Kapitel 2
Überraschungen
Nachdem die Dursleys abgereist waren, hätte Harry gern die Stille im Haus genossen, aber er fand sie ehrlich gesagt nur beklemmend. Er verdrückte eine Schüssel Cornflakes und überlegte einen Moment, ob er den Rest der Milch nicht auf dem Tisch stehen lassen sollte, als kleinen Willkommensgruß an die Dursleys, wenn sie in zwei Wochen wieder kämen. Aber dann kam ihm das kindisch vor, und er kippte sie weg und spülte sogar sein Frühstücksgeschirr.
Er hätte jetzt endlich einmal in Ruhe fernsehen können, aber das reizte ihn auch nicht.
Das Gefühl, die letzten Minuten in diesem Haus zu verbringen, war schon ein wenig seltsam.
Hoffentlich kommen sie bald, dachte er und beobachtete den Zeiger der Uhr, der viel zu langsam auf halb neun zurückte. Er fragte sich, ob er gleich mit seinem Koffer und allem übers Flohnetzwerk zum Fuchsbau würde reisen müssen. Der Gedanke war nicht gerade angenehm.
Er schloss alle Fenster, stellte das Wasser ab und schaltete die Alarmanlage ein, wie es ihm Onkel Vernon eingeschärft hatte. Es erschien ihm jedoch nicht zu kindisch, in Dudleys (wie dieser glaubte) geheimes Süßigkeitenversteck eine Ladung Kotzpastillen zu mischen. Im Gegenteil, er schloss den Deckel der vorgeblichen Briefkiste mit großer Befriedigung.
Um fünf vor halb neun griff er sich seinen gepackten Koffer, der schon im Flur stand, und den Käfig, in dem Hedwig sich von den Flügen der vergangenen Tage ausruhte, und verließ das Haus, in dem er aufgewachsen war. Er verschloss die Tür sorgfältig und warf den Schlüssel in den Briefkasten.
Dann ging er die Stufen hinunter und blieb auf dem Ligusterweg stehen.
Die Sonne schien aus einem blauen, hohen Himmel, an dem plusterige, weiße Wolkenkissen segelten. Harry atmete tief die Sommerluft ein und fühlte auf einmal ganz unerwartet wilde Freude.
In diesem Augenblick knatterte ein kleines rotes Auto die Straße entlang, hupte laut, als es an ihm vorbeifuhr, und kam dann kreischend zum Stehen.
"Harry! Wir sind's!", schrie Hermione.
Harry glotzte das wirklich sehr kleine Fahrzeug an, aus dem sich jetzt seine Schulfreundin Hermione wand. Strahlend – und irgendwie verändert – lief sie auf ihn zu und umarmte ihn.
"Herzlichen Glückwunsch, Harry!"
"Danke! Hey, du kannst Auto fahren?" Harry war beeindruckt.
"So würde ich das nicht nennen!", stöhnte es vom Beifahrersitz.
Ron war ein wenig grün um die Nase und hatte erhebliche Schwierigkeiten, seine langen Beine aus dem Wagen zu ziehen.
"Hör nicht auf ihn. Er hat mindestens fünfzig Schokofrösche gegessen, seit wir losgefahren sind. Ehrlich, ich dachte, mit siebzehn wäre man über Schokofrösche hinaus!"
"Klar, wenn man so erwachsen ist wie du." Ron hatte es geschafft und stand auf der Straße. "Siehst du ihr Haar, Mann?"
Das war es! Hermiones buschige Haarmähne war gestutzt und flog nun in Kinnlänge um ihren Kopf.
"Sie hat es abgeschnitten, weil sie dachte, es sieht dann erwachsener aus", sagte Ron abfällig. "Ich finde, es sieht bescheuert aus."
Das klang alles nicht ganz so, als wären sie in den vergangenen Wochen in ihrer Beziehung weiter gekommen, fand Harry. Aber er war so froh, sie zu sehen!
"Glaubt ihr, wir kriegen meinen Koffer da rein?", fragte er skeptisch. "Plus den Käfig?"
"Ich rate dir, nimm Flohpulver. Oder den Zug!", sagte Ron. "Sie fährt wie ein Henker."
"Also hör mal –", empörte sich Hermione.
"Ich find's klasse, dass ihr hier seid! Und mit einem Auto! Ich dachte wirklich schon, wir müssten durch die Kamine."
Während er seinen Koffer zum Kofferraum schleppte, fragte Ron: "Wo sind denn die Dursleys? Hinter den Gardinen versteckt?"
"Nee, die sind schon seit gestern auf Mallorca. Das macht den Abschied kürzer. Lasst uns losfahren!"
Harry stellte Hedwigs Käfig auf den Rücksitz und quetschte sich daneben. Es lagen eine Menge Schokofroschpapiere herum. Ron würgte sich auf den Beifahrersitz, und Hermione fuhr ruckend an. Hedwig schimpfte laut, und dann lag der Ligusterweg plötzlich für immer hinter Harry.
"Gibt es was Neues?"
Harry, der in der Muggelwelt immer ziemlich abgeschnitten lebte, musste diese wichtigste Frage sofort stellen. Er vermutete allerdings, dass man ihm diesmal wichtige Neuigkeiten sofort mitgeteilt hätte.
"Nichts", sagte Ron. "Keiner kann sich da einen Reim drauf machen. Ich meine, nach allem was passiert ist, konnte man doch damit rechnen, dass – Du-weißt-schon-, äh, Voldemort irgendwas unternommen hätte. Aber nichts. Totenstille."
Kein glücklich gewähltes Wort.
Hermiones Blick war starr auf die Straße gerichtet.
"Woher hast du das Auto?", fragte Harry, um das Thema zu wechseln.
"Meine Eltern haben es mir geschenkt. Sie meinten, ich sollte wenigstens Auto fahren können. Den Führerschein hab ich letzte Woche gemacht", sagte sie stolz.
"Und leider merkt man das auch", murmelte Ron. "Lass Hedwig lieber fliegen, Harry. Sie kotzt sonst garantiert auf den Rücksitz."
"Wo fahren wir denn eigentlich hin?", fragte Harry, während er seiner Eule einen besorgten Blick zuwarf.
"Das ist 'ne Überraschung, Harry. Wart's einfach ab."
Nach den anfänglichen Frotzeleien wurde es ungewohnt still zwischen ihnen. Alle drei scheuten sich, von Hogwarts und Dumbledore zu sprechen, und doch führten letztlich alle Gedanken dorthin.
Schließlich war es Hermione, die das Schweigen brach.
"Übrigens, jetzt kannst du uns doch sagen, was du vor der Abreise noch so dringend bei McGonagall wolltest."
Harry hatte unglaublicherweise seit drei Wochen nicht mehr daran gedacht. Jetzt fiel ihm auch noch etwas anderes ein, das er den beiden unbedingt hatte erzählen wollen. "Es ging um das Verschwindekabinett. Ich hatte euch doch gesagt, dass Malfoy das kaputte Ding im Raum der Wünsche wieder repariert hatte."
