Der Morgen der Heimreise brach an. Lyn wusste nicht wieso, doch sie wachte schon in aller Frühe auf, als Emma und Claire noch schliefen. Nachdem sie erfolglos versucht hatte, wieder einzuschlafen, stieg sie leise aus dem Bett. Die Kälte kroch ihre nackten Füße entlang an den Beinen hoch und sie fror ein wenig. Rasch zog sie sich ihren Morgenmantel über und setzte sich auf die breite Fensterbank des Schlafsaals.
Nachdenklich blickte sie durch die leicht beschlagenen Scheiben, an deren Rändern sich Eisblumen zu bilden begannen, nach draußen auf die verschneiten Ländereien von Hogwarts. Ihr Blick wanderte über den vereisten See, auf dem noch die Spuren der Schlittschuhläufer vom Vortag zu sehen waren hinüber zum Verbotenen Wald, dessen Baumkronen unter einer strahlend weißen Decke verschwunden waren, die ihm ein beinahe unschuldiges Aussehen verlieh.
Lyn seufzte leise. All das war ihr in den vergangenen Monaten so vertraut geworden, dass sie eigentlich überhaupt keine Lust verspürte, über die Weihnachtsferien zu ihrer Familie zurückzukehren. Wenn sie sich an die vergangenen Weihnachtsfeste bei ihr zu Hause erinnerte, dann fragte sie sich, ob es sich dafür lohnte, die Mauern der Schule zu verlassen. Der große, über und über mit kitschigem Schmuck behängte Weihnachtsbaum, die Unmengen von Geschenken, die zwar alle ganz nett, aber nicht besonders originell waren, ihre Mutter in Festtagsstimmung, wie sie den Truthahn zubereitete und dabei irgendwelche schrecklichen Weihnachtslieder trällerte, ihr Vater, der über das Weihnachtsessen herfiel wie ein Wildschwein, und zu allem das überaus nervenaufreibende Blinken und Leuchten der Lichterketten, die das Haus wie ein Spinnennetz umschlossen. Das schlimmste aber war jedes Mal der Besuch ihrer Großeltern; Oma Petunia drückte erst ihr, dann Dudley und schließlich Cloe einen dicken Schmatzer auf die Wange, während Opa Vernon ihr beinahe feierlich das Geschenk überreichte, das von Jahr zu Jahr größer zu werden schien und jedes Mal so unnützen Kram wie einen Schminkkoffer, eine Anziehpuppe mit ausschließlich rosafarbenen Kleidern oder eine weiße Plüschkatze, die miauen, schnurren und mit dem Kopf wackeln konnte, enthielt.
Nein, auf ein solches Weihnachtsfest freute sich Lyn nicht wirklich. Aber irgendwie hatte sie trotz allem ein bisschen Sehnsucht nach ihrer Mutter und sie freute sich darauf, sie wiederzusehen.
Mit einem leisen Seufzer blickte das Mädchen hinüber zu den beiden anderen Betten, unter deren Decken ein brauner und ein silberblonder Haarschopf hervorlugten. Lyn beneidete Emma und Claire um ihre Familien, eindeutig. Und bei dem Gedanken an die langweiligen Gespräche über Haushaltsprobleme zwischen ihrer Mutter und ihrer Oma nach dem Weihnachtsessen bereute sie es schon fast, dass sie nicht doch Emmas und Claires Einladung gefolgt war, Weihnachten mit ihnen im Fuchsbau zu verbringen. Aber was sollte es, nach den Ferien würde sie die beiden ja wiedersehen, und die drei Wochen in Little Whinging mitten unter lauter prüden Muggeln würde sie schon überstehen.
Anouk kam auf leisen Sohlen hereingeschlichen. Sie hatte eine tote Maus zwischen den Zähnen baumeln und blickte Lyn mit ihren großen gelben Augen an.
„Na, komm mal her", meinte das Mädchen leise und streckte die Hand aus, „hast du schon wieder was erbeutet?"
Anouk stolzierte mit hoch erhobenem Schwanz zu ihr herüber und legte ihr die tote Maus vor die Füße. Dann strich sie mit dem Kopf an Lyns angewinkelten Beinen vorbei und das Mädchen kraulte sie hinter den Ohren.
Claire schien nicht sonderlich viel Interesse an ihrer Katze zu haben, denn sie kümmerte sich kaum um Anouk. Das war nicht weiter schlimm; auf den Ländereien von Hogwarts gab es mehr als genug Mäuse und Ratten, sodass es für die Katzen der Schüler ein Leichtes war, über die Runden zu kommen. Aber Lyn verstand Claire nicht. Wenn sie eine Katze gehabt hätte, dann hätte sie sich doch mehr um sie gekümmert, so wie sie es auch mit Herbert tat.
Gerade als Anouk es sich auf Lyns Schoß so richtig bequem gemacht hatte, regte sich Claires blonder Haarschopf. Sie murmelte irgendetwas schlaftrunkenes und richtete sich dann in ihrem Bett auf. Verschlafen sah sie sich um, die silberblonden Locken zerzaust und wirr ins Gesicht hängend.
„Morgn ...", nuschelte sie, als sie Lyn erkannte. Umständlich begann sie, sich aus ihrem Bett herauszuwühlen. Lyn grinste.
„Och Mensch, ich muss noch packen!", murrte Claire, während sie in ihre Pantoffeln und den Morgenmantel schlüpfte, „und warum zum Henker bist du schon wach, Lyn?"
Lyn zuckte die Achseln.
„Keine Ahnung", erwiderte sie, „die Aufregung vielleicht. Weil wir heute wieder abreisen."
„Na und? Ich mein, wir kommen doch wieder", meinte Claire und begann, mehrere verstaubte Socken unter ihrem Bett herauszupflücken.
Lyn nahm Anouk und setzte sie vorsichtig auf den Boden. Die Katze huschte auf leisen Pfoten davon.
„Die muss ich ja auch noch nachher einfangen", meinte Claire und kratzte sich am Kopf, während sie begann, ihr Klamotten wahllos in ihren Koffer zu pfeffern.
„Soll ich dir helfen?", bot Lyn an.
„Nee, lass mal, geht schon, danke", erwiderte Claire und gähnte ausgiebig.
Einige Zeit später gingen die drei Freundinnen hinunter in die Große Halle, um ihr letztes Frühstück für dieses Jahr hier einzunehmen. Da die meisten Gäste des Jubiläums noch da waren, war es hier sehr voll, genau wie die vergangenen Tage über. Lyn kam es seltsam vor, dass das Jubiläum erst vergangene Woche stattgefunden hatte. Sie hatte das Gefühl, zwischen den Feierlichkeiten und dem, was unten in der Kammer des Schreckens geschehen war, lägen Wochen.
Emma und Claire steuerten auf den Tisch zu, an dem ihre Familien saßen. Zwar war der Tisch sowieso schon total überfüllt, aber sie fanden trotzdem noch drei Plätze, an die sie ihre Stühle quetschen konnten. Harry lächelte Lyn zu und sie grinste zurück. Sie hatte das Gefühl, dass das Eis zwischen ihnen endgültig gebrochen war.
„Und du bist sicher, dass du nicht doch zu uns kommen willst?", riss die Stimme von Emmas Mutter Lyn aus ihren Gedanken, „ich meine, die Zugfahrt nachher wird doch sicher sehr einsam werden und auch die Ferien bei dir zu Hause." Lyn lächelte.
„Ich finde es wirklich nett, dass Sie mir das anbieten, Mrs. Weasley", sagte sie, „aber ich muss zu meiner Familie. Ich habe sie jetzt ziemlich lange nicht gesehen, verstehen Sie?"
„Natürlich, wenn du Weihnachten gerne mit deiner Familie verbringen willst", beeilte Hermine sich zu sagen, „ich wollte es dir nur noch einmal sagen, Lyn. Du bist bei uns jederzeit herzlich willkommen."
„Danke, Mrs. Weasley", antwortete Lyn lächelnd.
„'ast du auch wierklisch alles, chérie?", fragte Fleur ihre Tochter nun wohl zum hundertsten Mal. Claire verdrehte die Augen.
„Ja, Mum!", meinte sie genervt, „und wenn nicht, ist das auch kein Drama. Ich komm ja schließlich wieder!"
„Mach's gut, Lyn", meinte Emma und umarmte ihre Freundin stürmisch, „und lass mal von dir hören während der Ferien."
„Klar, mach ich", versprach Lyn.
„Und lass dich von deinem Nilpferd-Dad nicht ärgern!", fügte Claire grinsend hinzu, was ihr ein empörtes „Claire!" von ihrer Mutter einbrachte. Lyn allerdings grinste breit zurück.
Auch Harry umarmte Lyn zum Abschied.
„Ich glaube, es wäre keine gute Idee, wenn du deinem Vater einen schönen Gruß von mir ausrichten würdest, oder?", meinte er lächelnd.
„Ich glaube auch nicht", erwiderte Lyn, „sonst jagt er mich womöglich aus dem Haus."
„Na, falls er das tut, erwähne doch einfach am Rande, dass du der Meinung bist, ein Ringelschwänzchen würde ihm stehen", antwortete Harry. Lyn sah ihn fragend an.
„Wieso ausgerechnet ein Ringelschwänzchen?", fragte sie.
„Nicht so wichtig", beeilte Harry sich zu sagen, „ich werde es dir bei Gelegenheit mal erklären."
„Los jetzt!", rief Ron ungeduldig vom Fahrersitz des Autos her, auf dem außer ihm noch Hermine mit Jack und seinem neuen Brüderchen auf dem Schoß saß, „ich würde gerne heute noch im Fuchsbau ankommen!"
„Tschau, Lyn!", rief Emma noch ein letztes Mal, bevor sie sich mit ihren Geschwistern auf die Rückbank zwängte.
„Also dann, man sieht sich", meinte Lyn zu Harry und Ginny.
„Das hoffe ich doch", erwiderte Ginny und lächelte, bevor sie und Harry es sich auf dem Beifahrersitz gemütlich machten.
