15. 

Harry wusste nicht mehr, wie lange er bereits in Hagrids übergroßem Sessel saß, sich an seinem Teepott festhielt und seinen arg wirren Gedanken nachhing. Diese Grausamkeit mit der jemand Sölämens Köpfe an die Wand geheftet hatte, übertraf alles an Perversion, was Harry sich bis dahin vorstellen konnte. Es war unmenschlich und sinnlos, doch tief in seinem Inneren wusste Harry, dass dieser Akt der Barbarei einen Hintergrund hatte. Sölämen musste sterben weil sie seine Schlange war, hätte er sie nicht mit nach Hogwarts gebracht, würde sie vermutlich noch leben. Es dauerte lange, doch irgendwann, während Harry noch da im Sessel saß und Hagrids besorgten Blick auf sich spürte, wich langsam diese betäubende Leere und machte einer hilflosen Wut Platz. „Wer auch immer dies getan hat, er wird dafür bitter bezahlen!", dachte er grimmig. Einen Moment später fühlte er sich jedoch machtlos und schwach. „Wie? Was kann ich schon tun? Wie kann ich herausfinden wer das wirklich getan hat?"

Das Knurren von Hagrids Magen riss Harry unvermittelt in die Realität zurück und plötzlich wurde ihm bewusst, dass Hagrid wohl auf dem Weg zum Abendessen gewesen war, als er bei ihm ankam.

„Wir sollten ins Schloss hochgehen, vielleicht bekommen wir noch was zum Abendessen", seufzte Harry und wuchtete sich aus dem Sessel, doch Hagrid schüttelte mit einem matten, schuldbewussten Lächeln den Kopf und klopfte sich auf den Bauch.

„Na so schnell werde ich wohl nicht vom Fleisch fallen, aber wenn du möchtest…"

Harry hatte keinen Hunger, doch noch weniger hatte er das Bedürfnis länger als nötig in Hagrids Hütte zu sitzen und dessen mitleidige Blicke auf sich zu spüren.

„Ich hab auch Hunger", log er deshalb und strich sich die zerknitterte Robe glatt.

Hagrid nickte zweifelnd, doch ihm war anzusehen, wie froh er war dieser Stille entfliehen zu können. Harry ging zur Tür und Hagrid folgte ihm mit schlürfenden Schritten, als Harry Sölämens Korb an der Tür stehen sah.

„Äh Hagrid, könntest du dich darum kümmern, dass sie…das sie begraben wird? Ich möchte nicht, dass Sölämen als Sondermüll behandelt wird und in irgendeinem Mülleimer landet. Das hat sie nicht verdient!"

„Klar doch!", nickte Hagrid perplex. „Werd´ mich drum kümmern!"

Genauso schweigend wie ihr Teetrinken in Hagrids Hütte gewesen war, gingen sie auch hoch zum Schloss. Kaum dass sie das Schlosstor passiert hatten, trafen sie auf die ersten Schüler, die offensichtlich ihr Abendessen bereits beendet hatten. Lachend und schwatzend liefen sie an ihnen vorbei und Harry fühlte für einen Moment den brennenden Wunsch ihnen in die Schienbeine zu treten. „Wie können die sich nur so köstlich amüsieren, als sei gar nichts gewesen?", grummelte er in sich hinein, doch noch ehe sie die Tür zur Großen Hallen erreicht hatten, meldete sich auch eine andere Stimme in ihm. „Weil für sie nichts von Bedeutung geschehen ist! Wie kannst du Betroffenheit erwarten, wenn sie Sölämen niemals gekannt haben?"

„Alles klar mit dir, Harry?", fragte Hagrid unbeholfen und jetzt erst bemerkte Harry, dass er direkt in der Tür stehen geblieben war.

„Dämliche Frage!", stöhnte Harry innerlich auf, dennoch nickte er Hagrid mit dem Versuch eines Lächelns zu. „Natürlich, ich komm schon damit klar!"

