Gryffindor hatte die Spiele gegen Slytherin und Hufflepuff beide verloren. Das war nicht anders zu erwarten gewesen, da ihr Sieg beim Spiel gegen Ravenclaw eher Glück als Können gewesen war.
Und so würden sich jetzt im finalen Spiel um den Quidditchpokal Slytherin und Ravenclaw entgegentreten.
Die Gryffindors schlugen sich natürlich auf die Seite von Ravenclaw. Niemand wollte den Slytherins das Feld überlassen.
Am Tag des Spiels war es wunderbar warm. Lyn lächelte zufrieden. Das würde ein Quidditchspiel nach ihrem Geschmack werden. Kein Regen, kein Schnee, kein Sturm, nein, einfach mal schönes Wetter.
Claire hatte sich diesmal ganz in den Farben Ravenclaws gekleidet und mit Gabriel zusammen einen Banner gemalt, auf dem ein Adler eine Schlange in seinen Krallen hielt und mit dem Schnabel auf sie einhackte. Die Botschaft dieses Bildes war unmissverständlich.
Nach dem Frühstück trieb es alle Schüler nach draußen zum Quidditchstadion. Auch Emma, Claire und Lyn machten sich auf den Weg. Claire trug zusammen mit Gabriel den Banner, auf dem der Adler ununterbrochen auf die Schlange in seinen Krallen einhackte.
Als sie sich ihren Weg durch die Menge wühlten, um Plätze zu ergattern, schlug jemand Lyn von hinten auf die Schulter.
„Na, auch hier?", meinte Howard grinsend.
„Klar, das kann ich mir doch nicht entgehen lassen", erwiderte Lyn.
„Versteht sich von selbst", nickte Howard.
„Und diesmal sind wir ja sogar auf der selben Seite", sagte Lyn. Howard sah sie fragend an. „Na, du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich für die Slytherins bin?"
Howard lachte.
„Ach so", antwortet er grinsend, „nein, natürlich nicht."
Sie fanden schließlich Plätze in der fünften Reihe, und Howard ließ sich neben Lyn nieder. Zufrieden beobachtete er, wie Claire und Gabriel ihren Banner entrollten.
„Das lob ich mir", meinte er anerkennend. Claire grinste.
„Schön, nicht?", fragte sie. Der Adler hackte der Schlange fast den Kopf auf. Lyn war sich nicht sicher, ob sie das tatsächlich „schön" fand. Aber Claire hatte ja immer einen etwas eigenartigen Geschmack.
Die Tribünen füllten sich allmählich mit Schülern und Lehrern.
„Wir haben ja richtig Glück mit dem Wetter", stellte Lyn fest und sah hinauf zum Himmel, an dem lediglich ein paar kleine Schäfchenwolken entlang zogen.
„Ja, hoffen wir, dass es so bleibt", seufzte Howard.
„Hey, Howard!", rief eine Stimme und ein kleiner, etwas pummeliger Junge mit kurzen strohblonden Locken und einem pausbäckigen, sommersprossigen Gesicht wühlte sich zu ihnen durch, „hier steckst du!"
„Hi Robert", grinste Howard ihm entgegen. Robert ließ sich neben Howard auf den Sitz plumpsen. „Das ist übrigens Evy", meinte Howard und wies auf Lyn. Sie stieß ihn in die Seite.
Robert grinste ihr breit entgegen.
„Ach, das ist Evy?", meinte er, „hab schon viel von dir gehört."
„Wahrscheinlich hat er irgendwelche Horrorgeschichten über mich verzapft, der gute Howie", meinte Lyn trocken, „wenn er mich schon anderen Leuten als Evy vorstellt."
Howard lachte.
„Nee, eigentlich hat er nur erzählt, dass er dir beim Schwebezauber behilflich war, und dich in die Spielzüge von Koboldstein eingeweiht hat", erwiderte Robert schulterzuckend, „und dass du ihm Nachhilfe im Fliegen geben willst."
„Na, dann bin ich ja beruhigt", grinste Lyn.
In diesem Moment ertönte die Stimme des Stadionsprechers. Es war wieder der Hufflepuff-Schüler, der auch beim Spiel zwischen Gryffindor und Ravenclaw kommentiert hatte.
