Frühling

Tatsächlich war der nächste Morgen nicht halb so erfreulich wie die Hochzeit. Ron hatte einen ordentlichen Kater und zuckte bei zu lauten Geräuschen zusammen. Fred und George hingegen ging es erstaunlicherweise recht gut. Aber selbst diejenigen, die keinen Brummschädel vom Alkohol hatten, waren äußerst erschöpft und übermüdet. Nur die Kinder schienen frisch und rosig zu sein, obwohl ein Großteil von ihnen viel zu spät ins Bett gekommen war.

Dobby schien das Gespräch in der letzten Nacht einer Einstellung gleichzusetzen, und Harry war äußerst froh, dass der Hauself schon literweise Kaffe und Frühstückseier gekocht hatte und mit Winkys Hilfe die Tische draußen im Garten für alle Übernachtungsgäste gedeckt hatte.

Mehr oder weniger verschlafen saßen sie nun alle im Garten, genossen die ersten Sonnenstrahlen und taten sich an dem reichhaltigen Frühstück gütlich.

„Dobby", seufzte Ginny, als der Hauself vorbeiwuselte, „du bist ein Engel! Ich weiß nicht, wie ich das Frühstück auf die Beine hätte stellen sollen."

Dobby lief rosa an.

„Vielen Dank, Madam", quiekte er verlegen und versank in einer bodentiefen Verbeugung.

Es war früher Nachmittag, bis auch die letzten Gäste abgereist waren. Alle wollten Harry und Ginny noch ein letztes Mal umarmen und beglückwünschen und sich für die wunderbare Feier bedanken.

Schließlich war es merkwürdig leer im Haus. Dobby war noch einmal nach Hogwarts zurückgekehrt, um Dumbledore von seiner Kündigung zu unterrichten und seine wenigen Habseligkeiten zusammenzupacken, und so standen Harry und Ginny nun, völlig erschöpft, zwischen all dem Chaos, das die Festgesellschaft im Haus hinterlassen hatte.

Dobby war von der Idee begeistert gewesen, von nun an in dem kleinen Schrank unter der Treppe zu wohnen; nicht zuletzt, weil ihm wohl zu Ohren gekommen war, dass sein vergötterter Harry Potter fast zehn Jahre seines Lebens in einem solchen Schrank verbracht hatte.

Ginny ließ sich erschöpft auf eines der Sofas im Wohnzimmer sinken.

„Was für ein Fest!", seufzte sie und fuhr sich durchs Gesicht, „ich hätte nicht gedacht, dass es so anstrengend werden würde."

Harry ließ sich neben ihr nieder.

„Aber es hat sich doch gelohnt", meinte er und legte einen Arm um sie, „oder, Mrs. Potter?" Er grinste.

„Ja, das hat es wirklich", lächelte Ginny.

Die restlichen Aufräumarbeiten waren schnell erledigt. Was Harry und Ginny nicht mit ihren Zauberstäben schafften, darum kümmerte sich Dobby später, als er strahlend aus Hogwarts zurückkehrte.

Er richtete sich im Schrank unter der Treppe sogleich häuslich ein, legte den Boden mit Tüchern und Decken aus, die Ginny ihm zur Verfügung stellte („Madam ist so großzügig zu Dobby!", quiekte Dobby mit Tränen in den Augen), und hängte eine Schokofroschkarte von Harry über sein Schlaflager.

„Er vergöttert dich eben", grinste Ginny, als Harry peinlich berührt die Karte bemerkte.

Der Frühling hatte nun endgültig die Oberhand gewonnen. Es wurde teilweise richtig warm, und einige besonders waghalsige Schüler getrauten sich sogar schon zu einem ersten Bad im See – und kamen schlotternd und zitternd wieder heraus.

Den Rest der Osterferien verbrachten Emma, Claire und Lyn hauptsächlich damit, auf den Ländereien von Hogwarts spazieren zu gehen, oder sich am Ufer des Sees ins Gras zu fläzen.

