzen Schulsachen besorgen."

Evelyn saß auf der Rückbank des Autos und blickte durch die regennasse Windschutzscheibe auf die Straße vor ihnen. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Dudley hatte sich strikt geweigert, seine Frau und Tochter nach London zu fahren um „diesen abnormalen Firlefanz" zu besorgen, und so hatte Cloe sich hilfesuchend an ihren Nachbarn, Mr. Shinewater gewandt. Der nette ältere Herr hatte sich sofort bereiterklärt, Evelyn und ihre Mutter in seinem Auto mitzunehmen, denn Cloe besaß leider keinen Führerschein.

„Sind wir bald da?", fragte Evelyn nun schon zum wohl hundertsten Mal und rutschte ungeduldig auf ihrem Sitz herum.

„Evy, Liebes, es dauert noch ein Weilchen", beschwichtigte Cloe sie, „du musst dich noch etwas gedulden!"

Evelyn seufzte und lehnte sich zurück. Geduld. Das war leichter gesagt als getan. Sie platzte fast vor Neugier, endlich irgendetwas zu sehen, das mit Zauberei zu tun hatte.

Als sie eine halbe Stunde später endlich London erreichten, wäre das Mädchen am liebsten aufgesprungen und vorausgelaufen. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie sich so gefreut, nach London zu fahren, und sie war schon mehrere Male mit ihren Eltern dort gewesen.

Mr. Shinewater setzte sie an einer großen Straßenkreuzung ab. Als sie ausstiegen bedankte Cloe sich wortreich bei ihm.

„Keine Ursache, Mrs. Dursley", meinte er lächelnd, „ich musste ja sowieso nach London. Ich hole Sie beide dann heute Abend um acht Uhr wieder hier ab, ja?"

Cloe nickte. Während Mr. Shinewaters Wagen davonfuhr, kauerten sich Evelyn und ihre Mutter unter dem grauen Regenschirm zusammen und machten sich raschen Schrittes auf den Weg durch die nassen Straßen.

Evelyn merkte sich den Weg nicht. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, nicht in irgendwelche Pfützen zu treten und unter dem Schirm zu bleiben. Schließlich jedoch hielt ihre Mutter abrupt an.

„Hier ist es", sagte sie. Evelyn sah auf. Sie standen vor einem kleinen schäbigen Pub, über dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift „Zum Tropfenden Kessel" hing, über das Bäche aus Regenwasser flossen. Es schien fast so, als quetsche sich der kleine Pub zwischen die zwei Geschäfte zu seiner Rechten und Linken; das eine war eine große Buchhandlung, das andere ein Internet-Café, auf dessen Schaufenstern in großen neonfarbenen Buchstaben „NEUERÖFFNUNG" zu lesen stand.

„Hier?", fragte Evelyn und betrachtete skeptisch die alte schmuddelige Tür, die in den Tropfenden Kessel hineinführte, „bist du dir sicher? Ich meine – das ist ein Pub, hier gibt es wohl kaum irgendwelche Zauberstäbe zu kaufen!"

„Warte es ab, Evy", seufzte Cloe und öffnete etwas zögernd die Tür.

Evelyn hustete leise, als ihr aus dem düsteren Inneren des Tropfenden Kessels Pfeifenqualm entgegenschlug. Hinter ihnen fiel die Tür ins Schloss.

Die wenigsten der Pub-Besucher sahen auf. Die meisten von ihnen hockten vor halbleeren Gläsern, einige unterhielten sich in gedämpftem Ton und eine mysteriöse Atmosphäre lag über allem.

Hinter der Theke stand ein alter Mann mit runzeligem, kahlem Walnusskopf und betrachtete sie mit einem leicht unheimlichen Blick. Als er Cloe sah, hielt er inne und seine Augen verengten sich etwas, als versuche er, sie genauer zu erkennen.

Evelyn spürte, wie ihre Mutter ihr die Hände auf die Schultern legte und sie in Richtung der Theke schob.

