Die Abschlussprüfungen

Emmas Anspannung in den nächsten Wochen wuchs immer mehr an. Sie verbrachte jede freie Minute damit, sämtliche Schulbücher noch einmal von vorne bis hinten durch zu lesen oder seitenweise Zusammenfassungen der Unterrichtsstunden anzufertigen.

Auf alles und jeden reagierte sie gereizt und so war es besser, man ließ sie völlig in Ruhe.

Claire tat absolut nichts für die Prüfungen.

„Das, was ich von Emmas Wiederholungen zwangsläufig mitbekomme, ist völlig ausreichend", meinte sie nur.

Lyn jedoch setzte sich auch an ihre Wiederholungen. In Verteidigung gegen die Dunklen Künste und in Zaubertränke machte sie sich eigentlich keine Sorgen um die Prüfung. Auch in Kräuterkunde kam sie einigermaßen gut mit, und mit ein wenig Auffrischung ihrer Kenntnisse würde sie die Prüfung wohl bestehen. Mehr Sorgen machte sie sich um Verwandlung und Zauberkunst. Zwar kam sie im Unterricht immer einigermaßen mit, was den theoretischen Teil anging. Aber sollte es ans Praktische gehen, dann würde sie durchaus Probleme haben. Ab besten ging sie noch einmal alle Verwandlungen und Zauber, die sie während des Schuljahres gelernt hatten, durch, und übte diejenigen, die sie nicht oder nur schlecht fertiggebracht hatte. In Geschichte der Zauberei sah sie absolut schwarz. Sie schaffte es einfach nicht, länger als fünf Minuten aufmerksam zu sein, wenn Professor Binns dort vorne vor der Klasse schwebte und seine monotonen Reden hielt.

Als die Abschlussprüfungen immer näher rückten, wurde es mit Emma besonders schlimm. Sie schlief kaum noch, murmelte ständig irgendwelche Zaubersprüche und Beschwörungen vor sich hin und war so gereizt, dass sie unglaublich schnell explodierte.

Auch Lyn plagten allmählich Alpträume, in denen sie vor endlos langen Prüfungsaufgaben saß und keine von ihnen beantworten konnte, bis ihr Professor McGonagall schließlich mit finsterer Miene verkündete, sie habe nicht bestanden.

An dieser Stelle wachte Lyn für gewöhnlich auf, fand sich selbst sicher in ihrem Bett, und das einzige, was zu hören war, war das leise Murmeln Emmas im Schlaf und das markerschütternde Schnarchen von Claire.

Sowieso schien Claire der ganze Prüfungsstress ziemlich egal zu sein. Sie war so entspannt wie lange nicht mehr, und schien sich über den Eifer ihrer Mitschüler köstlich zu amüsieren.

An einem Abend kam es zur Explosion.

Emma saß im Gemeinschaftsraum an einem der Tische, hatte dutzende Bücher aus der Bücherei um sich herum aufgestapelt und schrieb ein Pergament nach dem anderen voll.

Claire unterdessen saß gemütlich vor dem Kamin und futterte einen Schokofrosch nach dem anderen.

„Willst du auch was Süßes, Emma?", fragte sie und blickte hinüber zu der Mauer aus Büchern hinter der sich irgendwo Emma verbarg.

„Nein, Claire, will ich nicht", gab Emma gereizt zurück, „ich arbeite, wie du siehst."

„Ja, ich sehe, dass du arbeitest", erwiderte Claire und gluckste, „irgendwann arbeitest du dich mal zu Tode, Emma!"

„Würdest du mich vielleicht einfach mal in Ruhe lassen!", fauchte Emma.

„Okay, okay", beschwichtigte Claire sie, „ich mein ja nur. Ich komm nicht zu deiner Beerdigung, wenn du an Überarbeitung stirbst."

„Claire, halt die Klappe!", fuhr Emma sie an. Claire streckte ihr die Zunge raus (was Emma natürlich wegen der ganzen Bücher nicht sah), sagte aber nichts mehr. Stattdessen zog sie ein kleines längliches Rohr hervor, knüllte etwas Papier zusammen und steckte es vorne in das Rohr.