„Herzlich willkommen zum letzten Quidditchspiel in diesem Schuljahr!", hallte die Stimme über den Platz, „heute geht es ums Ganze: Wer wird den Quidditchpokal gewinnen? Ravenclaw oder Slytherin?"
„Ganz einfach", flüsterte Howard, „wir lassen die Slytherins nicht gewinnen!"
„Und hier kommen auch schon die Teams auf das Spielfeld marschiert", verkündete der Stadionsprecher, „die Ravenclaws treten an mit Jennings, Chang, Turpin, Lynch, Fawcett, Rushton und Lynch!"
Drei Viertel des Stadions brachen in lauten Jubel aus; offenbar hatten sich auch die Hufflepuffs auf die Seite der Ravenclaws geschlagen.
Claire und Gabriel hüpften auf ihren Plätzen auf und ab und hielten ihr Transparent in die Höhe.
„Und hier folgt auch schon das Team der Slytherins", verkündete der Kommentator, „Anderson, Burkes, Harper, Hudson, Borgin, Wilson und Quentin."
Das Jubeln der Slytherins ging unter in einem einheitlichen lauten Buhen der restlichen Schüler.
„Schau dir meinen lieber Bruder an", meinte Howard geringschätzig und folgte der Gestalt im grünen Quidditchumhang mit den Augen, „hält sich für sooo toll. Und jetzt zwinkert er garantiert der kleinen Schwester von Timmothy Borgin zu."
„Der ist doch nicht etwa immer noch hinter dieser Schlampe von Brianna her?", schaltete Claire sich ein.
„Doch", bestätigte Howard kopfschüttelnd, „na, was soll's; die beiden geben ein gutes Paar ab."
„Miss Bell betritt den Rasen", tönte die Stimme des Stadionsprechers über die Menge hinweg, „und der goldenen Schnatz wird frei gelassen. Unglaublich, wie schnell er verschwunden ist! Als nächstes steigen die Klatscher in die Höhe."
Die beiden schwarzen Bälle schossen davon.
„Miss Bell nimmt den Quaffel in die Hände – und das ist das Zeichen zum Beginn!"
Katie hatte kräftig in ihre Pfeife geblasen.
„Oh, und die Jäger aus Slytherin gehen sofort brutal in die Offensive!", rief der Kommentator, „Harper hat den Quaffel. Pass zu Burkes. Wieder zu Harper. Immer mehr nähern sie sich den Torringen der Ravenclaws und – aaah, das war ein Klatscher, der ihn da erwischt, geschlagen von Fawcett."
Nicolas Harper hatte den Quaffel fallen lassen, und Adrian Turpin hatte sogleich die Gelegenheit wahrgenommen. Jetzt flog er auf die Torringe der Slytherins zu.
„Und Ravenclaw in Quaffelbesitz! Turpin am Ball – Pass zu Chang – ah, sie wird geblockt von Anderson. Gibt ihn ab zu Jennings, und der fliegt jetzt in einem Höllentempo auf die Torringe zu. Es scheint ganz so, als sei er nicht aufzuhalten – er holt aus – jaaah! Der macht ihn rein, keine Frage! Zehn zu null für Ravenclaw!"
Alan Wilson, der Hüter der Slytherins, schimpfte Michael Jennings wütend hinterher, doch der Jubel der Gryffindors, Ravenclaws und Hufflepuffs übertönte ihn mühelos.
„Fängt doch gut an!", strahlte Lyn und jubelte lautstark mit.
„Und Slytherin in Quaffelbesitz!", verkündete der Stadionsprecher, „Anderson geht jetzt hart ran. Der Junge scheint ja mächtig grimmig zu sein. Er fliegt auf die Torringe zu – weicht einem Klatscher, geschlagen von Peter Lynch aus – ja, ist denn da keiner, der ihn aufhält? Chang greift ihn an, doch er weicht ihr aus. Autsch! – ja, diesmal hat Lynch getroffen."
Anderson hatte den Quaffel fallen lassen. Lindsay Chang schnappte ihn sich und flog direkt wieder in Richtung der Slytherin-Torringe davon.
„Pass zu Turpin – wieder zurück zu Chang – zu Jennings – der wird von Harper geblockt, gibt den Quaffel wieder an Turpin."
Adrian Turpin schlängelte sich zwischen den Spielern hindurch und flog auf die Torringe der Slytherins zu. KNALL!
