Beim Frühstück am nächsten Morgen war noch immer das bevorstehende Jubiläum in aller Munde. Die Schüler mutmaßten, in welchen Fächern vom planmäßigen Unterricht abgewichen würde und was wohl alles Teil der Feierlichkeiten sein würde.
„Also, mir ist das eigentlich ziemlich egal", meinte Claire und mampfte genüsslich ein Stück Marmorkuchen, „solange nur ordentlich viel Unterricht ausfällt!"
Emma blickte sie missbilligend an, sagte allerdings nichts.
„Heute Nachmittag haben wir zum ersten Mal Flugunterricht", verkündete sie stattdessen, „bin ja mal gespannt, wie Katie so als Lehrerin ist."
„Flugunterricht?", fragte Lyn interessiert.
„Ja, laut Stundenplan schon", erwiderte Emma leicht überrascht.
„Und es ist natürlich eine Todsünde, dass du den noch nicht auswendig kannst!", flüsterte Claire ihr laut und deutlich zu. Emma verdrehte die Augen.
„Also, so mit Besen fliegen?", fragte Lyn aufgeregt.
„Klar, was denkst du denn?", gluckste Claire und trank einen großen Schluck Kürbissaft, „soweit ich weiß, wurden die fliegenden Teppiche in den westlichen Ländern noch nicht eingeführt."
Als Harry die ersten vier Unterrichtsstunden hinter sich hatte, ging er erst einmal hinauf in sein Büro. Diesmal waren Claire und Gabriel friedlicher gewesen als in den vorherigen Stunden, und auch der Entwaffnungszauber klappte inzwischen bei den meisten der Schüler.
„Erschöpft, Professor?", fragte Sirius aus seinem Portrait. Harry grinste und nickte.
„Aber keine Sorge, ich schaff das schon", meinte er mit einem Augenzwinkern, „nachher um fünf beginnen die Auswahlspiele für die Quidditchteams. Ich denke, das werde ich mir ansehen."
„Na, dann wünsch ich dir viel Spaß dabei!", gähnte Sirius, „willst du eigentlich nicht auch mal wieder selbst spielen? Ich meine, wie lange ist es her, dass zum letzten Mal der goldene Schnatz zwischen deinen Fingern geflattert hat?"
„Viel zu lange!", seufzte Harry, „aber ein Lehrer-Quidditchteam gibt es leider nicht."
„Wäre doch nen Versuch wert", meinte Sirius augenzwinkernd, „wie wär's wenn du das Katie mal vorschlägst, wegen dem Jubiläum?"
„Eigentlich keine schlechte Idee", gab Harry zu, „ich werde sie drauf ansprechen."
„Tu das!", erwiderte Sirius, „du entschuldigst mich – ich geh mal auf einen Becher Wein bei Merlin vorbei."
Harry nickte und grinste. Sirius hatte schnell Freundschaft mit den restlichen Portraits der Schule geschlossen und schwärmte seither des Öfteren zu irgendwelchen Besuchen aus.
Nach dem Mittagessen machten sich die Erstklässler auf den Weg auf die Wiesen vor dem Schloss, wo sie ihre erste Flugstunde erleben würden. Lyn war ganz aufgeregt bei dem Gedanken, auf einem Besen sitzend durch die Luft zu fliegen, wobei Emma und Claire der ganzen Sache offenbar nicht so viel abgewinnen konnten.
„Ich mein, was ist da schon so Besonderes dran?", meinte Claire schulterzuckend, „du sitzt auf nem dicken Stock und fliegst in der Gegend rum. Da ist doch nix Spannendes dabei. Und wenn du mal runter fällst – aua! Nee, ich glaube, ich bleib doch lieber mit beiden Beinen fest auf dem Boden."
„Also, ich habe ja schon mal versucht, auf nem Besen zu reiten", erzählte Emma, „aber die Dinger sind tierisch unbequem. Also, ich meine, es gibt ja zum Glück seit 1820 diesen Polsterungszauber, aber -" Claire unterbrach sie.
„Woher weißt du das denn schon wieder?", fragte sie verblüfft.
„Steht alles in Quidditch im Wandel der Zeiten von Kennilworthy Whisp", erklärte Emma ungeduldig, „hat Dad mir zu Weihnachten vor zwei Jahren geschenkt."
„Und was ist dieser Polsterungszauber?", wollte Lyn wissen.
„Na ja, ein gewisser Elliot Smethwyck hat 1820 diesen Polsterungszauber erfunden, mit dem seither jeder Besen, der in den Handel kommt, ausgestattet ist. Der Polsterungszauber wirkt wie ein unsichtbares Kissen, auf dem man sitzt, während man fliegt, denn mehrere Stunden auf einem Besenstiel können, besonders für männliche Flieger, doch sehr unangenehm sein", erzählte Emma bereitwillig.
„Wow!", meinte Lyn nur, „ich dachte, so einen Besen verhext man einfach so, dass er fliegt und damit hat es sich."
„Oh nein, ganz im Gegenteil!", antwortete Emma eifrig, „es gibt so viele Dinge, auf die man achten muss! Außerdem gibt es die unterschiedlichsten Arten von Besen, manche sind auf extreme Geschwindigkeiten ausgelegt, manche auf hohe Sicherheit, manche sind besonders wendig. Das kommt immer darauf an, für welchen Zweck man den Besen nutzen will. Soll er nur als Transportmittel dienen, so ist Flexibilität nicht sehr wichtig. Für Quidditch allerdings braucht man extrem schnelle und wendige Besen. Deshalb ist die Rennbesen-Entwicklung und -herstellung ein eigener Zweig in der Besenbranche. Wenn ich mich recht erinnere, ist es das neunte Kapitel in Quidditch im Wandel der Zeiten, in dem ausführlich über die Entwicklung des Rennbesens berichtet wird."
„...die du aber jetzt nicht wiederholen musst!", unterbrach Claire sie, „Emma, du solltest wirklich Lehrerin werden! Bei deiner Vorliebe zu dozieren..."
Emma setzte zu einer bissigen Antwort an, doch sie hatten inzwischen die Stelle erreicht, wo Katie mit einem ganzen Haufen alter Besen auf die Schüler wartete.
Sie strahlte über das ganze Gesicht und zwinkerte Emma und Claire kurz zu.
„Hallo, hallo!", rief sie fröhlich, als endlich alle Schüler eingetroffen waren, „schön. Alle da? Wunderbar! Also, mein Name ist Miss Bell und ich bin hier in Hogwarts sowohl für den Flugunterricht als auch für alles, was mit Quidditch zu tun hat, verantwortlich."
„Ach nein, ich dachte, wir sind hier, um mit den Besen den Boden zu fegen!", meinte Brianna Borgin bissig, doch Katie überhörte die Bemerkung.
„So. Stellt euch bitte jeder links neben einen der Besen und streckt eure rechte Hand darüber aus", gab sie Anweisungen. Es gab ein kurzes Durcheinander, bis jeder neben einem der Besen stand. „So. Und jetzt sagt ihr bitte laut und deutlich ‚Auf!', immer noch mit der Hand über dem Besenstiel!"
„Auf!", sagte Lyn. Der Besen hob sich vom Boden und schoss ihr in die Hand.
„Wow!", meinte Claire, „guck, bei mir klappt es nicht! Auf!", rief sie ihrem Besen zu. Die Spitze des Stiels hob sich müde vom Boden um plumpste direkt wieder zurück. Auch Emma schien mit ihrem Besen keinen Erfolg zu haben, er zuckte zwar einige Male, doch konnte sich offenbar nicht dazu entschließen, vom Boden abzuheben.
Lyn blickte sich um. Der Erfolg der anderen Schüler war unterschiedlich. Bei den meisten schienen die Besen ebenso bockig zu sein wie bei Claire und Emma. Einige bewegten sich gar nicht, manche schienen unschlüssig, ob sie sich bewegen sollten und einige hoben teilweise vom Boden ab.
Allerdings waren Gabriel Finnigan und Sarah McLaggen die Einzigen, bei denen der Besen auf Anhieb in die Höhe schoss.