„Claire, nein!", mahnte Lyn sie leise, doch Claire hatte schon „Emma Weasley" geflüstert, das Rohr an die Lippen gesetzt und einmal feste hineingepustet. Lyn schloss die Augen und wartete auf Emmas Ausraster.

Und er kam.

Die kleine Papierkugel zischte um den Bücherstapel herum, und kurz darauf hörte man einen leisen erschrockenen Aufschrei. Claire prustete los.

„Claire!", schrie Emma zornig und sprang auf.

„Was denn?", fragte Claire lachend, „Mann, entspann dich doch mal n bisschen!"

„Das ist nicht lustig!", schrie Emma mit hochrotem Kopf, „du denkst vielleicht, du bist ach so witzig, aber das bist du nicht! Du hältst dich für was Besonderes, bloß weil du immer aufmüpfig und frech bist und dir von niemandem was sagen lässt, aber das hat NICHTS mit Coolsein oder so zu tun. Du bist einfach nur KINDISCH!"

„Ach ja?", rief Claire zornig zurück, „und du? Für dich gibt's doch nichts wichtigeres als deine Bücher! Wach doch endlich mal auf, das Leben besteht aus mehr als Pergament, Papier und Tinte! Du weißt ja gar nicht, wie man LEBT!"

„ZUMINDEST WERDE ICH SPÄTER KEINE PROBLEME HABEN, EINE ANSTÄNDIGE ARBEIT ZU FINDEN!", schrie Emma, „ABER WENN DU DANN AUF DER STRASSE SITZT UND DIR DEINEN LEBENSUNTERHALT MIT IRGENDWELCHEN SCHMUTZIGEN ARBEITEN VERDIENEN MUSST, DANN KANNST DU DEN LEUTEN JA ERZÄHLEN, WIE WICHTIG ES IST, ANDERE LEUTE ZU ÄRGERN UND ZU VERARSCHEN! MIR SOLL'S EGAL SEIN!"

„GUT DANN IST ES DIR EBEN EGAL!", schrie Claire zurück und warf mit einer zornigen Handbewegung einen der Bücherstapel vom Tisch, „DANN VERGAMMEL DOCH WEITERHIN HINTER IRGENWELCHEN BÜCHERSTAPELN, DU VERDAMMTE STREBERIN!" Wütend stampfte sie aus dem Raum und in den Schlafsaal hoch.

Emma starrte ihr zornig nach.

Lyn sagte nichts. Sie hatte es kommen sehen, dass es irgendwann zwischen den beiden eskalieren musste. Und sie hoffte, dass ihre Freundinnen sich möglichst bald wieder vertrugen.

Doch so bald vertrugen sie sich nicht. Am nächsten Tag beim Frühstück schwiegen sich Emma und Claire trotzig an und taten so, als wär die Andere nicht anwesend. Lyn saß dazwischen und kam sich ziemlich schlecht vor.

Die Prüfungen rückten immer näher, und Emma und Claire machten keine Anstalten, ihren Streit zu begraben. Emma büffelte weiterhin und Claire lag auf der faulen Haut, aber keine der Beiden beachtete die Andere.

Lyn fragte sich, wie lange das noch so gehen sollte.

Schließlich waren die Prüfungstage gekommen. Lyn war nervöser denn je; sie hatte zum ersten Mal wirklich Bedenken, ob sie die Versetzung schaffen würde.

Die Prüfungen in Zaubertränke und Verteidigung gegen die Dunklen Künste verliefen wie erwartet problemlos.

Am Ende der Zaubertrankprüfung brachte Lyn ihr fertig beschriftetes Kristallfläschchen mit dem Zaubertrank, den sie hatten brauen müssen, und den ausgefüllten Fragebogen nach vorne zu Slughorn. Der überflog rasch all ihre Antworten, warf einen prüfenden Blick auf den Trank in dem Fläschchen (er war von einen blassen Violett) und strahlte Lyn dann an.