„Och nö, morgen fängt der Unterricht wieder an", murrte Claire, als sie an ihrem letzten Ferientag mal wieder am Seeufer lagen und dem Riesenkraken zusahen, wie er durch das dunkle Wasser kraulte.

„Ist doch kein Grund zu schlechter Laune", meinte Lyn unbekümmert. Claire starrte sie an.

„Sag das bitte noch mal", meinte sie entgeistert.

„Ich meine es ernst, Claire", erwiderte Lyn und drehte sich auf den Rücken, „Doppelstunde Verteidigung gegen die Dunklen Künste direkt am Anfang morgen früh."

„Und was soll daran bitte so außergewöhnlich sein?", fragte Claire, „nur weil Harry jetzt unter der Haube ist, heißt das noch lange nicht, dass er uns weniger Hausaufgaben gibt."

Lyn lächelte milde.

„Das nicht", gab sie zu, „aber ich habe da was nettes von zwei bestimmten Personen erhalten."

Claire setzte sich auf.

„Was meinst du damit?", fragte sie, hellhörig geworden.

„Na ja", sagte Lyn beiläufig, „nur so ne Kleinigkeit, die ich für eure Onkels testen soll."

„Zeig her!", verlangte Claire sofort. Lyn lachte.

„Das hab ich doch jetzt nicht dabei", meinte sie grinsend, „außerdem ist zeigen dabei ziemlich unmöglich. Du würdest eh nichts sehen."

„Lyn, jetzt spann uns doch nich so auf die Folter!", rief Claire aufgebracht.

„Fred und George haben ein unsichtbares Furzkissen entwickelt", erzählte Lyn lässig, „und sie meinten, ich solle es doch mal für sie testen. Am besten an unserem frisch gebackenen Ehemann." Sie grinste breit.

„Das ist ja wohl die Höhe!", empörte Claire sich, „ich bin die Testperson für Weasley's Zauberhafte Zauberscherze! Sowas können sie doch nicht dir geben!"

Lyn zuckte die Schultern.

„Sie meinten, ich hätte sie mit diesen Muggelscherzartikeln erst auf die Idee gebracht an Weihnachten", erklärte sie, „und da solle doch mir die Ehre gebühren, dieses unsichtbare Furzkissen zu testen."

Claire sagte nichts mehr, doch sie sah äußerst missmutig drein.

Als sie später wieder im Gemeinschaftsraum saßen, verlangte Claire, das unsichtbare Furzkissen zu sehen, und so ging Lyn nach oben in den Schlafsaal. Sie wühlte in ihren Sachen nach der magentaroten Tüte. Dabei fiel ihr Blick auf ein Stück altes Pergament, das zwischen ihren Sachen lag. Sie runzelte die Stirn. Und dann fiel es ihr glühend heiß wieder ein. Das Furzkissen hatte sie völlig vergessen, als sie mit dem Pergament in der Hand die Treppe in den Gemeinschaftsraum hinunterpolterte.

„Zeig her!", rief Claire. Lyn schüttelte unwirsch den Kopf und breitete stattdessen das Pergament auf einem der Tische aus. Verdutzt sahen Emma und Claire sich an. Lyn zückte ihren Zauberstab, tippte einmal gegen das Pergament, und sagte: „Ich schwöre feierlich, dass ich ein Tunichtgut bin!"

„Was zum Teufel machst ...?", setzte Claire entgeistert an, doch sie verstummte, als sie sah, wie sich feine Tintenlinien über dem Pergament ausbreiteten, von der Stelle aus, an der Lyn es mit dem Zauberstab berührt hatte, und einen verschlungenen Schriftzug bildeten.

„Die hochwohlgeborenen Herren Moony, Wurmschwanz, Tatze und Krone", las Emma mit gerunzelter Stirn, „präsentieren stolz Die Karte des Rumtreibers."

„Hat Harry mir zu Weihnachten geschenkt", erklärte Lyn aufgeregt, „ich hatte es völlig vergessen."

„Was ist das?", fragte Claire fasziniert und beobachtete, wie die Tintenlinien nun den kompletten Plan von Hogwarts bildeten. Kleine Punkte mit winziger Beschriftung bewegten sich überall auf der Karte.