„Schön, das reicht jetzt!", rief Katie und klatschte in die Hände, „diejenigen, deren Besen sich nicht erhoben haben, nehmen sie nun bitte selbstständig in die Hand." Rasch bückten sich die Schüler und hoben die Besenstiele vom Boden auf. „So. Nun hebt ihr bitte das eine Bein auf die andere Seite des Besenstiels. Klemmt ihn zwischen euren Beinen ein und haltet ihn gut mit beiden Händen fest!" Die Schüler taten, wie ihnen geheißen. Lyn starrte aufgeregt auf den Besen vor ihr.
„Schön. Jetzt hört genau zu, was ich euch sage! Wenn ich pfeife, stoßt ihr euch kräftig vom Boden ab. Steigt nicht zu hoch hinauf, sondern bringt euren Besen rasch in die Waagerechte. Schwebt dann einen Moment in der Luft, dann neigt ihr bitte die Spitze eures Besen vorsichtig – ganz vorsichtig, nicht zu schnell bitte, wir wollen ja keine Bruchlandungen – nach unten und landet wieder auf dem Boden. Verstanden? Gut! Auf meinen Pfiff: Drei – Zwei – Eins."
Die Pfeife gellte durch die Luft. Lyn atmete tief ein und stieß sich vom Boden ab. Sie spürte, wie sie höher stieg, der Wind durch ihre schwarzen Haare fuhr und sie flattern ließ. Es war ein unglaubliches Gefühl. Ein breites Grinsen erschien auf ihrem Gesicht. Doch sie erinnerte sich an Miss Bells Worte und brachte ihren Besen rasch in eine waagerechte Position. Sie sah sich um.
Die meisten Schüler waren gerade einmal zwei oder drei Meter hoch gestiegen und saßen jetzt mit hoch konzentrierten Mienen da, den Stiel umklammert, und starrten auf ihre Hände. Brianna Borgin und einige andere Schüler jedoch hatten sich genau wie Lyn ein ganzes Stück höher gewagt und schwebten nun acht oder neun Meter über dem Boden.
Mit einem Mal juckte es Lyn in den Fingern, mehr zu tun, als nur in der Luft zu schweben. Dabei kam sie sich nämlich ziemlich blöd vor. Doch schon erscholl die Stimme von Miss Bell:
„Wunderbar! So, und jetzt leicht nach vorne neigen und wieder landen!"
Lyn beugte sich vor, sodass die Spitze ihres Besens gen Boden zeigte. Langsam flog sie nach unten zurück. Doch in einem plötzlichen Anflug von Leichtsinn neigte sie sich noch weiter vor, bis sie flach auf dem Besen lag und schoss mit nicht geringer Geschwindigkeit auf den Boden zu. Sie hörte einige erschrockene Aufschreie hinter sich und bremste ihren Besen zwei Meter über dem Boden wieder ab, sodass sie sanft im weichen Gras landete.
Ein Blick auf den Rest der Schüler sagte ihr, dass sie eine der Wenigen war, die auf solch angenehme Weise zum Erdboden zurückgekehrt war. Claire rappelte sich gerade mit Gabriels Hilfe grinsend vom Boden auf und auch Brianna Borgin schien nicht ganz auf die Art und Weise gelandet zu sein, die sie geplant hatte, denn Grashalme klebten an ihrem Umhang und sie fauchte ein anderes Slytherin-Mädchen böse an.
„Schön, schön!", rief Miss Bell, „das hat ja schon ganz gut geklappt!"
Sie warf Lyn einen kurzen Seitenblick zu, aus dem nicht klar wurde, ob Vorwurf oder Bewunderung darin lag, und fuhr dann fort: „Als nächstes würde ich euch bitten, nicht nur einfach in der Luft schweben zu bleiben, sondern euch, indem ihr euren Oberkörper – nur den Oberkörper, nicht den Besen – nach vorne lehnt, vorwärts zu bewegen. Alle wieder in die Startpositionen, den Besen fest zwischen den Beinen eingeklemmt, gut mit den Händen festhalten – und LOS!"
Erneut schoss Lyn in die Luft. Als sie sich ein gutes Stück über dem Boden befand stoppte sie den Besen und blieb senkrecht in der Luft stehen. Oberkörper nach vorne neigen hatte Miss Bell gesagt. Lyn holte tief Luft und bückte sich tief auf den Besenstiel hinunter – und sofort zischte sie nach vorne. Sie musste sich schwer zusammennehmen, um nicht vor Begeisterung zu schreien. Rasch richtete sie sich wieder auf und der Besen verlangsamte seinen Flug. Das Mädchen sah sich um. Brianna warf ihr einen äußerst säuerlichen Blick zu, doch sie schien die Einzige zu sein – mit Ausnahme von Miss Bell – die ihren Flug beobachtet hatte. Der Rest der Schüler war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Claire saß lachend auf dem Boden, das silberblonde Haar zerzaust und mit Grashalmen gespickt und neben sich den Besen liegend. Emma stand neben ihr und zupfte sich Gras vom Umhang. Sie schien unzufrieden zu sein.
Einige andere Schüler waren offenbar ebenfalls heruntergefallen, andere klammerten sich in merkwürdiger Schräglage an ihren Besenstielen fest und Nathaniel Holmes hing gut zweieinhalb Meter über dem Boden mit beiden Händen an seinen Besen geklammert und machte ein äußerst unglückliches Gesicht.
„Schön, schön!", rief Miss Bell, „nun kommt mal bitte alle wieder runter!" Die Schüler landeten einer nach dem anderen mehr oder weniger sanft auf dem Boden. „Wir müssen dringend neue Besen anschaffen!", murmelte Katie stirnrunzelnd.
Als sie später ins Schloss zurückgingen kicherte Claire immer noch ab und zu. Ihre Haare hingen ihr zerstrubbelt ins Gesicht und noch immer klebte hier und da ein Grashalm an ihrer Kleidung.
„Also, Fliegen ist eindeutig nichts für mich!", meinte sie grinsend, „oh Mann, waren das nicht herrliche Bruchlandungen?" Sie fing von neuem an zu kichern. Emma sagte nichts.
„Also mir hat es Spaß gemacht", sagte Lyn. Sie hatte auch die restlichen Aufgaben ohne Schwierigkeiten bewältigt und zum Schluss hatte Miss Bell sie gelobt.
„Zehn Punkte für Gryffindor, Miss Dursley, für diese exzellente Flugleistung!", hatte sie strahlend gesagt und Brianna hatte wütend geschnaubt.
„Klar, du kannst ja auch fliegen!", erwiderte Emma, „kein Wunder, dass es dir Spaß macht."
„Hey, wundert dich das?", warf Claire ein, „ich meine, Harry ist der Cousin von ihrem Dad! Da muss ja wohl irgendwas von der Vererbung her gelaufen sein!"
„Falls du dich erinnern kannst, Claire, Lyns Vater ist mütterlicherseits mit Harry verwandt. Und das Talent hat Harry ja wohl von seinem Vater geerbt! Also kann es daran nicht liegen."
„Harry – ich meine, Professor Potter kann auch Quidditch spielen?", fragte Lyn.
„Ja, angeblich", meinte Claire, „zumindest erzählt Dad das immer."
„Wie, angeblich?", hakte Lyn nach.
„Na ja, er hat seit Ewigkeiten nicht mehr selbst gespielt", erklärte Emma, „Dad meinte, früher wäre er ein 1A-Sucher gewesen."
„Und warum spielt er jetzt nicht mehr?", fragte Lyn. Emma zuckte die Schultern.
„Keine Ahnung. Zu viel zu tun, meint Mum. Er ist ja eigentlich Auror. Da bleibt nicht viel Freizeit zum Quidditchspielen, weißt du."
„Aber apropos Quidditch", sagte Claire, „nachher kannst du mal sehen, wie manche Leute fliegen können. Ich bin ja mal gespannt, wer dieses Jahr alles in den Hausmannschaften spielt."
„Ich auch", gab Emma zu, „Dad hat ja früher auch mal für das Gryffindor-Team gespielt. Hoffentlich bekommen wir eine starke Truppe zusammen, Gryffindor MUSS einfach den Quidditchpokal gewinnen!"