Ron trat aufs Gas und das Auto ruckelte davon. Lyn winkte ihnen noch einige Zeit nach.
„Wir sollten uns jetzt auch auf den Weg machen", meinte Bill. Claire umarmte Lyn.
„Mach's gut!", sagte sie.
„Du auch", erwiderte Lyn.
„Und – danke", murmelte Claire noch. Mehr sagte sie nicht, doch Lyn wusste, was sie meinte; auch wenn sie es nicht so offen gezeigt hatte, die Entführung ihres kleinen Bruders hatte Claire ziemlich geschockt.
Als auch Claire mit ihren Eltern verschwunden war wandte Lyn sich um und ging langsam zurück zum Schloss. Der Saum ihres schwarzen Umhangs war nass vom Schnee. Sie würde ihn schon heute Abend nicht mehr tragen. Es war vielleicht albern, aber sie mochte die einfachen, schmucklosen schwarzen Umhänge, die in Hogwarts die Schuluniform bildeten. Zu Hause würde sie wieder normale Muggelklamotten tragen müssen. Nicht, dass sie ihre alten Kleidungsstücke nicht mochte; und sie war wohl nicht die einzige, die in den Ferien ihre Uniform auszog. Aber die Vorstellung, dass sie es nicht gekonnt hätte, selbst wenn sie gewollt hätte, gefiel ihr irgendwie nicht.
Lyn stieg die Treppen zum Portal hoch. Der Hogwarts-Express fuhr erst in ein paar Stunden, und sie hatte sich vorgenommen, noch einmal überall im Schloss nachzusehen, ob sie nicht etwas wichtiges vergessen hatte.
Während sie durch die leeren Klassenzimmer und Korridore streifte, sank ihre Stimmung immer mehr. Das lebendige Treiben in Hogwarts, das in der Woche des Jubiläums um ein Vielfaches gesteigert worden war, klang nun schlagartig ab. Es war ein ungewohntes Gefühl, diese Stille um sich zu haben. Lyn begegnete niemandem auf ihrem Weg, nur hin und wieder schwebte einer der Geister aus einer Wand vor ihr und verschwand dann in der gegenüberliegenden Mauer.
Zuletzt ging Lyn hoch in die Bibliothek. Sie, Emma und Claire hatten hier oft gesessen und mithilfe der hunderten von alten Büchern ihre Hausaufgaben erledigt, und vielleicht hatte sie ja eines ihrer Schulbücher hier liegen lassen. Als sie die Bücherei betrat, schreckte sie eine Hauselfe auf, die gerade ein paar achtlos zu Boden geworfenen zerknüllte Blätter wegräumte. Die Hauselfe quiekte erschrocken auf, sagte etwas, das nach „Verzeihen Sie, Miss" klang und huschte davon. Lyn blickte ihr stirnrunzelnd nach. Sie begriff einfach nicht, warum sich diese Wesen generell entschuldigten, egal, ob es nun einen Grund dazu gab oder nicht.
„Na so was", sagte plötzlich jemand hinter ihr, „wen haben wir denn da?"
Lyn drehte sich um – und blickte in das grinsende Gesicht von Howard. Er hielt ein Buch in der Hand und hatte offenbar gerade die Bibliothek betreten.
„Was machst du noch hier?", fragte Lyn überrascht, „bleibst du über Weihnachten hier?" Sie hatte gehört, dass einige Schüler das taten, die nicht die Möglichkeit hatten, über die Ferien nach Hause zu fahren.
Howard schüttelte den Kopf.
„Ich fahr nachher mit dem Hogwarts-Express", erklärte er betont gelassen.
„Waren deine Eltern nicht beim Jubiläum da?", fragte Lyn. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie Howard die ganze Woche über nicht ein einziges Mal gesehen hatte.
„Nein", antwortete Howard und die Bitterkeit in seiner Stimme war nicht zu überhören, „sie meinten, wegen meinem Bruder wären sie gekommen, aber es war ihnen zu peinlich, weil ich in Ravenclaw und nicht in Slytherin bin."
„Oh", meinte Lyn. Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Es kam ihr unerhört vor, dass Howards Eltern ihn so schikanierten. „Na ja, meine Eltern waren auch nicht da", meinte sie schließlich, „ich fahr auch mit dem Zug."
„Du auch?", wiederholte Howard, „na, wir zwei haben aber echt den Hauptgewinn gezogen mit unseren Familien, oder?"
Lyn konnte nicht anders, sie musste grinsen.
„Scheint so", erwiderte sie.
„Na ja, ich muss dann mal", meinte Howard und wies auf das Buch in seiner Hand, „hab das schon vor n paar Wochen ausgeliehen und muss es noch zurückgeben, bevor ich fahr."
„Okay, dann bis später!", meinte Lyn.
Als sie später in Hogsmeade am Bahnhof stand, zusammen mit einer Handvoll anderer Schüler, warf sie noch einen letzten Blick hinauf zu den altehrwürdigen Mauern von Hogwarts. Es war ein entmutigender Gedanke, das hier gegen das öde und saubere Bild der Vorgärten des Magnolienrings einzutauschen, wenn es auch nur für ein paar Wochen war.
Es war nicht schwer, ein Abteil zu finden. Der Hogwarts-Express war an diesem Tag fast leer, da die meisten Schüler entweder von ihren Eltern mitgenommen worden waren, oder über Weihnachten in der Schule blieben. Lyn zog eine der Abteiltüren auf und hievte ihren Koffer und Herberts Käfig hinein. Sie machte sich nicht die Mühe, ihre Sachen im Gepäcknetz zu verstauen; schließlich war mehr als genug Platz auf den Sitzen.
Mit einem Seufzer ließ sich das Mädchen auf einen der Plätze fallen. Sie starrte aus dem Fenster, während der Zug langsam anfuhr und sie den verschneiten Bahnhof von Hogsmeade hinter sich ließen. Lyn lehnte sich zurück. Die Fahrt würde mehrere Stunden dauern, am besten versuchte sie, ein wenig zu schlafen, um die Zeit totzuschlagen.
„Müde?", fragte eine Stimme von der Abteiltür her und Howard kam herein. Er grinste. „Du wolltest doch nicht wirklich schlafen, oder?"
„Eigentlich hatte ich das schon vor", erwiderte Lyn, „aber dir zuliebe verzichte ich auf meinen wohlverdienten Mittagsschlaf."
„Oh, ich fühle mich überaus geehrt", meinte Howard und ließ sich ihr gegenüber auf einem der Sitze nieder.
„Wo hast du denn dein Gepäck?", erkundigte sich Lyn.
„Ach, in irgend so einem Abteil", erwiderte Howard schulterzuckend, „aber ich hab ehrlich gesagt keine Lust, die ganze Fahrt alleine dazusitzen und mich zu langweilen."
„Na, dann hoff ich mal, dass dir meine Gesellschaft nicht langweilig wird auf die Dauer", meinte Lyn grinsend.
„Das bezweifle ich", antwortete Howard. Sie schwiegen einen Moment. Dann setzte Howard erneut zu sprechen an, doch sein Tonfall war diesmal ein ganz anderer. Hatte er eben noch unbeschwert und ausgelassen geklungen, so war seine Stimme jetzt von einem nüchternen Ernst erfüllt:
„Du ... du warst doch auch in dieser Kammer da unten, oder?" Lyn schluckte. Sie nickte. „Ich hab gesehen, wie du diese vier Todesser zur Rede gestellt hast", fuhr Howard fort, „das war – verdammt mutig. Ich hätte mich das nicht getraut." Wieder herrschte einige Sekunden Stille. „Mann, ich hab ja so Schiss bekommen, als die vier da reingeplatzt sind", meine Howard mit einem Schauder in der Stimme.
„Ich auch, das kannst du mir glauben", erwiderte Lyn und grinste ein wenig gequält.
„Was ist denn eigentlich da unten passiert?", fragte Howard, „ich hab die verrücktesten Gerüchte gehört, einige haben behauptet, Lord Voldemort sei von den Toten wiedergekehrt und sei jetzt dort unten, um Harry Potter endgültig auszulöschen. Und irgendwer meinte, eine Armee von Kobolden hätte euch gerettet, aber das glaube ich nicht."
Lyn lachte.
„Nein, Kobolde waren keine da", meinte sie grinsend, und dann erzählte sie Howard, was unten in der Kammer geschehen war, so wie sie es auch Emma und Claire erzählt hatte. Als sie geendet hatte, musterte Howard sie mit einem seltsamen Blick. Sie wusste nicht genau, wie sie das deuten sollte.
„Wow", meinte Howard schließlich beeindruckt, „also – das ist ja echt – das ist ja ..." Ihm schienen nicht die passenden Worte einzufallen. Lyn zuckte die Schultern.
„Also, im Nachhinein zittern mir schon ein Bisschen die Knie", gestand sie, „aber während ich da unten war hatte ich irgendwie überhaupt keine Angst. Seltsam, oder? Also, ich meine, wir hätten alle sterben könne, und es war wirklich knapp. Aber Angst hatte ich nicht eine Sekunde. Wahrscheinlich ist mir zum Angsthaben einfach keine Zeit geblieben", überlegte sie.
Die Fahrt zog sich in die Länge. Howard und Evelyn unterhielten sich noch einige Zeit, über das Jubiläum und was alles in der vergangenen Woche geschehen war. Als es zu dunkeln begann und die Lampen in den Abteilen und auf dem Gang entzündet wurden, holte Howard sein Koboldstein-Spiel heraus und führte Lyn in die Spielzüge ein. Als sie dann die erste Runde spielten, verlor sie natürlich haushoch.
„Macht nichts", meinte Howard unbekümmert, „für dein erstes Spiel war das schon gar nicht schlecht."
„Wart's nur ab", erwiderte Lyn, „eines Tages wirst du gegen mich verlieren, dann mach ich dich platt!"
„Ich freu mich drauf", antwortete Howard und grinste.