„Gut gemacht, Miss Dursley", flüsterte er, denn die meisten anderen Schüler waren noch hochkonzentriert bei der Arbeit. Lyn grinste zufrieden.

Nach der Prüfung in Verteidigung gegen die Dunklen Künste fühlte sie sich mindestens genau so erleichtert wie nach Zaubertränke. Harry lächelte und nickte ihr zu, und ihr Herz machte einen Hüpfer. Wie es aussah, hatte sie bereits zwei Fächer, in denen ihr gute Noten sicher waren.

Schwierig wurde es dann, als es an die Prüfung in Geschichte der Zauberei ging. Lyn saß vor ihren Aufgabenblättern und wusste nicht mehr ein und aus. Schließlich kritzelte sie irgendetwas hin, von dem sie hoffte, dass es nicht ganz falsch war, und ging später mit einem äußerst unbehaglichen Gefühl im Bauch aus der Prüfung.

Ihre Laune besserte sich, als sie die Kräuterkundeprüfung hinter sich hatte. Hier war alles recht gut gelaufen, und Lyn hoffte, dass sie hier die schlechte Note in Geschichte der Zauberei wieder wett machen konnte.

Verwandlung und Zauberkünste liefen mittelmäßig. Lyn schaffte es, ihre Feder zum Schweben zu bringen, und auch die Verwandlung des Sickels in einen Hemdknopf bekam sie ganz gut zustande (zwar glänzte der Knopf noch silbern, aber Lyn hoffte, dass es dafür keine Punktabzüge gab), doch beim theoretischen Teil hatte sie ihre Probleme, und als sie am Ende beider Prüfungen ihre Unterlagen abgab, hatte sie das sichere Gefühl, mindestens die Hälfte der Fragen falsch beantwortet zu haben.

Lyn war sichtlich froh, als die Prüfungen vorbei waren. Und auch Emma schien sich endlich wieder zu entspannen.

Das Beste aber war, dass Claire abends, als sie im Gemeinschaftsraum saßen, zu Emma ging, sich räusperte und sagte:

„Also ... ich wollte nur ... es tut mir leid, dass ich dich so geärgert habe. Ich fand es nur ... irgendwie blöd, dass du die ganze Zeit nur gelernt hast, und ... na ja ... tut mir leid." Sie wirkte ehrlich geknickt.

Emma lief leicht rosa an.

„Schon okay", murmelte sie verlegen, „ich war auch n bisschen arg gereizt. Ich ... ich hätte dich nicht so anschreien sollen."

„Dann ist das geklärt?", fragte Claire erleichtert.

„Ja, ich denke", erwiderte Emma. Einige Augenblicke zögerten sie, dann fielen sie sich um den Hals.

„Mensch, bin ich froh, dass ihr euch wieder vertragt!", strahlte Lyn.

Der Tag der großen Jahresabschlussfeier war gekommen. Die ganze Halle war mir roten und goldenen Fahnen und Bannern geschmückt, und ein großer goldener Löwe auf rotem Grund prangte an der Wand hinter dem Lehrertisch; die Gryffindors hatten dieses Jahr den Hauspokal gewonnen.

Emma, Claire und Lyn setzten sich zu den Anderen an den Gryffindortisch. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung, denn es war vier Jahre her, dass der Pokal zum letzten Mal an Gryffindor gegangen war.

Als sich alle Schüler gesetzt hatten, klopfte Professor McGonagall an ihr Glas und Professor Dumbledore erhob sich. Das Geplapper an den Tischen verstummte und alle sahen den Schulleiter erwartungsvoll an.

„Ein weiteres Schuljahr in Hogwarts ist vorbei!", rief er vergnügt, „hoffentlich ein erfreuliches Jahr für euch alle, Junge wie Alte, und hoffentlich seid ihr in diesem Jahr ein bisschen klüger geworden.

Wie ich nur zu gut verstehe, fiebert ihr alle der Verleihung des Hauspokals entgegen. Deswegen werfen wir einen kurzen Blick auf den Punktestand. An vierter Stelle haben wir da Hufflepuff, mit dreihundertsechsundzwanzig Punkten; an dritter Stelle Slytherin mit dreihundertzweiundneunzig Punkten; Ravenclaw liegt mit vierhundertfünfundvierzig auf Platz zwei und den ersten Platz, mit vierhundertsiebenundsechzig Punkten, hat Gryffindor belegt."

