Bellatrix Lestrange in Großbritannien gesichtet
Die Schlagzeile des Tagespropheten sprang Harry geradezu ins Auge. Auf halbem Weg zu seinem Mund hielt seine Hand an und der Becher mit dem Kürbissaft verweilte in der Luft. Sofort schoss eine Vielzahl von Gedanken durch seinen Kopf. Langsam setzte er den Krug zurück auf den Tisch.
„Verzeihung", sagte er zu Professor Slughorn, neben dessen Platz der Tagesprophet lag, „darf ich mir kurz Ihre Zeitung ausleihen, Professor Slughorn?"
„Aber natürlich!", strahlte Slughorn. Harry bedankte sich und schnappte sich den Tagespropheten.
Bellatrix Lestrange in Großbritannien gesichtet
Nach Informationen des Tagespropheten wurde Bellatrix Lestrange, die gesuchte Schwarzmagierin und ehemalige Anhängerin Lord Voldemorts, gestern in einem Dorf in der Nähe der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei gesichtet. Ausführlicher Bericht auf Seite 5.
Mit zitternden Fingern blätterte Harry auf Seite 5 des Tagespropheten. Ein großes Schwarzweißphoto von Bellatrix Lestrange prangte dort unter der dicken schwarzen Überschrift:
Sie ist wieder im Land
Hastig begann Harry zu lesen; den Kürbissaft hatte er längst vergessen:
Bellatrix Lestrange, die gefürchtete und gesuchte Schwarzmagierin und einst engste Vertraute des berüchtigten Lord Voldemort, ist anscheinend wieder in Großbritannien. Das Ministerium hatte noch im Sommer diesen Jahres erklärt, Lestrange hielte sich momentan in Ungarn auf, wo man ihr dicht auf der Spur sei. Nun scheint es, dass es sie zurück nach Großbritannien gezogen hat.
Eine ältere Hexe will die ehemalige Todesserin in einem Dorf in der Nähe der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei gesehen haben.
„Ich habe ja solch einen Schrecken bekommen", erzählt Amanda Jones (82), „ich meine, es hingen ja bis vor einigen Jahren noch überall die Plakate mit ihrem Photo drauf, und ich hab mir natürlich so eins mit nach Hause genommen damals, wissen Sie. Und dann läuft mir diese Frau praktisch über den Weg, stellen Sie sich das vor! Ich hab sie sofort erkannt, mir ihren dunklen Augen, wie sie so verrückt in der Gegend umhergestarrt hat. Huh, hat's mich geschaudert!"
Bellatrix Lestrange wird in Großbritannien wegen unterschiedlicher Delikte gesucht...
Harry hörte auf, zu lesen. Er starrte auf das Photo, auf dem ihn Bellatrix Lestrange aus tief eingesunkenen Augen und unter schweren Augenlidern hervor finster anstarrte. In einem Dorf in der Nähe der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei... Das war seine Chance. Bellatrix Lestrange war irgendwo da draußen, ganz in der Nähe, er musste sie nur finden!
Er erhob sich. Den Tagespropheten in der Hand eilte er aus der Großen Halle, ohne auch nur einen Bissen gefrühstückt zu haben. Hastig eilte er die Treppe hinauf und in sein Arbeitszimmer. Sirius schreckte in seinem Rahmen auf.
„Nanu", sagte er überrascht, „so schnell vom Frühstück zurück? Ist irgendetwas passiert?"
„Allerdings", erwiderte Harry mit glühenden Wangen. Er schlug Seite 5 des Tagespropheten auf und hielt Sirius die Zeitung entgegen. „Das ist passiert!"
Sirius starrte auf das Photo. Dann starrte er Harry an.
„Ich weiß, was du vorhast, Harry", sagte er und runzelte die Stirn, „und du solltest es lassen!"
„Begreifst du denn nicht?", fragte Harry aufgebracht, „sie ist hier, ganz in der Nähe! So eine Gelegenheit wird sich nie wieder bieten!"
Sirius schüttelte mit einem bekümmerten Gesichtsausdruck den Kopf.
„Du hast jetzt erst einmal Unterricht", sagte er sachlich, „konzentrier dich darauf, nicht auf Bella."
Harry starrte das Portrait seines Paten an.
„Aber...", begann er, „sie hat dich umgebracht!"
„Danke, dass du mich darauf aufmerksam machst, ich hätte es schon beinahe vergessen", grinste Sirius, doch er wurde schlagartig wieder ernst, „aber der Unterricht geht trotzdem vor, Harry. Du kannst nicht deine persönlichen Rachegedanken auf dem Rücken der Schüler austragen."