Hendric Burkes war mit vollem Tempo in ihn hineingeflogen, so dass es ihn fast vom Besen gehauen hatte.
„FOOOUUUL!", brüllte Claire empört und sprang auf ihrem Sitz auf und ab. Auch die restlichen Ravenclaw-Anhänger schrieen empört auf.
„Das war eindeutig ein Foul!", bestätigte der Kommentator und seiner Stimme war die Empörung anzuhören, „so eine offensichtliche Version des Keilens habe ich ja noch nie gesehen."
„Du Arschloch!", schrie Howard in die Richtung seines großen Bruders. Robert neben ihm beschwichtigte ihn. Wütend ließ sich Howard zurück in seinen Sitz plumpsen. „Ist doch wahr!", rief er empört, „so was von mies!"
Den Ravenclaws wurde ein Strafstoß zugesprochen, den Adrian Turpin auch sogleich in weitere zehn Punkte verwandelte.
„Zwanzig zu null für Ravenclaw!", verkündete der Stadionsprecher triumphierend.
Auch in den folgenden Spielzügen hatten die Slytherins wenig Glück. Es dauerte nicht lange, und es stand siebzig zu null für Ravenclaw.
„Meine Güte, wenn das so weitergeht, werden sie haushoch verlieren!", stellte Robert grinsend fest.
Die Slytherins wurden zusehends aggressiver. Die Enttäuschung darüber, dass Ravenclaw so schnell und mühelos in Führung gegangen war, verwandelte sich in blinde Wut. Als Michael Jennings wieder einmal auf die Torringe der Slytherins zuflog, trafen ihn zwei Klatscher, geschlagen von Bertram Hudson und Timmothy Borgin, hart im Rücken. Er schlug mit dem Kinn auf seinen Besenstiel auf und der Quaffel fiel ihm aus der Hand.
„Autsch!", sagte Lyn. Beunruhigt sah sie zu Michael hinüber. Dieser hatte sich wieder aufgerichtet, schien jedoch ein wenig benommen zu sein. An seinem Kinn glänzte Blut.
„Und es sieht ganz so aus, als hätte sich der Jäger der Ravenclaws eine Verletzung zugezogen", stellte der Kommentator fest.
Katie pfiff eine Auszeit, als Helen Lynch ihr ein Zeichen dazu gab. Die Spieler landeten am Boden und das Team der Ravenclaws scharte sich um einen ziemlich mitgenommen aussehenden Michael Jennings.
„Glaubt ihr, er hat sich schlimm verletzt?", fragte Emma beunruhigt. Claire zuckte die Schultern.
Madam Pomfrey hastete auf das Spielfeld und machte sich daran, Michael zu verarzten, während Katie den Treibern der Slytherins eine Predigt über den richtigen und verantwortungsbewussten Einsatz ihrer Schlaghölzer hielt.
Wenige Minuten später war Michael jedoch wieder auf den Beinen und das Spiel ging weiter.
Trotzdem schien der Jäger der Ravenclaws ein wenig mitgenommen zu sein, denn seine Bewegungen und Reflexe waren langsamer als vor seinem kleinen Unfall. Das wirkte sich offenbar negativ auf das Glück der Ravenclaws aus, denn nur kurze Zeit später gelang es Nicolas Harper, den Quaffel durch die Torringe der Ravenclaws zu manövrieren.
„Siebzig zu zehn für Slytherin", verkündete der Kommentator den Spielstand. Angespornt von diesem Treffer liefen die Slytherins zur Bestform auf und nach einer Stunde hatten sie den Ausgleich geschafft.
„Verdammt!", zischte Claire auf ihrem Sitz, „verdammt, verdammt, verdammt!"
Auch Lyn machte sich allmählich Sorgen. Würden die Slytherins in Führung gehen? Es durfte einfach nicht sein, dass Ravenclaw verlor und der Pokal an Slytherin ging.
„Hoffen wir nur, dass Helen den Schnatz möglichst bald fängt", murmelte Howard vor sich hin.
Doch der kleine goldenen Ball ließ sich vorerst nicht blicken. Lyn schaute hinauf, wo Helen Lynch und Erasmus Quentin, die Sucher der beiden Teams, ihre Kreise über dem Stadion zogen.