Die Gryffindors brachen in lauten Jubel aus.

„Nun, wie mir scheint, steht der Sieger des diesjährigen Hauspokals fest!", rief Dumbledore vergnügt über den Tumult hinweg, „herzlichen Glückwunsch, Gryffindor!"

Als schließlich die Zeugnisse noch kamen, war Lyn erstaunt, dass sie es doch mit recht guten Noten geschafft hatte; in Verteidigung gegen die Dunklen Künste und Zaubertränke hatte sie, wie erwartet, mit Bestnoten bestanden, und auch Kräuterkunde wies auf ihrem Zeugnis eine ordentliche Punktzahl auf. In Verwandlung hatte sie ein wenig schlechter abgeschnitten als in Zauberkunst, aber in beiden Fächern trotzdem mehr Punkte erreicht, als sie erwartet hatte. Geschichte der Zauberei war natürlich eine mittlere Katastrophe, aber ihre restlichen Noten machten dies wieder wett.

Emma hatte natürlich überall Spitzennoten; sie war Jahrgangsbeste. Und auch Claire hatte es irgendwie geschafft, überall zu bestehen.

Ehe Lyn es sich versah, war der Tag der Abreise gekommen. Ihr Koffer war gepackt, und Herbert sicher in seinem Käfig verstaut. Ein letztes Mal warf sie einen Blick in den Schlafsaal, dann polterte sie mit den anderen zusammen nach unten, wo draußen schon Hagrid darauf wartete, die Erstklässler mit den Booten über den See zu schippern.

Am Bahnhof in Hogsmeade sahen Emma und Claire hinüber zu Harrys und Ginnys Haus. Lyn erinnerte sich, wie im Sommer letzten Jahres, als sie angekommen waren, Ginny aus eben jenem Fenster gewinkt hatte, an dem jetzt sie und Harry standen.

„Tschüss!", rief Claire übermütig und winkte wild, „wir sehen uns ja bald, hoffe ich!"

„Macht's gut, ihr drei!", rief Ginny lächelnd. Harry zwinkerte Lyn zu und sie grinste zurück.

„Na, sooo bald werden wir sie ja auch wieder nicht sehen", meinte sie zu Claire, als sie ihre Koffer durch den Gang schleiften und sich ein freies Abteil suchten.

„Natürlich!", erwiderte Claire, „Harry wird Ende Juli dreißig."

„Glaube kaum, dass meine Eltern mich da hin lassen", meinte Lyn trocken.

„Ach was", winkte Emma ab, „die werden gar nicht anders können, wenn Harry bei dir in der Tür steht und dich höchstpersönlich abholt."

„... und dein Dad sich in die Hosen macht, aus Angst, er könnte sich im nächsten Augenblick als Schwein wiederfinden", ergänzte Claire und sie lachten los.

Die Sommerferien hatten gerade begonnen und Harry war froh, den ganzen Stress der Abschlussprüfungen hinter sich gelassen zu haben. Glücklicherweise war niemand seiner Schüler durchgefallen, auch wenn es bei einigen sehr knapp gewesen war.

Jetzt jedoch wollte er den Sommer genießen. Das Schöne am Leben als Lehrer war es gewesen, dass Harry seine Arbeitszeiten klar definiert hatte. Niemals musste er urplötzlich für mehrere Tage das Land verlassen und auch selten saß er bis nach Mitternacht am Schreibtisch.

Doch nun, so fand er, war der Augenblick gekommen, in dem er sich massenhaft Zeit für seine Frau nehmen sollte. Natürlich war gerade über die Sommerferien Hochsaison bei „Weasleys zauberhafte Zauberscherze", allerdings hatten sie die Abende für sich. Häufig verbrachten sie diese im Garten, der mittlerweile schön hergerichtet war. Harry und Ginny hatten die unterschiedlichsten Blumen gepflanzt und waren momentan dabei, einen kleinen Teich anzulegen. Seit sie Dobby eingestellt hatten, brauchten sie sich auch nicht mehr um die Hausarbeit zu kümmern.