Es war bereits später Abend, als der Zug endlich auf Gleis 9 ¾ in King's Cross einfuhr. Howard war in sein Abteil zurückgekehrt, um sein Gepäck zu holen, und so schleifte Lyn ihre Sachen nun aus dem Abteil über den Gang zur Tür.
Es war kalt auf dem Bahnsteig und sie war froh, ihren dicken Wintermantel angezogen zu haben. Den Hogwarts-Umhang hatte sie in ihrem Koffer verstaut, und das Einzige, was an ihr jetzt versteckt an eine Hexe erinnerte, war Herbert, der in seinem Käfig auf all dem Gepäck stand und ein Nickerchen machte.
„Na dann", meinte Howard, als sie ihre Gepäckkarren durch die Absperrung schoben und hinaus in die Muggelwelt traten, „bis nach den Ferien."
„Mach's gut", erwiderte Lyn und sah ihm nach, als er auf eine Frau mittleren Alters zuging, die offenbar auf ihn wartete.
Ein wenig verloren stand sie nun im Bahnhof herum, mit ihrem Karren voller Gepäck und Herberts Käfig zuoberst. Sie sah sich um und lenkte ihren Karren dann langsam auf den Ausgang zu. Hier und da erntete sie irritierte Blicke, wenn die Leute Herbert entdeckten, doch sie beachtete sie gar nicht weiter.
Am Eingang entdeckte sie schließlich die schlanke Gestalt ihrer Mutter. Erleichtert schob Lyn ihren Karren auf sie zu.
Cloe lächelte ihr entgegen. Sie schloss ihre Tochter herzlich in die Arme, und Lyn merkte, dass ihre Mutter ihr doch sehr gefehlt hatte.
„Wie schön, dass du wieder da bist, Evy", sagte sie und einige verstohlene Tränen glitzerten in ihren Augenwinkeln, „komm, Dad wartet draußen im Wagen."
Lyn zog die Augenbrauen nach oben.
„Dad ist mitgekommen?", fragte sie ungläubig. Ihr Vater hatte sich doch im Sommer noch strikt geweigert, sie nach London zu fahren.
„Ja, er hatte Angst, Mr. Shinewater könnte etwas merken, von deiner – na ja, dass du eben so eine – du weißt, was ich sagen will", erwiderte Cloe mit einem gequälten Lächeln. Lyn nickte verstehend. Klar. Warum sonst hätte ihr Nilpferd-Dad, wie Claire ihn so treffend genannt hatte, seinen dicken Hintern aus dem Fernsehsessel hieven sollen?
Lyn folgte ihrer Mutter auf den Bahnhofsvorplatz. Obwohl zu dieser Uhrzeit kaum noch Autos auf dem großen Parkplatz standen, hatte ihr Vater sich einen Platz ganz am Rand gesucht, dort, wo die Laternen die Szenerie nicht so gut erleuchteten. Der Gepäckkarren rumpelte laut über das Kopfsteinpflaster, und Herbert schreckte empört aus seinem Schlaf auf und begann, sich lautstark zu beschweren.
„Du solltest diese Eule zum Schweigen bringen", sagte Cloe besorgt, „Dad sieht es so wie so nicht gerne, dass du so ein – nun ja – unnormales Haustier hast."
„Ich weiß", erwiderte Lyn trocken und machte keinerlei Anstalten, Herbert zu beruhigen. Ihre Stimmung, die während der Zugfahrt mit Howard wieder gestiegen war, sank nun erneut in den Keller.
Dudley saß am Steuer des Autos und starrte missmutig durch die Windschutzscheibe. Er sah nicht einmal auf, als Lyn und Cloe sich dem Auto näherten und das Gepäck im Kofferraum verstauten. Selbst als die beiden sich ins Auto setzten, tat er so, als bemerke er sie nicht. Erst als Cloe zaghaft sagte: „Wir können jetzt losfahren", warf er einen kurzen Blick über die Schulter auf Lyn, bevor er den Motor anließ. Na wunderbar, dachte Lyn, das scheinen ja prächtige Weihnachtsferien zu werden!
Obwohl es bis Heiligabend noch über eine Woche hin war, schien ganz Little Whinging in Feststimmung zu sein. Es war bereits Mitternacht, als sie im Magnolienring ankamen, aber die Straße war taghell erleuchtet. Überall wanden sich bunte Lichterketten um die akkurat gestutzten Büsche und Hecken in den Vorgärten, hier und da sah man eine aus Lichterketten gebaute Figur, die einen Weihnachtsmann mit Schlitten und Rentieren darstellte, und hinter den Fenstern der Häuser blinkten und leuchteten weitere bunte Lichterketten und Sterne. Wie jedes Jahr, dachte Lyn bedrückt. Es kam ihr alles so unwirklich vor, das elektrische Licht, dieses muggeltypische Ambiente.
Ihr eigenes Haus unterschied sich von denen der Nachbarn in keiner Weise. Als sie aus dem Auto ausstiegen sah Lyn mit Erleichterung, dass ihre Mutter bei ihrer Schmückaktion zumindest das Fenster ihres Zimmers verschont hatte.
Sie gingen den kurzen Weg zum Haus entlang, vorbei an den blinkenden Lichterketten. Als sie im Flur stand und sich umsah, wurde Lyn klar, dass sie dieses Haus eigentlich nicht mehr als ihr wahres Zuhause bezeichnen konnte. Ihr fehlten schon jetzt die alten Mauern von Hogwarts, die teilweise meterdick waren, die Wandteppiche, hinter denen sich manchmal geheime Gänge verbargen, die Trickstufen in den Treppen, in die sie in ihren ersten Wochen so häufig getreten war, das stetige leise Summen der vielen Stimmen überall im Schloss, die milchigen Geister – und jetzt stand sie in diesem einfachen viereckigen Haus, in dem alles seine Ordnung hatte und alles, was ein bisschen aus der Norm fiel, unerwünscht war.
„Ich glaube, du gehst jetzt erst mal schlafen, Evy", meinte Cloe und strich ihrer Tochter über das Haar, „ich hab dir extra dein Bett frisch bezogen."
Lyn nickte. Sie war todmüde. Mit letzter Kraft schleifte sie ihren Koffer und Herberts Käfig die Treppe nach oben. Sie öffnete das Fenster und ließ den Kauz hinaus in die Nacht flattern.
„Aber komm rechtzeitig zurück, hörst du?", sagte sie noch zu ihm, „ich muss Emma und Claire morgen einen Brief schicken."
Herbert schuhute zustimmend, kniff sie kurz liebevoll in den Finger und flog dann zum Fenster hinaus.
Lyn seufzte. Sie ließ sich auf ihr Bett fallen und starrte an die Decke. Es war ein seltsames Gefühl, keinen scharlachroten Baldachin mehr über sich zu sehen. Und das bunte Blinken draußen vor dem Fenster ließ Lyn noch lange wach liegen.
Das Mädchen erwachte am nächsten Morgen, als ihre Mutter ihr das Frühstück ans Bett brachte.
„Du hast schließlich Ferien", meinte Cloe lächelnd.
Ihr Vater schien ihr den ganzen Tag über aus dem Weg zu gehen. Er erhob sich sogar aus seinem Fernsehsessel, als Lyn das Wohnzimmer betrat, was höchst eigenartig war, da ihn normalerweise höchstens der Beginn einer Malzeit von dort zu vertreiben mochte.
„Man könnte glatt meinen, du hast Angst vor mir, Dad", rief Lyn ihrem Vater nach, als er schleunigst das Zimmer verließ. Dudley antwortete nicht. Mit einem Seufzer schaltete Lyn den Fernseher ab, in dem gerade die Nachrichten liefen und der Sprecher mit dem akkuraten Seitenscheitel von irgendeinem Leichenfund in Yorkshire berichtete; von Toten hatte sie genug. Noch immer ließ das Bild von Bellatrix Lestranges sterbendem Körper sie nicht los. Sie hatte noch nie einen Toten gesehen, geschweige denn, wie jemand starb, und es war kein schönes Erlebnis gewesen. Missmutig starrte Lyn aus dem Fenster in den bunt blinkenden Garten; nicht einmal tagsüber schaltete ihre Mutter die Beleuchtung ab.
Zur Mittagszeit begann es zu schneien und nach dem Mittagessen ging Lyn nach draußen in den Garten, um einen Schneemann zu bauen. Sie war froh, aus dem Haus weg zu sein, denn die Anwesenheit ihres Vaters, der sie schlichtweg ignorierte, schlug ihr sehr aufs Gemüt. Und auch von ihrer Mutter hatte sie vorerst genug; mit keinem Wort hatte sie sich danach erkundigt, wie es in Hogwarts gewesen war, es schien sie überhaupt nicht zu interessieren. Als Lyn den kleinen zaghaften Versuch unternommen hatte, etwas aus der Schule zu erzählen, hatte Cloe sie sofort unterbrochen und das Thema gewechselt.
Während sie durch den Neuschnee stapfte dachte Lyn missmutig, dass ihre Mutter wahrscheinlich nur ihrem Vater zuliebe das Thema Hexen und Zauberer vermied. Dabei hätte Lyn so sehr das Bedürfnis gehabt, ihrer Mutter von allem zu erzählen, besonders von der Sache mit der Kammer des Schreckens.
Als sie gerade dabei war, eine große Schneekugel zu formen, hörte sie, wie drinnen die Haustürklingel ging. Das Mädchen sah auf. Sie näherte sich langsam dem Wohnzimmerfenster und spähte durch die Scheibe.
„Cloe, Liebes, wie geht es dir?", hörte sie die unverkennbare Stimme ihrer Großmutter. Und tatsächlich betraten Vernon und Petunia kurze Zeit später mit Cloe das Wohnzimmer, wo Dudley in seinem Fernsehsessel saß und sich einen Actionfilm zu Gemüte zog. Als seine Eltern jedoch den Raum betraten, bequemte er sich dazu, die Flimmerkiste auszuschalten und seinen überdimensionalen Hintern aus dem Sessel zu wuchten.