„Cloe?", fragte der Wirt ein wenig ungläubig, „Cloe Shacklebolt?"

„Hallo Tom", erwiderte Cloe mit belegter Stimme, „ja, genau die. Nur nicht mehr Shacklebolt, sondern Dursley."

„Hast dich ja lange nicht blicken lassen", meinte Tom und seine Stimme klang etwas steif, „was verschafft uns die Ehre deines plötzlichen Auftauchens?"

„Ich muss in die Winkelgasse", sagte Cloe ein wenig gepresst. Der Wirt hob fragend eine Augenbraue. „Evelyn kommt nach Hogwarts. Sie muss ihre Schulsachen kaufen."

Tom warf einen kurzen, abschätzenden Blick auf Evelyn.

„Deine Tochter?", fragte er. Cloe nickte.

„Du weißt, dass ich das Tor nicht öffnen kann", sagte sie und Bitterkeit sprach aus ihrer Stimme, „also, wenn du vielleicht..." Tom nickte stumm und trat hinter dem Tresen hervor.

„Kein Problem", etwas humpelnd machte er sich auf den Weg durch die Gaststube. Evelyn bemerkte, dass einige der Gäste, die wohl das Gespräch zwischen ihrer Mutter und dem Wirt mitbekommen hatten, zu tuscheln begannen und Cloe mit merkwürdigen Blicken bedachten. Ihre Mutter hatte sie an der Hand genommen und schien das Getuschel ringsum nicht zu bemerken, doch Evelyn ließ sich davon nicht täuschen.

Tom trat mit ihnen in einen kleinen Hinterhof hinaus, der von einer schäbigen Backsteinmauer umgeben war. Evelyn versuchte, unauffällig umherzuspähen, doch sie konnte nichts aufregendes entdecken, außer einem halb kaputten Mülleimer und dem Unkraut, das überall in den Ritzen wucherte.

„Nun, Missi – Evelyn, nicht wahr? – passen Sie gut auf", wandte sich der glatzköpfige Wirt unvermittelt an Evelyn. Sie sah mit Verblüffung, dass er einen ungefähr dreißig Zentimeter langen Holzstab gezogen hatte und nun in der rechten Hand hielt. „Schauen Sie her", er hob den Stab und zeigte mit ihm auf die Steine über dem kaputten Mülleimer, „drei nach oben, so...", die Spitze des Stabes wanderte nach oben, „und zwei zur Seite. Merken Sie sich das, Miss Dursley!" Evelyn nickte, während der Wirt nun dreimal gegen den Stein klopfte. Evelyns Augen weiteten sich, als sie sah, wie in der Mitte des Steins ein kleiner, rasch größer werdender Spalt auftauchte. Einen Augenblick später hatte er sich zu einem gewaltigen Torbogen erweitert, hinter dem eine enge, gepflasterte Gasse begann, die sich rasch in einer engen Biegung verlor.

„Wow!", entwich es Evelyn. Tom lächelte. „Das... war das jetzt... richtig gezaubert?"

„Oh ja, ja, ich denke schon", meinte der Wirt amüsiert, „nun, ich wünsche einen schönen Aufenthalt in der Winkelgasse!" Und mit diesen Worten verschwand er wieder im Inneren des Tropfenden Kessels.

„Und jetzt?", fragte Evelyn und blickte ihre Mutter fragend an. Cloe seufzte.

„Lass uns gehen", sagte sie mit merkwürdig belegter Stimme, „es ist Ewigkeiten her, dass ich das letzte Mal hier war..."

Evelyn folgte ihrer Mutter in die seltsame Straße namens Winkelgasse. Hinter ihnen schloss sich der Riss in der Mauer wieder. Mit offenem Mund ließ Evelyn ihren Blick über die Auslangen der Schaufenster rundum gleiten. Die fantastischsten Dinge gab es hier. Vor einem Laden türmten sich Kessel der verschiedensten Größen und Materialien, einen Buchladen konnte Evelyn auch entdecken, mit Büchern in der Auslage, deren Titel sie noch nie im Leben gehört hatte, merkwürdig aussehende Tierwesen hockten in Käfigen hinter der Schaufensterscheibe eines weiteren Ladens. Es gab so viel zu sehen, dass Evelyn ständig stehen bleiben wollte, um alles genauer unter die Lupe zu nehmen. Doch ihre Mutter zog sie rasch weiter.