Seufzend richtete sie ihren Blick zurück auf das Spielgeschehen und sah gerade noch, wie Howards Bruder der Ravenclaw-Jägerin Lindsay Chang den Ellbogen äußerst unsanft in die Seite rammte.
„Schon wieder ein Foul!", rief der Stadionsprecher ins Megaphon, als Katies Pfiff ertönte, „jetzt wird auch noch gerempelt!"
Nach diesem zweiten Freistoß, den Lindsay problemlos verwandelte, stand es achtzig zu siebzig für Ravenclaw.
Da, mit einem Mal, sah Lyn etwas am mittleren Torring der Ravenclaws – etwas kleines Goldenes, in dem sich die Strahlen der Sonne spiegelten. Aufgeregt stieß sie Howard in die Seite.
„Sieh mal!", rief sie und deutete auf das goldene Glitzern. Howard folgte ihrem Blick – und dann sah er es auch.
„Der Schnatz!", meinte er aufgeregt, „mensch, Helen, komm schon!"
Zu ihrem Glück schien auch Helen den Schnatz inzwischen entdeckt zu haben, denn sie ging in einen schnellen Sinkflug über. Erasmus Quentin folgte ihr so schnell er konnte, doch Helen hatte einen guten Vorsprung.
„Na los!", schrie Claire und sprang wieder auf.
„Helen Lynch hat offenbar den Schnatz gesehen", tönte die Stimme des Kommentators über das Stadion, doch dieser Hinweis wäre eigentlich überflüssig gewesen. Alle Zuschauer folgten mit ihren Blicken jetzt Helen, die mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf die Torringe zuflog.
„Wenn sie mal nicht gegen den Torring kracht", stöhnte Emma und hielt sich die Augen zu.
„Tut sie nicht!", meinte Lyn zuversichtlich.
Und tatsächlich riss Helen ihren Besen wenige Sekunden später wieder in die Höhe, ihre rechte Hand um etwas kleines Goldenes geschlossen, das hilflos mit kleinen silbernen Flügeln gegen ihre Finger schlug.
Es dauerte einige Augenblicke, bis die Zuschauer begriffen, was geschehen war; dass Helen Lynch soeben den Schnatz gefangen hatte, dass Ravenclaw der Pokalsieger war. Dann allerdings brach ein Jubel im Stadion aus, dass Lyn fast die Ohren platzten.
„JAAA!", brüllte Claire neben ihr und führte eine Art Freudentanz auf ihrem Sitz auf. Howard und Robert schrieen sich die Seele aus dem Leib und fielen sich um den Hals. Unten auf dem Spielfeld landeten jetzt die Spieler beider Teams. Die Ravenclaws fielen sich gegenseitig um den Hals und dann hoben sie Helen hoch über ihre Köpfe und trugen sie einmal rund um das Spielfeld.
Einige Zuschauer strömten jetzt auf das Feld um ihre Kameraden zu beglückwünschen und ein allgemeiner Siegestaumel hatte alle ergriffen. Die Zuschauer hielt es nicht länger auf ihren Bänken; sie sprangen auf und alle stürzten in einem heillosen Chaos hinunter zum Spielfeld.
In der Menge konnte Lyn Dumbledores weiß leuchtendes Haar entdecken, wie er am Rand des Spielfeldes wartete, den mächtigen Quidditchpokal in der Hand. Das Team der Ravenclaws war den Tränen nahe, als sie vor dem Schulleiter standen und er ihnen den silbern glänzenden Pokal überreichte.
Neben sich sah Lyn, wie selbst Howard sich die Tränen aus den Augenwinkeln wischte. Sie konnte nicht anders, sie umarmte ihn stürmisch. Die allgemeine Jubelstimmung hatte auch sie ergriffen, und sie schrie begeistert mit, als alle umstehenden Schüler das Gewinnerteam beglückwünschten.
Die Euphorie, die in der Luft lag, wirkte wie eine ansteckende Krankheit, die auf alle Umstehenden übergriff. Selbst Slughorn schüttelte dem zu Tränen gerührten Professor Flitwick die Hand – wenn auch mit einem etwas gequälten Lächeln auf dem Gesicht.
„Unglaublich!", seufzte Emma. Auch sie strahlte über das ganze Gesicht.
„Was?", fragte Lyn.
„Einfach alles!", meinte Emma, „einfach alles!"
