Zurück in Hogwarts

Lyn konnte sich nicht erinnern, dass sie sich jemals so sehr darauf gefreut hatte, einen Ort wiederzusehen wie Hogwarts. Erst als sie wieder im Gemeinschaftsraum der Gryffindors vor dem prasselenden Kaminfeuer saß, merkte sie, wie sie das alte Schloss vermisst hatte. Allerdings war sie so müde, dass sie sich gar nicht so recht an ihrer Wiederkehr erfreuen konnte. Die Tage im Fuchsbau waren auf eine merkwürdige Art und Weise gleichermaßen entspannend wie anstrengend gewesen und in den letzten Nächten hatte sie sich so gut wie nie vor Mitternacht in ihr Bett gekuschelt. Sie gähnte ausgiebig. Morgen würde der Unterricht beginnen und es würde wahrscheinlich keiner ihrer Lehrer überaus davon begeistert sein, wenn sie den verloren Schlaf in den Schulstunden nachholte, und so beschloss sie, zur Abwechslung einmal früh zu Bett zu gehen.

Als die drei Mädchen am nächsten Morgen die lärmerfüllte Große Halle betraten, kam es Lyn beinahe so vor, als wäre sie nie fortgewesen. Sie nahm auf einem der Stühle Platz und überlegte, ob es wohl sehr viel anders sein würde in Verteidigung gegen die dunklen Künste, jetzt, seit sich ihre Beziehung zu Harry so stark verändert hatte. Leider hatte sie nicht lange dafür Zeit, denn Claire riss sie mit einem lauten Rülpser aus ihren Gedanken.

„Morgen", sagte eine Stimme hinter ihnen. Lyn wandte sich um und schaute in die fröhlichen Gesichter von Nathaniel und Dominic.

„Morgen", rief Claire fröhlich, „wo habt ihr denn Gabriel gelassen?"

„Der pennt noch", meinte Nathaniel und setzte sich gegenüber von Lyn. So still wie am Anfang waren die beiden Jungen nicht mehr. Offenbar hatte Gabriels etwas unnatürliche Art, sie aus ihren Schneckenhäuschen zu locken, wahre Wunder bewirkt und Lyn hoffte, in ihnen vielleicht eines Tages doch noch angenehme Gesprächspartner zu finden. Immerhin war Claire ein Fall für sich, genauso wie Gabriel, und mit Emma einfach nur zu plaudern war auch nicht gerade einfach.

„Direkt in den ersten beiden Stunden Verteidigung", meinte Dominic gerade, „wisst ihr, ich habe die ganze Zauberei und so über die Ferien wirklich vermisst. Ich meine, meine Eltern sind Muggel und wenn du erst mal ein paar Monate in Hogwarts warst, kommt dir das alles ziemlich seltsam vor." Er stopfte sich einen Toast in den Mund.

„Ja, mir ging's ähnlich", stimmte Lyn zu. Die Gelegenheit, dass die beiden heute Morgen so redselig schienen, musste sie schließlich ausnutzen. „Ich kam mir zwischen dem ganzen Muggelzeug ziemlich fehl am Platz vor. Ich war dann richtig froh, als ich zu Emma und Claire konnte."

„Warst du Weihnachten bei ihnen?", fragte Nathaniel interessiert.

Lyn nickte.

„Na ja, ich war schon irgendwie froh, meine Eltern noch mal zu sehen", meinte Nathaniel.

„Tja, du kennst meine Eltern nicht", lachte Lyn. Keiner der beiden fragte weiter nach. Ehrlich gesagt wäre es ihr auch ein bisschen eigenartig vorgekommen, ihnen ihr ganzes Familienleben zu eröffnen.

„Ich glaub, wir sollten noch mal nach Gabriel gucken gehen. Sonst verpennt er noch Verteidigung", meinte Dominic nach einem raschen Blick auf seine Uhr und die beiden stapften aus der Großen Halle.