„Zuerst brauchst du Geld", erklärte sie, „ohne Geld geht es auch in der Zaubererwelt nicht, Evy."

„Aber du hast doch Geld mit, Mum!", erwiderte Evelyn erstaunt. Cloe lächelte.

„Mit Pfund kommen wir hier nicht weiter", sagte sie, „Zauberer haben eine andere Währung. Ich weiß nicht genau, wie der Kurs zur Zeit ist, aber es gibt jedenfalls goldene Galleonen, silberne Sickel und bronzene Knuts. Die Umrechnung ist ein bisschen seltsam, aber mit Kopfrechnen hattest du ja zum Glück noch nie Probleme, Evy. Neunundzwanzig Knuts ergeben einen Sickel und siebzehn Sickel eine Galleone. Du wirst dich daran gewöhnen, Evy, mit der Zeit."

„Und woher sollen wir dieses Geld bekommen?", fragte Evelyn.

„Ich hoffe, Gringotts hat sich in zwölf Jahren nicht allzu verändert", murmelte Cloe vor sich hin, „Gringotts, das ist die Zaubererbank. Sie wird von Kobolden betrieben. Nimm dich vor diesen Kreaturen in Acht. Sie verstehen keinen Spaß und sind äußerst schlau."

„Okay, ich werde sie schon nicht in die Nase pieksen", meinte Evelyn. Ihre Mutter setzte zu einer Antwort an, überlegte es sich aber doch noch anders und ging schweigend weiter.

Kurz darauf standen sie vor einem großen weißen Gebäude mit einem großen Bronzenen Eingangstor. Eine kleine dunkelhäutige Gestalt in einer rotgoldenen Uniform stand daneben. Evelyn blickte ihre Mutter fragend an.

„Ist das - ?", flüsterte sie. Cloe nickte nur.

Sie traten in eine große Marmorhalle, die gesäumt war von Schaltern, hinter denen Kobolde saßen und mit den unterschiedlichsten Dingen beschäftigt waren. Cloe trat an einen der Schalter heran und räusperte sich nervös. Der Kobold sah auf.

„Sie wünschen?", fragte er mit schnarrender Stimme.

„Ich... ich würde gerne etwas Muggelgeld umtauschen... Pfund, um genau zu sein...", sagte Cloe und kramte ihre Geldbörse aus der Handtasche hervor.

„Wieviel?", fragte der Kobold und griff nach einem Formular.

„Ähm... sagen wir dreihundert Pfund?", antwortete Cloe. Der Kobold nickte nur und füllte fleißig das Formular aus.

Kurz darauf händigte er ihnen einen Haufen Münzen aus. Dreiundsechzig Galleonen zählte Evelyn, neun Sickel und dreizehn Knuts.

„Evy", wandte ihre Mutter sich an sie, „hier, nimm das Geld und besorge schon mal deine Uniform. Wir treffen uns dann bei Madam Malkins. Ich will dir noch rasch ein Konto eröffnen."

Zwei Minuten später stand Evelyn mit den Taschen voller klimpernder Gold-, Silber- und Bronzemünzen auf der Straße vor der Zaubererbank. Ein wenig unschlüssig blickte sie sich um. Schließlich entdeckte sie über einer der Ladentüren ein Schild: Madam Malkins Anzüge für alle Gelegenheiten. Davon hatte ihre Mutter wohl gesprochen. Mit klopfendem Herzen betrat sie den Laden.

Kaum war sie eingetreten, als ihr das hysterische Gekeife eines blonden Mädchens in ihrem Alter entgegenschlug.

„Ich will aber, Mum! Mir ist es egal, was die da schreiben, ich will einen Besen!"