"Und dass das Gegenstück dazu bei Borgin und Burkes steht und er die Todesser auf diesem Weg nach Hogwarts gebracht hat. Ja, hast du", sagte Hermione.
"Genau. Ich – ich musste einfach noch mal nachfragen, ob sie das Ding sicher verschlossen hatten. Versteht ihr, in der Nacht damals – da ging alles so durcheinander, und danach wurde nicht mehr darüber gesprochen. Ich hatte einfach Angst, sie könnten es vergessen haben! Das ist mir erst auf dem Bahnhof eingefallen. Also bin ich auf dem Besen zurückgeflogen und –"
"Und der ganze Zug musste eine Stunde warten, bis du zurückkamst", ergänzte Ron.
"Und – was hatten sie damit gemacht?", fragte Hermione.
"Sie hatten tatsächlich noch nichts unternommen. Wer weiß, vielleicht hätten sie es ja auch gar nicht gefunden ohne jemanden, der schon mal in dieser speziellen Version des Raumes war. Wir haben das Ding dann zusammen gefunden und in McGonagalls Büro gestellt. Sie haben es mit allen möglichen Zaubern verschlossen. Zerstören wollten sie es nicht, sie wussten nicht, ob sie es nicht noch mal brauchen würden."
Und er sah wieder vor sich, wie er auf dem Korridor im siebten Stock auf- und abmarschiert war, voller Sorge, dass er den Raum der Wünsche nicht wieder würde öffnen können. Aber es war gelungen, und er konnte Hagrid und McGonagall zu dem Verschwindekabinett führen. Während Hagrid sich bemühte, den schweren Schrank hinauszutragen, hatte er selbst nach etwas anderem gesucht. Glücklicherweise war Professor McGonagall da schon wieder im Korridor.
"Und dann – dann habe ich nach dem Buch des Halbblutprinzen gesucht. Ich hatte es ja ganz in der Nähe versteckt."
Harry brach ab. Bei dem Gedanken an das Buch – ein Gedanke, der unweigerlich zu Snape führte – krampfte sich sein Inneres zusammen.
"Du hast dieses Buch da rausgeholt? Nach allem, was passiert ist?", schnappte Hermione.
"Pass auf!", schrie Ron. "Du fährst auf den Gehsteig!"
Hermione packte das Steuer wieder fester.
"Gerade deshalb wollte ich das Buch wieder haben", sagte Harry. "Aber es war weg."
"Es war weg?!"
"Hermione, bitte halt an, wenn du dich so aufregst", flehte Ron.
"Noch so einen Haken macht mein Magen nicht mehr mit."
"Ist dir nicht klar, was das bedeutet, Ron?", fauchte Hermione.
"Harry muss sich noch ein neues Exemplar von Zaubertränke für Fortgeschrittene kaufen", sagte Ron.
"Er hat es mitgenommen", sagte Harry voller Abscheu. "Ich bin sicher, er wusste, wo ich es versteckt hatte. Er hat's mir sicher vom Gesicht abgelesen, damals. Ich weiß nicht, wie er's gemacht hat – ob er wirklich noch mal zurückgekommen ist nach allem – aber er war es, bestimmt."
Sie schwiegen bedrückt.
"Lasst uns heute nicht von Snape reden, okay?", sagte Hermione schließlich leise. "Heute ist dein Geburtstag, und wir wollen feiern."
Um sie herum verdichtete sich der Verkehr ständig, und Harry merkte verwundert, dass sie sich London näherten. Als hinter ihnen wieder einmal ein Hupkonzert ertönte, weil Hermione vor einer Ampel den Motor abwürgte, sagte Ron: "Wieso schaltest du nicht den Fluggang ein?"
Hermione warf ihm einen genervten Seitenblick zu.
"Ehrlich, Hermione, lass uns aussteigen und die – die U-Bahn nehmen. Das hab ich mit Dad schon ein paar Mal gemacht."
"Ich bin auch nach Little Whinging gekommen, oder?!"
"Ja, aber nur so gerade eben. Und jetzt ist der Verkehr noch viel dichter! Und du fährst auch schon verdammt lange. Ich meine, wir wollten doch noch feiern heute, oder?"
Einige Minuten später verpasste Hermione die richtige Abfahrt, und sie fuhren immer gereizter und schließlich verzweifelt durch ein Gewirr von Straßen, die alle nicht die richtigen waren. Harry hielt sich klugerweise aus dem Gezänk der beiden anderen heraus, aber irgendwann sagte Hermione:
"Okay. Wir nehmen die U-Bahn. Ich fahre das Auto nur noch schnell zu meinen Eltern nach Hause."
"Die wohnen in London?", fragte Harry überrascht, obwohl er eigentlich noch nie darüber nachgedacht hatte. Tatsächlich war er überrascht, dass er eigentlich noch nie über Hermiones Muggel-Herkunft nachgedacht hatte. Ihm fiel etwas ein.
"Was halten deine Eltern eigentlich so davon, dass du eine Hexe bist? Waren sie nicht total fertig, als sie das merkten – und als sie von Hogwarts hörten und so?"
"Die sind der Ansicht, dass jeder auf seine Weise glücklich werden muss. Die sind auch so mit ihrer Zahnarztpraxis beschäftigt – ich glaub, sie denken da nicht so viel drüber nach."
Danach verfielen sie wieder in Schweigen.
Hermione hatte dann gleich zweimal Glück: Sie fand wider Erwarten den Weg zu ihrem Elternhaus, und außerdem gab es eine U-Bahn-Station ganz in der Nähe. In der überfüllten Bahn kämpfte Harry die ganze Zeit mit seinem Koffer, während Ron, der Hedwigs Käfig hielt, neugierige Blicke auf sich zog, die ihn schließlich richtig wütend machten. Alle waren erleichtert, als Hermione endlich verkündete, dass sie aussteigen müssten.
"Wir gehen zum Grimmauldplatz!", sagte Harry, als sie wieder nach oben in die Sonne traten.
"Überraschung!"
"Ich hab's mir schon die ganze Zeit gedacht, als wir Richtung London fuhren."
"Eigentlich wollten wir mit dir da mal so richtig einen drauf machen", sagte Ron und sah die Front eines Pubs direkt gegenüber verdrießlich an. "Aber sie war dagegen."
Hermione ignorierte das. Sie las konzentriert die Straßenschilder.
Harry wünschte sich sehnlichst, sein Koffer wäre nicht so schwer oder er dürfte wenigstens zaubern. Allerdings sah er ein, dass ein neben ihm schwebender Koffer mitten in London nicht gerade unauffällig gewesen wäre.