„Seht mal!", rief Claire und deutete aufgeregt auf einen Teil der Karte, der mit „Gemeinschaftsraum Gryffindor" bezeichnet war, und in dem sich drei kleine Punkte mit den Schriftzügen „Emma Weasley", „Evelyn Dursley" und „Claire Weasley" befanden.

„Wahnsinn!", rief Claire begeistert, „soll das heißen, man kann -"

„Ja, alles und jeden in Hogwarts sehen", bestätigte Lyn grinsend. Emma musterte das Pergament mit gerunzelter Stirn.

„Woher willst du wissen, dass das nicht das Werk irgendwelcher schwarzer Magier ist?", fragte sie besorgt.

„Erstens", meinte Lyn ruhig, „hab ich das von Harry geschenkt bekommen, und der hätte das ja wohl erkannt. Zweitens: Deine Eltern, Emma, haben das hier während ihrer Schulzeit ebenfalls benutzt und sind nicht zu Schaden gekommen. Und drittens: Harry hat mir erzählt, dass sein Vater und dessen Freunde diese Karte gefertigt haben, als sie in Hogwarts waren."

„Oh", sagte Emma, „gut."

„Ha, seht mal!", kicherte Claire und deutete auf den Gemeinschaftsraum der Slytherins, wo die beiden Punkte „Brianna Borgin" und „Hendric Burkes" dicht beieinander standen, „ich wette, die blöde Ziege macht sich wieder an diesen Deppen ran!"

„Schon möglich, Claire", sagte Emma scharf und knallte ihr Tausend Zauberkräuter- und Pilze auf die Stelle der Karte, wo der Slytherin-Gemeinschaftsraum eingezeichnet war, „aber das geht dich nichts an. Im Übrigen", wandte sie sich an Lyn, „glaube ich nicht, dass diese Karte dazu gedacht ist, andere Leute auszuspionieren."

„Ach nein?", sagte Claire gelassen, „kannst du nicht lesen? Die Karte des Rumtreibers. Und wie ging noch mal der Spruch, mit dem man sie aktiviert?" Erwartungsvoll sah sie Lyn an.

„Ich schwöre feierlich, dass ich ein Tunichtgut bin", antwortete Lyn grinsend.

„Da hast du's!", rief Claire triumphierend und schob Emmas Kräuterkundebuch einfach zur Seite, „genau dafür ist die Karte gedacht!"

„Was ich damit sagen will", meinte Emma hartnäckig, „ich glaube nicht, dass Harry Lyn die Karte geschenkt hat, damit du hinter Brianna Borgin her schnüffeln kannst."

„Aber er hätte sicher nichts dagegen", gab Claire zurück und behielt die Punkte, die Brianna Borgin und Hendric Burkes kennzeichneten, im Auge.

Emma seufzte entnervt.

„Lyn, jetzt sag du doch auch mal was!", zischte sie wütend. Lyn hob nur die Achseln.

„Also, ich meine, solange sie nur beobachtet, wo sie ist, kann man doch nichts dagegen sagen, oder?", meinte sie. Emma bedachte sie mit einem äußerst missbilligenden Blick, sagte aber nichts weiter.

Lyn ließ ihren Blick wieder auf die Karte wandern und überflog sie. Der Schulleiter spazierte offenbar gerade in sein Büro, Filch, der Hausmeister, pattroulierte im fünften Stock und Harry saß unbeweglich in seinem Büro.

Wahrscheinlich bereitet er den Unterricht für morgen vor, überlegte Lyn, und schlagartig fiel ihr das Furzkissen wieder ein.

Da Claire im Moment allerdings nicht den Eindruck machte, dass sie noch sonderlich interessiert daran war, es zu sehen, beschloss Lyn, gar nicht mehr darauf zu sprechen zu kommen, sondern es einfach morgen in der ersten Stunde zu testen.