Ohne weiter auf Hagrid oder den zweifelndem Ausdruck auf dessen Gesicht zu achten, ging Harry zielstrebig zum Tisch der Gryffindors. Ron und Hermine hatten ihn bereits entdeckt und als Harry sich zu ihnen setzte, konnte er die unausgesprochene Frage in ihren Gesichtern lesen, doch er ignorierte sie. Stattdessen zog er sich die Platte mit den Würstchen heran und bemühte sich einen möglichst unbefangenen Eindruck zu erwecken. „Ich werde hier ganz sicher nicht mit euch über Sölämen reden! Sie war nur eine Schlange…nur eine Schlange und kein Grund deshalb die Fassung zu verlieren", dachte er bitter, während er stur auf seinen Teller blickte, als sei das Abendessen, das Einzige was ihn wirklich beschäftigte. Im Nachhinein hätte Harry nicht sagen können, ob, was oder wie viel er überhaupt gegessen hatte, es war ein rein mechanischer Akt, der den einzigen Zweck hatte, den Aufruhr in seinem Inneren zu verbergen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schien es ihm unmöglich zu sein, seine mit Sölämens Tod verbundenen Gefühle zuzulassen. Zorn und der Wunsch nach Rache war das Einzige was er sich selber gestattete und je länger er darüber nachdachte, umso sicherer wurde er, dass er die Person finden würde, die Sölämen dies angetan hatte.

„Wir haben das Treffen des Gryffindorteams verschoben", sagte Ron nach einer Weile unsicher und fügte, als Harry nicht reagierte etwas lauter, „Auf morgen Abend", hinzu und sah hilfesuchend zu Hermine.

„Warum?", kam Harrys gelangweilte Gegenfrage, während er unbeirrt Essen in sich hineinschaufelte.

„Na ja, wir dachten…nach dem…was heute geschehen ist…hast du den Kopf vielleicht nicht unbedingt für Quidditch frei und außerdem will McGonagall dich später in ihrem Büro sehen."

„Aha! Wann?"

„Nach dem Abendessen", seufzte Hermine, während sie über Harrys Schulter hinweg zum Lehrertisch hochsah.

„Das wird ganz schön knapp von der Zeit, da ich um neun Occlumency bei Silver habe."

Harry sah nicht auf, doch er konnte hören, wie Hermine scharf Luft holte. „Ähm heute? Denkst du nicht, dass es möglicherweise etwas viel ist, heute auch noch Occlumency…"

„Dieser Unterricht ist zu wichtig, als dass ich ihn ausfallen lassen möchte", erklärte Harry knapp. „Doch ich muss los, McGonagall wartet sicher schon auf mich."

Wie nicht anders erwartet wurde Harry von seiner Hauslehrerin über einen möglichen Verdacht befragt, wobei Harry feststellen musste, dass McGonagall nun fast noch besorgter wirkte, als an jenem Abend, als Sirius während Harrys drittem Schuljahr in den Schlafraum der Gryffindors eingedrungen war. Dennoch zog sich dieses Gespräch weit weniger in die Länge als Harry befürchtet hatte und schon nach wenigen Minuten entließ sie ihn wieder, jedoch nicht ohne ihn vorher nochmals eindringlich zur Vorsicht zu ermahnen.

„Es ist uns immer noch ein Rätsel, wie jemand in ihren Schlafsaal eindringen konnte", beendete sie das Gespräch. „Deshalb seien Sie wachsam, Potter!"

„Das werde ich Professor!", versprach Harry und wandte sich zum Gehen.

Er hatte gerade die Tür geöffnet, als er sich unwillkürlich noch einmal nach seiner Hauslehrerin umdrehte. Sie hatte die Brille abgenommen und fuhr sich müde über die Nasenwurzel, eine Geste die Harry spontan an Remus denken ließ. Mit einem unterdrückten Seufzen zog er die Tür hinter sich ins Schloss und blieb wie angewurzelt stehen, da plötzlich Ernie MacMillan hinter ihm stand.

„Hi Harry", lächelte dieser unsicher, während sein Blick nervös den Gang entlang huschte, als wollte er sich versichern, dass niemand sie beobachtete.

„Ist das Zufall oder Absicht, dass wir uns heute ständig über den Weg laufen?", fragte Harry misstrauisch und wusste selbst nicht, weshalb er diese Frage so aggressiv stellte.

Ernie biss sich auf die Unterlippe und sah betreten zu Boden. „Ron hat dir nichts ausgerichtet, nicht wahr?", sagte er so leise, dass Harry ihn kaum verstehen konnte.

„Was ausgerichtet?"