„Brianna, du weißt genau, dass das nicht geht!", erwiderte eine dürre, blonde Frau, die offenbar am Ende ihrer Kräfte war und diesen Satz wahrscheinlich schon zum hundertsten Mal sagte.

„Mum!", plärrte das Mädchen und stampfte mit dem Fuß auf. Sie stand auf einem Stuhl, hatte einen langen schwarzen Umhang an und eine Hexe steckte mit Nadeln die richtige Länge ab.

„Ach, hallo!", erklang eine Stimme neben Evelyn. Eine stämmige ältere Hexe trat auf sie zu und lächelte sie an. „Hogwarts, nehme ich an? Ja, das dachte ich mir. Komm, hier rüber!"

Während das blonde Mädchen namens Brianna noch immer zeterte und motzte, stellte Madam Malkins Evelyn auf einen zweiten Hocker, zog ihr einen schwarzen Umhang über den Kopf und begann, ihn ebenfalls mit Nadeln abzustecken. Aus den Augenwinkeln beobachtete Evelyn das Mädchen neben ihr. Das trotzig vorgeschobene Kinn und die nach oben gebogene Nase gaben ihr ein recht arrogantes Aussehen.

„So, Mrs. Borgin", sagte die Hexe, die Briannas Umhang abgesteckt hatte, „fertig!"

„Na endlich!", keifte das blonde Mädchen und sprang vom Stuhl herunter. Evelyn konnte sehen, wie die Hexe die Augen verdrehte. Na super, dachte sie, wenn die alle so unausstehlich sind, steht mir ja eine tolle Zeit bevor!

Brianna verließ den Laden hocherhobenen Hauptes, gefolgt von ihrer sehr müde aussehenden Mutter. Kopfschüttelnd sah die Hexe ihnen hinterher.

Wenige Minuten später öffnete sich die Ladentür erneut und Cloe trat herein.

„Ich gehöre zu ihr", sagte sie auf Madam Malkins fragenden Blick hin. Die Hexe nickte verstehend und fuhr mit ihrer Arbeit fort.

Als sie Madam Malkins mit Evelyns neuer Schuluniform verließen, meinte Cloe:

„Ich habe dir ein Konto bei Gringotts eingerichtet. Da können wir nachher noch etwas abheben. Damit du für das kommende Schuljahr noch etwas Geld in der Hinterhand hast, Evy."

Der nächste Laden, den sie betraten, war Flourish & Blotts, der Buchladen, den Evelyn vorhin schon bemerkt hatte. Es war erstaunlich, wie viele verschiedene Bücher es hier gab und das Mädchen konnte sich kaum satt sehen daran, doch ihre Mutter drängte zur Eile.

Wenige Minuten später verließen sie das Geschäft wieder, beladen mit Evelyns gesamten Schulbüchern.

„Schau mal auf deine Liste, was du sonst noch brauchst", sagte Cloe, während sie den Stapel Bücher vor sich her balancierte.

„Einen Zauberstab", antwortete Evelyn nach einem Blick auf den Zettel.

„Ah, ja, das Wichtigste", meinte Cloe und lächelte ein wenig gequält, „komm, lass uns zu Ollivander gehen. Dort gibt es die besten."

Der Zauberstabladen wirkte unheimlich. Er war klein und dunkel und irgendwie staubig. Regale zogen sich bis an die Decke, in denen sich tausende kleiner länglicher Schachteln stapelten.

„Guten Tag", sagte plötzlich eine sanfte Stimme neben ihnen. Evelyn schrak zusammen. Ein sehr alt wirkender Mann mit blassen Augen stand dort und lächelte sie an.

„Ähm, ja, hallo", sagte Evelyn etwas nervös. Sie warf ihrer Mutter einen unsicheren Blick zu.

„Guten Tag, Mr. Ollivander", sagte Cloe. Der alte Mann musterte sie durch seine Brillengläser hindurch.