„Was war denn mit denen los?", fragte Claire und schaute ihnen hinterher, „so geschwätzig hab ich sie ja noch nie erlebt. Wahrscheinlich haben sie über die Feiertage bemerkt, wie sehr wir ihnen am Herzen liegen." Sie zeigte ein zuckersüßes, scheinheiliges Lächeln.

„Ja, Claire, du bist ihnen sicher ganz besonders wichtig", meinte Emma trocken, woraufhin sich Claires Lächeln in ein breites Grinsen verwandelte.

Auch Emma, Lyn und Claire machten sich nach einem ausgiebigen Frühstück auf den Weg zum Unterricht. Als sie durch den Verwandlungskorridor liefen, begegneten sie einem Grüppchen Ravenclaws, unter denen sich auch Sherryl Salem und Jade Fielding fanden. Emma passte die beiden Mädchen geschickt ab, um mit ihnen ein Pläuschchen über B.ELFE.R anzufangen.

„Also, ich hab noch mal mit meiner Mum gesprochen", fing Emma an.

„Und klappt es?", fragte Jade aufgeregt. Claire verdrehte die Augen.

„Wir gehen dann schon mal vor, in Ordnung?", fragte sie und zog Lyn mit sich den Gang hinunter.

Emma winkte ihnen unwirsch hinterher, bevor sie Jade und Sherryl eröffnete, dass die Jugendorganisation bereits beschlossene Sache war.

„Es sieht wirklich so aus, als würden sie sich dafür interessieren", sagte Claire ungläubig und schüttelte den Kopf, „erkläre mir bitte, wie das geht!"

„Es ist doch schon wichtig, sich um die Rechte der Hauselfen zu kümmern", meinte Lyn und ließ sich gegen die Wand gelehnt neben die Tür zum Verteidigung gegen die dunklen Künste-Klassenzimmer auf dem Boden nieder. Außer ihnen war noch niemand da, was auch kein großes Wunder war, da sie eine Viertelstunde zu früh dran waren.

„Es reicht doch, wenn die Erwachsenen das machen", sagte Claire ungerührt, „sonst wollen die doch auch immer alles selbst tun!"

„Mhm", machte Lyn, die nicht glaubte, dass sie Claire vom Gegenteil überzeugen konnte.

„Wie auch immer", sagte Claire und im selben Augenblick kam Emma angehastet.

„Ist das nicht toll", fragte sie mit geröteten Wangen.

„Was genau? Dass wir uns regelmäßig zusammen hocken sollen um über Hauselfen zu philosophieren oder das die blödeste Kuh von Hogwarts gerade den Gang runterkommt?"

Emma warf ihr einen missbilligenden Blick zu, Lyn hingegen wandte sich um und erblickte Brianna Borgin zusammen mit Marleigh Nott, die wie üblich ein Gesicht machte, als hätte ihr jemand einen Eimer Wasser über den Kopf geschüttet. Lyn überlegte sich, dass das vielleicht mal jemand tun sollte. Dann hätte sie endlich einen Grund für ihr weinerliches Gesicht. Sie sollte Claire bitten, das zu übernehmen.

Langsam trudelten auch die restlichen Schüler ein. Sie alle warteten auf Harry. Die älteren Schüler drängelten sich an ihnen vorbei und Claire ließ eine gehässige Bemerkung nach der anderen über Brianna fallen.

„Habt ihr schon mal so eine blöde Nuss gesehen?", fragte sie Emma und Lyn, „schaut euch sie nur an, wie sie da mit ihren waschlappigen Heulsusen-Freundin rumhängt."

Lyn warf Brianna einen Blick zu. Sie stand zusammen mit Marleigh nur wenig neben den drei Mädchen. Marleigh schaute Brianna ehrfürchtig an. Sie erinnerte Lyn an einen Schoßhund, der hechelnd die Befehle von seinem Herrchen erwartete. Fehlte nur noch, dass Marleigh anfing zu sabbern, dachte Lyn grinsend.

Doch plötzlich veränderte sich Brianna Borgins Gesichtsausdruck. Sie verstummte und setzte ein arrogantes Halblächeln auf und blickte ihre Mitschüler uninteressiert und herablassend an.