„Nun…ja…ich…", stotterte Ernie, brach jedoch unvermittelt ab, als am Ende des Korridors mehrere Hufflepuffs auftauchten und noch ehe Harry richtig verstand, hatte Ernie auf dem Absatz kehrt gemacht und stürmte davon. Für einen Moment stand Harry einfach nur verblüfft da, bis er sich mit einem Achselzucken auf den Weg zu Silver machte. Was ging ihn das seltsame Verhalten von Ernie MacMillan an?

Als Harry wenig später an Silvers Tür klopfte, hatte er diesen Zwischenfall auch schon wieder vergessen.

„Komm rein, Harry!", hörte er Silvers Stimme und im gleichen Augenblick schwang wie von Geisterhand die Tür selbstständig auf.

Als er entschlossen eintrat, schlug ihm der vertraute Geruch von Kräutern entgegen, doch einen Augenblick später blieb er entsetzt stehen und ihn überkam das merkwürdige Gefühl einer Sinnestäuschung. Silver war nicht allein… auf den dicken Bodenkissen vor dem Kamin saßen Draco Malfoy und Ted Moran, die beide bei Harrys Eintraten aufstanden. Harry kniff unwillkürlich die Augen zusammen, doch auch nach mehrmaligem Blinzeln verschwanden sie nicht, die beiden Slytherins vor ihm waren durchaus real. Malfoy starrte Harry hasserfüllt entgegen, während Moran nach Harrys Geschmack schon fast zu gelassen die Teetasse zur Seite stellte.

„Danke für den Tee, Professor", sagte er schlicht, nickte Silver kurz zu und wandte sich zur Tür.

„Gute Nacht, ihr beiden!", lächelte Silver und Harry spürte wie grenzenloser Zorn in ihm hochstieg. Was hatten diese beiden Slytherins hier zu suchen und warum behandelte Silver sie so freundlich?

Harry machte einen raschen Schritt zur Seite um den Slytherins den Weg freizugeben, während Silver mit einem lässigen Schlenker seines Zauberstabs die benutzten Tassen verschwinden und eine Neue für Harry erscheinen ließ.

„Setz dich, Harry!", forderte  Silver ihn mit einer einladenden Bewegung auf, Platz zu nehmen.

Mit einem tiefen Durchatmen und einem letzten angewiderten Blick zur inzwischen geschlossenen Tür, ließ Harry sich Silver gegenüber nieder.

„Wir hatten eben ein längeres Gespräch über das, was heute in deinem Schlafsaal geschehen ist, aber weder Draco Malfoy noch Ted Moran wissen etwas, das uns bei den Nachforschungen helfen könnte", sagte Silver ruhig, während er Harry Tee einschenkte und ihm die Tasse entgegen hielt.

„Da bin ich mir nicht so sicher", schnaubte Harry verächtlich, was Silver dazu veranlasste, eine Augenbraue nach oben zu ziehen.

„Warum?", fragte er arglos.

„Sie sind Slytherins!", platzte es aus Harry hervor, noch ehe er seine Zunge in Zaun halten konnte und einen Moment später tat ihm diese unbedachte Äußerung leid. „In Slytherin zu sein, heißt nicht automatisch, dass sie Anhänger Voldemorts sind", ermahnte die leise Stimme der Vernunft, doch Harry konnte nichts anderes, als gegenüber den Slytherins Misstrauen zu empfinden. Für ihn war Draco Malfoy der Inbegriff eines Slytherin und einem solchen konnte er nur Hass und Verachtung entgegenbringen.

„Die alte Feindschaft der Häuser", seufzte Silver und Harry glaubte etwas wie Trauer über sein Gesicht huschen zu sehen, doch als Silver ihn direkt ansah, war dieser Ausdruck verschwunden.

„Bisher waren es keine sehr angenehmen Erfahrungen die ich mit den Slytherins gemacht habe", entgegnete Harry stur, konnte jedoch Silvers Blick nicht standhalten. Tief in seinem Inneren wusste er, dass dies vermutlich auf Gegenseitigkeit beruhte und plötzlich stieg die Erinnerung an die Mahnung des sprechenden Huts zu Beginn des fünften Schuljahrs wieder in ihm hoch.

„Misstrauen ist ein Gift, das wohldosiert durchaus hilfreich sein kann, doch in zu großen Mengen kann es mehr schaden als nützen", seufzte Silver, während er Harry nachdenklich musterte.