Um zehn vor fünf machte Harry sich auf den Weg hinunter zum Quidditchfeld. Als er sich dem Platz näherte, wurde er immer aufgeregter. Wie lange war er nicht hier gewesen! Die Erinnerungen an seine Quidditchspiele damals kamen hoch und brachten ihn zum Lächeln. Eine Lehrer-Quidditchmannschaft – das sollte er Katie wirklich vorschlagen...
Auf den Tribünen rings um das Spielfeld hatten sich schon etliche Schüler versammelt. Die meisten waren wohl nur zum Zuschauen hier, doch einige standen am Rand des Spielfeldes, mehr oder weniger nervös, und warteten darauf, dass die Auswahlspiele begannen.
„Hi Harry!", sagte Katie plötzlich hinter ihm. Er wandte sich um. „Na, auch neugierig auf die Auswahl? Ich hoffe bloß, wir kriegen eine gute Mannschaft für Gryffindor zusammen."
Harry grinste.
„Du bist auch gar nicht parteiisch, stimmt's?", meinte er. Katie grinste zurück. „Aber ich wollte dich sowieso noch sprechen. Sirius hat mich auf eine Idee gebracht. Wie wäre es, wenn anlässlich des Jubiläums eine Lehrer-Quidditchmannschaft gegründet würde und es ein Spiel Lehrer gegen Schüler gibt?"
Katie sah ihn überrascht an.
„Mensch, die Idee ist gut!", sagte sie schließlich und strahlte über das ganze Gesicht, „da werde ich doch gleich mal die Kollegen drauf ansprechen!"
„Miss Bell, können wir dann anfangen?", rief ein schlankes braunhaariges Mädchen vom Spielfeld her.
„Ja, sofort!", rief Katie zurück, „'tschuldige, Harry, ich muss. Mach's dir auf der Tribüne bequem!" Und weg war sie. Harry seufzte und ließ sich am Rand der Tribünen in der ersten Reihen nieder.
„Da vorne sitzt er!", zischte Claire und stieß Lyn in die Seite. Die drei Mädchen waren gerade am Quidditchfeld angelangt und Claire nickte mit dem Kopf in Richtung der Tribüne, wo Harry in der ersten Reihe saß.
„Na und?", meinte Emma ungerührt, „hast du gedacht, er hängt sich kopfüber an die Torringe?" Lyn grinste.
„Wär doch mal was anderes!", meinte Claire ausgelassen, „kommt, wir setzen uns so hin, dass wir ihn sehen können!"
„Mensch, Claire, sei doch nicht immer so albern!", meinte Emma genervt, während Claire sie zur Tribüne zog, „am liebsten würdest du ihn wohl rund um die Uhr bespitzeln!"
„Warum nicht?", erwiderte Claire vergnügt, „ich meine, wie sonst soll Lyn ihn kennenlernen?" Emma verdrehte die Augen. Die drei Mädchen ließen sich in der dritten Reihe nieder, ein wenig seitlich von Harry, sodass sie ihn „im Blick hatte", wie Claire es so schön formulierte.
„Wie funktioniert diese Auswahl eigentlich?", wollte Lyn wissen.
„Keine Ahnung!", meinte Claire und zuckte die Achseln, „das werden wir ja gleich sehen!"
Miss Bell hatte das Feld betreten, in der einen Hand eine hölzerne Kiste, die sie auf dem Boden vor sich abstellte.
„So. Die Kapitäne der Quidditch-Teams bitte zu mir!", wies sie die Schüler an. Aus der Gruppe der wartenden Schüler traten vier heraus. Unter ihnen waren Lorrain, die Vertrauensschülerin von Gryffindor, ein schlankes braunhaariges Mädchen aus Ravenclaw, Slytherin wurde von einem großen, muskulösen Jungen mit straßenköterblondem Haar vertreten und der Kapitän des Hufflepuff-Teams war ein schlanker großer Junge, dessen Haar so strubbelig war wie das Harrys, allerdings einen hellen rotblonden Ton hatte.
„Also, wir entscheiden jetzt per Los, welches Haus mit der Auswahl beginnen darf!", verkündete Katie.
„Per Los?", flüsterte Claire, „warum wird das denn nicht vorher entschieden?"
Emma zuckte die Achseln.
„Ist doch egal! Es ist eben so", meinte sie nur.
Harry versuchte, nicht auf das Getuschel der drei Mädchen zu achten, die zwei Reihen hinter ihm saßen. Worüber sie wohl gerade sprachen.? Vielleicht lästerten sie über ihn? Doch sofort schimpfte er sich in Gedanken selbst aus. Er sah wohl schon Gespenster!
Auf dem Spielfeld stand inzwischen
fest, in welcher Reihenfolge die Auswahlspiele stattfinden würden.
An erster Stelle war Ravenclaw gelandet, danach würde Gryffindor
folgen, als drittes Slytherin und das Schlusslicht bildete
Hufflepuff.
Harry warf einen verstohlenen Blick auf seine Uhr. Er
würde wohl nicht bis zum Ende der Auswahlspiele bleiben können,
denn in seinem Büro wartete noch einiges an Arbeit auf ihn. Doch
zumindest bis zum Ende der Zusammenstellung des Gryffindor-Teams
würde er noch warten.
Die Schüler, die sich für das Quidditch-Team der Ravanclaws bewarben waren allesamt keine allzu großen Leuchten. Helen Lynch, Sucherin und Kapitän des Teams, beobachtete mit kritischer Miene die Schüler, die alle mehr oder weniger nervös durch die Luft flogen und versuchten, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Harrys Blick folgte Lindsay Chang, einer Zweitklässlerin, die sich als Jägerin versuchte. Harry hatte nicht fragen müssen, um zu wissen, dass es sich bei diesem Mädchen um Chos Tochter handelte. Das Mädchen war nicht schlecht, jedoch schien sie sehr nervös zu sein.
Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis das Ravenclaw-Team schließlich feststand. Offenbar schienen nicht alle Schüler mit Helens Wahl zufrieden zu sein, denn einige starrten die Sechstklässlerin wütend an.
„Du nimmst Peter doch nur, weil er dein Bruder ist!", beschwerte sich ein etwas pummeliger Junge, doch Helen überhörte seinen Kommentar. Tatsächlich hatte sie ihren vierzehnjährigen Bruder als Treiber aufgestellt, gemeinsam mit Dave Fawcett, einem Fünftklässler.
„Wundert mich nicht, dass die beiden Lynch-Kinder in der Mannschaft sind", meinte Claire, „ich meine, bei dem Vater!"
„Aidan Lynch war jahrelang Sucher der irischen Quidditchnationalmannschaft", erklärte Emma auf Lyns fragenden Blick hin.
Dann, endlich, als die Ravenclaws sich davongemacht hatten, begann die Auswahl für das Gryffindor-Team.
„Oh Mann, jetzt wird's spannend!", rief Claire und rutschte aufgeregt auf ihrem Sitz hin und her.
„Also schön!", rief Lorrain, die ganz offensichtlich Kapitän des Gryffindor-Teams war, fröhlich, „alle, die verrückt genug sind, sich für unser Quidditchteam aufstellen zu lassen, kommen bitte her!"
Claire gluckste.
„Diese verrückte Nudel vergrault noch alle!", meinte sie grinsend, doch sie schien es nicht sonderlich ernst zu meinen.
Harry musterte die Gryffindor-Schüler, die nun alle der Reihe nach von Lorrain gemustert wurden. Einige Zweitklässlerinnen standen tuschelnd beisammen und deuteten immer wieder verstohlen auf einen Fünftklässler, den Harry als Jimmy Kirke in Erinnerung hatte. Harry seufzte kaum hörbar. Ein Blick auf den Haufen der Bewerber sagte ihm, dass die wenigsten von ihnen geeignet waren, um im Team zu spielen.
Lorrain begann mit einigen einfachen Übungen für diejenigen, die sich als Jäger bewerben wollten. Sie hatte offenbar selbst den Posten einer Jägerin inne, denn Harry bemerkte sehr schnell, wie flink sie mit dem Besen umgehen konnte und wie sicher der rote Quaffel ihr in der Hand lag.