„Ah, ja. Ja, ja, ich erinnere mich... Cloe, nicht wahr? Cloe Shacklebolt", sagte er langsam und nachdenklich, „ja, ein Jammer war das. Hat einfach nicht funktionieren wollen, nicht wahr? Ich habe es Ihrem Vater damals ja gleich gesagt, aber – nun, verständlich, dass er es nicht glauben wollte. Welcher Vater wäre schon begeistert, herauszufinden, dass seine Tochter eine Squib ist?"

Er schwieg. Die Stille lastete schwer über dem Raum. Evelyn blickte ihre Mutter an, die Mr. Ollivanders Blick mit versteinerter Mine erwiderte.

„Tja, nun... Und heute sind Sie, nehme ich an, wegen Ihrer Tochter hier?", fuhr Mr. Ollivander fort und seine blassen Augen wanderten zurück zu Evelyn.

„Ja", antwortete Cloe.

„Gut, gut, dann lassen Sie uns mal sehen...", murmelte Mr. Ollivander und trat auf eines der Regale zu. Seine dünnen Finger fuhren über die Reihen der Pappschachteln. „Ah, hier!", sagte er und zog vorsichtig eine Schachtel heraus. Behutsam hob er den Deckel ab und nahm einen Zauberstab heraus. „Birke und Einhornschwanzhaar, zwölf Zoll. Nehmen Sie ihn!", forderte er sie auf. Evelyn nahm den Zauberstab in die Hand. Kaum hatte sie ihn ergriffen, als Mr. Ollivander ihn ihr auch schon wieder aus der Hand riss. „Nein, nein. Ganz falsch. Versuchen wir...", er zog eine weitere Schachtel heraus, „...diesen hier. Eiche und Drachenherzfaser, zehn Zoll." Auch diesen Zauberstab nahm Evelyn in die Hand, und auch diesen entriss Mr. Ollivander ihr sofort wieder. „Nein, auch nicht. Das macht nichts, das macht nichts. Wie wäre es...", er zog eine dritte Schachtel hervor, „...hiermit? Buche und Phönixfeder, elfeinhalb Zoll." Doch auch bei diesem Zauberstab schien Mr. Ollivander nicht zufrieden zu sein. So ging es eine ganze Weile. Evelyn hatte bereits ungefähr ein Dutzend Zauberstäbe ausprobiert und fragte sich ein wenig genervt, wie lange das wohl noch dauern sollte. „Vielleicht dieser hier", meinte Mr. Ollivander, „Fichte und Einhornschwanzhaar, elf Zoll." Evelyn nahm den Zauberstab in die Hand – und plötzlich durchströmte ein warmes Gefühl ihre Finger, flutete durch ihren Arm in ihren Körper. Und kaum dass sie ihre Hand etwas bewegte und den Zauberstab durch die Luft bewegte, schoss auch schon ein roter Funkenstrahl aus der Spitze des Zauberstabes. Mr. Ollivander applaudierte und auch Cloe lachte glücklich auf.

„Ja, das ist er, ganz sicher!", stellte Mr. Ollivander zufrieden fest. Behutsam nahm er Evelyn den Zauberstab wieder aus der Hand und verstaute ihn sicher in der Schachtel.

Nachdem sie nun auch ihren Zauberstab hatte, waren die restlichen Besorgungen rasch erledigt. Mit Kisten und Kartons beladen traten sie schließlich aus dem letzten Geschäft.

„Wir haben gerade mal halb Sieben", stellte Cloe nach einem Blick auf ihre Uhr fest, „was meinst du, Evy, sollen wir noch ein bisschen in London Einkaufsbummel machen?"

„Mum, ich würde gerne hier noch ein bisschen rumstöbern", erwiderte Evelyn und blickte die Winkelgasse entlang. Cloe seufzte.

„Also schön!", sagte sie, „ich... ich warte im Tropfenden Kessel auf dich. Aber spätestens halb acht müssen wir los, wir können Mr. Shinewater nicht warten lassen."

„Geht klar, Mum!", rief Evelyn und zischte davon. Cloe sah ihr kopfschüttelnd nach und ging langsam zurück zum Tropfenden Kessel.