Während sie am nächsten Tag vor dem Klassenzimmer warteten, überlegte Lyn, wie sie das Furzkissen am besten auf Harrys Stuhl platzieren sollte. Als er schließlich auftauchte und die Schüler in die Klasse ließ, hatte sie sich einen Plan zurecht gelegt.

„Guten Morgen!", sagte Harry zerstreut und ging zum Lehrerpult hinüber, „nun, ich hoffe, Sie alle haben die Osterferien gut überstanden, und sind jetzt fit, um aktiv in den Unterricht einzusteigen."

Einige Schüler stöhnten entnervt auf. Ein wenig nervös zog Lyn das unsichtbare Furzkissen aus ihrer Tasche hervor. Es war ein merkwürdiges Gefühl, etwas spüren, aber nicht sehen zu können.

Die ersten Minuten des Unterrichts bekam Lyn nicht wirklich mit. Sie wartete auf eine Gelegenheit, das Furzkissen auf Harrys Stuhl zu platzieren. Schließlich bot sich ihr eine günstige Gelegenheit. Harry hatte sich erhoben und war zur Tafel getreten, um etwas anzuschreiben. Rasch nahm Lyn ihre Feder und warf sie vom Tisch, sodass sie neben dem Lehrerpult liegen blieb. Erleichtert atmete sie auf. Der erste Teil ihres Planes hatte funktioniert.

Rasch erhob sie sich und ging nach vorne, das unsichtbare Furzkissen in der Hand. Sie bückte sich, um ihre Feder aufzuheben, und legte dabei schnell das Furzkissen auf die Sitzfläche von Harrys Stuhl.

„Miss Dursley?", fragte Harry erstaunt. Lyn richtete sich auf. Es war so befremdlich, dass er sie im Unterricht mit „Miss Dursley" anredete und nicht mit Lyn, wie er es sonst immer tat.

Sie lächelte unschuldig.

„Ich hab meine Feder aus Versehen vom Tisch geschubst", sagte sie entschuldigend, „war wohl ein wenig zu – zappelig."

„Nun gut", meinte Harry und lächelte, „setzen Sie sich wieder."

Mit klopfendem Herzen ging Lyn zu ihrem Platz zurück. Ein bisschen plagte sie schon das schlechte Gewissen. Sie mochte Harry sehr, und ihn vor den ganzen Schülern so zu blamieren, war schon ein bisschen gemein. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.

„Übernehmen Sie das bitte in ihr Heft", wies Harry die Schüler an und ging zu seinem Pult zurück. Allgemeines Pergamentrascheln und Federkratzen erfüllte den Klassenraum. „Wie ich schon sagte", setzte Harry an, doch er kam nicht weiter. Als er sich auf seinem Platz niederließ schallte ein äußerst unanständiges Geräusch durch den Klassenraum, das sämtliche Schüler erschrocken aufsehen ließ.

Claire brach in schallendes Gelächter aus, ebenso wie Gabriel, den sie eingeweiht hatten. Auch Lyn konnte sich das Lachen nicht verbeißen, bei Harrys erschrockenem Gesicht. Doch die Schuldgefühle waren immer noch da, und so sagte sie:

„Entschuldigung, Professor, das war meine Schuld."

Harry blickte sie an – und grinste mit einem Mal breit. Er erhob sich von seinem Stuhl, fuhr mit seinen Fingern kurz tastend über die Fläche und hielt dann etwas in die Höhe, was natürlich niemand sehen konnte.

„Verstehe", sagte er und musste sich zusammenreißen, um nicht auch loszulachen, „ein neuer Artikel von Weasleys Zauberhafte Zauberscherze, nehme ich an?"

Lyn nickte.

„Unsichtbare Furzkissen", erklärte Lyn, erleichtert, dass er die Sache so locker nahm, „Entschuldigung, dass wir Sie als Testperson benutzt haben."

„Oh, im Gegenteil, ich fühle mich überaus geehrt", meinte Harry lächelnd und legte das unsichtbare Furzkissen vor Lyn auf den Tisch, „richten Sie den Herren Weasley und Weasley bei Gelegenheit einen schönen Gruß von mir aus." Er zwinkerte ihr zu.