Lyn verzog das Gesicht. Auf ihre Großeltern hatte sie im Moment wirklich keine Lust. Gerade wollte sie sich wieder abwenden, um ihren Schneemann weiter zu bauen, als ihr Name fiel.
„Ist Evelyn nicht da?", fragte Petunia. Während die beiden Männer es sich auf der Sitzgruppe gemütlich gemacht hatten und sich über irgendetwas unterhielten, dessen Inhalt Lyn nicht hören konnte, waren ihre Mutter und Großmutter hinüber in die Küche gegangen. Lyn schlich leise zum Küchenfenster, das trotz der winterlichen Kälte ebenso offen stand wie das Wohnzimmerfenster. Ein paar Schuldgefühle hatte sie schon, als sie sich neben dem Fenster an die Hauswand stellte und auf die Stimmen im Inneren des Hauses lauschte – doch schließlich ging es um sie, und sie wollte wissen, was ihre Mutter und Großmutter sprachen.
„Sie ist draußen im Schnee", antwortete Cloe gerade, „sie scheint ein bisschen schlechte Laune zu haben, seit sie aus dem Internat zurück ist. Ich frage mich, was sie dort mit ihr angestellt haben." Lyn hörte, wie ihre Großmutter seufzte.
„Ihr hättet sie niemals auf diese Schule schicken dürfen, Cloe", sagte sie mit deutlicher Missbilligung in der Stimme, „da kommt nichts gutes bei heraus."
„Was hätten wir denn tun sollen?", erwiderte ihre Mutter mit bedrückter Stimme, „wir haben doch schon darüber gesprochen, Petunia, und du weißt, dass wir es nicht hätten verhindern können."
„Du hast ja Recht, meine Liebe", gab Petunia zu, „was hätte ich damals nicht alles darum gegeben, um meinen Neffen von dort fernzuhalten! Aber er ist genau so ein missratener abnormaler Mensch geworden, wie meine Schwester."
„Mach mir keine Angst, Petunia!", hörte Evelyn ihre Mutter, „ich hoffe doch, Evy besitzt genug gesunden Menschenverstand, um zu merken, dass es nicht gut ist, sich mit Leuten dieser Art abzugeben. Sie wird es selbst bemerken, da bin ich mir sicher."
„Das kann man nur hoffen", seufzte Petunia, „aber da würde ich mir keine Gedanken machen, Cloe, das liegt alles am Blut. Meine Schwester hat damals diesen verkorksten Potter geheiratet, da konnte ja nichts gutes dabei herauskommen. Aber Evelyn ist weit davon entfernt, solche merkwürdigen Eltern zu haben."
„Wenn nur nicht der Einfluss meiner Familie zu stark ist", erwiderte Cloe besorgt, „man weiß ja nie, wie die Gene da durchschlagen."
„Nun mach dir keinen Kopf darum, Cloe", beruhigte Petunia ihre Schwiegertochter, „deine Tochter wird noch früh genug merken, wie abnormal diese Leute sind."
Den Rest des Gesprächs hörte Lyn nicht mehr. Sie lief zurück in den Garten, die Hände vor Zorn zu Fäusten geballt und Tränen in den Augen. Verbittert trat sie nach der großen Schneekugel, die eigentlich der Körper des Schneemanns hätte werden sollen, und zerstampfte sie bis es nur noch eine harte, glatte Masse war.
So also dachte ihre Mutter über sie! Wie hatte sie noch gleich gesagt? „Sie hat ein bisschen schlechte Laune, seit sie aus dem Internat zurück ist. Ich frage mich, was sie dort mit ihr angestellt haben."
Pah! Glaubte ihre Mutter tatsächlich, ihre schlechte Laune hätte etwas mit Hogwarts zu tun? Missmutig kickte Lyn eine zugeschneiten Ast durch die Luft. Ihr war die Lust am Schnee vergangen, und so stapfte sie zurück ins Haus. Leise zog sie die Haustür hinter sich zu und streifte rasch die nassen Stiefel ab, dann schlich sie auf leisen Sohlen die Treppe nach oben in ihr Zimmer, damit bloß keiner der Erwachsenen bemerkte, dass sie wieder im Haus war.
Als sie ihr Zimmer betrat, bemerkte sie zuerst, dass Herbert wieder da war. Sein Gefieder war durchnässt und er sah etwas bedröppelt aus.
„Du armer!", meinte Lyn und ging rasch zu ihm hinüber, „hat der Schnee dich überrascht?"
Herbert gab ein gekränktes Geräusch von sich und schüttelte sein Gefieder.
„Ich hoffe, du bist mir nicht böse, wenn ich dich nachher gleich wieder raus in die Kälte schicke", fuhr Lyn fort und trug den Waldkauz hinüber zu seinem Käfig, wo er sich sogleich an dem Körnerfutter gütlich tat, „aber ich muss Emma unbedingt einen Brief schicken."
Herbert sah sie nur vorwurfsvoll an, beschwerte sich aber nicht weiter.
Lyn seufzte. Sie ließ sich an ihrem Schreibtisch nieder und holte ein Blatt Pergament und ihren Federkiel hervor. Liebe Emma, liebe Claire, begann sie zu schreiben. Sie wusste, dass Claire Weihnachten bei Emma zu Hause verbringen würde, und dass sie wahrscheinlich schon morgen oder übermorgen im Fuchsbau sein würde.
Einige Zeit kritzelte das Mädchen still vor sich hin. Schließlich legte sie die Feder zur Seite und las sich den Brief noch einmal durch:
Liebe Emma, liebe Claire!
Ich hoffe, es geht euch gut. Bei mir ist soweit eigentlich alles in Ordnung. Mein Vater behandelt mich, als sei ich Luft, aber das ist eigentlich ganz erholsam. Wenn er nur nicht immer so eine entsetzte Miene aufsetzen würde, sobald ich den Raum betrete. Mum ist auch irgendwie seltsam. Es interessiert sie überhaupt nicht, was ich alles erlebt habe, und mit meiner Großmutter spricht sie über mich, als ginge ich nicht auf eine Zaubererschule, sondern in eine Anstalt für geisteskranke Schwerverbrecher.
Na ja, ansonsten ist alles wie immer, die ganzen Muggelhäuser sehen schrecklich kitschig aus mit dem ganzen Zeugs, das die Leute hier offenbar für Weihnachtsdekoration halten.
Bei uns hat es heute geschneit. Habt ihr auch Schnee? Ich kann es jetzt schon kaum erwarten, euch zwei wiederzusehen. Sagt allen, die ich kenne, einen schönen Gruß von mir!
Eure Lyn
Das Mädchen faltete den Brief zusammen und ging hinüber zu Herbert, der sich offenbar wieder stark genug fühlte, hinaus in die Kälte zu fliegen. Lyn befestigte den Brief an Herberts Bein.
„Du findest doch zum Fuchsbau, nicht wahr?", fragte sie. Herbert schuhute zustimmend. Dann breitete er seine Flügel aus und flog hinaus. Lyn schloss das Fenster hinter ihm.
Mit einem Seufzer ließ sie sich auf ihr Bett plumpsen und starrte an die Decke.
In den kommenden Tagen verschlechterte sich Lyns Laune ungemein. Es war nur allzu offensichtlich, dass ihre Eltern am liebsten vergessen hätten, dass ihre Tochter eine Hexe war. Als Lyn in der Küche am Tisch saß und gerade in „Lehrbuch der Zaubersprüche, Band 1" las, kam ihre Mutter herein.
„Tu das doch bitte weg, Evy", sagte sie, als sie das Buch entdeckte.
„Warum?", fragte Lyn.
„Weil man sofort sieht, dass das eines dieser komischen Dinge ist, die nicht ganz normal sind", erwiderte Cloe und warf einen vorsichtigen Blick aus dem Fenster, „wenn dich jemand damit sieht, dann denkt er womöglich noch - "
„Was?", hakte Lyn nach, als ihre Mutter abbrach. Cloe zögerte.
„Na ja, die Nachbarn müssen ja nicht unbedingt mitbekommen, dass du ein bisschen seltsam bist."
Lyn schlug ihr Buch zu und stand wortlos auf. Sie schluckte eine Bemerkung herunter, als sie an ihrer Mutter vorbeiging und den Raum verließ.
Das Mädchen fühlte sich mehr und mehr fremd. Dinge, die in Hogwarts alltäglich gewesen waren, galten hier als Tabuthema. Wörter wie „Zauberstab", „Besenstiel" oder „Hexe" ließen ihren Vater regelrecht zusammenzucken, sodass Lyn ihre Benutzung schlichtweg verboten wurde.
Ihre Großeltern kamen am Freitag ein weiteres Mal zu Besuch, und diesmal konnte Lyn sich nicht rechtzeitig vor ihnen in Sicherheit bringen. Allerdings blieb auch die befürchtete Umarmung und der feuchtnasse Kuss ihrer Großmutter aus; stattdessen lächelte Petunia ihrer Enkelin äußerst gezwungen zu.
Vernon und Petunia blieben zum Kaffee, und während sich Lyns Mutter und Großmutter über die besten Methoden zur Entfernung von hartnäckigen Flecken auf weißen Hemden unterhielten, langweilte sich Lyn zu Tode.
Ihr entging nicht, dass ihre Großeltern sie nie aus den Augen ließen, so, als könne sie jeden Moment irgendetwas schreckliches tun.
Der große Krach kam schließlich am Freitagabend, als ihre Großeltern schon wieder gegangen waren. Cloe hatte Schweinekoteletts gemacht, und Dudley futterte mal wieder ohne Tischmanieren, sodass ihm die Soße aus dem Mundwinkel lief.
Im Nachhinein musste Lyn sich eingestehen, dass die Situation wohl niemals eskaliert wäre, wenn sie sich ihre Bemerkung verkniffen hätte. Doch ihr Frust hatte sich in den letzten Tagen so sehr angestaut, dass sie sich einfach nicht zurückhalten konnte.