Die ersten vier Jäger waren eine einzige Katastrophe. Sie hatten Schwierigkeiten, den Quaffel zu fangen, gingen ungeschickt mit ihren Besen um und eine Drittklässlerin rutschte einmal sogar fast von ihrem Besen herunter.
Lorrains Gesicht nach zu urteilen war sie ganz und gar nicht zufrieden mit den Bewerbern.
Zum Glück waren die nächsten Anwärter deutlich besser. Eine Viertklässlerin, Viola Moon, fing sogar einen äußerst schwierig gespielten Pass von Lorrain, was Harry einen leisen Laut der Bewunderung entlockte.
Nachdem alle Jäger-Bewerber vorgespielt hatten, machte Lorrain mit der Auswahl des Hüters weiter. Während der jeweilige Bewerber die Torstangen bewachte, versuchte Lorrain, mit dem Quaffel Treffer zu landen. Die meisten Bewerber hielten keinen einzigen der zehn Würfe, einige Wenige schafften es, Lorrains Treffer auf neun oder acht zu reduzieren. Schließlich jedoch kam Thomas, der andere Vertrauensschüler von Gryffindor, an die Reihe – und ließ nur zwei von Lorrains Würfen durch. Für Harry war klar, dass dies Gryffindors Hüter werden würde.
Die letzten beiden Bewerber, die nach
Thomas an der Reihe waren, kapitulierten.
Nun machte Lorrain sich
an die Auswahl der Treiber. Dazu verstaute sie den Quaffel wieder
sicher in der hölzernen Kiste und ließ nun die
berüchtigten Klatscher heraus.
Die eigentliche Aufgabe der Bewerber für die Posten der Treiber war es, auf einem Besen fliegend die herannahenden Klatscher in eine bestimmte Richtung zu schlagen. Doch für die meisten war es schon ein Problem, die Klatscher mit den Schlaghölzern überhaupt zu treffen, einige wurden beinahe selbst vom Besen gehauen. Allerdings gab es auch ein paar, die es tatsächlich bewerkstelligten, die Klatscher zu treffen und manch einer traf sogar die richtige Richtung. Dylan Wood, der zu letzteren gehörte, schien das Talent seines Vaters für Quidditch geerbt zu haben, allerdings nicht in Form des Hüters sondern einer der Treiber.
Harry gähnte verstohlen. Es war ernüchternd, zu sehen, wie wenige wirklich brauchbare Spieler es gab. Er dachte ein wenig wehmütig an seine Schulzeit zurück – ein starkes Team waren sie gewesen, Oliver Wood, Angelina, Alicia und Katie, Fred und George – und er. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sich daran erinnerte, wie sie in seinem dritten Schuljahr endlich den Quidditchpokal geholt hatten. Doch Lorrains Worte holten ihn rasch zurück in die Gegenwart:
„So, zum Schluss noch alle, die Lust
haben, das ganze Spiel über faul in der Luft herumzuhängen
und dann einer goldenen Kugel mit Flügeln
hinterherzuhetzen!"
Endlich! Der Posten des Suchers! Harry
richtete sich auf und schenkte seine ungeteilte Aufmerksamkeit nun
dem Geschehen auf dem Quidditchfeld.
Claire stieß Emma und Lyn grinsend an.
„Schaut mal! Er ist total gespannt!", flüsterte sie und nickte in Harrys Richtung.
„Ist doch verständlich, oder?", meinte Lyn, „ich meine, wenn er selbst früher der Sucher des Gryffindor-Teams war?"
„Ja, aber trotzdem-", setzte Claire an, doch Emma unterbrach sie unwirsch:
„Sei doch mal still!"
Die Sucher-Auswahl erwies sich allerdings als äußerst enttäuschend. Keiner der Bewerber war wirklich gut, die meisten eher miserabel. Harry seufzte. Wie sollte Gryffindor ohne einen passablen Sucher eine Chance auf den Quidditchpokal haben?
Schließlich verkündete Lorrain ihre Wahl:
„Also, alle mal herhören! Gleich zu Anfang: Ich hoffe mal, ihr alle kennt die Regeln von Quidditch und ihr alle könnt auch ein bisschen rechnen oder zumindest zählen. Dann wird euch auch klar sein, dass wir nicht jeden nehmen können – selbst wenn wir wollten, obwohl das natürlich nicht der Fall ist.
Die Zusammensetzung des Teams lautet wie folgt, und ich bitte euch, mir deshalb keinen der Unverzeihlichen Flüche auf den Hals zu schicken: Jäger im Team sind Viola Moon, Jude Crames und meine Wenigkeit. Als Hüter wird uns wieder Thomas hier zur Seite stehen, Treiber sind Dylan Wood und Jimmy Kirke. Und Sucher – ich habe mich schließlich für Charlotte Clark entschieden."
Obwohl Lyn längst nicht jedem Namen auch eine Person zuordnen konnte, so war es doch nicht schwer, die Mitglieder des Teams von denen zu unterscheiden, die nicht genommen worden waren. Die Gewinner strahlten, während diejenigen, die es nicht geschafft hatten, teilweise sogar in Tränen ausbrachen.
Harry erhob sich. Er hatte wirklich keine Zeit mehr. Auf seinem Schreibtisch wartete ein Stapel Pergament der Drittklässler zum Thema Grindelohs auf ihn. Während sich nun die Slytherins für die Auswahl ihres Quidditchteams bereit machten, verließ Harry die Tribüne.
„Harry!", zischte Katie ihm zu, als er an ihr vorbeiging, „wegen der Lehrermannschaft – ich kann doch auf dich zählen, oder? Als Sucher."
„Klar!" Harry nickte.
„Er geht! Kommt, hinterher! Die Slytherin-Mannschaft kann uns doch eh gestohlen bleiben!", meinte Claire. Emma seufzte genervt, schien aber nichts dagegen zu haben. Auch Lyn verspürte nicht den Drang, sich eine weitere Runde des langatmigen Auswahlverfahrens anzusehen, und so machten sich die drei Mädchen ebenfalls auf den Weg zurück zum Schloss.
„Ich hoffe bloß, ein Quidditchspiel ist nicht genau so langweilig wie das hier!", meinte Lyn und gähnte. Claire gluckste vergnügt.
„Oh nein, ganz und gar nicht! Aber warte es ab, Lyn, du wirst schon noch rechtzeitig auf den Geschmack kommen!"
Harry ging sofort schnurstracks zu seinem Zimmer. Er seufzte, als ihm der Stapel Hausaufgaben auf seinem Schreibtisch ins Auge fiel. Das würde mal wieder eine Nachtschicht werden. Missmutig ließ sich Harry auf seinen Stuhl plumpsen und nahm seine Feder zur Hand.
Der Rahmen von Sirius' Portrait war leer; offensichtlich wanderte sein Pate noch immer durch die Gemälde von Hogwarts.
Harry senkte seinen Kopf konzentriert über seine Arbeit.
„Schade!", meinte Claire enttäuscht, als sie sahen, wie Harry sofort in sein Zimmer verschwand, „ich hätte ihn gerne noch ein wenig ausspioniert."
„Claire!", wies Emma sie zurecht, „jetzt hör doch endlich mal auf mit dem Unsinn!"
Während sie sich auf den Weg zum Gemeinschaftsraum der Gryffindors machten, verstrickten sich Emma und Claire in eine Diskussion darüber, ob es sinnvoll war, Harry zu bespitzeln oder nicht.
„Könntet ihr euer – ähm – Gespräch vielleicht unterbrechen?", fragte Lyn schließlich, als sie vor dem Gemälde der fetten Dame standen.
„Kürbispastete", sagte Emma und die fette Dame schwang zur Seite, um den Weg in den Gemeinschaftsraum frei zu machen (das Passwort war einige Tage zuvor geändert worden), „und Lyn hat recht: Lassen wir diese alberne Diskussion."
Harry war gerade beim vierten Aufsatz angelangt, als ein paar höchst seltsame Geräusche zu ihm vordrangen. Er hob den Kopf und lauschte. Es klang so, als sängen dort zwei Leute, und zwar fürchterlich schief und falsch. Und zu seinem großen Erstaunen schien der grauenhafte Gesang direkt aus Sirius' Porträt zu kommen.