„Aha", sagte Claire und stieß einen Pfiff aus, „daher weht also der Wind!"

Lyn folgte Claires Blick und erblickte am Ende des Ganges Hendric Burkes, zusammen mit einigen seiner Slytherin-Freunde.

„Sie fährt so was von auf ihn ab", meinte Claire abfällig, „na ja, aber wie ich immer zu sagen pflegte: dumm und dumm gesellt sich gern."

Emma seufzte.

„Kannst du es nicht endlich mal gut sein lassen?", fragte sie entnervt.

„Nein, jetzt fange ich grade erst an", grinste Claire.

Sie stand auf und schritt elegant den Gang entlang, vorbei an Brianna, und warf sich das Haar in den Nacken.

„Was zum Teufel tut sie da?", fragte Lyn verblüfft.

Emma zuckte die Schultern. Hendric war nur noch wenige Schritte von ihr entfernt, als Claire über ihre Schulter sah und ihnen zurief:

„Sagt Professor Potter bitte bescheid, falls ich mich verspäte. Wie konnte ich auch nur so dumm sein und das Lehrbuch im Gemeinschaftsraum vergessen?" Sie stieß ein leicht affektiertes Kichern aus und im selben Moment, als sie wieder nach vorne schauen wollte, stieß sie unsanft mit Hendric Burkes zusammen.

„Oh", rief sie überrascht aus, dann fiel sie theatralisch zu Boden.

„Was tut sie da?", wiederholte Lyn mit heruntergeklappter Kinnlade.

Emma schnaubte.

„Sie nutzt ihr Veela-Blut schamlos aus", antwortete sie geringschätzig.

Als Lyns Blick wieder zu Claire wanderte, war diese gerade dabei, Hendric mit strahlenden Augen anzulächeln.

„Es tut mir ja so Leid", sagte sie entschuldigend und machte einen Schmollmund, „das war wirklich so dumm von mir."

Noch immer saß sie auf dem Boden. Emma und Lyn folgten der Szene gespannt, ebenso wie Brianna, deren Miene nun verzerrt war vor Wut, was wohl daran lag, das Hendric Burkes Claire in einem eigenartigen Tonfall fragte, ob er sie zum Krankenflügel begleiten sollte, nachdem Claire ihm leicht weinerlich erklärt hatte, dass ihr Fußknöchel wohl beim Sturz nicht ganz unbeschadet davongekommen war.

„Sie ist so – ", zischte Emma wütend.

„Genial?", fragte Lyn belustigt.

„So intrigant"; fauchte Emma.

„Oh nein, das ist aber wirklich nicht nötig", säuselte Claire laut, „mach dir wegen mir keine Umstände. Du wirst zu spät zur nächsten Stunde kommen."

Sie verzog ihr Gesicht zu einem schmerzhaften Lächeln und stöhnte laut auf bei dem Versuch, sich vom Boden zu erheben.

Brianna fluchte laut.

„Nein, das ist wirklich okay", meinte Hendric und schaute sie fasziniert an. Claire belohnte ihm mit einem weiteren Lächeln.

„Das ist sooo lieb von dir", sagte sie. Brianna kochte nun vor Wut.

Hendric half ihr vom Boden auf und stützte Claire, die Blicke von seinen neidischen Freunden auf den Fersen, und verschwand zusammen mit ihm um die nächste Ecke.

„Wie kann man bloß so – sie ist einfach schrecklich", sagte Emma gepresst, doch ein amüsiertes Grinsen konnte auch sie sich nicht verkneifen.

„Miss Weasley?", fragte Harry erstaunt, als Claire die Tür zum Klassenraum zehn Minuten vor Unterrichtsschluss betrat. Claire schenkte ihm ein honigsüßes Lächeln.

„Entschuldigen Sie, Professor", sagte sie und humpelte zu ihrem Stuhl, „aber Sie sehen ja selbst: mein Knöchel."