„Ich werde nie einem Slytherin vertrauen können!", klärte Harry im Ton inbrünstiger Überzeugung auf, auch wenn die leise Stimme in seinem Hinterkopf ihn als starrsinnig bezeichnete.

Silver schwieg lange, während er geistesabwesend ins Feuer sah und die Teetasse gedankenverloren zwischen seinen Händen drehte, Harry jedoch unruhig auf seinem Sitz hin und her rutschte. Im Stillen fragte er sich, worüber Silver so intensiv nachdachte und ob dies nicht auch Zeit bis später hätte, schließlich war er hier um Occlumency zu lernen und nicht, um sich über einen dummen Haufen Slytherins Gedanken zu machen.

„Dann müsstest du auch mir misstrauen", sagte Silver plötzlich in die Stille hinein und hob den Kopf, um Harry direkt ins Gesicht zu sehen. „Denn auch ich war während meiner Hogwartszeit in Slytherin."

Diese Eröffnung kam für Harry derart unerwartet, dass er unwillkürlich zusammenzuckte und Silver verblüfft anstarrte. „Silver ein Slytherin?" Von der Tatsache abgesehen, dass Harry sich nie ernsthafte Gedanken darum gemacht hatte, ob Silver jemals in Hogwarts zur Schule gegangen war und warum Professor Sprout ihn kannte, hatte er in ihm doch immer einen Gryffindor gesehen. Er passte einfach nicht in das Bild, welches Harry von einem typischen Slytherin hatte.

„Beurteile Menschen, doch tu dies immer in ihrer Gesamtheit.", sagte Silver ruhig, fast so, als hätte er Harrys Gedanken gelesen. „Der sprechende Hut verteilt die neuen Schüler auf Grund ihrer Gaben und Veranlagungen, doch was dieser Mensch letztendlich aus seinem Leben macht; zu welcher Persönlichkeit er sich entwickelt, all das ist mit der Entscheidung des Hutes noch lange nicht festgelegt. In Zeiten wie diesen ist es für die Slytherins nicht leicht, denn von vielen Menschen werden sie, ohne lange zu überlegen, in das Lager von Lord Voldemort eingeordnet." Harry öffnete bereits den Mund, doch Silver bat ihn durch eine Handbewegung zu schweigen. „Für einige Slytherins mag das auch zutreffen, doch kannst du alle Anderen dafür verantwortlich machen, was ihre Mitbewohner denken und mit wem sie sympathisieren?"

„Nein, sicher nicht!", gab Harry widerstrebend zu, während ihn Silvers Worte  gleichzeitig in Erinnerung riefen, dass der Verräter seiner Eltern ein Gryffindor war. Harry konnte nicht leugnen, dass ihm dieses Wissen einen kurzen aber schmerzhaften Stich versetzte.

„Auch die Schüler in Slytherin haben mitbekommen, was heute Nachmittag mit deiner Schlange geschehen ist und das war auch der Grund, weshalb mich die Beiden aufgesucht haben. Im Hinblick auf den Vorfall heute Nachmittag und auf das, was im letzten Schuljahr hier gelaufen ist, befürchtet Ted Moran eine weitere Eskalation des Konfliktes zwischen euren Häusern; eine Befürchtung, mit der er allerdings nicht alleine dasteht."

„Warum kommen sie damit zu Ihnen und nicht zu ihrem Hauslehrer?"

„Professor Snape ist seit heute Mittag in London beschäftigt", seufzte Silver. „Ich weiß nicht wie Ted dies geschafft hat, doch er hat Draco überredet, zu mir zu kommen."

Für Harry war dies eine mehr als seltsame Erklärung. „Aber warum…"

„Weil einige oder sagen wir besser die meisten Slytherins davon ausgehen, dass man ihnen, ohne nach Beweisen zu suchen, diese Gräueltat anlastet. Draco Malfoy ist dein erklärter Erzfeind, was läge näher als die Vermutung, dass er für Sölämens Tod verantwortlich ist?"

„Diese Vermutung finde ich gar nicht so abwegig", schnaubte Harry vor Zorn bebend. Wie konnte Silver es wagen Malfoy in Schutz zu nehmen?

„Draco Malfoy mag viele Fehler und Unarten haben, doch heute Nachmittag hatte er Unterricht und anschließend Nachsitzen bei Professor McGonagall und diese kann bestätigen, dass er den Klassenraum erst kurz vor dem Abendessen verlassen hat."