Während er sich noch wunderte, was dort wohl los war, tauchte sein Pate am Rand des Bildes auf. Er schwankte ein wenig und sein Blick war leicht schief – und er war nicht allein. Mit ihm war ein anderer Zauberer aufgetaucht, den Harry schon des öfteren auf einem Portrait gesehen hatte; Phineas Nigellus, Sirius' Urahn und ehemaliger Schulleiter von Hogwarts. Die beiden Männer schwankten Arm in Arm in das Bild, jeder einen Kelch Wein in der Hand, und sangen recht schief und unverständlich ein Trinklied.
Plötzlich schien Sirius zu bemerken, dass sich jemand im Zimmer befand. Er verstumme, doch Phineas lallte noch eine Weile vor sich hin, bis er bemerkte, dass Sirius nicht mehr mitsang.
„Ha-hao Harry!", sagte Sirius mit einigen Schwierigkeiten, seine Zunge zu koordinieren, „darf ich dir –hicks!- meinen Urururururur…" Er brach ab und zählte stirnrunzelnd an seinen Fingern die „Ur"s ab.
„Sirius", sagte Harry belustigt, „du bist betrunken."
„Tatsächlich?", fragte Sirius ein wenig nachdenklich, „ja, weißt du, Merlin hat heute ein Fest arrangiert..."
„Fabelhaft, dieser Wein!", schwärmte Phineas mit leicht verklärtem Blick und lallender Stimme. Harry musterte die beiden Männer grinsend. Es schien ganz, als hätten sie Brüderschaft getrunken.
„Müssen auch jetzt wieder weg", verkündete Sirius, „die –hicks!- Feier wird in Dumbledores Büro fo-fo-fortgesetzt!"
Sirius und sein Urururur-wasauchimmer verschwanden singend und schwankend aus dem Rahmen des Bildes.
„Steht was wichtiges im Tagespropheten?", fragte Claire am nächsten Morgen beim Frühstück. Emma überflog die Zeitung.
„Nö. Sie berichten nur mal wieder vom Jubiläum", erwiderte sie.
„Was soll auch wichtiges drin stehen?", fragte Lyn und widmete sich ihrem gebratenen Speck.
„Keine Ahnung!", meinte Claire vergnügt, „vielleicht hat ja irgendwer wieder ein paar Muggel erschreckt und das Ministerium muss etliche Gedächtniszauber anwenden."
„Das ist nichts, worüber man Witze macht, Claire!", warf Emma ein, doch bevor sie sich in eine Ausführung über die Gefährdung der Geheimhaltung der Zaubererwelt stürzen konnte, segelte eine Eule über ihren Kopf hinweg und landete mitten in der Schale mit den Cornflakes.
„Herbert!", rief Lyn überrascht und half ihrem Kauz aus der Schüssel, während Claire vor Lachen einen Schluckauf bekam. Herbert hielt Lyn eine Brief entgegen. Lyn riss ihn gespannt auf und Herbert segelte davon in Richtung Eulerei.
„Von meiner Mum!", verkündete Lyn. Sofort hörte Claire auf zu lachen, nur ein paar verstohlene Hickser kamen noch aus ihrem Mund.
„Was schreibt sie?", fragte Emma gespannt, „lies vor!"
Lyn begann den Brief vorzulesen:
Meine liebe Evy!
Ich habe mich sehr über deinen Brief gefreut. Und ich bin erleichtert, dass du dich in Hogwarts so wohl fühlst. Ich hatte ja Bedenken, es könnte dir nicht gefallen, immerhin ist diese Art von Menschen ein wenig seltsam und ganz anders als du es von Klein auf kanntest.
Ich muss schon sagen, ich war ein bisschen geschockt, dass Harry Potter der Cousin von Daddy ist. Immerhin ist er ein sehr berühmter Zauberer, und dass dein Vater ihn mir gegenüber nie erwähnt hat, fand ich merkwürdig. Aber nach einem Gespräch zwischen deinem Vater und mir habe ich festgestellt, dass er gar nicht wusste, wie berühmt sein Cousin ist.
Ach, und Evy, du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn du versuchen würdest, deine Briefe künftig auf dem herkömmlichen Weg zu schicken. Dein Vater sieht es nicht gerne, wenn Eulen in unserem Haus ein und aus fliegen. Und ich muss sagen, mir ist es auch nicht sehr angenehm. Es müssen ja nicht alle Nachbarn mitbekommen, dass wir Kontakt zu solchen Leuten haben. Damit will ich nicht sagen, dass du dich dafür schämen sollst. Aber unter normalen Menschen ist es nicht gerade von Vorteil, eine Hexe zu sein.
Du kommst doch an Weihnachten nach hause, oder? Ich weiß nicht, ob es dir gut tut, wenn du zu lange in dieser Schule bist. Versteh mich bitte nicht falsch. Ich denke nur, dass du auch mal wieder ein bisschen das normale Leben mitbekommen solltest. Und schließlich gehören wir als Familie zusammen, auch wenn du ein wenig anders bist als die meisten Menschen.
Lass bald wieder von dir hören, Evy. Und verliere nicht ganz den Sinn für das echte Leben.
In Liebe,
Mum
Lyn hatte geendet und sah auf. Emma und Claire starrten sie an.
„Mann!", platzte Claire schließlich heraus, „deine Mum hat ja wohl echt ein bisschen einen an der Klatsche!"
„Claire!", rief Emma empört, „reiß dich mal ein bisschen zusammen!"
„Sie hat doch Recht", meinte Lyn und faltete den Brief wieder zusammen, „meine Mum hat einen an der Klatsche."
„Siehst du!", rief Claire, „sie sagt es doch selbst!"
„Aber das ist etwas anderes!", behauptete Emma, „es gehört sich einfach nicht, so etwas über Leute zu sagen, die man nicht kennt!"
„Na hör mal!", wiedersprach Claire, „jemand der so einen Brief schreibt, den muss ich nicht kennen um zu wissen, das er nicht ganz dicht ist!"
Lyn seufzte. Während Emma und Claire damit fortfuhren, sich gegenseitig anzugiften, dachte sie über das nach, was ihre Mutter ihr geschrieben hatte. Das bisschen Heimweh, das sie zuvor noch verspürt hatte, war nun wie weggewischt. Wenn ihre Mutter Zauberer und Hexen für abnormal hielt, gut, dann musste sie sich eben damit abfinden, dass ihre Tochter abnormal war! Dann musste sie auch damit rechnen, dass ihre Tochter sich abnormal verhielt. Ein zufriedenes Lächeln erschien auf Lyns Gesicht, während die Mädchen sich auf den Weg zum Unterricht machten.
Sie würden heute ihre erste Zaubertrankstunde haben., denn der Lehrer für Zaubertränke, Professor Slughorn, war letzte Woche krank gewesen. Der Unterrichtsraum befand sich unten in den Kerkern und Lyn fragte sich, warum zum Teufel ein Klassenraum sich unterirdisch befand, wo das Schloss doch groß genug war, um ganze Hundertschaften von Unterrichtsräumen oberirdisch anzulegen.
Vor dem Klassenraum warteten schon die Hufflepuffs, mit denen sie gemeinsam Unterricht hatten.
Kaum hatten sie sich zu dem Grüppchen dazugesellt, als auch schon eine fröhliche Stimme hinter ihnen erscholl:
„Ah! Wunderbar! Da ist ja meine Klasse!"
Lyn und die anderen wandten sich um.
Den Korridor entlang schnaufte ein alter Mann mit völlig kahlem Schädel und den körperlichen Ausmaßen eines Walross. Der sieht ja von Umfang her fast aus wie Dad, schoss es Lyn durch den Kopf.
„Schön, schön!", strahlte Slughorn und schloss die Tür des Klassenraumes auf, „immer herein mit euch, immer herein!"
Die Schüler strömten in den Raum und sofort ging die Rangelei um die Plätze los. Lyn, Emma und Claire ergatterten einen Tisch in der zweiten Reihe und begannen, ihre Sachen auszupacken.