Evelyn konnte sich nicht entscheiden, wohin sie zuerst gehen sollte. Die Schilder über den Läden verrieten allesamt höchst verlockende Dinge. Vor Eeylops Eulenkaufhaus blieb sie schließlich stehen. Was hatte auf der Liste gestanden? „Es ist den Schülern zudem freigestellt, eine Eule ODER eine Katze ODER eine Kröte mitzubringen." Eine Eule... Evelyn hätte nie gedacht, dass man Eulen zähmen konnte. Einen kurzen Moment zögerte sie noch, dann betrat sie das Geschäft.

In Käfigen ringsum saßen die unterschiedlichsten Eulen, Waldkäuze, Schleiereulen, Schneeeulen, Waldohreulen, sogar Uhus. Staunend ging Evelyn an den Käfigen entlang. Die Eulen blickten sie mit ihren unergründlichen Bernsteinaugen an.

„Hallo! Kann ich dir irgendwie helfen?", fragte eine freundliche Stimme hinter ihr. Evelyn drehte sich um. Eine junge Frau lächelte sie an.

„Ja", sagte das Mädchen, „also, ich würde gerne eine Eule kaufen..."

„Das dachte ich mir", grinste die Frau. Evelyn grinste zurück. Klar, dass sie nicht zum Haareschneiden hergekommen war, konnte sich die Verkäuferin wohl denken. „Also, wir haben hier alle Arten vertreten. Such dir einfach eine aus!"

Evelyn blickte unschlüssig zwischen den Käfigen umher. Ihr Blick blieb an einem kleinen graubraunen Waldkauz hängen, der den Kopf schiefgelegt hatte und sie interessiert musterte.

„Der ist süß", sagte sie und neigte sich vor.

„Ja, den haben wir ganz frisch reinbekommen", berichtete die Verkäuferin, „freches kleines Kerlchen. Aber zuverlässig, in bezug auf die Post."

„Post?", fragte Evelyn verdutzt.

„Ja, die Post", wiederholte die Verkäuferin erstaunt, „ach, bist du eine Muggelgeborene?" Evelyn nickte etwas unbehaglich. „Klar, dann kannst du es nicht wissen. Das ist doch das Praktische an Eulen. Sie bringen dir die Post und du kannst sie selbst zum Verschicken benutzen."

„Ah!", sagte Evelyn, „das wusste ich nicht. Also wird die Post – mit Eulen verschickt?"

„Ja, klar!", antwortete die Verkäuferin, „also, möchtest du jetzt diesen Waldkauz kaufen?"

„Ja", bestätigte Evelyn.

Kurze Zeit später verließ sie den Laden, in der Hand einen silbernen Käfig mit dem kleinen Waldkauz, der sie immer noch äußerst interessiert musterte. Etwas unschlüssig sah sie sich um. Wohin jetzt? Sie schlenderte die Straße entlang, als plötzlich lautes Lachen an ihr Ohr drang.

Aus einem Laden mit der Aufschrift Weasley's Zauberhafte Zauberscherze kamen gerade zwei kleine Mädchen gelaufen, gefolgt von zwei etwa neunjährigen Jungs, die offensichtlich Zwillinge waren. Eines der Mädchen, es hatte leuchtend rote Locken, besaß statt einer Nase einen langen grünen Rüssel, den sie fröhlich hin und her schwingen ließ. Das andere Mädchen kugelte sich vor Lachen bei ihrem Anblick und die Zwillinge, die ebenfalls flammend rote Haare hatten, grinsten sich zufrieden an.

„Mum! Dad!", rief das lachende Mädchen nun und lief auf die Tür des Nachbarladens zu, über der ein Schild mit der Aufschrift Longbottoms Kräuterladen prangte, „schaut mal, was Sirius und James mit Liv gemacht haben!" Ihr helles Stimmchen überschlug sich fast vor Lachen. Evelyn musste grinsen. Ohne zu zögern öffnete sie die Tür zu Weasley's Zauberhafte Zauberscherze. Sie bekam nur einen groben Eindruck von dem Geschäft, das gefüllt war mit Regalen und Tischchen, auf denen sich die fantastischsten Dinge befanden, als eine aufgebrachte Stimme sie aufsehen ließ.

