Die Nacht war still, wie so oft, und die Sterne funkelten so klar am Himmel, dass man die Gestirne mit Leichtigkeit hätte erkennen können, wenn man es wollte. Doch das interessierte nicht, zu mindest jetzt noch nicht.

Es war alles wie immer, könnte man meinen, doch Vivian, die immer noch mit den ihr allzu bekannten Piraten der Black Pearl in der Taverne saß, dachte nicht im geringsten daran, dass alles wie immer war, denn schließlich war es das für sie nicht.

Ihre Gedanken drehten sich um ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und ihre Zukunft.

Das erste war geprägt von Stolz und Leid, immer vermischt zu einem Abenteuer, aufregender und gefährlicher als so manch eine Geschichte, die man Kindern erzählt, bevor sie schlafen gehen.

Das zweite ist geprägt von Alltag und Frieden, fern ab von jeglicher Erinnerung und voll von Harmonie und Ruhe, ein Leben, wie es jeder normale Bürger hat.

Das dritte wird von nichts geprägt, nicht einmal vorgezeichnet, es wird so ungewiss, wie das Wetter, wenn man eine lange Reise antreten will, eine Reise, von der man nicht weiß, wohin sie führt wird.

Doch um so länger sich ihre Gedanken um diese Dinge drehten, um so enger zog sich der Kreis um die Zukunft und um so deutlicher erkannte sie den Weg, den sie einschlagen würde, einen Weg, von dem sie gedacht hatte, dass er in weite Ferne gerückt war. Mit jedem Schluck Rum, den sie trank und mit jedem weiteren Wort, das aus Gibbs Mund kam, wurde ihre Entscheidung klarer und ihre Zweifel verschwommener.

Noch ein letzter Schluck Rum und ihre Entscheidung stand fest, besiegelt mit dem aufknallen ihres Humpens auf der massiven Tischplatte, das einige Blicke wieder auf sie wandern ließ.

Da war sie wieder, die alte Lady Black, etwas betrunken, doch mit alter Stärke, wie es schien. Wie es jedoch wirklich in ihr aussah, konnte man nicht genau sagen, denn der Alkohol trübte den Blick darauf.

„Ich komme mit euch mit." sprach sie ihre Entscheidung deutlicher aus, als man es ihr zugetraut hätte. In ihrem Blick, der auf Gibbs gerichtet war, lag Entschlossenheit.

Gibbs sah von seinem Humpen auf und ob es nun die Wahrheit war oder einfach nur an seinem betrunkenen Zustand lag, der Gedanke, dass die Lady Black wieder auf der Black Pearl war gefiel ihm, auch wenn man wieder anhängen musste, dass Frauen seine Meinung nach nichts auf einem Schiff zu suchen hatten.

„Nun gut, willkommen zurück an Bord." meinte er und trank ein die letzten Schlucke seines Rums, der heute noch besser schmeckte als sonst, da er schließlich um sonst war.

Die Gruppe stand auf und zog nun wieder alle Blicke auf sich, sodass jeder sich denken konnte, was morgen in allen Straßen erzählt werden würde, doch dass interessierte Vivian nicht, denn Morgen würde sie schon nicht mehr hier sein. Langsam, langsamer als sie wollte, verließ sie das Gasthaus, dass bis eben der Schauplatz für etwas gewesen war, was man wohl als das interessanteste bezeichnen konnte, was sich seit langem auf Little Island abgespielt hat.

Gibbs und seine Leute, alle vom Rum und Essen etwas träge, gingen ihren Weg zur Black Pearl; Ein wunderbares Schiff in den Augen Vivians, die den bekannten Weg zu ihrem Haus, dem Haus ihres Mannes und ihr, entlang ging. Nicht lange dauerte es und sie betrat ihr Heim, was es für sie in den letzten Jahren war. Ein paar Möbel standen dort und kurz flog ihr Leben hier an ihr vorbei; nur eine kleine Folge von Bildern, die jedoch aussagekräftig waren.

Ihr Blick, für einen Moment glasig von Erinnerung, verfestigte sich wieder und ihre Füße trugen sie wie von selbst zu einer Truhe, deren Schloss seit Jahren nicht angerührt worden war. Nicht angerührt werden sollte, denn der Inhalt hätte sie verraten, so sehr, dass sie hier wohl alles verloren hätte.

Ein Klicken als der Schlüssel umgedreht wurde, ein Rumpeln als das Schloss zu Boden viel und ein Knarren als sie den Deckel langsam nach oben stemmte. Mehr war nicht zu hören, denn als der Deckel die Sicht auf den Inhalt frei gegeben hatte, hatte ihr Atem für einen Augenblick ausgesetzt. Da war sie, ihre Vergangenheit, ihr altes Leben, jedoch auch ein Teil ihrer Zukunft.