„Nun, willkommen zu Ihrer ersten Stunde Zaubertrankunterricht!", sagte Slughorn fröhlich, „ich bin Professor Slughorn, wie Ihnen ja wahrscheinlich bekannt ist. Schön! Also, dann wollen wir doch mal sehen, ob auch alle da sind!" Er fischte eine Klassenliste aus seinen Unterlagen hervor und überflog sie kurz mit leicht gerunzelter Stirn. Dann sah er auf.
„Also schön, fangen wir an! Barnes, Dominic!" Dominic hob schüchtern die Hand. „Ich denke, ich liege richtig mit meiner Vermutung, dass Sie muggelstämmig sind? Der Name ist mir nämlich bisher noch nicht untergekommen." Dominic nickte erneut. „Schön, weiter! Cohen, Paul!" Einer der Hufflepuffs hob die Hand. „Ebenfalls muggelstämmig, nehme ich an? Ja, das dachte ich mir... Cooper, William? Auch muggelstämmig?"
„Nicht ganz, Sir", erwiderte William, „meine Mum ist eine Hexe, nur mein Dad ist ein Muggel."
„Ah!", Slughorn schien interessiert zu sein, „und wie ist der Geburtsname Ihrer Mutter, wenn ich fragen darf?"
„Clearwater, Sir. Adelaine Clearwater", sagte William.
„Ach, Clearwater!", meinte Slughorn, „ja ja, ich erinnere mich... nun, machen wir weiter. Diggle, Jonathan!" Ein weiterer Hufflepuff-Junge meldete sich. „Sag, Sie sind nicht zufällig mit Dädalus Diggle verwandt, mein Junge?"
„Doch. Er war mein Großonkel", antwortete Jonathan.
„Sieh an, sieh an... Ich kannte ihn, wissen Sie. Tragische Geschichte, das mit seinem Tod damals... Nun gut, das gehört nicht hierher. Dursley, Evelyn!" Evelyn hob die Hand. „Eine weitere Muggelstämmige, nehme ich an?"
„Halb muggelstämmig, Sir", erklärte Lyn, „meine Mutter ist eine Squib. Und mein Dad ist zwar muggelstämmig, aber sein Cousin ist ein Zauberer."
„Oh, interessant!", rief Slughorn strahlend, „also magisches Blut über beide Eltern. Wie ist den der Geburtsname Ihrer Mutter?"
„Cloe Shacklebolt", antwortete Lyn.
„Ach ja. Ja, ich erinnere mich... ziemliches Drama damals... war ein harter Schlag für ihren Vater, dass er eine Squib zur Tochter hatte... Dabei waren ihre Geschwister alle sehr talentiert." Er betrachtete Lyn wohlwollend. „Und dieser Cousin Ihres Vaters? Sie kennen nicht zufällig seinen Namen?"
„Nicht nur das!", lachte Lyn, „ich habe ihn sogar schon kennen gelernt. Es ist Harry Potter."
Ihre letzten Worte hingen im Raum wie ein paar nasse, schwere Regenwolken. Es war, als würde ihr Echo von den Wänden zurückgeworfen werden: „Es ist Harry Potter... Harry Potter..."
Lyn schluckte und sah sich um. In der Klasse herrschte Totenstille. Einige Sekunden lang war es so leise, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören. Dann ging das Geflüster los:
„Hat sie Harry Potter gesagt?"
„Der Harry Potter?"
„Sie ist mit ihm verwandt?"
„Der ist doch Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste!"
Lyn versuchte angestrengt, nicht auf das Getuschel zu achten. Sie hatte gewusst, dass ihr Großcousin berühmt war. Aber doch nicht so, dass sie deswegen etwas Besonderes gewesen wäre! Unsicher sah sie erst von Emma, die von all dem unbeeindruckt schien, zu Claire, die sie begeistert angrinste. Dann wandte sie sich wieder Professor Slughorn zu.
Der alte Mann hatte ein Taschentuch gezogen und betupfte damit nun seine Stirn. Er schien ein wenig aus der Fassung zu sein.
„Harry Potter...! Du meine Güte!", murmelte er und starrte Lyn fasziniert an, „ja, und jetzt fällt es mir selbst auch auf! Nein, diese Ähnlichkeit... Nicht zu fassen, nicht zu fassen! Oh, ich kennen ihn übrigens auch persönlich, wissen Sie, seit vielen Jahren schon... Sehr netter Mensch! Und so begabt! Ja, wirklich, sehr... Hatte das Talent seiner Mutter geerbt, der Gute... Nun, vielleicht setzt sich diese Tradition ja bei Ihnen fort, Miss Dursley? Wir werden sehen, wir werden sehen..." Er betrachtete Lyn äußerst wohlwollend, bevor sein Blick wieder zur Klassenliste wanderte. „Ja... wo war ich? Ach, richtig. Dursley... Nun, wer kommt als nächstes... ah, richtig. Fawcett, Benjamin!" Ein anderer Hufflepuff-Junge hob die Hand, doch Slughorn nickte nur geistesabwesend. Er schien mit seinen Gedanken noch immer bei Lyn zu sein. „Finnigan, Gabriel!" Gabriel meldete sich, doch auch ihm schenkte Slughorn keine große Beachtung.
Die restliche Namensliste verlas Slughorn, ohne auf die Schüler einzugehen. Als er schließlich zu Emma und Claire kam, stutzte er kurz und sah auf.
„Zwei Weasleys? Sind Sie beide Geschwister?", fragte er.
„Cousinen", erklärte Emma eifrig, „unsere Väter sind Brüder."
"Aha. Und wie heißen Ihre Väter?"
„Mein Vater ist Ronald Weasley", erzählte Emma breitwillig.
„...und meiner Bill Weasley. Den kennen Sie garantiert nicht", fuhr Claire grinsend fort.
„Ah, ja. Nun, Bill Weasley, persönlich kenne ich ihn nicht, aber dennoch – erfolgreicher und bekannter Fluchbrecher bei Gringotts, nicht wahr?", erwiderte Slughorn und Claire nickte, „wie kommen Sie denn zu einem französischen Vornamen?"
„Meine Mum kommt aus Frankreich", sagte Claire, „Fleur Delacour heißt sie mit Mädchennamen."
„Aaah, Delacour!", strahlte Slughorn, „eine Viertel Veela, nicht wahr? Jaja, doch, man sieht es Ihnen ja auch noch an... dieser silberne Glanz der Haare... Nun, faszinierend, faszinierend..."
Slughorn begann seine Stunde damit, das Wissen der Schüler zu testen. Emmas Hand schoss bei jeder seiner Fragen in die Höhe und wenn er sie aufrief, folgte die korrekte Antwort wie aus der Pistole geschossen. Slughorn strahlte.
„Miss Dursley!", sagte er schließlich und wandte sich mit einem Strahlen an Lyn, „möchten Sie vielleicht auf meine nächste Frage antworten? Sagen Sie, kennen Sie die andere Bezeichnung des Eisenhut?"
Lyn runzelte die Stirn. Eisenhut? Davon hatte irgendetwas in ihrem Schulbuch gestanden. Wenn sie sich nur erinnern könnte, was dort genau gestanden hatte.
„Tut mir leid, Sir, ich weiß es nicht", erwiderte sie deshalb, „ich kann leider noch nicht alles, was im Buch steht." Ihr letzter Satz war ironisch gemeint gewesen, doch Slughorn strahlte sie an.
„Nein, natürlich nicht! Das Schuljahr fängt gerade erst an, alles können und müssen Sie ja nicht wissen. Zweiter Versuch: Wenn Sie einen Trank zur Heilung von Furunkeln brauen – geben Sie die Stachelschweinpastillen hinzu, während der Kessel auf dem Feuer ist, oder nachdem Sie ihn heruntergenommen haben?"
Lyn atmete erleichtert auf. Das stand direkt im ersten Kapitel des Buches und sie wusste es.
„Danach", erwiderte sie, „sonst besteht die Gefahr, dass das Gebräu explodiert und die gegenteilige Wirkung hat, als es beabsichtigt war."
„Exzellent, Miss Dursley!", rief Slughorn und klatschte in die Hände, „fünf Punkte für Gryffindor, ja wirklich, auch schön erklärt!"
Lyn fragte sich verdattert, was daran jetzt so großartig gewesen sein könnte – schließlich hatte sie lediglich das wiedergegeben, was im Buch stand.