„Harry ist halt einfach cool!", flüsterte Claire neben Lyn und grinste über das ganze Gesicht.

Als Harry Ginny am nächsten Nachmittag (an dem er glücklicherweise keinen Unterricht hatte) von der Furzkissenaktion erzählte, amüsierte sie sich köstlich.

„Also, von Claire oder Gabriel hätte ich es ja erwartet", gab Harry schmunzelnd zu, „aber dass Lyn so etwas tun würde, darauf wäre ich im Traum nicht gekommen! Ich bin nicht einmal misstrauisch geworden, als sie ihre Feder neben das Pult manövriert hat und nach vorne gegangen ist, um sie zu holen."

„Tja, du unterschätzt sie eben", meinte Ginny noch immer lachend.

„Oh, dass ganz bestimmt", erwiderte Harry und nippte an dem Tee, den Dobby ihnen gekocht hatte, „ich habe sie von Anfang an immer wieder unterschätzt, und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein. Ich glaube, Erwachsene neigen generell dazu, Kinder zu unterschätzen. Und bei Lyn ist es noch einmal extremer."

„Aber wundert es dich, dass die häufig deine Erwartungen übertrifft?", fragte Ginny, „als du so alt warst wie sie, hast du mit Hermine und Ron zusammen den Stein der Weisen gerettet. Hast du damals nicht auch mehr getan, als die meisten einem elfjährigen Jungen zutrauen würden?"

„Ja, du hast Recht", gab Harry zu, „ich glaube, ich sollte häufiger an meine eigene Schulzeit denken, wenn ich mit meinen Schülern zu tun habe."

Die Wochen vergingen, und ohne dass Lyn es bemerkte, stand ihr Geburtstag bevor. Sie war schon ein bisschen aufgeregt; es würde das erste Mal sein, dass sie ihn ohne ihre Familie verbrachte. Aber genau genommen, überlegte sie, waren ihr Emma und Claire inzwischen viel eher eine Familie geworden, als ihre eigenen Eltern.

Der zwölfte Mai war zu ihrem Glück ein Sonntag, und so konnte sie ausschlafen. Allerdings dauerte dieser Friede nicht allzu lange, denn Claire hatte offenbar beschlossen, Lyn müsse ihr Geschenk jetzt auf der Stelle auspacken.

Ein wenig verschlafen rieb sie sich die Augen und staunte dann nicht schlecht, als sie die Geschenke sah. Sie hatte eigentlich gar nicht wirklich damit gerechnet, überhaupt Geschenke zu bekommen.

„Guten Morgen!", sagte Claire fröhlich, „na, gut geschlafen?"

„Ja, nur zu kurz", brummte Lyn. Claire grinste.

„Jetzt pack schon aus!", meinte sie ungeduldig. Emma legte ihr eine Hand auf die Schulter.

„Dräng doch nicht so", beschwichtigte sie ihre Cousine.

Lyn jedoch hatte sich schon das erste Päckchen geschnappt (es war von Emma und sehr schwer) und das Papier abgerissen. Zum Vorschein kam – was nicht weiter verwunderlich war – ein Buch. Es trug den Titel „Eine Geschichte Hogwarts'".

„Ich dacht, so als leichte Lektüre nebenher", meinte Emma. Lyn nickte.

„Dankeschön!", erwiderte sie und lächelte. Sie sagte Emma nicht, dass sie unter „leichter Lektüre" eigentlich etwas anderes verstand. Aber immerhin klang der Titel interessant, und wenn sie sich anstrengte, hatte sie das Buch vielleicht sogar in einem Jahr fertig gelesen.

Lyn legte das Buch auf ihren Nachttisch und widmete sich dem nächsten Geschenk. Es war von Claire und im Gegensatz zu dem von Emma ziemlich klein und leicht. Lyn machte sich daran, es auszupacken; sie ahnte schon, dass es schwerlich etwas wirklich nützliches sein würde.

Tatsächlich kam unter all dem Geschenkpapier schließlich ein Photo in Postkartengröße heraus, auf dem sämtliche Mitglieder der Gruppe „Black Velvet" winkten, und das mit den Unterschriften aller Musiker versehen war.