Harry kam sich des öfteren ziemlich schäbig vor, wenn er Dobby sämtliche Arbeiten überließ. Doch sobald er auch nur nach dem Frühstück das schmutzige Geschirr in die Hand nahm, wuselte ihm Dobby dazwischen und quiekte:

„Aber nein, Harry Potter, Sir, Dobby erledigt das!" Tatsächlich schien dem Elfen die Arbeit zu gefallen. Manchmal hatte Harry das Gefühl, er könnte sich nichts schöneres vorstellen, wenn er summend den Staub von den Möbeln wischte. Am Wochenende jedoch war Dobby meist außer Haus, um Winky zu besuchen. An diesen zwei Tagen genoss Harry es richtiggehend, den Abwasch zu erledigen.

„Hast du dir schon Gedanken über deinen Geburtstag gemacht?", fragte Ginny eines Abends, als sie zusammen auf der Terrasse saßen

„Nein", sagte Harry, „wieso auch?"

„Also willst du feiern wie jedes Jahr?"

„Natürlich", meinte Harry und nahm einen Schluck von seinem frischgepressten Orangensaft.

„Okay. Ich hoffe nur, Dobby ist nicht überfordert mit dem ganzen Essen", sagte Ginny.

„Seit wann das denn?", fragte Harry.

„Harry, du wirst dreißig. Ich schwöre dir, dass sie das alle als die nächste Gelegenheit zum Feiern ansehen. Glaub mir, es wird viel mehr als sonst", belehrte Ginny ihn.

„Noch mehr?", fragte Harry und konnte einen kleinen Seufzer nicht unterdrücken.

„Natürlich, überleg doch nur mal: Unsere Familie, ...", begann Ginny.

„Ron und Hermine", fuhr Harry fort.

„Das ist unsere Familie", meinte Ginny grinsend.

„Oh, ja stimmt", sagte Harry. Es fiel ihm immer noch ein wenig schwer, Ron und Hermine als Verwandte zu betrachten. Immerhin waren sie sein Leben lang seine besten Freunde gewesen und nun sollten sie plötzlich verschwägert sein?

„Dann noch deine Freunde und Kollegen ..."

So verbrachte Harry die lauen Sommernächte am liebsten. Er war einfach wunschlos glücklich, wenn er nur mit Ginny zusammen in ihrem Heim sein konnte. So lange hatte er den Wunsch nach einer eigenen Familie gehabt. Natürlich war er bei den Weasleys immer willkommen, aber mit Ginny war das etwas anderes. Das Einzige, was noch fehlen würde, überlegte Harry, war ein Kind. Dann wären sie eine richtige kleine Familie. Familie Potter.

Harry hatte lange geschlafen, jetzt, wo er nicht mehr pünktlich zum Unterricht kommen musste.

Als er am Mittwochmorgen erwachte und fahrig seine Brille aufsetzte, stellte er fest, dass Ginny nicht mehr neben ihm lag. Er richtete sich auf und warf die Decke zurück. Normalerweise stand Ginny nicht besonders früh auf.

Rasch zog er sich an und ging in die Küche, wo er Ginny erwartete. Doch auch dort war sie nicht. Für gewöhnlich warteten sie mit dem Frühstück aufeinander. Harry schüttelte den Kopf, dann erblickte er Dobby.

„Dobby hat den Gartentisch gedeckt, Sir", rief er fröhlich und eilte hinaus, „Dobby dachte, dass Mr. und Mrs. Potter gerne draußen frühstücken würden."

Harry gähnte und schlurfte hinaus auf die Terrasse. Er setzte sich an den gedeckten Tisch und lud sich ein Stück Kirschkuchen auf. Ginnys Geschirr war noch unbenutzt und er fragte sich, wo sie überhaupt steckte.

„Dobby", rief er dem Elf zu. Dobby wandte sich um.

„Ja, Harry Potter, Sir?"