Harry seufzte.
„Wenn du es sagst", meinte er und begann, seine Unterrichtsmaterialien zusammenzusuchen.
„Ich habe Ihre Hausaufgaben korrigiert", verkündete Harry wenige Zeit später den Erstklässlern aus Gryffindor und Slytherin, „ich muss sagen, im Allgemeinen war ich zufrieden mit ihren Ausführungen bezüglich des Schildzaubers, auch wenn hier und da einige Mängel zu erkennen waren. Nun, ich werde Ihnen die Aufsätze nun zurückgeben."
Er kramte die Pergamentrollen hervor und leises Getuschel machte sich im Klassenraum breit.
„Pass auf!", flüsterte Claire Gabriel zu. Sie zückte ein kleines Spuckrohr und knüllte einen kleinen Zettel zu einer Kugel. Rasch schob sie das Kügelchen vorne in das Spuckrohr. „Brianna Borgin!", murmelte sie und tippte mit der Spitze ihres Zauberstabes leicht auf das Spuckrohr. Dann setzte sie es an den Mund und blies feste hinein. Die Kugel zischte vorne aus dem Rohr heraus, beschrieb einen scharfen Bogen in der Luft und knallte dann Brianna mitten auf die Stirn. Gabriel prustete los, während Brianna erschrocken aufkreischte.
„Ich bitte um Ruhe!", sagte Harry mahnend und sah auf, „Miss Borgin, würden Sie sich bitte zusammennehmen!"
„Das ist unfair!", protestierte Brianna lautstark, „die blöde Weasley-Kuh hat mich beschossen!"
„Das gibt einen Punkt Abzug für Slytherin!", erwiderte Harry scharf, „und ich würde Sie bitten, Ihre Mitschüler künftig nicht zu beleidigen."
Brianna funkelte ihn zornig an.
„Das ist ja genial das Teil!", flüsterte Gabriel Claire zu, „und du triffst automatisch die Person, deren Namen du aussprichst?"
Claire nickte grinsend.
„Hab ich von Fred und George", flüsterte sie, „es ist noch in der Entwicklung. Sie versuchen, es so umzuarbeiten, dass es auch ohne das Zauberstab-Antippen funktioniert. Aber ich soll es trotzdem schon mal testen."
„Was gibt es denn da zu tuscheln, Miss Weasley?", fragte Harry scharf. Claire blickte ihn unschuldig an.
„Wir haben nur die Inhalte unserer Aufsätze verglichen und überlegt, wer wohl besser abgeschnitten hat", erwiderte sie mit einem strahlenden Lächeln.
Harry blickte sie zweifelnd an, sagte aber nichts weiter. Stattdessen trat er nun mit den Pergamentrollen in der Hand hinter dem Pult hervor und begann, die Hausaufgaben auszuteilen.
„Wie ich schon sagte", verkündete er laut, „alles in allem war ich sehr zufrieden mit ihren Aufsätzen. Am besten gefallen hat mir die Ausarbeitung von Miss Emma Weasley." Emma errötete leicht, als Harry ihr die Pergamentrolle aushändigte. „Wirklich sehr anschaulich und ausführlich, Ihr Aufsatz. Nehmen sie dafür fünf Punkte für Gryffindor." Emma strahlte über das ganze Gesicht. „Und auch ihre Hausaufgabe, Miss Dursley, war außerordentlich gut", fuhr Harry fort und gab Lyn die Pergamentrolle, „auch bei Ihnen, fünf Punkte für Gryffindor." Lyn und Emma sahen sich an und grinsten.
Harry fuhr fort, die Hausaufgaben zurückzugeben und jedem Schüler ein paar Worte dazu zu sagen.
„Miss Weasley", wandte er sich an Claire, „ein wenig mehr Fleiß wäre angemessen. Sie haben durchaus die Grundgedanken erfasst, aber Ihr Aufsatz war alles in allem doch eindeutig ein wenig knapp." Claire grinste. Sie nahm ihre Pergamentrolle entgegen und machte sich nicht einmal die Mühe, einen Blick darauf zu werfen. „Ich fürchte, Sie haben bei Ihrem Aufsatz einige gravierende Fehler gemacht, Miss Borgin", meinte Harry zu Brianna und überflog mit gerunzelter Stirn noch einmal den Text des Mädchens, „teilweise ist die Beschreibung nicht nur lückenhaft, sondern weist auch Elemente auf, die schlichtweg falsch sind. Sie sollten das entsprechende Kapitel im Buch noch einmal durcharbeiten." Brianna nahm ihre Pergamentrolle mit säuerlichem Blick entgegen. Claire grinste schadenfroh.