„Was noch lange nicht heißt, dass er deshalb nichts damit zu tun hat", erklärte Harry aufgebracht.

„Urteile nicht vorschnell, Harry", seufzte Silver mit einem matten Lächeln, das für Harry mehr als unangebracht war.

„Sie haben Malfoy nie so erlebt, wie ich ihn erlebt habe", entgegnete Harry zornig und für einen kurzen Moment spürte er den dringenden Wunsch einfach aufzustehen und Silvers Räume zu verlassen. Was sollte er sich diesen Quatsch anhören? Malfoy und unschuldig, genauso gut könnte Silver behaupten, dass Filch ein hochtalentierter Zauberer sei.

„Das gebe ich zu, schließlich bin ich sein Lehrer und nicht sein Kontrahent", lächelte er nachsichtig.

Harry antwortete ihm nicht darauf; was hätte er auch sagen sollen? Tief in seinem Inneren wusste er, dass Silver Recht hatte, doch mit den Bildern von Sölämens Tod in seinem Kopf konnte und wollte er dies nicht zugeben.

„Gut, lass uns hier einen Punkt machen", nickte Silver und atmete tief ein. „Dieses Erlebnis heute Abend war ein ziemlicher Schock  für dich und…"

„Bitte…ich möchte nicht darüber reden! Ich bin hier um mich in Occlumency unterrichten zu lassen und nicht um…" Harry kniff die Lippen zusammen, wohl wissend, dass seine Worte unhöflich und schroff klangen.

„Du denkst wirklich, dass das eine nichts mit dem andren zu tun hat?" Silvers Augenbrauen wanderten nach oben. „Dein Denken ist immer fest an deine Gefühle gekoppelt; der menschliche Geist ist keine Kommode, bei der man nach Bedarf eine Schublade schließen und die andere öffnen kann."

„Ich komm schon damit klar!"

„Gut, wenn du meinst", seufzte Silver, auch wenn sein Gesicht deutlich die Zweifel ausdrückte. „Dann entspann dich, verschließe deinen Geist und konzentriere dich auf eine bestimmte Situation."

Harry schloss die Augen, doch „konzentriere dich" war einfacher gesagt als getan. Während er krampfhaft nach einer unverfänglichen Situation suchte, tauchte immer wieder der verwüstete Schlafsaal in seinen Gedanken auf. Fast schien es ihm, als wären diese Bilder in sein Gehirn gebrannt, ohne die Chance diese jemals wieder loszuwerden. Aber Widererwarten gelang es ihm nach einigen Minuten doch und er lenkte seine Konzentration auf den Abend in Grimmauld Place, als er mit Ron Schach spielte.

„Bereit?"

„Ja", sagte Harry heiser, während er in Gedanken Ron das Spiel eröffnen sah. Der Bauer bewegte sich nach vorn…Harry verschob seinerseits ebenfalls einen Bauern…Rons nächster Zug und… "Du hast mir schon mal mehr Widerstand entgegengesetzt", erklang Silvers Stimme in seinem Kopf.

„Kann sein!", entgegnete Harry grimmig, während das Schachspiel vor seinen geistigen Augen immer mehr verblasste.

„Konzentrier dich, Harry!", ermahnte Silver, doch schon änderte sich das Bild. Die Bibliothek im Grimmauld Place verschwand und stattdessen stand er mit Ron und Hermine vor McGonagalls überdimensionalem Schachspiel, mit dem sie in Harrys erstem Schuljahr den Stein der Weisen schützen wollte. Noch einmal sah er ihren gemeinsamen Kampf gegen die weißen Figuren, bis Ron schließlich von der weißen Dame geschlagen wurde; Harrys Magen krampfte sich zusammen, als sie Ron zur Seite schleifte. „Verdammt, konzentriert dich!", fluchte Harry, doch auch dieses Bild löste sich auf und er sah nun Sölämens Köpfe an der Wand. „Nein!" Dies war gewiss das Letzte was er sich ansehen wollte, aber diesen unbarmherzigen Bildern gab es kein Entrinnen.

Harry fühlte wie Silver den Kontakt unterbrach, die Bilder in seinem Kopf jedoch blieben, klar, gnadenlos und grausam. Jede noch so kleine Einzelheit schien sich mit einem Widerhaken an sein Gehirn gehängt zu haben, sein Magen rebellierte, fühlte sich an, als würde dieser sich nach oben stülpen und ein Gefühl grenzenloser Übelkeit erfasste ihn.