„Dobby, du weißt nicht zufällig wo Ginny ist?"

„Oh doch, Sir, Mrs. Potter ist im Garten", gab Dobby ihm Auskunft. Harry blickte sich verwundert um. Er konnte Ginny nirgendwo sehen.

„Dort hinten ist sie, Sir", sagte Dobby und deutete mit seinem langen, schmalen Zeigefinger auf einen der Apfelbäume.

Harry folgte seinem Blick und schirmte die Augen mit seiner Hand gegen die warme Morgensonne ab. Tatsächlich! Eine alte Leiter war gegen den Baum gelehnt und oben im Geäst, von dem dichten Blattwerk verdeckt, konnte er etwas Blaues erkennen.

Harry ging auf den alten Baum zu und schließlich konnte er Ginny zur Gänze erkennen. Sie saß auf einem der stabilen Äste und wippte auf und ab.

„Was tust du da?", fragte Harry sie verblüfft.

„Wonach sieht es denn aus?", fragte Ginny lächelnd.

„Na ja, das konnte ich eben noch nicht so genau feststellen", meinte Harry, „aber da es nicht allzu viele Möglichkeiten gibt, die dich um zehn Uhr morgens auf einen Apfelbaum treiben könnten, würde ich sagen, du erntest Äpfel."

Ginny grinste nur und wischte etwas Dreck von ihrem gepunkteten hellblauen Sommerkleid.

„Denkst du nicht, es ist noch etwas zu früh dafür?", fragte Harry weiter.

„Es geht doch nicht um die Äpfel", sagte Ginny und kletterte die Leiter wieder hinunter. Harry hob sie die letzten Sprossen herunter und setzte sanft neben sich ab.

„Um was dann?", fragte er.

„Ich wollte gucken, ob der Ast die da aushält", sagte sie. Harry folgte ihrem Blick und sah eine leicht verhedderte, aber brandneue Schaukel zu ihren Füßen liegen.

„Oh", sagte er verwundert, „ich wusste gar nicht, dass du gerne schaukelst."

Ginny lächelte ihn an.

„Ich nicht. Aber ich dachte, jemand anderes in absehbarer Zeit", meinte sie.

„Also, ich habe zwar seit meiner Kindheit nicht mehr geschaukelt – aber – na ja, vielleicht ist es ja ganz lustig", sagte Harry. Sie sah so glücklich aus und er wollte ihr beim besten Willen nicht die Laune verderben.

„Eigentlich hatte ich da an jemand anderen gedacht", lachte sie und küsste ihn auf die Wange.

„Ach so", rief Harry. Endlich hatte er verstanden, worum es ging. „Falls Ron und Hermine mit ihren Kindern kommen!"

Ginny brach in schallendes Gelächter aus.

„Nicht nur Ron und Hermine haben Kinder", sagte sie, nachdem sie sich wieder gefasst hatte.

„Nein, das ist mir schon klar. Auch Bill und Fleur und – sag mal, was soll das eigentlich? Reicht es nicht, wenn ich sage, dass diese Schaukel für Kinder ist?" Harry schaute sie eingeschnappt an.

„Nein", meinte Ginny schlicht, „sie ist nämlich für ein ganz besonderes Kind."

Harry verstand die Welt nicht mehr.

„Für eines, das hier leben wird", half sie ihm auf die Sprünge.

„Hier wird ein Kind einziehen? Also, hör mal, da habe ich vielleicht auch noch ein Wört – " Harry stockte abrupt. „Du meinst - ?"

„Wir bekommen ein Baby", sagte Ginny strahlend und fiel Harry um den Hals. Seine Gedanken drehten sich. Alles verschwamm vor seinen Augen, während er Ginny durch die Luft wirbelte und stürmisch küsste. Und als er die Welt um sich herum wieder wahrnahm, schien die Wiese viel grüner als je zuvor und der Himmel war so strahlend blau, dass er Harry beinahe blendete.

„Ich werde Vater"; flüsterte er. Ginny lächelte.

„Du wirst der beste sein", sagte sie und küsste ihn.