Als jeder Schüler seine Hausaufgaben zurückerhalten hatte, machte Harry mit dem normalen Unterricht weiter. Allerdings ertappte er sich immer wieder dabei, wie er mit den Gedanken abschweifte und es ihm schwer fiel, sich auf den Unterrichtsstoff zu konzentrieren. Bellatrix Lestrange befand sich in diesem Moment irgendwo da draußen, ganz in seiner Nähe, ja, vielleicht sogar in seiner Reichweite. Und er saß hier drinnen und versuchte, den Schülern die Grundbegriffe der Verteidigung gegen die Dunklen Künste beizubringen. Das war grotesk, fand er.
Auch den Schülern fiel auf, dass Professor Potter heute nicht ganz bei der Sache zu sein schien.
„Was wohl mit ihm los ist?", meinte Lyn nach der Stunde zu Emma und Claire.
„Vielleicht hat er sich ne Erkältung eingefangen", mutmaßte Claire, „also, wenn mein Dad erkältet ist, denkst du auch, er ist irgendwie nicht so ganz anwesend."
„Ich glaube nicht, dass es daran liegt", erwiderte Emma.
„Ach, und woher willst du das wissen?", fragte Claire ironisch. Emma setzte eine wissende Miene auf.
„Habt ihr heute Morgen nicht auf die Schlagzeile des Tagespropheten geschaut?", fragte sie und blickte Lyn und Claire an. Claire kicherte.
„Ich les doch keine Zeitung", meinte sie grinsend, „ich bin morgens mit Frühstücken beschäftigt."
„Ja, das ist auch immer nur schwer zu übersehen!", meinte Emma missbilligend.
„Da stand irgendwas von einer Beatrice oder so", erinnerte Lyn sich.
„Bellatrix Lestrange", erklärte Emma fachmännisch, „sie wurde hier in der Nähe gesehen."
„Oh nein, du glaubst doch nicht etwa-", setzte Claire an, doch Emma unterbrach sie:
„Genau das glaube ich. Er wird wahrscheinlich die ganze Stunde lang darüber gebrütet haben."
„Ähm – könnte mich mal bitte jemand aufklären?", fragte Lyn, „wer ist diese Bellatrix Lestrange? Und was hat Harry mit ihr zu tun?"
„Sie war ne Todesserin", sagte Claire, während sie sich auf den Weg zu Zaubertränke machten, „ne ziemlich berüchtigte, war wohl so was wie die Lieblings-Todesserin vom ollen Voldi, wenn er so was hatte. Tja, und sie hat dummerweise Harrys Paten damals umgebracht."
„Harry war dabei", fuhr Emma mit einem bekümmerten Gesichtsausdruck fort, „Mum und Dad haben mir davon erzählt. Er war da gerade fünfzehn und – na ja, das hat ihn halt ziemlich fertig gemacht, damals."
„Logisch, dass er Sirius, also, seinen Paten, rächen will", meinte Claire, „na ja, er steigert sich da glaube ich n bisschen rein. Er hat diese Frau mehrere Jahre verfolgt, kein Wunder, dass er jetzt total geistig abwesend ist, wenn sie hier in der Nähe rumrennt."
Harry seufzte ergeben, als es zum Ende der letzten Stunde läutete. Noch nie war ihm ein Schultag in Hogwarts so lange vorgekommen. Schnell packte er seine Sachen zusammen und scheuchte die Viertklässler aus dem Klassenraum.
Er hastete in sein Büro und überraschte Sirius gerade beim gemütlichen Plausch mit Phineas Nigellus.
„Wo um alles in der Welt willst du denn so hastig hin?", fragte Sirius, als er Harrys Eile bemerkte.
„Zu Ginny", meinte Harry nur und schon war er aus dem Zimmer gerauscht. Sirius sah ihm kopfschüttelnd nach.
Der Weg nach Hogsmeade war ihm noch nie so lang vorgekommen, und als er endlich bei Ginny vor der Haustür stand und sie ihm öffnete, bestürmte er sie sofort mit einem Schwall Worte.
„Hast du heute morgen die Zeitung gelesen? Sie ist wieder hier, in Großbritannien, und ganz hier in der Nähe. Ich muss sie finden, ich muss einfach!"
„Jetzt beruhig dich mal und komm erst mal rein, Harry", meinte Ginny kopfschüttelnd und bugsierte ihn ins Wohnzimmer. Harry weigerte sich jedoch, auf einem der gemütlichen Sessel Platz zu nehmen, sondern streckte Ginny die Zeitung mit Bellatrix' Foto entgegen.