„Was habt ihr euch dabei gedacht!" Eine Frau mit üppigem braunem Haarschopf stand, die Hände in die Hüften gestemmt, vor zwei Männern, die aussahen, als seien sie die ältere Ausgabe der beiden rothaarigen Zwillinge, die soeben den Laden verlassen hatten, „soll sie jetzt für immer mit einem grünen Rüssel statt einer Nase rumlaufen?"

„Aach, komm schon, Hermine, die Wirkung lässt irgendwann nach", meinte einer der Männer und grinste breit.

„Wir wissen nur nicht genau, wann!", fügte sein Zwillingsbruder hinzu. Die Frau starrte die beiden missbilligend an, doch einer der Männer hatte Evelyn entdeckt.

„Wenn du uns jetzt bitte entschuldigen würdest: Kundschaft!", sagte er grinsend. Die Frau wandte sie um und verließ mit wehenden Haaren den Laden. Evelyn konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.

„Hallo!", sagte jetzt einer der Zwillinge, „was können wir für dich tun?"

„Ich hab nur dieses Mädchen mit dem Rüssel gesehen", antwortete Evelyn, „kann man hier so was kaufen?"

„Oh, nicht nur so was!", meinte der andere Zwilling grinsend, „du bekommst hier alles, was das Herz begehrt: Würgzungen-Toffee, Nasch-und-Schwänz-Leckereien, Überschwemmungs-Pillen, Kanariencreme-Schnitten, Du-scheißt-nicht-mehr, und noch vieles andere!"

„Wow!", entfuhr es Evelyn, „also, kann ich mich einfach mal umsehen?"

„Natürlich!", antwortete der andere Zwilling.

Evelyn verließ den Laden eine Viertelstunde später wieder, mit Tüten voller Nasch-und-Schwänz-Leckereien, falschen Zauberstäben, Würgzungen-Toffees und zwei merkwürdig aussehenden Langzieh-Ohren. Der Gedanke daran, was ihr Vater dazu sagen würde, sollte er all diese Dinge in ihrem Zimmer entdecken, hob ihre Stimmung extrem.

Um halb acht schließlich verließ sie schweren Herzens die Winkelgasse und kehrte zurück in den Tropfenden Kessel. Ihre Mutter saß alleine an einem Tisch, vor sich die Tüten und Kartons mit den Einkäufen.

„Wir können, meinetwegen", sagte Evelyn. Cloe erhob sich und die beiden gingen auf den Ausgang zu. Die Tür öffnete sich gerade und zwei Personen kamen herein. Ein Mann mit dunkler Haut und dem ganzen Kopf voller Dreadlocks und eine junge Frau mit langen braunen Haaren. Sie hielten ihnen die Tür auf.

„Danke!", sagte Cloe im Hinausgehen. Bevor die Tür hinter ihnen zufiel, hörte Evelyn noch, wie die Frau dem Mann zuflüsterte:

„Hast du das Mädchen gesehen, Lee? Die sah aus wie ne weibliche Ausgabe von Harry in Miniaturformat!"

„Ja, nur dass sie keine Brille auf der Nase und keine Nar-", doch den Rest seiner Antwort hörte Evelyn nicht mehr. Sie standen wieder draußen auf der nassen Straße. Es hatte aufgehört zu regnen, aber die vorbeieilenden Menschen trugen noch immer ihre Regenschirme mit sich. Während sie sich zum Treffpunkt aufmachten, merkte Evelyn, dass ihr das London, das sie bisher gekannt hatte, plötzlich seltsam unwirklich vorkam. Versonnen dachte sie an all die spannenden Läden in der Winkelgasse und wünschte sich, der erste September wäre schon morgen.