Sie ließ sich mit einem dramatischen Seufzer auf ihrem Platz nieder.

„Waren Sie schon im Krankenflügel?", fragte Harry sie.

„Ja, scheinbar gibt es immer noch einige Gentlemen", zwitscherte sie. Brianna Borgin warf ihr Blicke zu, die deutlich an Hass erinnerten, während Harry sie irritiert ansah.

Jedoch hatte er sich bald wieder dem heutigen Unterrichtsthema zugewandt, was Claire direkt ausnutzte.

„Und, wie war ich?", zischelte sie Emma und Lyn zu. Emma sah sie missbilligend an.

„Das war eine gemeine Aktion", sagte sie.

„Prima, das sollte es auch sein", sagte Claire erfreut.

„Es war fantastisch", sagte Lyn grinsend. Claire grinste selbstzufrieden.

„Der Typ ist zwar zum Kotzen, aber das war es wert!", sagte sie und packte ihre Schulsachen aus.

„Was hast du mit ihm gemacht?", fragte Lyn interessiert.

„Was sollte ich schon mit ihm machen? Eigentlich wollte ich ihn nach der Ecke abservieren, aber ich dachte, Brianna würde es noch mehr wurmen, wenn ich ihn tatsächlich mit zum Krankenflügel nehme. Es war zum Heulen, dieser Kerl hat sich so was von lächerlich gemacht. Er und Brianna würde sicher ein nettes Pärchen abgeben, so blöd, wie sie beide sind –"

„Miss Weasley, ich würde doch meinen, nachdem Sie so spät zum Unterricht gekommen sind, sollten Sie doch den Anstand besitzen und sich leise verhalten, oder ich muss Ihnen eine Extraaufgabe erteilen", sagte Harry laut und sah verärgert zu den drei Mädchen herüber.

„Wie Sie wünschen, Professor", flötete Claire und begnügte sich damit, Brianna den Rest der Stunde über betont freundliche und aufmunternde Blicke zuzuwerfen.

Die Woche verstrich wie im Fluge und am Samstag fand sich Lyn zusammen mit Emma und Claire auf einer von Slughorns berühmten Partys wieder.

Claire hatte schon den ganzen Abend ihre Freude daran, Brianna bei ihren verzweifelten Eroberungsversuchen zu beobachten. Allerdings schienen diese bei Hendric beinahe vergebens, der es den ganzen Abend lang bei Claire versucht hatte.

Claire hatte ihm nur die kalte Schulter gezeigt und sich einen Spaß daraus gemacht, sämtliche Annäherungen von ihm abblitzen zu lassen.

Lyn beobachtete das ganze Schauspiel von einem der Stehtische aus. Hin und wieder nippte sie an ihrem Cocktail. Das Ganze kam ihr vor wie Schmierentheater. Claire saß auf einem der Sessel auf der anderen Seite des Zimmers und spielte die Unnahbare. Das wiederum versetzte Hendric so in Rage, dass er sich dazu herabließ, auf Briannas Flirtereien einzugehen. Doch gerade, als er das getan hatte, lächelte ihn Claire einladend an. Hendric ging auf sie zu, kassierte aber erneut wieder eine Abfuhr. Sichtlich verwirrt schlich er zur triumphierenden Brianna zurück.

Lyn schüttelte amüsiert den Kopf.

„Sieht so aus, als würde sich mein Bruder mal wieder lächerlich machen", hörte sie Howards Stimme hinter sich.

„Claire bringt ihn ganz schön aus dem Konzept", lachte Lyn, ohne sich umzudrehen.

„Ja, er steht irgendwie ziemlich dumm da. Aber das tut er ja meistens", meinte Howard und stellte seinen Kürbissaft auf den Tisch.

„Sie dir das nur an", grinste Lyn und blickte zu Claire, die erneut ein strahlendes Lächeln präsentierte.

„Ich glaube, das macht ihn ganz schön fertig", sagte Howard lachend.

„Das kann ich mir vorstellen", meinte Lyn.