„Hier", sagte er aufgeregt, „seit Jahren versuche ich sie in die Finger zu bekommen, und jetzt läuft sie mir praktisch in die Arme! Ist das nicht irgendwie Ironie?"
Ginny nahm den Tagespropheten entgegen und begann stirnrunzelnd zu lesen. Harry blickte sie ungeduldig an.
„Amanda Jones, 82?", las Ginny vor und blickte Harry vielsagend an.
„Was ist denn daran so merkwürdig?", fragte dieser aufgebracht.
„Harry", meinte Ginny vorsichtig und legte die Zeitung zur Seite, „meinst du nicht, du steigerst dich da wieder in etwas hinein?"
„Wieso in etwas hineinsteigern?", fragte Harry gereizt. Er hatte damit gerechnet, dass Ginny ihn verstehen, seine Aufregung teilen würde.
„Woher willst du denn wissen, dass Bellatrix wirklich hier in der Gegend ist?", erwiderte Ginny, „es gibt eine einzige Augenzeugin, die behauptet, sie hätte sie gesehen."
„Warum sollte sie lügen?", antwortete Harry hitzig, „und warum soll das Wort eines Einzelnen nichts gelten? Mir hat damals auch niemand geglaubt, dass Voldemort zurück war!"
„Harry, jetzt fang bitte nicht mit den alten Geschichten an", bat Ginny und seufzte genervt, „alles, was ich sagen will, ist, dass diese Amanda Jones sich vielleicht geirrt haben könnte. Ich meine, sie ist 82, ist es da nicht möglich, dass sie irgendjemand anderen für Bellatrix gehalten hat?"
„Und was, wenn sie Recht hat?", unterbrach Harry sie und stand auf. Er begann, unruhig im Zimmer umherzugehen. „Was, wenn Bellatrix Lestrange tatsächlich wieder hier ist? Willst du sie frei herumlaufen lassen? Diese Frau ist zu allem fähig, sie ist eine Bedrohung für die gesamte Bevölkerung, und wenn sie sich in der Nähe von Hogwarts aufhält, insbesondere für die Schüler!"
„Dir geht es doch gar nicht um die Bevölkerung", meinte Ginny und stand ebenfalls auf, „eine Bedrohung war sie doch auch für die Menschen in Ungarn. Es ist doch die Sache mit Sirius, die dir nachhängt!"
„Und selbst wenn!", meinte Harry wütend, „jemand muss sie dingfest machen!"
„Ja, jemand. Aber nicht du, Harry", antwortete Ginny eindringlich, „du weißt selbst am besten, dass das Ministerium jede Menge ausgezeichneter Auroren beschäftigt. Wenn auch nur der geringste Grund zu der Annahme besteht, dass Bellatrix tatsächlich hier in der Nähe ist, dann wird man sich schon darum kümmern. Aber halte du dich da ausnahmsweise mal raus, Harry!"
Es herrschte Schweigen. Harry starrte Ginny fassungslos an. Er begriff einfach nicht, warum sie nicht verstand, dass er es war, der Bellatrix zuerst in die Finger bekommen musste!
„Du verstehst überhaupt nicht, worum es eigentlich geht!", rief er wütend, „diese Frau hat – hat Sirius - "
„... ermordet, ich weiß!", unterbrach Ginny ihn ungeduldig, „Harry, um Himmels Willen, dass ist vierzehn Jahre her! Du kannst dich unmöglich jetzt noch so in diese Sache hineinsteigern!"
„Ich steigere mich in nichts hinein!", rief Harry hitzig, „du begreifst einfach nicht, dass – dass sie mir gehört! Sie muss für das, was sie getan hat, zur Rechenschaft gezogen werden!"
„Aber es ist nicht deine Aufgabe, das zu tun!", widersprach Ginny scharf, „wohin würde das denn führen, wenn jeder Selbstjustiz verüben würde? Du verrennst dich in deinen Hass auf diese Frau, und verlierst dabei völlig den Blick für jegliche Maßstäbe und die Realität!"
„Du begreifst es nicht!", brauste Harry auf und blickte Ginny zornig an, „du weißt nicht, wie das ist, wenn jemand dir einen geliebten Menschen mit Gewalt nimmt! Deinen Paten hat niemand ermordet, du kannst einfach nicht verstehen, wie man sich in so einer Situation fühlt!"
„Jetzt mach aber mal nen Punkt!", rief Ginny wütend, „es ist ja absolut nachvollziehbar, dass das für dich schlimm war und auch sicher noch ist, aber du führst dich im Moment einfach nur lächerlich auf!"
„Lächerlich, aha!", rief Harry zornig.
