Endlich hatten die Boote das Schiff erreicht. "WARE ABLADEN! ABER ZACKIG!", kamen die gebrüllten Anweisungen des Captains. "AYE, CAPTAIN!", war die einstimmige Antwort der Mannschaft. Die Männer waren es gewohnt den Befehlen ihres Bosses ohne Widerrede Folge zu leisten. Doch an diesem seltsamen Tag war etwas anders. Einzelne Männer hatten nicht wie sonst lautstark zurückgebrüllt, sondern nur vor sich hingemurmelt. Außerdem gingen sie nicht mit demselben Elan ans Werk wie ihre Kollegen, sondern versuchten sich so gut es ging vor der Arbeit zu drücken. Erst als Jack sie mit hochgezogener Augenbraue ansah, begannen sie ihr Arbeitstempo zu erhöhen. Wieder musste Jack Sparrow grinsen. Das funktionierte ja ausgezeichnet. Eine Meuterei anzuzetteln war ja gar nicht so schwer. Da sah man es ja wieder: es kam nur darauf an, wie eine Mannschaft unter Kontrolle gehalten wurde. Ihm, Captain Jack Sparrow, wäre es sicher niemals passiert, dass ein wildfremder Mann nach kurzer Zeit schon Männer der Mannschaft auf seine Seite bringen konnte.
Doch halt! Jacks Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an. Hatte seine Mannschaft nicht auch gemeutert? Unter einem so miesen Captain wie Barbossa? Sofort sah er wieder stolz drein. Wenigstens war es bei ihm nicht so schnell gegangen. Barabossa hatte zumindest einige Tage dazu gebraucht seine Mannschaft einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Aber es waren so brave Männer gewesen. Sie waren ihm, ihrem Captain, bedingungslos untergeben gewesen. Was hatte dieser Taugenichts von Barbossa mit ihnen gemacht? Was hatte er ihnen angeboten? Jack Sparrow beschloss, dass er diese Fragen unbedingt klären musste und bekräftigte seine Gedanken mit einem Kopfnicken.
Plötzlich fühlte er sich beobachtet. Vorsichtig sah er sich um. Fast die gesamte Mannschaft hatte aufgehört Kisten zu schleppen und starrte ihn nun an. Anscheinend hatten sich seine Gedanken deutlich auf seinem Gesicht widergespiegelt. °Cool bleiben°, dachte Jack. Dann setzte er sein unschuldigstes Grinsen auf. "Was ist denn? Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, meine Herren?", fragte er freundlich. Doch anstatt zu antworten, machten sich die Rumschmuggler wieder an die Arbeit, einige davon kopfschüttelnd. "Hey!" Jack hatte einen der Verbrecher am Arm gepackt und zum Stehen gebracht. "Was war der Grund für euer Erstaunen? Hab ich irgendwas im Gesicht, oder was sollte das dämliche Grinsen soeben?" "Äh, entschuldigen Sie, man konnte nur gerade Ihre Gedanken von Ihrem Gesicht ablesen! Es war nichts schlimmes, ehrlich!", stotterte der zu Tode Erschrockene und nun Leichenblasse. "Nun gut, nun gut! Dann wieder an die Arbeit!" Jack gab dem Piraten noch einen kleinen, auffordernden Schupser, drehte sich dann um und blickte aufs Meer. °Nur die Ruhe. Diese Nichtsnutze haben nicht die geringste Ahnung davon, was ich gerade gedacht habe! Die haben gar nicht genug Grips dazu! Wenn es außer mir doch nur einen einzigen intelligenten Piraten gäbe! Und wenn dieser Pirat in meiner Mannschaft zu finden wäre, ach wie wäre das Piratenleben schön! Dann müsste ich mich nicht immer mit solchen unterbelichteten Gestalten abgeben, die sich ja für ach so gescheit halten und ihrem Captain immer widersprechen! Außerdem könnte ich dann endlich wieder einmal eine sinnvolle Konversation führen!°
Durch seine langen und tiefsinnigen Überlegungen hatte Jack das Ende der Ausladearbeiten verpasst. Bis auf seines waren alle Beiboote schon zum großen Schiff hinaufgezogen worden, dasselbe war mit der Strickleiter geschehen. Die bärtige, langhaarige, ungepflegte und vor allem total fertige Mannschaft und ihr Captain standen nun an der Reling und warteten auf die Reaktion des Fremden, wenn er erkannte, dass er nicht hier rauf konnte. Doch der Ausgeflippte schien wieder einmal in einer anderen Welt zu sein.