„Und, wie waren deine Weihnachten?", erkundigte er sich.

„Oh, ich konnte glücklicherweise von meiner Horrorfamilie entkommen und war bei Emma und Claire", sagte sie und wandte ihren Blick von Claire ab.

„Du Glückliche", seufzte Howard. Lyn sah ihn mitleidig an.

„Waren deine Ferien nicht so schön?", fragte sie bekümmert.

„Meine Mutter hat mich behandelt wie einen Abtrünnigen und mein Vater wollte praktisch den ganzen Tag, dass ich ihm die Füße dafür küsse, dass ich überhaupt nach Hause kommen durfte. Und zu allem Übel konnte ich dann auch noch den da ertragen", meinte Howard und deutete in Hendrics Richtung.

„Oh, das tut mir Leid", sagte sie leise.

„Dieses Jahr geh ich jedenfalls nicht mehr nach Hause", meinte er leichthin. Lyn sah ihn an.

„Wohin willst du denn sonst?", fragte sie.

„Ich geh zu Robert", verkündete Howard, „notfalls würde ich sogar unter einer Brücke schlafen, aber zurück zu meiner Familie kriegen mich keine zehn Hippogreife."

„Hmmm", machte Lyn. Wenn man bedachte, dass ihre Familie schon gerade schlimm genug war und sie trotzdem nicht unter einer Brücke schlafen würde, dann wollte sie lieber erst gar nicht wissen, wie es bei Howard daheim war.

„Jedenfalls bin ich froh, wieder hier in Hogwarts zu sein", meinte er lächelnd.

„Ich auch", gab Lyn ihm Recht.

„Hier gibt es einfach die bessere Gesellschaft", sagte er grinsend.

„Das seh ich jetzt einfach mal als Kompliment", erwiderte sie.

„Es ist so merkwürdig", sagte Harry, während er nachdenklich mit dem Finger über den Rand seines Kruges fuhr, „ich hätte nie gedacht, dass ich mich jemals mit einem Mitglied der Familie Dursley auch nur ansatzweise verstehen könnte. Und jetzt ist Lyn mir direkt ans Herz gewachsen."

Er und Hagrid saßen unten in Hogsmeade im Eberkopf, und Harry hatte ihm gerade von seinen Gesprächen mit Lyn erzählt.

„Sie is halt nich wie ihre restliche Familie", brummte Hagrid, „und sie is wie du."

„Ich weiß, das hat Ginny mir auch gesagt", antwortete Harry. Hagrid lächelte unter all seinem vielen struppigen Haar.

„'S is schön, das mit euch zwei", meinte er, „hab's ja gleich gesagt. Hättest ihr den Antrag aber auch ruhig früher machen können, ohne dass ihr euch streitet."

Harry grinste.

„Vielleicht war der Streit nötig, damit ich merke, wie viel ich an ihr habe", überlegte er.

„Schon möglich", brummte Hagrid, „aber lass mal auf Lyn zurückkommen."

„Ja, Lyn", seufzte Harry und lächelte, „es ist wirklich erstaunlich. Am Anfang dachte ich, sie müsste wohl genau so schrecklich sein wie Dudley. Aber sie ist so gar nicht wie ihr Vater." Er schwieg einen Moment und trank einen Schluck aus seinem Krug. „Ich habe ihr verdammt Unrecht getan. Ich hatte solche Vorurteile ihr gegenüber. Und ich habe mich nicht getraut, die Sache mit unserer Verwandtschaft auch nur anzusprechen."

„Is ja verständlich", erwiderte Hagrid.

„Aber es gab so viele Situationen, wo ich mit ihr hätte sprechen können", seufzte Harry, „sie wusste es von Anfang an, dass ich ihr Großcousin bin, Emma und Claire werden es ihr wohl schon am ersten Tag gesagt haben. Und ich Trottel habe ihr nicht mal die Chance gegeben, zu zeigen, wie sie wirklich ist. Nicht einmal, als ich sie im Unterricht erlebt habe, konnte ich glauben, dass sie anders als Dudley ist. Nein, sie musste mir erst den Hals retten, bevor ich ihr eine Chance gab." Verdrießlich starrte Harry auf die Tischplatte. Er sprach all das aus, was sein schlechtes Gewissen in ihm angestaut hatte.