"Ist dir klar, was für ein Glück es ist, dass du letztes Jahr in Sirius' Haus gekommen bist?", fragte Hermione, die nun offenbar den richtigen Weg gefunden hatte und forschen Schrittes weiterging.
"Wieso?", keuchte Harry.
"Dieses Jahr wärst du nicht mehr hingekommen. Nicht, nachdem Dumbledore –"
"Sprichst du von diesem Geheimniszauber, Fidibus oder wie auch immer?", fragte Ron, der Hedwigs Käfig mühelos trug, wenn auch nicht zur Zufriedenheit seiner Bewohnerin.
Hermione verdrehte gequält die Augen.
"Fidelius-Zauber! Genau der."
"Das hab ich sowieso nie so richtig kapiert."
Aber Harry wurde das Problem in diesem Moment klar.
"Oh verdammt, du hast Recht! Er war der Geheimniswahrer, und das heißt, dass nur die Leute das Haus finden können, denen er persönlich gesagt hat, wo es ist. Mir hat Moody damals einen Zettel mit der Adresse gezeigt, und den hatte Dumbledore selbst geschrieben."
Ron nickte. "So einen hat Dad uns auch gezeigt."
"Das bedeutet übrigens auch, dass der Orden keine neuen Mitglieder mehr aufnehmen kann. Jedenfalls nicht in dieses Hauptquartier", führte Hermione ein wenig selbstgefällig aus.
Harry hatte das Gefühl, dass es da sogar noch mehr zu sagen gab, aber in diesem Moment rief Hermione: "Oh, da ist es!"
Und richtig, als Harry sich umblickte, erkannte er den Grimmauldplatz, obwohl er damals nachts hier angekommen war und nicht in der hellen Mittagssonne. Er fragte sich, wie sie zwischen den Passanten hier unauffällig in ein Haus kommen sollten, das eigentlich gar nicht zu sehen war. Nach wenigen Schritten hatten sie Nummer elf erreicht und blieben zögernd stehen.
"Und jetzt?"
"Lasst die erst vorbeigehen", sagte Hermione leise und deutete mit dem Kopf auf eine junge Frau mit Kinderwagen.
Sie folgten ihr mit den Blicken, bis sie ausgerechnet vor Nummer dreizehn hielt und mühsam zwischen Windelpackungen und Lauchstangen nach ihrem Hausschlüssel kramte.
"Konzentriert euch ganz auf die richtige Adresse!"
Harry kam sich vor wie vor dem Raum der Wünsche. Aber hier war es leichter. Wie damals schob sich auf einmal einfach eine Hausfront zwischen die beiden Nachbarhäuser. Sie hörten das Baby aus dem Kinderwagen schreien und standen auf der Vortreppe von Nummer zwölf, als der Frau der Schlüssel hinfiel und sie sich fluchend bückte.
Hermione, Ron und Harry sahen sich an, als sie vor der Tür mit dem schlangenförmigen Türklopfer standen.
"Dein Haus, Mann!", sagte Ron nicht ohne Neid.
"Bin ich froh, den Koffer loszuwerden!", sagte Harry.
Er war nicht so angenehm überrascht, wie die anderen offenbar dachten. Sirius' Haus war ihm nicht gerade anheimelnd in Erinnerung.
"Nun läute schon!", forderte Ron ihn auf.
"Äh – habt ihr vergessen, was dann passiert?"
"Mach schon!", sagte auch Hermione mit einem Grinsen.
Also klingelte Harry, und Sekunden später standen Fred und George vor ihnen.
"Na endlich! Wir waren sicher, dass Hermione mit euch auf dem Schrottplatz landet."
"Tonks deckt schon seit Stunden den Tisch!"
Und unter Gratulationen und weiteren Begrüßungen betrat Harry, gefolgt von Ron und Hermione, das Haus der Familie Black, das sein Pate Sirius ihm vererbt hatte. Er war noch nicht weit gekommen und starrte verblüfft die helle Eingangshalle an, als eine Opernarie erschallte, so laut, als sei ein Radio eben auf volle Lautstärke aufgedreht worden.
"Seit wann habt ihr ein Radio?"
"Du hast jetzt eins, Harry", kicherte Hermione. "Es hat allerdings nur den einen Sender! Hör mal genau hin!"
Als Harry das tat, erkannte er den Text, den die Sängerin da mit vielen Koloraturen von sich gab: "Dreck! Abschaum! Ausgeburten von Schmutz und Niedertracht! Halbblüter, Mutanten, Missgeburten, hinfort von hier!"
Und so weiter. Die drei starrten sich an und brachen in haltloses Gelächter aus.
"George kam auf die Idee!", prustete Ron. "Wir haben das Porträt von Sirius' Mum einfach nicht von der Wand gekriegt, und die Klappe wollte sie auch nicht halten."
"Also haben wir ihr einfach einen Sangeszauber verpasst, Hermione hat da was gefunden."
"Cantate! – hab ich aus Gilderoy Lockharts Tanz mit einer Todesfee."
"Wie gut, dass wenigstens einer von uns Gilderoys gesammelte Werke gelesen hat."
"Und was habt ihr mit der Eingangshalle gemacht? Die war doch so düster."
"Geputzt, neu gestrichen, ausgeräumt –"
"Und nicht nur die, du wirst dich –"
"Eine Hausführung könnt ihr nachher machen!", unterbrach George sie. "Kommt jetzt endlich essen! Mum bringt uns um, wenn wir das Essen doch noch kalt werden lassen."
"Ist sie auch da?", fragte Harry, der sich schon gewundert hatte, dass nicht noch mehr Weasleys zu sehen waren.
"Nein, es tut ihnen leid, aber sie müssen noch so viel für Bills Hochzeit übermorgen vorbereiten. Mehr als drei von uns konnten sie nicht entbehren. Und wir hauen auch nach dem Essen ab."
"Aber sie hat für dich gekocht. Wir mussten mit drei riesigen Picknickkörben apparieren. Nicht auszudenken, als was wir hier angekommen wären, wenn was schief gelaufen wäre", sagte Fred.
Harry fühlte einen Stich der Enttäuschung darüber, dass Ginny nicht da war. Molly Weasleys Abwesenheit nahm er mit einem Gefühl beschämter Erleichterung auf. Er hätte ihre Fürsorge und Bemutterung im Moment einfach nicht ertragen können.
"Ich hatte ganz vergessen, dass Bills Hochzeit schon übermorgen ist."
"Du Glücklicher!", seufzte Ron. "Wir ersticken seit Wochen in Seidenstoffen, Tischschmuckentwürfen, Sitzordnungsplänen –"
"Von Tränenausbrüchen und ganz allgemein einer Überdosis Phlegm mal ganz abgesehen", ergänzte George. "Wenigstens können wir uns immer wieder in den Laden verdrücken."