Nach langen, qualvollen Minuten des Wartens hielt es einer der Männer nicht mehr aus und er brüllte: "Hey, Captain! Wie lange wollen Sie noch auf dem Boot bleiben? Anstatt so blöde herumzustehen könnten Sie sich doch gleich ins Wasser werfen! Dann hätten wir wenigstens was zu lachen! Rauf kommen Sie hier ohnehin nicht!" Kaum war die Rede des Piraten beendet, brachen seine Kollegen in Freudengebrüll aus (dabei bemerkten sie das starre Gesicht ihres Bosses nicht, dem der Ausdruck "Captain" im Zusammenhang mit diesem Jack Sparrow überhaupt nicht gefallen hatte). Dieses Gegröhle brachte den Immer-noch-Glotzenden endlich dazu sich umzudrehen. Verwundert blickte er hinauf zu den Männern. Dann begann er wortlos die Wand des Schiffes mit den Augen nach der Strickleiter abzusuchen. "Ich hab ja schon gesagt, dass Sie hier nicht rauf kommen!", brüllte derselbe Pirat wie vorher. "Das werden wir ja noch sehen!", murmelte Jack und ruderte sein kleines Bötchen bis ganz ans Schiff. "Blöde Säufer! Wenn die nicht den ganzen Tag besoffen wären, würden sie nicht auf so kindische Ideen kommen! Wie bescheuert muss man eigentlich sein um soviel Rum zu saufen, dass man zu nichts mehr zu gebrauchen ist?" Wie immer verdrängte Jack seinen eigenen Alkoholismus erfolgreich. Das waren doch nur ein paar Schlückchen gewesen! Und er war nur am Strand gelegen, weil er soooo müde gewesen war vom vielen Überlegen, wie er wieder von dieser Insel wegkommen sollte!
Nachdenklich kniff er seine modisch geschwärzten Augen zusammen und blickte am Schiffsrumpf nach oben - direkt in die grinsende Visage seines unfähigen Konkurrenten. "Uh!", war das einzige, was Jack bei diesem Anblick herausbrachte. Bei so einem Gesicht blieb einem höchstwahrscheinlich nichts anderes übrig als Captain einer solchen verwahrlosten Bande zu werden. Plötzlich verstand er auch, warum der Kerl immer so verkniffen blickte und so aggressiv war. Bei diesem Aussehen rannte sicher jedes weibliche Wesen laut kreischend davon, was sicher einiges an Frustration hervorrufen musste. Ganz im Gegensatz zu ihm, Captain Jack Sparrow, natürlich. Sein elegantes Auftreten ließ die Frauen scharenweise ohnmächtig vor Verlangen zu Boden sinken. Bei diesem Gedanken bleckte Jack seine mehr oder weniger weißen Zähne und grinste genüsslich. Oh ja, er hatte sich nicht die schlechtesten Weiber herausgepickt! Er hatte eben ein sicheres Händchen wenn es um so was ging!
Eine Ladung Apfelkerne, die auf seinen geliebten Hut prasselten, beendete seine erneute Träumerei abrupt. Gereizt wandte er sein Gesicht wieder nach oben. "Welcher räudige Hund hat es gewagt, meinen Hut mit irgendwelchem Unrat zu beschmutzen?", wollte er drohend und gefährliche Grimassen schneidend wissen. Doch dafür wurde er nur ausgelacht und einer der Anhänger des "alten" Captains wagte es sogar, Jack ins Gesicht zu spucken. Mühsam beherrscht wischte der Ex-Inselbewohner die Schleimspur aus seinem Gesicht. "Das wirst du büßen, du niedere Kreatur!", prophezeite er nur. Doch jetzt musste er wirklich so schnell wie möglich auf dieses verdammte Schiff kommen. Er hatte nur noch keine Ahnung wie. Er wusste noch nicht einmal wie es hieß! Jack hatte schon herausgefunden, dass die Schiffswände viel zu glatt waren, um daran hinaufzuklettern und eine andere Möglichkeit sah er im Moment nicht. Doch glücklicherweise hatte er ja schon ein paar Anhänger gewonnen. Diese bearbeiteten den Captain so lange, bis er die Strickleiter wieder ausrollen ließ.
Er hätte diesen arroganten Schnösel irgendwann schon heraufholen lassen, schließlich brauchte er ihn noch. Doch er hätte ihn zu gerne noch länger zappeln lassen. Aber auch wenn er schließlich an Bord war, würde er noch viel Spaß mit ihm haben!