„Das grenzt an Kannibalismus, Dad", meinte sie trocken. Dudley sah auf und starrte sie an.
„Was soll das heißen, Evy?", fragte Cloe leicht empört.
„Na, dein Cousin meint, ein Ringelschwänzchen würde dir echt stehen", sagte Lyn und blickte ihrem Vater direkt in die Augen, „worin ich ihm Recht geben muss."
Es war äußerst interessant, wie Dudleys Gesichtsfarbe von rot nach weiß wechselte und schließlich einen fast grünlichen Schimmer hatte. Er gab ein merkwürdig quietschendes Geräusch von sich und die Gabel, auf die er noch eben ein enormes Stück des Schweinefleischs gespießt hatte, fiel zu Boden.
„Evy!", rief Cloe empört, „das geht zu weit!"
„Was denn?", fragte Lyn und sah ihre Mutter herausfordernd an, „ich habe nur wiedergegeben, was Harry gesagt hat."
Die Erwähnung dieses Namens hatte zufolge, dass Dudley zusammenzuckte und er aussah, als sei er kurz davor, zu kollabieren.
„Evy!", rief Cloe schockiert, „wie kannst du es wagen!"
„Was denn?", fragte Lyn trotzig, „ihr behandelt mich wie eine Aussätzige, okay, dann benehme ich mich auch so!" Sie funkelte ihre Mutter an.
„Du entschuldigst dich auf der Stelle bei Daddy!", sagte Cloe streng.
„Nein!", erwiderte Lyn heftig, „nicht, bevor er sich nicht bei mir entschuldigt!"
„Evy!", rief Cloe wütend.
„Und HÖR AUF, mich so zu nennen!", schrie Lyn und sprang auf, „ich bin kein Baby mehr! Und ich bin auch nicht abnormal! Weißt du, wie mich das ankotzt, dass ihr so tut, als müsste ich mich für das schämen, was ich bin? Ich bin eine Hexe, und ich bin stolz darauf! Und wenn euch das nicht passt, ist das euer Problem, aber ich lasse mir von euch nicht verbieten, so zu leben wie ich bin!"
Wütend warf sie ihren Stuhl um und rannte aus dem Zimmer. Sie trampelte die Treppe nach oben, ließ die Tür ihres Zimmers so laut ins Schloss krachen, wie sie konnte, und drehte den Schlüssel um.
Für den Rest des Abends blieb sie in ihrem Zimmer. Von unten hörte sie die Stimmen ihrer Eltern, doch sie wollte nicht wissen, was sie sprachen, und so vertiefte sie sich in ihr Verteidigung gegen die Dunklen Künste-Buch.
Am nächsten Morgen klopfte Cloe zaghaft an Lyns Zimmertür. Das Mädchen war schon auf und saß gerade an ihren Zauberkunsthausaufgaben, die sie über die Ferien erledigen musste.
„Möchtest du nicht mit uns frühstücken, Evy?", fragte Cloe mit einem vorsichtigen Lächeln.
„Keinen Hunger", erwiderte Lyn, ohne ihre Mutter anzusehen. Cloe schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann allerdings anders und verließ das Zimmer. Missmutig starrte Lyn vor sich hin. Konnte ihre Mutter nicht wenigstens einmal ehrlich sein? Sie tat so, als sei nichts vorgefallen, als habe es den Streit am vergangenen Abend nicht gegeben.
Sehnsüchtig blickte das Mädchen aus dem Fenster auf die verschneiten Dächer des Magnolienrings. Was wohl Emma und Claire gerade machten? Wahrscheinlich tobten sie mit Emmas kleinen Geschwistern durch den Schnee, während Emmas Mutter verzweifelt versuchte, Ordnung in den Haufen zu bekommen. Lyn musste Lächeln bei dem Gedanken an die hübsche braunhaarige Frau, die es anscheinend trotz aller Schwierigkeiten irgendwie schaffte, ihre sechs, nein, inzwischen sieben Kinder zu bändigen. Wie es wohl an Weihnachten bei den Weasleys zugehen mochte? Bestimmt lustiger und lebendiger als bei ihr zu Hause.
Das Mädchen seufzte. Und sie saß hier mit ihren schrecklichen Eltern, die sie behandelten wie eine Psychopatin. Hätte sie doch die Einladung angenommen, Weihnachten mit Emma und Claire zu verbringen!
Ein wenig später, als sie gerade den Aufsatz für Zauberkunst fertiggeschrieben hatte, hörte sie ein leises „tock, tock" an ihrem Fenster, und als sie aufsah, saß dort Herbert der Waldkauz.
Rasch öffnete sie das Fenster und Herbert flatterte hinein. Er hopste auf ihren Schreibtisch und streckte ihr sein Bein entgegen, an dem ein Brief befestigt war. Lyn nahm ihn entgegen und Herbert flog hinüber zu seinem Käfig.
Gespannt öffnete sie den Brief und las die in Emmas ordentlicher Handschrift verfassten Zeilen.
Hallo Lyn!
Schön, dass du dich meldest! Ja, bei uns ist alles in Ordnung, hier sind alle gewaltig aus dem Häuschen wegen Weihnachten. Ich glaube, es wird ziemlich anstrengend, wenn ich im Kopf mal kurz überschlage, wer alles kommt. Aber Mum meint, wir schaffen das schon irgendwie.
Das ist ja echt blöd, dass deine Eltern nicht wissen wollen, was alles in Hogwarts passiert ist. Ich meine, du warst wirklich in Lebensgefahr, als du da unten in der Kammer warst, dass kann sie doch nicht kalt lassen!
Aber lass dir davon nicht die Laune verderben, Lyn. Immerhin ist bald Weihnachten.
Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie die Muggel ihre Häuser dekorieren. Ich meine, die haben weder Feen, noch ewige Eiszapfen, was nehmen die denn dann? Nur Tannenzweige ist doch irgendwie langweilig.
Na ja, du kannst uns ja erzählen, wie ein Muggelhaus an Weihnachten aussieht, wenn wir uns wieder sehen.
Bei uns liegt auch Schnee. Mum ist fast ausgerastet, weil Sirius und James vorhin versucht haben, Liv komplett mit Schnee einzuhüllen. Sie wollten wohl einen lebendigen Schneemann oder so machen, und Liv war ganz begeistert, dass sie als Modell dienen durfte. Mum hat sie dann erst mal mit einer Wärmflasche ins Bett geschickt, weil sie von dem ganzen Schnee total kalt und nass war, aber ich glaube, sie ist schon wieder aus dem Bett rausgeschlüpft, zumindest den Geräuschen nach zu urteilen.
So, ich glaube, ich muss jetzt mal das Feld räumen, weil Claire noch was schreiben will.
Also, mach's gut!
Emma
Auf der Rückseite des Briefes waren noch einige Zeilen in Clairs unverkennbarer Krakelschrift geschrieben:
Hi Lyn!
Lass dich von deinem Dad nich ärgern, okay? Und wenn die Muggel dir auf die Nerven gehen, dann komm einfach zu uns!
Das war übrigens wirklich lustig vorhin, als Liv beinahe zu einem lebenden Schneemann geworden wäre. Also, ich fand die Idee ja äußerst gut, aber meine Tante war da wohl anderer Meinung.
So, ich hör an der Stelle jetzt aber auch mal auf. Sirius und James haben glaube ich ein paar von den Gnomenhöhlen gefunden, und wir wollen nachsehen, ob die Winterschlaf halten.
Halt die Ohren steif!
Und lass ab und zu mal von dir hören.
Claire
Lyn lächelte versonnen, nachdem sie den Brief zu Ende gelesen hatte. Mit einem Seufzer sah sie sich in ihrem leeren Zimmer um. Sie konnte sich richtig bildlich vorstellen, wie es im Fuchsbau zugehen musste, und ihr Zimmer wirkte mit einem Mal tot und kalt auf sie.
Lyn nahm einen neuen Bogen Pergament und ihre Feder zur Hand und begann, die Antwort zu schreiben.
Hallo Emma, hallo Claire!
Danke für euren Brief. Ihr habt mich damit echt gerettet. Im Moment ist es hier einfach nur zum Kotzen! Ich hatte gestern nen Riesenkrach mit meinen Eltern, weil sie sich einfach nur unmöglich benehmen; ich kann keinen geraden Satz sagen, darf nicht „piep" machen, ohne dass sie sofort nen halben Herzinfarkt bekommen.
Hausaufgaben machen ist so gut wie unmöglich, weil es meiner Mutter unangenehm ist, wenn ich meine Schulbücher offen herumliegen habe. Und Dad ist fast kollabiert, als ich Harry erwähnt habe. Und jetzt will Mum wieder einen auf Heile Welt und so machen, als ob nichts passiert wäre.
Und zu allem Überfluss schnallt sie einfach nicht, dass ich es HASSE, wenn sie mich Evy nennt!
Ich hab echt keine Ahnung, wie ich den Rest der Ferien bei diesen Idioten aushalten soll. Es reicht schon, wenn ich nur „Zauberstab" sage, und schon bricht hier eine Familienkrise los.
Meine Großeltern sind auch grässlich. Die waren gestern zum Kaffe da, und haben mich die ganze Zeit beäugt, als wär ich ein aus dem Zoo ausgebrochener Tiger mit Tollwut.
Ich komme mir wirklich wie eine Aussätzige vor. Und wie Weihnachten dieses Jahr ablaufen wird – daran will ich gar nicht denken...
Im Nachhinein ärgere ich mich wirklich, dass ich nicht doch über die Ferien mit zu euch gekommen bin. Ich glaube, das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich auf das Ende der Ferien freue.
Na ja, ich denke, ich werde es überleben.
Ich wünsch euch viel Spaß, und haltet mich auf dem Laufenden, was die Schandtaten von Sirius und James angeht.