Staunend folgte Harry den anderen in den großen Speisesaal im Erdgeschoss, der nun ebenfalls voller Licht war, sauber und mit hellen Möbeln ausgestattet. Die lange Tafel in der Mitte des Raumes war schön gedeckt und voller dampfender Schüsseln.
Zu seiner besonderen Freude sah Harry, dass auch Lupin hier war. Remus Lupin, wieder ein wenig grauer, kam ihnen lächelnd entgegen.
"Alles Gute, Harry."
"Setzt euch. Der Wein ist endlich auf", rief Nymphadora Tonks, die mit zwei geöffneten Flaschen durch die Tür stolperte.
"Wir hätten doch noch einen neuen Hauself engagieren sollen", sagte Fred zu George.
"Aber wo kriegst du schon einen mit tomatenroten Haaren?", erwiderte George und kassierte einen bösen Blick von Tonks.
Deren Frisur erstrahlte allerdings wirklich in der Farbe einer prachtvoll gereiften Tomate, woraus Harry ganz richtig schloss, dass es mit ihr und Lupin gut lief.
Wenigstens einer, der Glück hat, dachte er.
Er setzte sich neben Lupin, und beim Anblick von Molly Weasleys Geburtstagsessen lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Aber als sie sich alle gesetzt hatten, kam noch ein letzter Gast herein.
Alastor "Mad-Eye" Moody sah abgehetzt aus, aber ganz in seinem Element.
"Komme offenbar gerade richtig!", sagte er und blickte Harry mit seinen so unterschiedlichen Augen über den Tisch hinweg an.
"Keine Rede jetzt, Alastor!", riefen Fred und George wie aus einem Mund. "Wir müssen erst was essen!"
Moody schloss den schon geöffneten Mund wieder und setzte sich hin.
"Habt Recht, Jungs. Das sieht einfach zu gut aus."
Und so wurde erst einmal reingehauen. Erst als die Schüsseln wirklich restlos leer waren, erhob sich Moody wieder.
"Hoffe, ihr seid jetzt imstande, ein paar Worte anzuhören. Ich darf dir im Namen aller Mitglieder des Phönixordens zum Geburtstag und zur Volljährigkeit gratulieren, Harry", sagte er und hob seinen Kelch, den Tonks eben wieder gefüllt hatte. "Und dir unseren Dank aussprechen, dass du uns das Haus weiterhin als Hauptquartier zur Verfügung stellst. Wie du dir denken kannst, sind die meisten von uns zur Zeit unterwegs." Ein Schatten zog über sein von vielen Narben entstelltes Gesicht. "Leider ist das nicht nur ein glücklicher Tag. Mit dem heutigen Tag hast du einen besonderen Schutz für immer verloren. Darum stellen wir dir von nun an Remus Lupin als ständigen Bewacher an die Seite! Er wird euch im September auch nach Hogwarts begleiten und da stationiert sein, solange du dort bist."
Harry spürte die Blicke von Ron und Hermione auf sich und wich ihnen aus.
"Wir hoffen, dass du trotz allem dieses letzte Schuljahr erfolgreich abschließen und danach die Aurorenlaufbahn einschlagen wirst. Es wird uns alle freuen und – ehren, wenn du nach Abschluss der Schule in den Orden des Phönix eintrittst."
"Äh – danke, euch allen", sagte Harry, denn offenbar wurde eine Erwiderung erwartet. "Um ehrlich zu sein – ich bin noch nicht sicher, was ich machen werde."
Ihr wisst nicht, was ich weiß, dachte er mit einem Anflug von Ärger. Voldemort fragt nicht nach meinem Schulabschluss.
Moody und auch Lupin musterten ihn scharf.
"Ist denn überhaupt sicher, ob Hogwarts geöffnet bleibt?", fragte Harry, um die Stille zu brechen.
"Die Schule bleibt geöffnet, und Minerva McGonagall übernimmt fürs Erste das Amt des Schulleiters", antwortete Moody. "Wir haben auch für Hogwarts eine verschärfte Bewachung abgestellt."
Hat ja letztes Jahr auch toll funktioniert, dachte Harry.
"Und außerdem verstärken wir die Gruppe von Auroren, die das Ministerium auf Snape und den jungen Malfoy angesetzt hat."
Snape! Jetzt fiel Harry wieder ein, was er vorhin noch hatte sagen wollen.
"Snape kann jederzeit hier rein!", platzte er los. "Er war im Orden!"
Moody und Lupin wechselten einen Blick.
"Das ist uns klar. Auch dieses Haus steht unter ständiger Bewachung. Nennen wir es ein kalkuliertes Risiko!", knurrte Moody. "Zumindest kann er niemand anderen hier reinbringen."
"Snape ein kalkuliertes Risiko?" Harry versuchte nicht länger, sich zurückzuhalten. "Das Einzige, was an dem kalkulierbar ist, ist seine Unberechenbarkeit!"
"Wir kommen vom Thema ab, Harry", sagte Lupin leise, aber entschieden. "Du solltest wirklich zurück nach Hogwarts gehen. Um genau zu sein, ist das der sicherste Ort, den es zur Zeit in der Gemeinschaft der Zauberer überhaupt gibt."
Zweifelnd sah Harry ihn an.
"Was haltet ihr davon, wenn Harry jetzt seine Geschenke kriegt?", schlug Hermione vor, die spürte, wie unbehaglich er sich fühlte.
"Gute Idee", sagte Ron.
"Ich räume eben ab", meinte Tonks.
"He, Tonks!", rief Fred. Und George sagte: "Nicht doch, Tonks!"
Beide schwenkten ihre Zauberstäbe einige Male in Richtung Tisch. Augenblicklich war er leer geräumt. Sogar die Flecken der Bratensoße hatten das Tischtuch verlassen. Sie hörten ein leises, sozusagen geordnetes Klirren in der Küche.
"Und alles wieder schön in den Körben."
"Mum hängt an ihrem Geschirr, weißt du."
Tonks, die für ihre Ungeschicklichkeit berüchtigt war, schnaubte. Aber George wandte sich jetzt Harry zu.
"Eigentlich wollten wir dir ja eine Packung Potters Praktische Pastillen schenken, schon wegen des Namens und wo du doch jetzt volljährig bist –"
"Aber seit wir die im Laden führen, sind sie ständig vergriffen", setzte Fred hinzu. Sie feixten. "Ein altes Hausmittel, neu entdeckt. 'Potters Praktische Pastillen – und ER steht wie Ihr Zauberstab!'"
"Jungs, es sind Damen anwesend!", mahnte Lupin.
"Wie dem auch sei, wir haben uns dann doch für zwei Highlights unserer eigenen Kollektion entschieden", sagte Fred geschraubt und hielt Harry etwas hin, das wie eine dicke Rolle Klebefilm aussah.
"Langziehohren, die verbesserte Version", erklärte er auf Harrys ratlosen Blick hin.
"Wir fanden sie transparent einfach unauffälliger", fügte George hinzu. "Und das hier ist auch von uns."