„Harry, mach die Augen auf!", sagte Silver streng und packte unsanft Harrys Oberarm.

Nur mit großer Mühe konnte er dieser Aufforderung folgen und als sich endlich seine Lider hoben, konnte er Silver nur durch einen Schleier von Tränen erkennen. Trotz des wärmenden Kaminfeuers war ihm plötzlich fürchterlich kalt; er zitterte unkontrolliert, ihm war schlecht und für einen kurzen Augenblick befürchtete er, sich in Silvers Raum übergeben zu müssen.

„Tief durchatmen!", ordnete Silver an.

Harry tat wie ihm geheißen und einige Minuten später war auch das Gefühl von Übelkeit verschwunden. Umso größer war nun allerdings der Ärger den Harry sich selbst gegenüber empfand. Warum konnte er diese Bilder nicht einfach zurückdrängen und warum waren sie nun fast heftiger, als er dieses Erlebnis im Schlafsaal empfunden hatte? Warum besaß er so wenig Selbstdisziplin?

„Tut mir leid", nuschelte er verlegen, während er sich gleichzeitig zu entspannen versuchte. „Können wir es noch einmal versuchen?"

„Nein", entgegnete Silver bestimmt und schüttelte den Kopf. „Ich denke, für heute ist es mehr als genug."

„Aber ich muss doch…"

„Du musst vor allem eins, dich deinen Gefühlen stellen, sie wahrnehmen, sie als das erkennen, was sie sind, um dann mit ihnen umgehen zu können", sagte Silver streng. „Du musst lernen deine Gefühle zu beherrschen, um nicht von ihnen beherrscht zu werden. Das heißt aber nicht, dass du diese Gefühle verleugnest und dir selbst oder anderen einzureden versuchst, es sei alles in Ordnung; das ist es nämlich nicht."

Unsicher was Silver damit meinte blickte Harry zu ihm auf.

„Selbstbeherrschung hat nichts mit Verleumdung zu tun", erklärte Silver weiter. „Ein simples Beispiel: wenn du wütend bist, dann ist dies ein reales Gefühl. Du kannst dies zwar leugnen, aber die Wut befindet sich trotzdem in deinem Inneren und drängt nach Entladung. Für die Occlumency ist es nun wichtig, dass du dir dieser Wut bewusst bist, sie zu definieren weißt und erkennst wo sie herkommt. Der nächste Schritt besteht dann darin, diese Wut kontrolliert nach außen zu lassen, ohne dass sie dabei die Macht hat, deine Handlungen zu bestimmen."

„Wie?", fragte Harry unsicher, während er sich so unauffällig wie möglich den nassen Schweiß von seiner Stirn wischte.

„Dafür gibt es verschiedene Methoden. Körperliche Aktivität ist wohl die am meisten verbreitete, doch du kannst sie genauso ausatmen, dir über die Visualisierung ein Ventil schaffen oder sie auch hinausschreien. Bei all diesen Methoden ist es wichtig, dass du den Weg bestimmst und nicht durch den Zwang der Umstände eine unkontrollierte Entladung stattfindet."

Vor Harrys geistigen Augen zogen die vielen Wutausbrüche vorbei, die ihn im vergangenen Schuljahr übermannt hatten. Sicher hätte er sich einige Schwierigkeiten mit Umbridge ersparen können, wenn diese Wut in ihm nicht so übermächtig gewesen wäre, doch was hatte das Ganze mit Occlumency zu tun?

„Ich verstehe den Zusammenhang nicht ganz", begann Harry zögernd. „Weshalb hat diese Wut in mir Einfluss auf meine Fähigkeiten in Occlumency?"

„Diese Wut war nur ein Beispiel. Es ist die gesamte Fülle an unterschiedlichen und sehr starken Emotionen, die deinen Geist blockieren", erklärte Silver geduldig. „Was nebenbei bemerkt eine weit verbreitete Taktik ist, um einen Gegner zu schwächen; verunsichere ihn, versetzte ihn in emotionale Aufruhr und er wird einen Teil seiner Macht verlieren."