Als die Stunde vorbei war, und alle hastig ihre Sachen zusammenpackten, erhob Slughorn noch einmal die Stimme:
„Ach, bevor ich es vergesse: Miss Dursley, Mister Cohen, Mister Diggel und die beiden Miss Weasleys; bleiben Sie doch bitte noch eine Weile hier, ja? Ich würde Sie gerne einen kurzen Augenblick sprechen."
Lyn und Claire sahen sich verdutzt an. Emma jedoch schien nicht überrascht.
„Was will er denn von uns?", fragte Claire flüsternd, „ich hab mich doch diesmal gar nicht so daneben benommen!"
„Erklär ich dir später!", flüsterte Emma zurück.
Schließlich hatten alle anderen Schüler den Raum verlassen und nur noch Emma, Claire, Lyn, Paul und Jonathan saßen abwartend auf ihren Plätzen.
„Kommen Sie doch nach vorne!", forderte Slughorn sie lächelnd auf, „das Folgende hat nichts mit dem Unterricht zu tun."
Die fünf Kinder erhoben sich und gingen nach vorn zu Slughorns Schreibtisch.
„Nun", begann er, „eigentlich ist es nichts großartiges, was ich Ihnen sagen will. Am kommenden Samstag findet eine kleine Feier statt, in meinem Büro. Es ist im kleinen Rahmen geplant, nichts großartiges, nur ein paar Schüler sind eingeladen. Ich würde mich freuen, wenn auch Sie kommen würden!"
„Jetzt rück endlich raus mit der Sprache!", platzte Claire heraus, als sie weit genug von Slughorns Klassenraum entfernt waren, „was will der Kerl von uns!"
„Mum und Dad haben davon erzählt", erklärte Emma, „ich vermute, es handelt sich um den Slugclub."
„Den was?", fragte Lyn verdutzt.
„Slugclub. Das hat Slughorn offenbar schon früher gemacht. Schüler, die besonders begabt waren, oder berühmte oder besondere Verwandte hatten, die hat er in den Slugclub geholt. Und dann hat er gute Kontakte zu ihnen gepflegt, was ihm häufig Vorteile eingebracht hat."
„Du meinst, der ist darauf aus, zukünftige Promis von Anfang an zu kennen?", fragte Claire ungläubig.
„So ungefähr", meinte Emma, „schau's dir doch an: dieser Jonathan ist mit Dädalus Diggel verwandt, Lyn mit Harry, du bist ne Achtelveela und dein Dad ist ein bekannter Fluchbrecher bei Gringotts..."
„...und du und Paul habt durch Leistung geglänzt. Ich verstehe!", beendete Claire grinsend, „na, dann bin ich ja mal auf diese komische Feier am Samstag gespannt!"
Die Woche verging wie im Flug, und ehe die Mädchen es sich versahen, war es Samstag.
„Muss man sich da irgendwie besonders schick machen?", fragte Lyn nervös.
„Quatsch!", winkte Claire ab, „is doch nur Slughorn! Ich glaube kaum, dass irgendeiner der anderen Schüler was anderes als die normale Schuluniform anhat."
„Okay, wenn du meinst", antwortete Lyn, „aber es ist deine Schuld wenn wir unpassend angezogen sind..."
Am Abend machten die drei Freundinnen sich ein wenig nervös und natürlich überaus neugierig auf den Weg zu Slughorns Büro.
„Was glaubt ihr, wer alles da sein wird?", fragte Lyn gespannt.
„Keine Ahnung", meinte Emma, „wir werden es ja gleich sehen."
Sie gingen den von Fackeln erleuchteten Gang entlang. Nach einer Weile hörten sie gedämpfte Stimmen und leises Gelächter. Offenbar waren sie beinahe da.
Sie bogen um eine Ecke – und standen vor einer offenen Tür, in die gerade einige Ravenclaw-Schüler hineingingen und von Slughorn begrüßt wurden. Als er Emma, Lyn und Claire erblickte, klatschte er strahlend in die Hände.
„Ah!", rief er freudestrahlend, „wie schön, dass Sie Zeit gefunden haben, zu kommen! Nur herein mit Ihnen, meine Damen!"
Sie betraten den Raum und Claire flüsterte:
„Hat er Damen gesagt!"
Lyn jedoch erwiderte nichts auf die Frage ihrer Freundin. Sie blickte sich mit offenem Mund um.
„Wow!", flüsterte sie beeindruckt.
Professor Slughorns Büro war gigantisch, viel größer, als ein Büro eigentlich hätte sein können. Die Decke war hoch und ebenso wie die Wände mit zahlreichen roten, grünen und goldenen Tüchern, Vorhängen und Schleiern behängt. Überall in dem gigantischen Zimmer standen gemütliche orientalisch anmutende Diwans, auf denen sich die Schüler lümmelten und schwere gewebte Teppiche auf dem Boden dämpften die Geräusche der vielen Fußpaare.
„Gefällt es Ihnen?", fragte Slughorn, als er Lyns erstaunten Gesichtsausdruck bemerkte, „ja, ich habe keine Mühe gescheut für den heutigen Abend und mir erlaubt, mein Büro ein wenig zu vergrößern. Aber wie hätten wir auch alle Platz haben sollen, bei nahezu vierzig Mitgliedern?"
„Was für Mitglieder?", fragte Claire scheinheilig.
„Ach, richtig, das habe ich Ihnen noch gar nicht erzählt, oder?", rief Slughorn und schlug sich auf die kahle Stirn, „nun, Mitglieder des Slug-Clubs. Und ich würde mich freuen, wenn Sie drei uns ebenfalls die Ehre ihrer Mitgliedschaft erteilen würden."
Die Mädchen sahen sich an und Slughorn beeilte sich, zu sagen:
„Natürlich müssen Sie sich nicht sofort entscheiden. Sie entschuldigen mich, ich muss meine Gäste begrüßen!" Und er rauschte davon wie ein dickes schweres Walross.
„Na, kommt, mischen wir uns unters Volk!", meinte Claire grinsend und packte Lyn und Emma am Arm. Sie zog die beiden zu einem smaragdgrünen Diwan mit goldenen Stickereien hinüber und ließ sich darauf plumpsen. Lyn und Emma folgten ihrem Beispiel etwas weniger impulsiv.
„Schaut mal! Ist das nicht unsere liebe Brianna da drüben!", meinte Claire und stieß Emma und Lyn in die Rippen. Sie deutete in eine Ecke des Raumes, wo ein Haufen Slytherins sich versammelt hatte. Tatsächlich stand Brianna Borgin bei ihren Hausgenossen und unterhielt sich gerade intensiv und eifrig mit den Augenlidern flatternd mit einem Drittklässler aus Slytherin.
„Schaut nur, wie sie mit den Wimpern klimpert!", flötete Claire und blinzelte affektiert. Lyn prustete los und schlug sich rasch die Hände vor den Mund.
„Lass sie doch!", meinte Emma tadelnd, „du bist auch nicht besser als sie, wenn du ständig irgendwelche Leute ausspionierst!"
„Was heißt hier ausspionieren!", protestierte Claire empört, „so wie Klein-Brianna sich aufführt, da kann doch kein normaler Mensch dran vorbeisehen! Klimper, klimper!"
Emma seufzte genervt auf, während Lyn noch immer in sich hinein prustete. In diesem Moment wühlte sich Slughorn einen Weg durch die Schüler und blieb mit rot glühendem Glatzkopf und einem strahlenden Lächeln vor ihnen stehen. Die Mädchen machten Anstalten, sich zu erheben, doch Slughorn winkte gut gelaunt ab.
„Lasst nur! Ich möchte ehrlich gesagt auch mal sitzen", verkündete er vergnügt und ließ sich ächzend auf dem Diwan neben ihnen nieder. Lyn musterte den Diwan besorgt; er wirkte, als wäre er kurz davor, unter Slughorns Gewicht einfach wegzuplatzen.
„Nun, meine Lieben, wie geht es euch?", fragte Slughorn und strahlte die Mädchen an. Ohne jedoch eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Ihr habt doch nichts dagegen, wenn ich euch mit Vornamen anrede, oder?" Emma, Claire und Lyn schüttelten die Köpfe. Slughorn strahlte. „Dein Vater spielt bei den Chudley Cannons, Emma, nicht wahr?", wandte er sich dem Mädchen zu. Emma nickte.