Er überreichte ihm eine kleine Pappschachtel mit der Aufschrift Snails and Wails. Harry entnahm ihr einen runden Gegenstand, der sich bei näherem Hinsehen als ein Glasflakon in Form eines Schneckenhauses erwies. Ein schmales Band war daran befestigt.
"Ein Stück aus unserer neuen Serie Sprüh-und-flieh! Wir haben es gerade erst vertriebsfertig gemacht, du bist der Erste, der eins kriegt", sagte Fred.
"Passt bequem in jede Hand. Und damit du es nicht im falschen Moment verlierst, kannst du es wie ein Armband tragen", sagte George zufrieden.
"Oh nein!", fuhr Ron auf. "Ihr habt das tatsächlich gemacht! Eigentlich solltet ihr mich an den Einnahmen beteiligen."
"Er hat schwer dafür gelitten, unser Won-Won", sagte Fred. "Wir haben ziemlich lange gebraucht, bis wir die Sache so hingekriegt haben, dass sie so funktioniert wie damals bei Rons kaputtem Zauberstab."
"Es ist ein Schnecken-Kotz-Spray, Harry! Erinnerst du dich an den schief gelaufenen Fluch gegen Malfoy damals im zweiten Jahr?"
"Ich glaub, den hat keiner vergessen, der dich damals gesehen hat", antwortete Harry und sah den harmlos wirkenden Flakon angewidert und fasziniert zugleich an.
Er erinnerte sich nur zu gut an Ron, wie er mehrere Stunden lang in regelmäßigen Abständen ganze Ladungen von Schnecken hervorgewürgt hatte.
"Sie haben mich seitdem immer wieder damit genervt –"
"Wir haben experimentiert, bis wir es raushatten. Hat uns tatsächlich einen Zauberstab gekostet."
"Pass bloß auf, dass du nicht selbst was davon abkriegst, wenn du es auf jemanden sprühst", warnte George. "Wir nennen die Serie nicht umsonst Sprüh-und-flieh!"
"Da haben wir noch ein paar nette Sachen in Planung. Wir hoffen, wir sehen dich demnächst bei Weasleys Zauberhafte Zauberscherze."
"Und jetzt zeigen wir dir unser Geburtstagsgeschenk!" sagte Hermione. "Komm mit!"
oooOOOooo
Harry bedankte sich bei Fred und George – und überlegte flüchtig, ob ihm Snails and Wails im Kampf gegen Voldemort vielleicht von Nutzen sein könnte. Dann folgte er seinen Freunden hinaus aus dem Speisesaal. Lupin schloss sich ihnen an.
Wieder bewunderte Harry die neue Helligkeit der Eingangshalle. Der Fußboden bestand überall im Haus aus dunklem Stein und war bei seinem letzten Besuch hier stumpf und schmierig gewesen. Jetzt war er blank geschliffen und schimmerte in einem tiefen Schwarzgrün wie ein Waldsee. Es war immer noch nicht der Boden, den er sich für sein Haus ausgesucht hätte, aber er war unbestreitbar schön.
Alle schlangenverzierten Tischchen, alle düsteren Porträts – mit der einzigen Ausnahme von Mrs Black – waren aus Flur und Treppenhaus verschwunden. Als Harry dieses Mal vorbeiging, schloss Sirius' Mutter in ihrem dunklen Rahmen nur angewidert die Augen und verzog den Mund, als müsse sie einen ganz besonders bitteren Happen schlucken. Harry hielt das für eine deutliche Verbesserung. Und seine Laune wurde noch besser, als er feststellte, dass die Tafeln mit den abgehackten Köpfen der Black'schen Hauselfen nicht länger die Wände über den Treppen zierten.
Die linke Treppe führte hinauf in den Flügel des ersten Stocks, der den Salon beherbergte, in dem sie sich damals so viele Stunden mit den merkwürdigen Gegenständen aus den Sammlungen der Familie Black befasst hatten. Zu seinem Erstaunen befand sich jetzt auf dem Treppenabsatz eine neu eingezogene Wand mit einer schön geschnitzten Tür aus dunklem Holz.
Hermione war davor stehen geblieben und sah sich strahlend zu Harry um. An der Tür war ein Türklopfer in Form eines Goldenen Schnatzes befestigt. Darüber befand sich ein Schild mit der Aufschrift Harry Potter.
"Na, was sagst du?"
"Nun lass ihn doch erst mal reingehen, Hermione!"
"Das ist deine Wohnung!", sagte Hermione voller Stolz, als sie die Tür öffnete und Harry hineinwinkte.
Er folgte ihr durch den Flur – auch dieser durch eine Reihe von Lampen viel heller als früher – und dann in den Salon.
Es war ein großes, lang gestrecktes Zimmer, und das helle Licht des Sommernachmittags strömte durch die geöffneten Flügeltüren eines Balkons an der einen Längsseite des Raums. Hier hatten früher moosgrüne Samtvorhänge gehangen, in denen sich in Jahren der Vernachlässigung eine Unmenge von Doxys eingenistet hatte. Harry hatte nicht einmal gewusst, dass sich dahinter ein Balkon verbarg. Jetzt konnte er den Wind hören, der in den Kronen der beiden Kastanien draußen rauschte.
Die scheußlichen Vitrinen, die olivgrünen Tapeten, der modrige Teppichboden und die uralten, von Ratten angenagten Möbel, an die Harry sich noch gut erinnerte, waren allesamt verschwunden. Stattdessen gaben die in einem blassen Grüngoldton gestrichenen Wände dem Raum Weite und Frische, der dunkle Steinboden war auch hier von schimmernder Glätte und hier und da von hellen, schweren Wollteppichen bedeckt, und vor dem Kamin war eine üppige Ansammlung von bequem aussehenden Sesseln, Polsterhockern und zwei Sofas um einen niedrigen Tisch gruppiert. Die andere Seite des Raums dominierte ein großer schlichter Schreibtisch aus dunklem Holz, die Wände hinter ihm waren von bis zur Decke reichenden Bücherregalen aus dem gleichen Holz bedeckt. Das Schreibpult, in dem sich damals der Irrwicht versteckt hatte, war nirgends zu sehen.
"Ich glaub's einfach nicht!", sagte Harry nur.
Ihm hatte es tatsächlich die Sprache verschlagen.
Hermione öffnete eine Tür neben der einen Regalwand. Harry betrat einen wesentlich kleineren Raum, durch dessen Fenster er ebenfalls die Kastanien sehen konnte. Die einzigen Möbel hier waren ein breites, niedriges Bett und ein geräumiger Kleiderschrank, beide aus demselben Holz wie Tisch und Regale nebenan.
Die Wand über dem Bett zierte ein riesiges Poster der Chudley Cannons, auf dem sich in eben diesem Augenblick eine wilde Jagd nach dem Schnatz abspielte.