„Ja, lächerlich!", erwiderte Ginny ebenso zornig, „du lässt alles andere außer acht, nimmst keine Rücksicht auf deine Mitmenschen, nein, Hauptsache du kannst deinen Willen durchsetzen und den großen Racheengel spielen! Immer denkst du nur an dich, du musst irgendetwas tun, du musst dich beweisen, du, du, du! Dass du dich in deinem blinden Hass eventuell verzettelst und dich in unnötige Gefahr begibst, kommt dir wohl nicht in den Sinn, dass sich andere Menschen vielleicht Sorgen um dich machen, das braucht dich ja nicht zu kümmern! Manchmal habe ich echt das Gefühl, ich bin dir total egal!"
„Jetzt werd nicht albern!", blaffte Harry zurück.
„Ach, ich werde albern?", schrie Ginny ihn aufgebracht an, „du solltest vielleicht mal lernen, Prioritäten in deinem Leben zu setzten; entweder dein verfluchter, alberner Stolz, oder deine Freunde und Familie!"
Einige Sekunden herrschte Schweigen. Harry und Ginny standen sich gegenüber, die Gesichter erhitzt und die Augen blitzend vor Wut.
„Tut mir leid, aber mein verfluchter, alberner Stolz ist nun mal ein Teil von mir", sagte Harry schließlich kühl, „wenn dir das nicht passt, ist das dein Problem. Aber Bellatrix Lestrange gehört mir."
„Wenn das so ist", antwortete Ginny mit leicht zitternder Stimme, „dann ist es vielleicht besser, wenn wir das mit uns beiden lassen."
Ihre Worte hingen im Raum wie schwere, unheilvolle Gewitterwolken.
„Ja", antwortete Harry schließlich, und auch seine Stimme zitterte, „ja, vielleicht ist es wirklich besser."
Und mit diesen Worten wandte er sich um und verließ das Haus.
Dass sich Harry und Ginny getrennt hatten, sprach sich rasch bei allen Freunden und Bekannten herum, und auch Emma und Claire hörten natürlich davon.
„Ich begreif es einfach nicht!", meinte Claire kopfschüttelnd, als sie im Gemeinschaftsraum saßen und ihre Verwandlungs-Hausaufgaben machten, „ich meine, die zwei passen doch perfekt zusammen! Wie kann es passieren, dass sie sich nach so langer Zeit trennen!"
„Kümmer dich doch nicht immer um die Angelegenheiten anderer Leute", seufzte Emma, „mach lieber deine Hausaufgaben!"
Ausnahmsweise einmal tat Claire das, was Emma ihr sagte. Die Stimmung der beiden war so gedrückt, dass es Lyn richtig unbehaglich war.
Harry ging es in den folgenden Tagen so schlecht wie lange nicht mehr.
„Du siehst aus wie ein Geist!", meinte Sirius vorwurfsvoll zu ihm, „wenn das so weitergeht mit dir, wirst du noch durchsichtig und fängst an, durch Wände zu schweben."
Harry beachtete ihn gar nicht, sondern brütete weiter über seiner Unterrichtsvorbereitung.
„Dann geh doch zu ihr und sprich dich mit ihr aus", forderte Sirius ihn auf, „das ist ja nicht mit anzusehen, wie du dich quälst!"
Doch Harry ging nicht zu Ginny. Er sprach auch nicht mehr von ihr. Und wenn er mit Hagrid abends nach Hogsmeade ging und sie an Ginnys Haus vorbeikamen, tat er so, als sähe er es nicht.
„'S is nich gut Harry", brummte Hagrid, als sie abends wieder einmal im Eberkopf saßen und beide vor einem heißen Grog saßen, „schaust ja aus wie ne Leiche. Un ich glaub, ihr geht's auch schlecht."
Harry schwieg.
„Solltest wirklich mit ihr reden", meinte Hagrid und bedachte Harry mit einem sorgenvollen Blick, „wär besser für euch beide."
Harry seufzte.
„Lass uns doch von etwas anderem reden, Hagrid", meinte er. Hagrid schien etwas sagen zu wollen, ließ es aber dann doch bleiben. Er trank schweigend einen Schluck seines heißen Grog.
Als Harry spät abends in seinem Bett lag starrte er mit feuchten Augen an die Decke. Er wusste, dass sie alle Recht hatte, Sirius und Hagrid und all die anderen. Es ging ihm wirklich beschissen. Und er vermisste sie. Er konnte das vor den anderen leugnen; doch sich selbst musste er es eingestehen. Er vermisste sie sehr. Aber er wusste auch, dass er sich eher die Zunge abbeißen würde, ehe er von sich aus mit Ginny reden würde.