„Er ist Hüter", antwortete sie.
„Bestelle ihm bei Gelegenheit einen schönen Gruß von mir!", meinte Slughorn, „ich hoffen doch, dass er sich an mich erinnert."
„Bestimmt", meinte Claire und der ironische Unterton war nur allzu deutlich herauszuhören. Slughorn jedoch schien er zu entgehen.
Der Abend zog sich in die Länge. Emma war mittlerweile in ein Gespräch mit zwei Ravenclaw-Mädchen namens Sherryl Salem und Jade Fielding verstrickt. Die drei unterhielten sich äußerst angeregt über die Situation von Hauselfen in der Zauberergesellschaft.
„Wisst ihr, meine Mutter beschäftigt sich seit ihrem vierzehnten Lebensjahr damit", erzählte Emma den anderen beiden, „sicherlich habt ihr schon einmal von der Organisation B.ELFE.R gehört, oder?" Sherryl und Jade nickten eifrig. „Nun, meine Mutter hat sie damals in ihrem vierten Jahr in Hogwarts gegründet. Natürlich hielt sich die Begeisterung damals in Grenzen, schließlich hat man sich zu dieser Zeit noch keine wirklichen Gedanken über die Rechte von Hauselfen gemacht. Und meine Mutter wurde natürlich als noch nicht volljährige Hexe nicht für voll genommen. So kam es, dass sie einige Jahre lang leider nichts mehr für den Ausbau der Organisation tat.
Na ja, heute ist sie zum Glück Leiterin der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe und hat B.ELFE.R zu einer international anerkannten Elfenrechsorganisation gemacht."
„Ja, meine Eltern sind vor zwei Jahren der Organisation beigetreten!", sagte Sherryl mit strahlenden Augen, „ich finde es ungeheuerlich, was manche Zauberer heute noch ihren Elfen teilweise antun!"
„Wenn meine Eltern keine Muggel wären, würden sie sicherlich auch Mitglieder werden!", beteuerte Jade, „aber ich fürchte, ihnen fehlt einfach die nötige Sachkenntnis und Beziehung zu dem Thema."
„Ich denke, ich werde meiner Mutter vorschlagen, dass sie eine Jugendorganisation von B.ELFE.R in Hogwarts ins Leben ruft", meinte Emma nachdenklich, „ich meine, gerade die jungen Leute sollten doch von solchen Dingen erfahren!"
„Das ist eine großartige Idee!", erwiderte Sherryl begeistert.
„Ja, vor allem, weil zwei Ehrenmitglieder der Organisation hier arbeiten", fuhr Emma fort, „zwei Hauselfen, Dobby und Winky heißen sie. Soweit ich weiß sind sie schon öfter bei Informationsveranstaltungen von B.ELFE.R dabei gewesen und haben von ihren eigenen früheren Erfahrungen berichtet."
„Das ist ja interessant!", meinte Jade, „das wäre doch dann sicher möglich, dass diese beiden Hauselfen bei den Sitzungen hier in Hogwarts anwesend sind, wenn eine Jugendorganisation zustande kommt?"
„Bestimmt", nickte Emma, „soweit ich Dobby kenne, wären zumindest er begeistert dabei."
Claire unterdessen beobachtete seit nunmehr einer Stunde jeden Schritt von Brianna Borgin. Sie hatte inzwischen herausgefunden, mit wem sie sich da so eifrig flirtend unterhielt; es handelte sich um Hendric Burkes, einen Drittklässler, der offenbar ebenso angetan war von Brianna, wie sie von ihm.
Lyn hatte es zwar am Anfang ganz witzig gefunden, die beiden zu beobachten und über sie zu lästern, doch mittlerweile war ihr doch ein wenig langweilig zumute. Immer häufiger warf sie einen Blick auf die Uhr und fragte sich, wie lange das ganze eigentlich noch gehen sollte.
Schließlich, ungefähr gegen neun Uhr, stand sie auf.
„Was hast du vor?", fragte Claire verwundert.
„Nimm's mir nicht übel, Claire", sagte Lyn, „aber ich hab irgendwie genug davon, mir ist langweilig. Ich geh in den Gryffindor-Turm."
„Oh", meinte Claire nur, „okay, bis später dann!"
Lyn nickte und beeilte sich, Slughorns Büro zu verlassen, bevor dieser sie noch einmal abfangen und in ein Gespräch über irgendetwas verwickeln konnte.
Draußen in den Korridoren kam es ihr merkwürdig still vor nach der lauten Party bei Slughorn. Ihre Schritte waren das einzige Geräusch und nur ab und zu schwebte einer der Geister vor ihr aus einer der Wände und verschwand, ohne sie eines Blickes zu würdigen, in der gegenüberliegenden Wand. Die Gemälde zu beiden Seiten schienen teilweise schon zu schlafen, andere blickten ihr mehr oder weniger neugierig hinterher.
Lyn bog um eine Ecke – und prallte beinahe mit jemandem zusammen. Erschrocken sah sie auf. Sie blickte in ein anderes Augenpaar, so grün wie ihr eigenes und ebenso erschrocken. Professor Potter stand vor ihr und musterte sie ziemlich überrascht.
„Verzeihung, Professor!", sagte sie hastig, „ich... ich habe Sie nicht gesehen."
Harry lächelte.
„Schon in Ordnung, Miss Dursley", sagte er. Lyn lächelte ein wenig unsicher. Es war das zweite Mal in ihrem Leben, dass sie ihrem Großcousin alleine gegenüberstand. Sie überlegte, ob sie ihn auf ihre Verwandtschaft ansprechen sollte.
Einige Sekunden unangenehmen Schweigens entstanden.
„Es ist ziemlich spät", meinte Harry schließlich, „wie kommt es, dass Sie zu dieser Zeit noch in der Schule umherlaufen?"
„Oh, Professor Slughorn veranstaltet irgend so eine Party in seinem Büro", erzählte Lyn minder begeistert, „aber, um ehrlich zu sein, allzu berauschend fand ich es da nicht."
„Ah ja, Professor Slughorn und seine Partys...", meinte Harry und nickte verstehend. Lyn musterte ihn neugierig. Es interessierte sie brennend, ob er wohl danach fragen würde, weshalb Slughorn sie eingeladen hatte, und somit zur Sprache bringen würde, dass er ihr Großcousin war. Doch Harry tat nichts dergleichen.
„Ich nehme an, Sie sind jetzt auf dem Weg zum Gryffindor-Turm?", sagte er stattdessen. Lyn nickte, ein wenig enttäuscht, dass er nicht nachgefragt hatte. Aber warum sollte er auch? Schließlich wusste er doch, weshalb Slughorn sie zu seiner Party eingeladen hatte. „Nun, dann wünsche ich ihnen eine gute Nacht!", sagte Harry, „und passen Sie auf, dass Sie Filch nicht über den Weg laufen!" Lyn grinste.
„Geht klar, Professor!", sagte sie und huschte davon.
Harry sah ihr nach. Er runzelte die Stirn. Es wollte ihm einfach nicht in den Kopf, dass diese Mädchen, Dudleys Tochter, so ganz anders war als ihr Vater. Er schüttelte den Kopf und ging weiter in Richtung seines Büros.
Sirius hatte wieder einmal Besuch von Phineas Nigellus. Die beiden hatten sich an dem Abend der Feier bei Merlin eng angefreundet und durchstreiften seither die Portraits der Schule.
Harry schenkte ihnen keine große Beachtung, sondern verzog sich ohne Umschweife in sein Bett. Er wollte sich morgen einen Tag Entspannung gönnen und hatte vor, ausgeschlafen zu sein und früh aufzustehen, damit er vor den Schülern mit dem Frühstück fertig war. Denn eine Gruppe Drittklässlerinnen, die ihm kichernd hinterherlief, und Autogramme von ihm haben wollte, konnte er an solch einem Tag wirklich nicht gebrauchen. Und schon gar keine sensationshungrige Claire Weasley, die ihm auf Schritt und Tritt folgte.