Harry ließ sich quer über das Bett fallen – sein Bett, wenn er das nicht alles nur träumte, sein erstes eigenes Bett.
"Wahnsinn!", war alles, was er sagen konnte.
"Also gefällt es dir? Ich war mir ja nicht sicher, ob wir wirklich so dunkles Holz nehmen sollten, und Ron fand das Grüngold einfach peinlich, aber –"
"Hermione, hör auf! Es ist toll! Einfach klasse! Ich liebe euch! Und das Grüngold auch!"
Einen Moment lang sah es so aus, als wolle der goldene Schnatz geradewegs aus dem Poster heraus ins Zimmer hineinschießen, dicht gefolgt von dem Sucher der Cannons.
"Wie habt ihr das bloß gemacht? Und wann? Das war doch das reinste Horrorkabinett hier!"
"Alle Weasleys waren beteiligt", sagte Hermione strahlend.
"Außer Percy natürlich", murmelte Ron.
"So richtig haben wir erst jetzt in den Ferien angefangen. Ich meine, entgiftet war es ja, und Mrs Weasley hat letztes Jahr alle Böden geschliffen und richtig saubergemacht. Und so weiter."
"Wir haben ja auch erst letztes Jahr erfahren, dass Sirius das Haus dir hinterlassen hat. Der Orden trifft sich weiterhin in der Küche im Kellergeschoss, so dass du immer was zu essen vorfinden wirst. Ein Bad hast du übrigens auch noch, direkt hier nebenan."
"Und im anderen Flügel des Hauses sind Gästezimmer, wo vor allem Moody und ich sehr oft wohnen", sagte Lupin, der in der Tür stehen geblieben war. "Ehrlich gesagt, wohne ich fast immer da, wenn ich nicht unterwegs bin. Ich bin also wohl so etwas wie dein Dauergast, Harry."
"Du bist immer willkommen", sagte Harry und meinte es auch so.
"Ich habe auch ein Geschenk für dich", sagte Lupin und überreichte Harry eine längliche, schmale Schachtel.
Harry öffnete sie und nahm zwei Schreibfedern heraus.
"Es sind Portschlüssel. – Genehmigte!", sagte Lupin, als er Hermiones alarmierten Gesichtsausdruck sah. "Es ist ein so genannter Doppel-Port. Die eine nimmst du mit, die andere bleibt hier im Haus, auf deinem Schreibtisch oder so. Wenn du sie verwendest, öffnest du eine Art Gang zwischen den beiden. Dann kannst du jederzeit in dein Haus."
Harry starrte erst die Schreibfedern und dann Lupin an.
"Ich hatte gehört, dass du nicht so gern apparierst", erklärte der mit einem Lächeln.
"Und er wartet auch immer noch auf seine Lizenz", sagte Ron.
"Danke!", sagte Harry aus tiefstem Herzen. "Euch allen!"
"Wo sind denn die ganzen Sachen der Blacks geblieben?", fragte er, während sie wieder in den Salon hinübergingen.
"Oh, ein Überbleibsel ist ja nicht zu übersehen!", antwortete Hermione und zeigte auf die Längsseite des Raumes, die dem Balkon gegenüberlag.
Da hing der uralte Wandteppich mit dem eingestickten Familienstammbaum der Blacks noch an derselben Stelle wie früher, was Harry vorher gar nicht aufgefallen war. Auf dem Blassgrün der Wand machte sich der graue Gobelin gar nicht so übel, und seine Goldstickerei harmonierte mit dem Goldton der Wandfarbe.
"Wir haben ihn nicht abgekriegt", sagte Ron. "So ziemlich jeder hat sich daran versucht, aber selbst Hermione hat irgendwann aufgegeben."
"Der Rest ist oben, im ehemaligen Zimmer von Mrs Black", sagte Hermione.
"Wir haben alles gereinigt und in den Schränken zusammengepackt", warf Lupin ein. "Wir haben nichts mehr weggeworfen, nachdem Sirius – gestorben ist."
"Die meisten Bücher haben wir hier in den Regalen untergebracht", fuhr Hermione rasch fort. "Es sind einige sehr seltene dabei, und 'ne Menge, die in Hogwarts unter strengem Verschluss stehen."
Lupin verabschiedete sich, er wollte noch mit Moody sprechen, bevor dieser das Haus wieder verließ. Nachdem auch Fred und George noch in Harrys neuer Wohnung vorbeigesehen und sich verabschiedet hatten, blieben die drei allein zurück.
Harry beschloss, seine neuen Zimmer einzuweihen, indem er seine Sachen aus dem Koffer holte und in Schrank und Regale räumte. Drei Wochen im Koffer waren eindeutig genug. Während Hermione die Bücherreihen der Blacks in den Regalen genauer in Augenschein nahm und Ron es sich zunächst in einem der Sessel gemütlich machte, schaufelte Harry muffige Klamotten und Bücher aus seinem Koffer und türmte sie zu Haufen und Stapeln um sich herum.
"Die haben hier wirklich eine Menge Sachen über schwarzer Magie", murmelte Hermione begeistert, die Nase in einem Buch. "An so was kommst du in Hogwarts gar nicht ran!"
Harry griff sich einen Armvoll Bücher und begann sie in eines der freien Regalborde zu stellen.
"He Mann!", sagte Ron erstaunt.
Er hatte sich dazu bequemt, Harry einige Bücher zu reichen, und griff nun nach einem Buch in einer Regalreihe über Harrys. "Da ist doch Zaubertränke für Fortgeschrittene! Glück gehabt, dass Sirius' Schulbücher auch noch hier rumstehen!"
"Schön", sagte Harry mäßig begeistert und nahm das Buch von Ron entgegen, um es zu seinen Schulbüchern zu stellen. Er war sich nicht sicher, ob er noch Verwendung für Schulbücher haben würde.
"Puh, das ist ja scheußlich!", sagte Hermione und schloss ein großes, in dunkelgrünes Leder gebundenes Buch mit einem staubaufwirbelnden Knall.
Dann sah sie Harrys Gesicht. Er stand da wie erstarrt und sah fassungslos auf das Buch in seinen Händen.
"Was ist los?"
"Es ist – seins. Das Buch des Halbblutprinzen!"
"Quatsch! Das ist doch unmöglich, oder?" Ron sah über Harrys Schulter. "Oh Mann", sagte er leise, als er die vertrauten, in winziger Schrift gekritzelten Kommentare überall an den Seitenrändern erkannte.
Hermione und er zuckten zusammen, als Harry das Buch krachend auf den Boden fallen ließ.
"Ich will es nicht mehr haben. Ich will das nicht mal mehr anfassen!", sagte er mit weißen Lippen.
"Er ist also schon hier gewesen", flüsterte Hermione entsetzt. "Von wegen, das Haus ist ständig bewacht! Snape muss hier gewesen sein! Falls wirklich er es war, der es aus dem Raum der Wünsche geholt hat."