Eine Stunde später, hätte jemand die Zeit gemessen, erkannte man Vivian kaum wieder, jedenfalls die nicht, die auf Little Island lebten, denn wer sie länger kannte, der hätte sie erst jetzt wieder erkannt. Kaum etwas war geblieben von der Frau des Schmiedes, die so freundlich auf der Insel aufgenommen worden war, die ein 'normales' Leben wie jede andere geführt hatte und somit jegliche Individualität verloren hatte.

Was jetzt dort stand, gekleidet in die Sachen eines Mannes, war eine Frau mit der sich wohl kaum einer gern angelegt hätte, denn der Degen, der an ihrem breiten Gürtel hing, die Pistole, die ebenfalls dort war und der Dolch, der in einem ihrer ledernen Stiefel steckte, ließen nur erahnen, was dann passieren würde.

Nur eine Kleinigkeit verband die Vivian der letzten Jahre mit dem jetzigen Spiegelbild – Spiegelbild, besser hätte man es nicht beschreiben können, denn das war es, wie ein zweites Gesicht, was jeder Mensch hat, was aber nur bei manchen zum Vorschein kommt - , etwas kleines, doch recht unscheinbares. Ein kleiner, goldener Ring steckte an ihrem Ringfinger, so schlicht und doch so bedeutsam. Es war ihr Ehering, den sie vor Jahren von Dane bekommen hatte, bekommen wollte.

Einen Augenblick war sie bei dem Ring, doch dann nahm sie ihre Sachen, teilweise aus der Truhe, teilweise aus dem Haushalt zusammen gesucht und verließ mit einem entgültigen Schritt das Haus. Doch als sie sich gerade auf den Weg zum Hafen machen wollte, kam sie an der Schmiede vorbei, wo sie ein wildes Hämmern hörte.

Sie blieb stehen, von etwas zurückgehalten, was sie nicht wirklich identifizieren konnte. Ein Gefühl, war es Liebe? War es Trauer? Eine Frage, doch keine Antwort, aber diese Antwort war auch egal, denn was zählte war, dass sie anhielt.

Ihr Blick lag auf der Tür, ein einfaches Stück Holz was sie von ihm trennte und doch war es weniger und doch war es mehr. Ein Ruck durch ihren Körper, Richtung Tür, ein Ruck und sie stand wieder. Ein letzter trauriger Blick und ein gemurmeltes „Auf Wiedersehen" und ihre Schritte trugen sie fort, in die Zukunft und damit in die Ungewissheit. Oder fast. Denn sie wusste, dass sie auf der Black Pearl sein würde, etwas, was in ihren Augen doch erfreulich war und etwas, was ihre Gedanken wohl ablenken würde, so hoffte sie zumindest.

Noch immer war der Himmel sternenklar, als sie die doch schon etwas morschen Planken der Black Pearl betrat. Schon wieder zog sie Blicke auf sich, wie schon so oft heute, was wohl daran lag, dass sich ein erneuter Bruch in ihrem Leben ereignete. Die Blicke waren unterschiedlich, Teilweise neugierig, wer sie war – das waren die Besatzungsmitglieder, die in den letzten Jahren dazu gekommen waren – und teilweise verwirrt, warum sie wieder hier war – das waren die, die schon seit je her auf der Black Pearl waren.

Sie ging ein paar Schritte über die Planken hinüber zur Reling und fuhr langsam mit ihren Fingern über das Holz, bevor sie dann fest zu packte. Sie war wieder zurück, Lady Black war wieder zurück, zwar etwas verändert, aber trotzdem zurück. Ihre Schritte führten sie weiter, vorbei an der Takelage und hinauf auf das Achterdeck, auf dem Gibbs neben dem Steuermann stand.

„Du hast deine alte Kajüte." Meinte Gibbs immer noch leicht angeheitert, jedoch in einem recht strengen Ton, was doch ungewohnt war für sie, denn sie kannte ihn so nicht.

Mit nichts weiter als einem Nicken nahm sie ihre Sachen und verschwand unter Deck, keinen weitern Blick auf Little Island werfend, denn sie fürchtete, dann von Zweifeln überfallen zu werden.

Es waren die ersten Sonnenstrahlen, die über den Horizont kletterten, als man ein „Leinen Los!" vernahm und sich das alte, jedoch stolze Schiff langsam vom Pier entfernte und wieder auf das weite Meer hinausfuhr. Es verließ Little Island, an Bord jemand, der in gewisser Weise dort hin gehörte, in gewisser Weise jedoch auch nicht.