„Oh", sagte Lyn, „danke, Claire!"

„Schön, dass es dir gefällt!", strahlte Claire. Lyn war sich sicher, dass sie diese Autogrammkarte am Abend von Harrys und Ginnys Hochzeit besorgt hatte.

„Und von wem ist das?", fragte Lyn und hob ein Paket hoch, das raschelte, wenn sie es schüttelte.

„Ich glaube, das ist von Mum und Dad", erwiderte Emma. Zum Vorschein kam eine schöne Keksdose, über die kleine Bildchen von Eulen flogen, und in der Keksdose stapelten sich die herrlichsten Plätzchen, Kekse und anderen Knabbersachen. Ein Stück Pergament lag auch dabei, auf dem mit smaragdgrüner Tinte ein paar Worte geschrieben standen.

„Liebe Lyn", las Lyn vor, „wir wünschen dir einen schönen Geburtstag und viele tolle Geschenke. Feier schön und genieße diesen Tag! Allerherzlichst, Ronald und Hermine Weasley."

„Wusste ich's doch, dass es von meinen Eltern ist", meinte Emma.

„Das ist aber echt nett von ihnen", sagte Lyn erfreut.

Emma zuckte die Schultern.

„Ich hab Hunger", sagte Claire und stand von Lyns Bett auf, „ich gehe jetzt essen. Niemand bringt mich um mein Frühstück. Nicht einmal, wenn er Geburtstag hat."

Lyn schüttelte grinsend den Kopf. Hatte sie von Claire verlangt, dass sie ihr Frühstück ausfallen ließ? Manchmal war sie wirklich eigenartig.

Als sie am Gryffindortisch in der Großen Halle saßen, kam Lyn aus dem Händeschütteln gar nicht mehr raus. Lauter Leute gratulierten ihr, mit manchen von ihnen hatte sie sicher nicht mehr als zwei Worte gewechselt. Aber gerade das gefiel ihr so sehr an der Schule: die Herzlichkeit.

„Du hast Geburtstag, oder?", fragte Gabriel und ohne eine Antwort anzuwarten fuhr er fort: „Ich hab noch was für dich."

Er zog eine zerknitterte Packung Schokofrösche hervor und reichte sie Lyn.

„Vielen Dank", meinte sie grinsend.

„Damit du mal was auf die Knochen bekommst", sagte er und grinste breit. Lyn schaute ihn verständnislos an, doch er klopfte ihr kurz auf die Schulter und setzte sich zu Claire, damit sie gemeinsam ihre morgendlichen Fressorgien abhalten konnten. Zum ersten Mal fiel Lyn auf, dass Gabriel und Claire wirklich wie füreinander gemacht waren. Sie waren beide irgendwie verrückt.

Als sie später im Gemeinschaftsraum saßen und sich an den Keksen von Emmas Eltern gütlich taten, schwang mit einem Mal das Portraitloch auf, und jemand betrat den Raum, mit dem Lyn am allerwenigsten gerechnet hatte.

„Na, seid ihr schön am feiern?", fragte Harry lächelnd.

„Och, ja, es geht", erwiderte Claire vergnügt.

„Alles gute zum Geburtstag, Lyn", meinte Harry und schüttelte ihr herzlich die Hand.

„Danke", erwiderte Lyn ein wenig verlegen.

Harry zog aus seinem Umhang ein in dunkelgrünes Geschenkpapier gewickeltes Paket hervor und reichte es Lyn.

„Ich hoffe, du kannst etwas damit anfangen", sagte er. Lyn riss das Papier herunter – und zum Vorschein kam ein wunderschönes nagelneues Koboldstein-Spiel.

„Boa!", entfuhr es Claire, „das ist ja stylisch!"

„Danke!", meinte Lyn erfreut. Sie dachte daran, dass sie Howard geschworen hatte, ihn einmal im Koboldstein zu besiegen.

„Schön, wenn es dir gefällt", lächelte Harry, „ich war mir nicht sicher, ob du schon eins hast oder nicht."