"Wer soll das denn sonst getan haben?"
"Warum sollte er es dir denn wiedergeben?", warf Ron skeptisch ein. "Wenn er doch so scharf drauf war, es zurück zu kriegen?"
"Um – uns zu warnen. Was er alles kann. Das ist eine Drohung!", stammelte Harry, der immer noch versuchte, das Bild von Snapes Gesicht zu verdrängen, wie er –
"Ich bin euch immer eine Nasenlänge voraus, so in etwa?"
"Genau."
"Bei der Nase übrigens keine Schwierigkeit", sagte Ron.
Jetzt hatte Hermione genug. "Kannst du nicht mal aufhören? Den ganzen Tag gibst du schon dämliche Kommentare ab. Das ist NICHT WITZIG!"
Sie hob das Buch auf, und Ron verzog das Gesicht.
"Ich glaub, ihr steigert euch da in was rein. Snape hatte sicher was anderes zu tun, als ausgerechnet ins Hauptquartier des Ordens zu sausen und Harry sein Buch wiederzugeben. Das war irgendein anderer, wer weiß, vielleicht sogar Hagrid."
"So ein Schwachsinn", schnaubte Hermione. "Wie sollte der denn darauf kommen, von allen anderen Schwierigkeiten mal abgesehen? Nein, das muss Snape gewesen sein."
Sie blätterte ein wenig in den Seiten. Dabei fiel ihr Blick zufällig auf den mit Sectumsempra überschriebenen Kommentar, und angewidert schlug sie das Buch zu.
"Wir müssen das sofort Moody sagen. Sie müssen die Bewachung verstärken."
Dann stellte sie das Buch des Halbblutprinzen ins Regal zu Harrys Schulbüchern.
"Vielleicht brauchst du es doch noch. Es ist auf jeden Fall gut, seine speziellen Rezepte und Sprüche zu kennen."
"Genau das irritiert mich ja", sagte Harry nachdenklich. "Wieso will er mich die kennen lassen?"
"Moody will übrigens gerade gehen", meldete Ron. "Ich höre ihn unten."
Sie stürzten die Treppe hinunter, und wirklich verabschiedete sich Moody gerade von Lupin. Überrascht sah er ihnen entgegen.
"Was gibt's denn?", fragte er alarmiert.
"Snape ist hier gewesen!", stieß Harry hervor. "Er – er hat ein Buch oben ins Regal gestellt, das nur er gehabt haben kann."
Wenn irgend möglich wollte Harry auf die näheren Einzelheiten nicht weiter eingehen.
Wieder wechselten Moody und Lupin einen Blick.
"Er könnte doch jederzeit hier rein!", rief Harry. "Ich meine, selbst wir konnten einen Vielsafttrank brauen. Und mehr braucht er doch nicht. Er könnte hier in jeder beliebigen Gestalt reinkommen."
"Unsinn", knurrte Moody. "Für so unvorsichtig musst du uns nicht halten. Es gibt eine Menge magischer Sperren um dieses Haus. Die gegen Vielsaft-Verwandlung ist nur eine davon."
"Er kann ja auch hier gewesen sein, kurz nachdem er – von Hogwarts geflohen ist", schlug Harry vor. "So schnell konnte hier doch keiner über die Ereignisse informiert werden."
"Er war zuletzt vor ziemlich genau sechs Wochen hier", sagte Moody in abschließendem Ton. "Und da brachte er nur einen weiteren Vorrat an Wolfsbann-Trank für Remus vorbei und verschwand wieder. Glaub nicht, dass er mehr als drei Worte gesagt hat."
Er hob grüßend seinen Flachmann, aus dem er sich offenbar noch einen Schluck zu genehmigen gedachte, und stakste dann mit seinem Holzbein Richtung Haustür.
"Seh' euch morgen. Muss jetzt los!"
Die Tür schlug zu.
"Lasst uns zu Abend essen", schlug Ron vor.
"Gute Idee", sagte Hermione. "Wir haben noch eine Geburtstagstorte unten in der Küche."
"Ihr nehmt die Sache nicht ernst genug!", sagte Harry.
"Du hast Moody ja gehört!", rief Ron, während er die Treppe ins Untergeschoss hinunterrannte. "Und der ist echt paranoid."
In der Küche, einem Gewölbe aus rauhem Stein, in dem nichts verändert worden war, trafen sie auf Tonks, deren Gesicht förmlich aufleuchtete, als sie Lupin sah.
"Ich wollte gerade hinaufkommen und nach euch sehen", sagte sie, während sie vom Tisch aufstand, wo sie über einigen Pergamentrollen gebrütet hatte. Sie legte den Arm um Lupin, der sie lächelnd an sich zog.
Als sie alle am Tisch saßen und das erste Stück Kuchen verdrückt hatten, sagte Hermione endlich, was sie schon den ganzen Tag auf dem Herzen hatte.
"Du kommst doch wieder mit uns nach Hogwarts, Harry, oder?"
Mit einem Schlag war die angenehm träge Stimmung zerstört. Harry würgte an seinem Bissen.
"Stand das denn ernsthaft zur Debatte, Harry?", fragte Lupin ruhig.
"Ja, und das tut es noch!", erwiderte Harry gereizt. "Ich – ich kann das jetzt nicht in allen Einzelheiten ausbreiten. Und ich muss darüber noch nachdenken."
"Mann, dazu hattest du doch jetzt schon wochenlang Zeit!"
Harry sah Ron an, bereit zu einer wütenden Antwort. Aber als er die Angst in seinem Gesicht sah, die Angst, sein bester Freund könnte Ernst machen und die Schule ein Jahr vor dem Abschluss sausen lassen, da schwieg er.
Was hatte er die letzten Wochen denn getan? Auf dem Bett gelegen und Löcher in die Luft gestarrt. Jedenfalls nicht über die Zukunft nachgedacht, so seltsam das erscheinen mochte. Jetzt war alles wieder da, und zusätzlich der Zwang, endlich Entscheidungen zu treffen. Und das in einem Moment, in dem ihm ein Stück Siruptorte die Kehle verklebte.
"Ich – ich geh zuerst nach Godric's Hollow", hörte er sich schließlich zu seiner eigenen Überraschung sagen. Offenbar waren auch ohne Nachdenken einige Entscheidungen bereits gefallen. "Danach werde ich weitersehen."
"Godric's Hollow?", fragte Tonks.
"Wir kommen mit", sagten Ron und Hermione gleichzeitig.
"Nein", sagte Harry. "Ich meine – seid mir nicht böse – ich weiß, ihr wollt mich unterstützen und – aber ich muss da allein hin."
Hilflos sah er in ihre bösen Mienen. Sie waren beleidigt, und das konnte er ihnen nicht mal übel nehmen.
"Wir sprechen danach über alles!", sagte er drängend.