„Nu mach aber mal halblang", beschwichtigte Hagrid ihn, „jetzt is doch alles geklärt, nich? Habt euch doch ausgesprochen. Glaub nich, dass sie dir böse is. Also, Schwamm drüber. Jeder macht mal Fehler."

„Vielleicht hast du recht, Hagrid", antwortete Harry, „es wurmt mich nur so, dass ausgerechnet ich solche Vorurteile ihr gegenüber hatte. Ich meine, ich weiß doch, wie es ist, wenn die Leute Vorurteile gegen einen haben."

„Mach dir mal keinen Kopf, Harry", brummte Hagrid und trank einen großen Schluck, „hast ja eingeseh'n, dass es nich in Ordnung war."

Harry nickte.

„So, un jetzt mal n anderes Thema", bestimmte Hagrid, „wie sieht's mit der Hochzeitsplanung aus?"

Die ersten Schulwochen gingen recht schnell vorbei. Es dauerte nicht lange, und Lyn war wieder völlig im Schulalltag.

„Es ist unmöglich, wie viele Hausaufgaben die uns zumuten!", beschwerte sich Claire, als sie an einem Tag gegen Ende Januar im Gemeinschaftsraum saßen und ihre Zauberkunst-Hausaufgaben erledigten. Emma kritzelte fleißig eine Zeile nach der anderen. Ihre Pergamentrolle war schon beinahe ganz vollgeschrieben, während Claire noch immer an ihrer Feder herumlutschte und es bis jetzt nicht weiter als bis zur Überschrift gebracht hatte.

Auch Lyn mühte sich ab, über ihre bisherigen sechs Zeilen hinauszukommen, doch irgendwie konnte sie sich nicht so wirklich konzentrieren. Mit einem Seufzer rollte sie ihr Pergament zusammen.

„Ich glaub', ich mach nachher weiter", verkündete sie. Sofort warf Claire ihre Feder auf den Tisch.

„Ich auch!", stimmte sie begeistert zu. Emma warf ihnen einen missbilligenden Blick zu, sagte aber nichts.

„Komm schon, Emma", meinte Claire und versetzte ihr einen Stoß in die Seite, „du hast langsam genug geschrieben. Mehr als die volle Punktzahl kann dir der olle Flitwick eh nicht geben!"

„Ich wollte aber noch diesen einen wichtigen Aspekt mit hineinbringen, das ist wirklich interessant, seht mal", meinte Emma und wies auf eine Stelle in „Lehrbuch der Zaubersprüche – Band 1", doch Claire verdrehte nur die Augen.

„Emma, es interessiert mich nicht!", seufzte sie. Mit einer Bewegung zog sie Emma das Pergament weg.

„Hey!", rief diese empört und versuchte, Claire ihre Hausaufgaben wieder zu entwinden.

„Schluss jetzt!", meinte Claire bestimmt, „du brauchst ne Pause!"

Emma seufzte ergeben.

„Also schön", meinte sie, „aber nicht lange!"

„Na bitte, geht doch!", rief Claire ausgelassen. Sie packte Lyn und Emma am Handgelenk. „Kommt, raus an die frische Luft. Ich erstick noch hier drin!"

„Moment!", protestierte Lyn, „ich muss mir was wärmeres anziehen!"

„Dann mach, aber beeil dich!", erwiderte Claire ungeduldig.

Fünf Minuten später standen sie alle drei in ihre Winterumhänge gehüllt und die rot-gelben Gryffindor-Schals um den Hals gewickelt, vor dem Portraitloch. Claire zog Emma und Lyn mit sich und die beiden ließen sich ohne Widerstand führen – gegen Claires Sturkopf hätten sie so wie so keine Chance gehabt.