„Nein, das ist wirklich klasse!", antwortete Lyn.

„Dann bin ich ja beruhigt", sagte Harry.

„Da bin ich wieder!", rief er, als er nach Hause kam. Dobby kam herangewuselt und nahm ihm den Umhang ab.

„Danke, Dobby", sagte Harry lächelnd. Er ging ins Wohnzimmer und traf dort eine äußerst ernst aussehende Ginny an.

„Was ist los?", fragte er beunruhigt, „ist irgendetwas passiert?"

Ginny hielt ein Blatt Pergament in der Hand, das aussah wie ein Brief.

„Ist gerade angekommen", sagte sie mit leicht zitternder Stimme, „es geht um Susan. Sie hatte eine Totgeburt."

Harry fühlte sich merkwürdig vor den Kopf geschlagen. Langsam ließ er sich auf einen Sessel sinken und starrte Ginny ungläubig an.

„Totgeburt?", wiederholte er mit seltsam kratziger Stimme, „das Kind ist ...?"

Ginny nickte. Ihre Augen glänzten feucht.

Harry brachte kein Wort mehr heraus. Er dachte an Susan. Sie war eine gute Freundin von ihm. Sich vorzustellen, wie es ihr jetzt gehen musste, war schrecklich. Er legte das Gesicht in die Hände und atmete tief durch. Totgeburt. Wie grausam dieses Wort klang.

„Und wie geht es ihr jetzt?", fragte er schließlich. Ginny zuckte die Schultern.

„Nicht gut, fürchte ich", antwortete sie und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel, „das ist so schrecklich!"

Harry nickte, noch immer fassungslos.

Dass Susan ihr Kind verloren hatte wirkte sich beträchtlich auf Harrys Laune aus. Es hatte ihn schwer geschockt, besonders, weil er wusste, dass Susan in ihrem Leben schon so viele geliebte Menschen verloren hatte. Und nun auch noch das. Er war sich nicht sicher, ob er besser nicht darauf reagieren sollte, oder ob er Susan sein Mitgefühl ausdrücken sollte. Beides erschien ihm gleichermaßen falsch.

Dobby versuchte alles, um ihn aufzuheitern, kochte ihm eine heiße Schokolade und brachte ihm die leckersten Dinge, doch nichts vermochte ihn fröhlich zu stimmen.

Auch Emma, Claire und Lyn erfuhren schließlich von der Sache mit Susans Kind. Emma und Claire kannten sie flüchtig, immerhin war sie mit Emmas Eltern zur Schule gegangen. Auch Lyn erinnerte sich an die hübsche schwangere Frau, die sie an der Hochzeit von Harry und Ginny gesehen hatte. Und obwohl sie sie nicht kannte, so fand sie die Tatsache, dass sie ihr Kind tot zur Welt gebracht hatte, total schrecklich.

Dass Emma Ende Mai anfing, Übungspläne für die Abschlussprüfungen zu erstellen und sie und Claire mit Wiederholungsaufgaben eindeckte, kam ihr ganz gelegen. Es lenkte sie von dem schlimmen Thema ab.

Claire jedoch stöhnte über Emmas Übereifer.

„Es sind noch fast zwei Monate bis zu den Abschlussprüfungen!", beschwerte sie sich, „du kannst doch nicht allen Ernstes jetzt schon mit dem Lernen anfangen wollen!"

„Oh doch, genau das will ich!", gab Emma scharf zurück, „und du solltest dich auch ranhalten, Claire, wenn du versetzt werden willst."

Claire streckte ihr hinter ihrem Rücken die Zunge raus.

„Jetzt steht ja erst mal noch das Spiel um den Quidditchpokal an", meinte Lyn und überflog die Liste, die Emma ihr angefertigt hatte, „und das sollten wir uns trotz Prüfungen nicht entgehen lassen, auch wenn Gryffindor nicht mehr im Rennen ist."

„Genau!", stimmte Claire ihr zu, „schließlich können wir nicht zulassen, dass die miesen Slytherins den Pokal abstauben."