"Wann willst du denn da hin?", fragte Hermione schließlich sauer.
"Morgen."
"Übermorgen ist Bills Hochzeit", warf Ron ein.
"Ich versuch', pünktlich da zu sein!"
"Harry, du weißt, dass du meine Begleitung in jedem Fall ertragen musst, nicht wahr? Du hast gehört, was Alastor gesagt hat. Und ich nehme das sehr ernst", sagte Lupin leise.
oooOOOooo
Einige Stunden später saß Harry allein in seinem neuen Wohnzimmer vor dem Kamin. Er war unglücklich darüber, dass der Tag in einem Missklang geendet hatte. Vor allem Ron und Hermione hatten sich solche Mühe gegeben, ihm einen schönen Geburtstag zu bereiten. Jetzt waren sie nach einer Weile mürrischen Beieinandersitzens ziemlich unversöhnt abgezogen und in den Gästezimmern im anderen Flügel schlafen gegangen.
Durch die geöffneten Balkontüren kam die warme, ein wenig abgestandene Luft einer Londoner Sommernacht herein. Harry fand es irgendwie absurd, im Hauptquartier des Phönixordens zu sitzen und von draußen den Verkehrslärm Londons zu hören. Eben hupte ein Auto unten so laut, dass er das Klopfen an seiner Tür erst beim zweiten Mal hörte.
"Harry, bist du noch auf?"
Es war Lupin, der zögernd den Salon betrat.
"Komm rein!"
"Du siehst nicht gerade glücklich aus, Harry", sagte Lupin, während er sich in einem Sessel Harry gegenüber niederließ.
"Sie haben sich alle so bemüht, mir eine Freude zu machen. Uns alle etwas aufzuheitern. Aber irgendwie geht es eben doch nicht. Dazu ist alles zu schlimm."
Aber ich bin mir nicht sicher, dass sie das genauso empfinden, dachte Harry. Nur bei Lupin hatte er das Gefühl, dass es ihm ähnlich ging.
"Ich will sie nicht weiter in Gefahr bringen! Der Gedanke macht mich ganz krank – jeder, der mit mir zu tun hat, könnte das nächste Opfer sein!"
"Du solltest sie aber auch ihre Entscheidungen treffen lassen und sie dann akzeptieren. Du brauchst deine Freunde, Harry."
Einen Moment lang war es Harry, als hätte Dumbledore gesprochen.
"Ich muss Voldemort töten."
Nun war es heraus. Lupin schien nicht weiter überrascht.
"Und vorher muss ich eine Reihe von – Gegenständen finden und vernichten. Sonst brauche ich Voldemort gar nicht erst zu suchen."
"Ich nehme an, du sprichst von Horcruxen?"
Harry war zu müde, um erstaunt zu sein. Er nickte einfach.
Lupin maß ihn mit einem langen, teilnahmsvollen Blick.
"Trotzdem solltest du nach Hogwarts zurückkehren. Es ist dein Zuhause. Und du kannst dort noch vieles lernen, das dir nützlich ist. Allem voran Okklumentik – ich muss dich nochmals daran erinnern."
"Ich glaub, da werd' ich nie eine Leuchte drin", murrte Harry. "Und was soll es mir gegen ihn schon nützen. Er weiß ohnehin, was ich will."
"Du darfst dich nicht nur auf Voldemort konzentrieren, Harry, verstehst du nicht? Das ist es doch, was er will. Dass wir nur noch das Dunkle sehen. Die Dementoren werden leichtes Spiel mit uns haben, wenn wir vergessen, was uns das Leben lebenswert macht", sagte Lupin.
"Es ist nur – ich bin so wütend! Ich will, dass er dafür bezahlt! Ich will ihn leiden sehen!"
"Das ist nur verständlich. Voldemort –"
"Ich meine nicht ihn, nicht nur, jedenfalls. Ich meine – Snape!" Harry spuckte den Namen geradezu heraus und ballte unbewusst die Fäuste.
Lupin sah ihn an, und Harry fand, dass er unendlich müde aussah.
"Harry –"
"Nein! Fang gar nicht erst an, Erklärungen für das zu finden, was er getan hat! Ich will sie nicht hören! Er ist ein Mörder und ein Verräter! Er ist schuld, an jedem einzelnen Tod war er beteiligt! Meine Eltern hat er verraten, Sirius hat er so provoziert, dass er in den Tod rannte, und Dumbledore – Dumbledore –"
Er konnte nicht weiter sprechen. Er sah Snape vor sich, wie er den hilflos an die Mauer gelehnten Dumbledore angestarrt hatte. Den Hass und die Verbitterung auf seinen Zügen, bevor er ihm sein Avada Kedavra entgegen geschleudert hatte. Bevor er Dumbledore ermordet hatte, den Einzigen, der ihm völlig vertraut hatte. Dafür konnte es nie ein Verzeihen geben.
Lupin saß schweigend in seinem Sessel.
"Ich verstehe es auch nicht, Harry, das muss ich zugeben", sagte er nach einer Weile hilflos. "Vielleicht habe ich mich doch in Severus getäuscht. Irgendetwas muss mit ihm passiert sein, dass – diese Seite in ihm wieder die Oberhand gewinnen konnte."
"Ich habe ihm nie getraut! Er hat mich immer gehasst, vom ersten Moment an. Alles, was er getan hat, war doch doppeldeutig! Wie konnte Dumbledore ihm nur vertrauen? Wieso? Wieso ist er auf ihn hereingefallen? Er könnte noch leben!"
Wütend wischte er sich die Tränen vom Gesicht.
"Dumbledore kannte Severus Snape schon so viel länger als du, Harry", sagte Lupin sanft. "Glaubst du nicht, dass er mehr über ihn gewusst hat, als du ahnst?"
"Wieso bist du nicht wütend?", fragte Harry plötzlich, als er wieder sprechen konnte. "Wieso hasst du ihn nicht?"
"Weil Hass Albus Dumbledore nicht wieder lebendig macht. Nichts kann das. Ich bin überzeugt, dass sein Tod einen Sinn hatte. Nach diesem Sinn müssen wir suchen, Harry. Es ist gefährlich, sich im Hass zu verlieren – in diesen Zeiten gibt es kaum etwas Gefährlicheres! Hass macht blind und unvorsichtig. Er raubt uns die Lebensfreude. Er macht dich zu einem leichten Opfer für die dunkle Seite."
Langsam stand Lupin auf und streckte sich.
"Es ist sehr spät. Und morgen wollen wir früh los, wenn ich dich richtig verstanden habe. Wir sollten schlafen gehen."
Harry nickte. Aber er blieb noch lange sitzen, nachdem Lupin hinunter gegangen war.
Als er sich endlich nebenan in sein neues Bett fallen ließ, war das Letzte, woran er dachte, bevor er in den Schlaf hinüberdriftete, dass er irgendetwas vergessen hatte.