„Verstehe", nickte Harry nachdenklich, bis ein grauenhafter Verdacht in ihm hochstieg und er ruckartig den Kopf hob. „Glauben Sie, man hat Sölämen nur deshalb umgebracht um mich geistig zu schwächen?"

„Möglicherweise", seufzte Silver und rieb sich nachdenklich über die Stirn. „Auch die Tatsache, dass man Remus gefangen hält und dir seinen Zauberstab schickt, passt in dieses Bild. Voldemort sieht in dir einen mächtigen Gegner und ich wage zu behaupten, dass er dich mehr als er je zugeben würde, fürchtet. Deshalb wird er auch jedes Mittel einsetzen was dich schwächt, lähmt oder angreifbarer macht."

„Grandios!", stöhnte Harry auf und schlug die Hände vor sein Gesicht. „Das heißt, dass jeder der mir etwas bedeutet…."

Harry brach ab, unfähig das auszusprechen, was so offensichtlich auf der Hand lag, doch Silver verstand ihn auch so.

„Eine Tatsache, die ich nicht abstreiten kann", seufzte er schwer. „Sollte es Voldemort gelingen, einen deiner Freunde in die Hände zu bekommen, wird er diesen als Druckmittel gegen dich verwenden."

„Wie Remus", stöhnte Harry, während er gleichzeitig versuchte den Kloß in seinem Hals hinunter zu würgen.

„Wie Remus", nickte Silver nachdenklich. „Gleichzeitig ist es aber auch dieser Punkt, der mich sicher macht, dass Remus Lupin nicht tot ist. Als Lebender ist er für Voldemort ein Trumpf im Ärmel, den er nicht leichtfertig verspielen wird."

„Aber was kann ich tun?", jammerte Harry und blickte verzweifelt in seine leere Teetasse, als könnte er darin die Antwort finden. „Es gibt nichts, was ich Voldemorts Macht entgegensetzten kann."

„Du kannst an dir selbst arbeiten. Suche nach deinen Stärken und baue sie aus, aber sehe dir genauso deine Schwächen an, denn das werden die Punkte sein, auf die Voldemort zielen wird. Trainiere deine Fähigkeiten und wappne dich gegen geistige Angriffe."

„Ja und bis ich das alles hinbekommen habe, ist Remus tot!", brauste Harry in einer Mischung aus Frustration und Verzweiflung auf.

„Und hör vor allen auf, alles so schwarz zu sehen", entgegnete Silver mit dem kurzen Anflug eines Lächelns. „Es gibt genügend Leute, die sich um Remus kümmern! Deine Aufgabe ist es, dich hier durch konsequentes Training zu stärken, um vor mentalen Angriffen, die dich blind in eine Falle treiben wollen, geschützt zu sein."

Harry wünschte sich diesem Argument irgendetwas entgegensetzten zu können, doch er wusste, dass Silver recht hatte. Wollte er gegen Voldemort bestehen, musste er noch sehr viel lernen; nicht zuletzt die Selbstdisziplin, an der es ihm so sehr mangelte. Harry seufzte schwer, als er an McGonagall dachte, die ihn im vergangen Schuljahr ständig ermahnt hatte, sein Temperament zu beherrschen, aber noch nie war Harry die Wichtigkeit so deutlich vor Augen geführt worden, wie nun von Silver.

„Ich bin mir bewusst, dass dies eine sehr schwierige Zeit für dich ist, aber mache dir immer wieder bewusst, dass du nicht allein bist.", sagte Silver ernst. „Es gibt hier sehr viele Menschen, die dich unterstützen werden wenn du es zulässt und letztendlich…ist dies kein privater Kampf zwischen Voldemort und dir, er betrifft uns alle und jeder Einzelne muss sich darin seiner persönlichen Aufgabe stellen."

Fortsetzung folgt…..

Autornote: Heute in aller Kürze! Erstmal vielen herzlichen Dank für euere lieben Reviews. Kann euch gar nicht sagen, wie sehr ich mich über jedes Einzelne freue. Gleichzeitig muss ich euch mit den Antworten auf die Reviews vertrösten, denn mir läuft im Moment etwas die Zeit davon. Sie kommen aber ganz sicher mit dem neuen Kapitel, in dem ihr dann auch endlich erfahrt, wer Harry diesen mysteriösen Brief geschrieben hat. *ggg* Das ging leider nicht mehr in dieses Kapitel hinein.

Liebe Grüße von euerem Sternchen!