Lyn
„Hast du dich genug ausgeruht?", fragte sie Herbert und strich ihm über das Federkleid, nachdem sie ihren Federkiel zur Seite gelegt hatte. Er schuhute zustimmend. „Also dann. Hier ist die Antwort für Emma und Claire. Ich hoffe, dir wird es nicht langweilig, wenn du immer die selbe Strecke fliegen musst."
Herbert zwickte sie mit seinem Schnabel liebevoll in den Finger, während sie den Brief an seinem Bein befestigte.
„Na los, ab mit dir mein Guter!", sagte sie zum Abschied und ließ den Waldkauz aus dem Fenster fliegen.
Der Brief von Emma und Claire hatte ihre Stimmung in der Tat um einiges gehoben. Leise vor sich hin summend wandte sie sich nun den Hausaufgaben für Kräuterkunde zu.
Am Sonntag beschloss Cloe, mit ihrer Familie auf den Weihnachtsmarkt zu gehen. Zwar war sie die Einzige, die dieses Vorhaben gut fand, denn sowohl Lyn als auch ihr Vater waren keinesfalls erpicht darauf, aber schließlich saßen sie doch alle im Auto und fuhren in die Stadt.
Die Fahrt verlief sehr schweigsam. Lyn war noch immer wütend auf ihre Eltern, und Dudley sprach ja so wie so nicht mit seiner Tochter. Cloes zaghafte Versuche, eine Konversation anzukurbeln, scheiterten kläglich, sodass sie es schließlich nach einigen Fehlschlägen aufgab.
Es schien nahezu unmöglich, einen Parkplatz zu finden. Mindestens eine Viertelstunde drehten sie ihre Runden und Dudley schimpfte verhalten über diese unzulänglichen Parkmöglichkeiten.
Schließlich jedoch fanden sie einen Parkplatz, der allerdings ein gutes Stück vom Weihnachtsmarkt entfernt lag.
Missmutig stapfte Lyn hinter ihren Eltern her durch den zu braunen Matsch zertretenen Schnee. Eigentlich hatte sie nichts dagegen, auf den Weihnachtsmarkt zu gehen. Aber mit ihrer Familie?
Zwischen den Holzbuden herrschte ein reges Gedrängel. Alles mögliche konnte man hier kaufen, kleine Keramikfigürchen, Strohsterne, einen Stand mit Schmuck gab es auch und etwas weiter entdeckte Lyn einen Glühweinstand um den sich die Leute drängelten und die dampfenden Becher in ihren kalten Händen hielten.
Cloe begann wieder, ohne Pause zu reden, zeigte verzückt auf die Auslagen der Händler und tat so, als merke sie nicht, dass sowohl ihr Mann als auch ihre Tochter nicht das Geringste Interesse an dem zeigten, was sie erzählte.
Sie kamen an einem Stand mit kitschigen Elfenfiguren vorbei („Sind die nicht niedlich, Evy?"), blieben kurz an einem Haushaltswarenstand stehen („Also nein, so eine praktische Gemüsereibe habe ich noch nie gesehen!") und kamen schließlich zu einem Stand mit denselben grässlich blinkenden Sternen und Lichterketten, die den gesamten Magnolienring wie eine Epidemie befallen zu haben schienen („Im Versand war es eindeutig billiger, nicht wahr, Dudley, Liebling?").
Lyn musterte das nervtötende Geblinke. Was hatte Emma in ihrem Brief geschrieben? „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie die Muggel ihre Häuser dekorieren. Ich meine, die haben weder Feen, noch ewige Eiszapfen, was nehmen die denn dann?" Ein zufriedenen Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Da hatte sie ja genau das richtige Weihnachtsgeschenk für Emma gefunden. Sie würde begeistert sein von so viel muggelmäßigem Kitsch.
„Mum, warte einen Moment", sagte sie ihrer Mutter und zog ihr Portemonnaie hervor. Unter den staunenden Augen von Cloe kaufte sie einen großen Stern aus Leuchtschläuchen, dessen Farben sich ständig änderten und der immer abwechselnd blinkte und das Licht in Wellen laufen ließ.
Mit Emmas Weihnachtsgeschenk in einer Tüte gingen sie weiter. Lyn überlegte. Wenn sie jetzt für Emma ein Geschenkt hatte, dann brauchte sie auch für Claire etwas. Ratlos musterte sie die Auslagen der Stände, an denen sie vorbeikamen, doch nichts erschien ihr auch nur im Ansatz passend für Claire.
„Also nein, das ist ja wirklich geschmacklos!", empörte sich ihre Mutter plötzlich, „so etwas gehört doch nicht auf einen Weihnachtsmarkt!" Sie war stehen geblieben. Lyn schaute verwundert, was ihre Mutter denn so verärgert hatte.
Vor einem der Geschäfte am Rand des Weihnachtsmarktes war ein Stand aufgebaut, in dessen Auslage sich tatsächlich ausschließlich Dinge befanden, die Lyn so gar nicht weihnachtlich vorkamen. Das Geschäft war ein Scherzartikellade, und der Besitzer hatte offenbar die Gelegenheit genutzt, auch an diesem Sonntag ein Geschäft zu machen. Und die Idee schien gar nicht so übel zu sein, denn eine Menge Leute standen um die Auslage herum und begutachtete die Furzkissen, Lachsäcke, Gummihände und Plastikhundehaufen.
In Lyn reifte ein Gedanke. Ohne ein Wort ging sie raschen Schrittes auf den Stand zu, ohne auf das entgeisterte „Evy!" ihrer Mutter zu reagieren. Wenige Minuten später hatte sie dem überraschten Verkäufer ein Furzkissen, einen Lachsack und eine falsche Kaugummipackung, aus der ein fetter schwarzer Plastikkäfer schoss, wenn man einen der Kaugummistreifen herauszuziehen versuchte, abgekauft.
„Wofür um alles in der Welt brauchst du diese Sachen?", fragte Cloe ihre Tochter entgeistert. Lyn zuckte nur die Achseln. Ihrer Mutter zu erzählen, dass sie gerade Weihnachtsgeschenke für ihre beiden besten Freundinnen in Hogwarts kaufte, erschien ihr äußerst unklug.
Während sie weiter über den Weihnachtsmarkt schlenderten hielt Lyn, der die Sache allmählich Spaß machte, Ausschau nach weiteren muggeltypischen Kleinigkeiten – als kleine Geschenke für Emmas und Claires kleine Geschwister. So kaufte sie noch eine Schneekugel, eine kleine Holzgiraffe, deren Gliedmaßen in sich zusammenklappten, wenn man den kleinen Holzstopfen unten in den Sockel der Figur drückte, ein Mini-Plastikradio, das auf Knopfdruck drei verschiedene Lieder in miserabler Qualität spielte, eine der kitschigen kleinen Elfenfigürchen mit dem Glitzerstaub darauf und einen Plastiknikolaus, der „Jingle Bells" sang, sobald man an der Bommel seiner Mütze zog.
Cloe beobachtete den offenbar wilden Kaufrausch ihrer Tochter äußerst unbehaglich, sagte jedoch nichts.
Als sie sich gerade um einen der Tische am Glühweinstand gestellt hatten und Cloe für sich und Dudley einen Glühwein, für Lyn eine heiße Schokolade gekauft hatte, rief jemand plötzlich: „Hey, Evelyn!"
Es war Sarah, eine ihrer alten Freundinnen aus der Grundschule, die dort in ihren rosafarbenen Wintermantel gekleidet, auf sie zustürmte. Lyn lachte und ging ihr entgegen. Die Mädchen umarmten sich herzlich.
„Meine Güte, Evelyn, ich hab dich ja eine Eeewigkeit nicht mehr gesehen!", meine Sarah überschwänglich und gluckste, „wie geht es dir? Was hast du gemacht in der letzten Zeit? Bist du jetzt in den Ferien die ganze Zeit da? Wo bist du jetzt eigentlich auf der Schule?"
Lyn hatte ganz vergessen, wie schnell Sarah plapperte.
„Danke, mir geht es gut", sagte sie, auch wenn es nicht ganz der Wahrheit entsprach, „na ja, auf der Schule bin ich in..."
Noch während sie sprach überlegte sie fieberhaft, was sie sagen sollte. Ich gehe auf die berühmteste Schule für Hexerei und Zauberei auf der Welt? Allein der Gedanke daran war lächerlich.
Doch ihre Mutter nahm ihr die Antwort ab.
„Sie geht auf die St. Rita's University drüben in der Nähe von Bristol", sagte sie wie aus der Pistole geschossen und lächelte Sarah breit an. Es war offensichtlich, dass sie sich diese Antwort zurechtgelegt hatte.
Sarah machte große Augen.
„Wow!", meinte sie beeindruckt, „die St. Rita's soll eine der besten Schulen in Großbritannien sein. Ich wäre froh, wenn ich dort sein dürfte, Scarlet McDouglas, du weißt schon, diese neue Sängerin, deren Album seit September auf Platz Eins der Charts ist, sie war auch dort. Wie ist es da?" Sarahs Augen glänzten vor Begeisterung. Lyn betrachtete ihre alte Freundin nachdenklich. Sarah hatte sich schon immer für die Charts, die neueste Mode, und was gerade in welcher Promi-Ehe passierte, interessiert. In der Grundschule war das für Lyn selbstverständlich gewesen, aber jetzt kam ihr diese Welt, Sarahs Welt, so unwirklich und irgendwie lächerlich vor.
„Wo bist du jetzt eigentlich?", fragte sie, um Sarahs Frage aus dem Weg zu gehen. Sie wusste, wie gerne Sarah sich reden hörte und allen anderen haarklein erzählte, was sie in der letzten Zeit erlebt hatte.
Lyn hörte nicht wirklich zu, als Sarah von ihrem neuen Internat, den Freunden, die sie dort gefunden hatte, den viel zu strengen Lehrern und der schlechten Busverbindung in die nächste Stadt erzählte. Auch als Sarah ihr stolz ihr neues Handy präsentierte, nickte Lyn nur mäßig interessiert. Auf ihre Erklärung, sie selbst habe kein eigenes Handy, blickte Sarah sie äußerst mitleidig an und erzählte promt, dass ihres das allerneuste Modell sei und sie es sozusagen schon als Weihnachtsgeschenk im Voraus von ihren ach so grandiosen Eltern bekommen hatte. Und als Sarah schließlich mit ihrer Mutter, die kurze Zeit später auftauchte, wieder ging, hatte Lyn mehr denn je das Gefühl, dass sie hier nicht mehr dazu gehörte.
Bevor sie am Abend zu Bett ging, packte Lyn noch schnell die Geschenke ein. Sie würde sie Herbert mitgeben, sobald er wieder zurück sein würde. Hoffentlich war das alles nicht zu schwer für ihn.
In der Nacht fing es wieder an zu schneien, doch der Schnee ging am Morgen allmählich in Schneeregen über.
Missmutig starrte Lyn aus dem Fenster. Bei diesem Wetter konnte sie noch nicht einmal nach draußen gehen. Also setzte sie sich nach dem äußerst schweigsamen Frühstück wieder an ihre Hausaufgaben. Das war das Einzige, was sie zumindest ein wenig an Hogwarts und die Zaubererwelt erinnerte.
Es dauerte nicht lange, und sie hatte auch den Aufsatz für Zaubertränke fertig. Wenn sie in diesem Tempo weitermachte, würde sie wohl noch heute Abend mit allen Hausaufgaben fertig sein.
Auch als der Himmel sich gegen Nachmittag aufklärte blieb Lyn in ihrem Zimmer. Sie öffnete lediglich für einige Zeit das Fenster, um etwas frische Luft zu atmen, doch ansonsten war sie so sehr in ihren Aufsatz über Zauberer zur Zeit des Römischen Reiches vertieft, dass sie überhaupt nicht den Drang verspürte, nach draußen zu gehen.
Schließlich, als es draußen bereits dunkel war, legte Lyn die Feder zur Seite und lehnte sich zufrieden in ihrem Stuhl zurück. Durch das Fenster blinkten die bunten Lichter der umstehenden Häuser herein und auch die Straßenlaternen waren entzündet worden.
Lyn ließ ihren Blick über ihren eigenen Vorgartens schweifen, die mit Lichternetzen überzogenen Büsche und den fein säuberlich vom Schnee freigekehrten Weg zur Eingangstür. Sie seufzte.
Als sie sich gerade erheben wollte, klingelte es unten an der Haustür. Das Mädchen stutzte. Sie hatte niemanden von der Straße her das Grundstück betreten sehen. Wie also konnte jetzt jemand an der Haustür stehen? Sie stand auf und ging zum Fenster. Vorsichtig spähte sie steil nach unten, doch sie konnte nicht sehen, wer dort gerade geklingelt hatte. Das Vordach verdeckte ihr die Sicht.
Schon hörte sie, wie ihre Mutter unten aus dem Wohnzimmer kam und rief: „Moment, ich komme sofort!"
Das Mädchen huschte zur Zimmertür und öffnete sie leise. Sie wollte wissen, wer der merkwürdige Besucher war, der um diese Uhrzeit unangemeldet vorbeikam. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Treppe und spähte nach unten.
Cloe öffnete gerade die Tür, sodass Lyn nun sehen konnte, wer dort stand. Es war ein Mann um die dreißig, der Cloe nun freundlich zulächelte. Sein Haar war schwarz und er trug einen langen dunkelgrünen Umhang.
„Entschuldigen Sie die späte Störung, Mrs. Dursley", sagte er und reichte ihr zum Gruß die Hand, „dürfte ich hereinkommen?"
Lyn musste sich zusammenreißen, um nicht sofort nach unten zu stürzen.
„Dürfte ich fragen, wer Sie sind, und aus welchem Anlass Sie kommen?", fragte Cloe und musterte Harrys langen Umhang mit eindeutiger Skepsis.
„Oh, natürlich", erwiderte Harry, „es geht um Ihre Tochter Evelyn. Und es ist sozusagen ein Notfall", fügte er mit sehr ernstem Gesichtsausdruck hinzu. Cloe sah ihn erschrocken an. Sie vergaß ganz, dass dieser Fremde noch immer nicht seinen Namen genannt hatte.
„Ist irgendetwas passiert?", fragte sie besorgt.
„Nicht direkt", erwiderte Harry mit einem freundlichen Lächeln, „aber das würde ich gerne mit Ihnen und Ihrer Tochter gemeinsam besprechen. Und wenn möglich nicht auf der Türschwelle."
Jetzt konnte Lyn sich nicht mehr zurückhalten. Sie lief die Treppe hinunter und stand wenige Sekunden später neben ihrer völlig verblüfften Mutter und dem freundlich lächelnden Harry.
„Hi!", sagte sie und strahlte ihn an.
„Hallo Lyn", sagte er und grinste zurück, „ich würde vorschlagen, wir gehen ins Wohnzimmer, um die Umstände zu klären." Mit diesen Worten trat er vollends über die Schwelle, schloss die Haustür hinter sich und ging schnurstracks auf die noch immer offen stehende Wohnzimmertür zu, gefolgt von einer beunruhigte Cloe und einer bis über beide Ohren grinsenden Lyn.
Noch bevor sie selbst das Wohnzimmer ganz betreten hatte, hörte Lyn schon das erschrockene Quieken ihres Vaters und das Klirren von zerbrechendem Glas. Offenbar hatte er Harry gesehen und erkannt.
„Ach, der kleine Duddybums ist auch da", sagte Harry und musterte Dudley mit offener Abscheu. Dudley war von seinem Fernsehsessel in die Höhe gesprungen und hatte in seiner Angst die Blumenvase vom Sofatisch geworfen.
Ohne einen Kommentar zückte Harry seinen Zauberstab. Dudley quiekte in Panik und warf sich zitternd hinter dem Sessel zu Boden. Wie ein gewaltiger zitternder Wackelpuddig blieb er liegen. Harry jedoch schwang kurz seinen Zauberstab, murmelte „Reparo!" und im nächsten Moment flogen die Scherben wieder zusammen und die Blumenvase stand auf dem Sofatisch, als sei nichts geschehen.
„Wenn du dich freundlicherweise vom Fußboden erheben könntest, Dudley", sagte Harry trocken und ließ sich wie selbstverständlich auf dem großen Sofa nieder, „ich würde gerne mit dir und deiner Frau wie mit erwachsenen Menschen reden."
Noch immer zitternd richtete Dudley sich auf. Er bedachte Harry mit einem Blick, in dem sich Angst und Hass wiederspiegelten, setzte sich aber ohne Widerspruch wieder auf seinen Sessel. „Nun, Mrs. Dursley, auch Sie können sich gerne setzen", meinte Harry und wies auffordernd auf den anderen Sessel. Lyn setzte sich einfach ohne zu fragen zu Harry auf das Sofa.
„Jetzt sag schon, weswegen du hier bist", drängte sie und blickte ihn erwartungsvoll an. Harry zog die Augenbrauen hoch.
„Na, ist das nicht offensichtlich? Ich bin hier, um dich abzuholen. Im Fuchsbau warten schon alle sehnsüchtig auf dich", antwortete er. Lyn starrte ihn ungläubig an.
„Was soll das heißen, abholen?", fragte Cloe, die offenbar ihre Sprache wiedergefunden hatte.
„Das, was „abholen" normalerweise bedeutet", erwiderte Harry, „hast du deine Sachen schon gepackt, Lyn? Denk dran, den Schulkram schon mitzunehmen, ich denke, Ron und Hermine werden dich mit Emma zusammen am Ende der Ferien zum Hogwartsexpress bringen."
Lyn sprang freudig auf.
„Ich bin gleich wieder da!", rief sie und rannte aus dem Raum und die Treppe nach oben in ihr Zimmer.
Harry blickte ihr lächelnd hinterher.
„Sie können sie nicht mitnehmen!", sagte Cloe schockiert, „es ist bald Weihnachten, und wir sind ihre Familie." Harry zog die Augenbrauen hoch.
„Und wieso soll ich sie nicht mitnehmen?", fragte er, „es ist doch ganz offensichtlich, das Lyn keinerlei Einwände dagegen hat."
„Aber ...", setzte Cloe an, doch Harry unterbrach sie:
„Ich glaube nicht, dass Ihre Tochter sehr erpicht darauf ist, Weihnachten hier zu verbringen."
Von Dudley kam ein ärgerliches Grunzen. Harry warf ihm einen schnellen Blick zu. Sein Cousin musterte ihn noch immer mit einer Mischung aus Angst und Hass mit seinen kleinen Schweinsaugen. Es juckte Harry in den Fingern, irgendetwas zu tun, um Dudley irgendwie zu schaden; ihn zu erschrecken, zu sehen, wie sein fettes Wackelpudding-Gesicht weiß vor Angst wurde. Doch er nahm sich zusammen. Schließlich wollte er sich keinen Ärger einhandeln.
Oben flitzte Lyn durch ihr Zimmer. Sie warf alles, was sie erwischen konnte, wahllos in ihren großen Schrankkoffer, während in ihrem Kopf noch immer eine Menge Gedanken umherschossen. Noch immer konnte sie nicht so ganz glauben, dass Harry tatsächlich hier war, um sie mitzunehmen – zum Fuchsbau. Zum Fuchsbau! Wie gespannt sie darauf war, dieses Haus endlich einmal zu sehen! Und sie würde Emma und Claire wieder sehen und ihre Familien und sie würden Weihnachten gemeinsam verbringen ...
Lyn konnte nicht anders. Sie lachte leise vor sich hin, bei dem Gedanken, was für eine wundervolle Zeit ihr bevorstand.
Rasch stopfte sie noch die Weihnachtsgeschenke an die eine Seite ihres Koffers, dann ließ sie den Deckel herunterfallen und verschloss das gute Stück. Sie richtete sich auf, strich sich eine der schwarzen Strähnen aus der Stirn und sah sich prüfend in ihrem Zimmer um. Herberts Käfig musste sie noch mitnehmen. Aber ansonsten hatte sie alles.
Mit dem Koffer und dem Vogelkäfig polterte sie die Treppe hinunter.
Harry saß noch immer im Wohnzimmer und erwiderte Dudleys Blick gleichermaßen hasserfüllt. Er hatte seinen Cousin nicht mehr gesehen, seit sie beide siebzehn gewesen waren, und er musste sagen, dass sich Dudley nicht zum Besseren geändert hatte. Sein Körperumfang war – Harry hätte es nicht für möglich gehalten – noch mehr angewachsen, und unter seinem Kinn stapelten sich fünf Doppelkinn. Er war eindeutig ekelhaft. Stirnrunzelnd warf Harry der hübschen Cloe einen Seitenblick zu. Wie kam eine so hübsche und attraktive Frau auf die Schnapsidee, einen fetten Klops wie Dudley zu heiraten? Tante Petunia war zumindest selbst keine Schönheit gewesen, und selbst Onkel Vernon hatte wohl nicht einmal die Hälfte von Dudleys Ausmaßen. Cloe jedoch sah durchaus so aus, als könne sie sich vor Verehrern nicht retten. Verständnislos schüttelte Harry den Kopf.
Das Poltern und Rumpeln auf der Treppe durchbrach die beklemmende Stille. Harry erhob sich und zog seinen Zauberstab wieder hervor. Dudley ließ ein verängstigtes Quieken hören und schien sich in seinem Sessel verkriechen zu wollen. Harry verdrehte die Augen.
„Keine Sorge, kleiner Duddybums", meinte er spöttisch und richtete die Spitze seines Zauberstabs auf Dudley, der nun anfing wie Espenlaub zu zittern, „ich werde dich nicht in ein Schwein verwandeln." Mit einem Grinsen auf dem Gesicht fügte er hinzu: „Da bräuchte ich auch gar nicht mehr viel zu tun. Wenn du nicht aufpasst, schlachten sie dich noch aus Versehen."
Harry wusste, wie fies seine Worte waren. Aber es tat ihm gut, Dudley einem Nervenzusammenbruch nahe zu sehen.
Die Tür öffnete sich und Lyn stand darin, mit glühenden Wangen.
„Von mir aus können wir los!", sagte sie an Harry gewandt, ohne ihre Eltern auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen.
„Gut", meinte Harry, „dann lass uns gehen."
„Moment", warf Cloe ein. Sie blickte Lyn vorwurfsvoll an. „Evy, du willst doch nicht etwa wirklich ..."
„Doch, Mum", unterbrach Lyn sie, „frohe Weihnachten dir und Dad." Dann drehte sie sich um und verließ das Wohnzimmer. Harry folgte ihr.
Der große Koffer und Herberts Käfig standen abreisebereit neben der Haustür.
„Wie kommen wir eigentlich zum Fuchsbau?", fragte Lyn. Sie wusste zwar, dass erwachsene Zauberer apparieren konnten – auf diese Art und Weise war Harry wohl auch hier aufgetaucht – doch sie selbst besaß diese Fähigkeit schließlich nicht.
„Seit-an-Seit-Apparieren", meinte Harry und öffnete die Haustür, „du musst dich nur gut an mir festhalten."
Gemeinsam schleppten sie Lyns Koffer nach draußen. Lyn zog sich rasch ihren Mantel über, denn es war kalt. Hinter sich zog sie die Haustür zu.
Ein wenig klopfte ihr das Herz. Sie hatte sich jetzt endgültig entschlossen, über Weihnachten nicht zu Hause zu sein. Zurück konnte sie nicht mehr. Aber sie wollte es auch gar nicht. Beim Anblick der blinkenden Dekorationen an den Fenstern der umliegenden Häuser verschwanden die Zweifel, die sie kurz überkommen hatten.
„Warum bist du eigentlich gekommen, um mich abzuholen?", fragte Lyn an Harry gewandt, „ich meine, schließlich habe ich ja Emma und Claire geschrieben."
„Ich hatte doch etwas gut zu machen", erwiderte Harry grinsend, „dass ich solche Vorurteile dir gegenüber hatte. Und außerdem", fügte er sarkastisch hinzu, „hat es mich überaus gefreut, meinen lieben Cousin wiederzusehen."
Lyn grinste.
„Ihr müsst euch ja wirklich gehasst haben", meinte sie und musterte Harry prüfend, „du hättest sehen sollen, wie er fast zusammengebrochen ist, als ich erwähnt habe, du seiest der Meinung, ein Ringelschwänzchens stünde ihm gut."
„Au weia", meinte Harry, „na, das kann ich mir vorstellen, dass ihn das umgehauen hat."
„Wieso eigentlich?", fragte Lyn nach, „ich meine, er hat zwar eindeutige Ähnlichkeiten mit einem Schwein, aber das alleine kann es doch nicht sein, was ihn so schockiert."
„Na ja", erwiderte Harry und druckste ein wenig herum, „weißt du – als ich damals nach Hogwarts kam, also eigentlich in der Nacht, als ich erfuhr, dass ich ein Zauberer bin, wäre er beinahe in ein Schwein verwandelt worden. Er ist mit einem hübschen Ringelschwänzchen davongekommen."
„Ehrlich?", fragte Lyn begeistert, „wieso? Wie ist das passiert?"
„Also gut", seufzte Harry, „ich sollte es dir vielleicht besser nicht erzählen, aber – du kennst doch Hagrid, den Wildhüter, nicht wahr? Er ist inzwischen Lehrer für Pflege magischer Geschöpfe, das war er damals noch nicht – jedenfalls hat er mich damals abgeholt und – na ja, es kam eben dazu, dass Onkel Vernon, dein Großvater, etwas gesagt hat, was ihn ziemlich verärgerte. Und daraufhin wollte er Dudley in ein Schwein verwandeln. Hat aber nicht geklappt, wie gesagt, er hatte nur plötzlich ein Ringelschwänzchen. Hagrid meinte, die Ähnlichkeit mit einem Schwein sei wahrscheinlich schon zu groß gewesen, um die Verwandlung hinzubekommen."
Lyn kicherte.
„Ja, wahrscheinlich", meinte sie belustigt, „also, wenn er damals schon so aussah wie heute ..."
„Na ja, er war nicht ganz so – korpulent", erwiderte Harry.
„Du meinst: fett", sagte Lyn trocken. Harry schmunzelte.
„Ja, okay, er war nicht ganz so fett", berichtigte er sich, „aber es reichte trotzdem, um ihn aussehen zu lassen wie ein Schwein mit Perücke."
Erneut musste Lyn kichern.
„Wie kam es eigentlich, dass du bei meinen Großeltern gewohnt hast?", fragte sie dann. Sie wusste von Emma und Claire einiges über Harry, doch einige Dinge waren ihr noch unklar. Und sie fand, jetzt war ein geeigneter Zeitpunkt, ihn ein bisschen auszufragen.
„Na ja, wie du ja sicher weißt, wurden meine Eltern getötet, als ich ein Jahr alt war", erklärte Harry und Lyn nickte, „und deine Großeltern waren die einzigen noch lebenden Verwandten von mir. Deswegen hat Dumbledore mich zu ihnen gebracht."
„Dumbledore?", fragte Lyn verblüfft, „der Schulleiter?"
„Ja, eben der", antwortete Harry lächelnd.
„Was hatte er denn damit zu tun?", erkundigte das Mädchen sich stirnrunzelnd.
„Nun, ich würde sagen, er war und ist einer der wenigen Zauberer die ein Gespür dafür haben, was vor sich geht, und wie man auf die Ereignisse zu reagieren hat", erklärte Harry, „außerdem ist die ganze Geschichte mit dem Tod meiner Eltern ziemlich kompliziert gewesen. Zu lange, um sie dir jetzt zu erzählen." Harry überlegte, wieso er Lyn so bereitwillig über all diese doch sehr persönlichen Dinge Auskunft gab. Sie war ein nicht einmal elfjähriges Mädchen, das er genau genommen erst seit wenigen Tagen kannte. Wie kam er dazu, mit ihr über Dinge zu sprechen, die er bisher nur den allerwenigsten Leuten anvertraut hatte? Vielleicht, so überlegte er, lag es daran, dass sie ihn so sehr an ihn selbst erinnerte. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er sagte: „Ich weiß ja nicht, wie es dir geht. Aber mir wird allmählich kalt und ich sehne mich nach einem warmen Haus. Sollen wir uns nicht langsam auf den Weg machen?"
„Okay", erwiderte Lyn, „wenn du mir sagt, was ich für dieses komische Seiten-Apparieren machen muss."
Harry grinste in sich hinein.
„Halte einfach nur meinen Arm fest. Aber lass unter keinen Umständen los, ja?", wies er das Mädchen an, während er ihren Koffer und den Vogelkäfig unter seine Fittiche nahm.
Lyn schloss ihre Hand fest um Harrys einen Arm. Sie erhaschte nur noch einen vagen Blick auf die blinkenden Weihnachtsbeleuchtungen, dann wurde plötzlich alles um sie her schwarz. Sie spürte, wie Harrys Arm von ihr wegdriftete und klammerte sich an ihn. Es war ein äußerst unangenehmes Gefühl; alles um sie her drückte auf sie ein. Sie kam sich vor, als befände sie sich tausende Meter unter dem Meeresspiegel, dort, wo der Druck so groß war, dass die Tiere und Wesen, die dort lebten, beim Auftauchen an die Wasseroberfläche platzen würden, weil sie einen solch geringen Druck nicht gewohnt waren.
Lange jedoch dauerte das unangenehme Gefühl nicht an. Es schienen nur Sekunden vergangen zu sein, als der Druck nachließ und die Schwärze vor ihren Augen sich aufklärte. Voller Spannung, was sie wohl erwartete, öffnete sie die Augen.
