Kapitel 3
Godric's Hollow
Ron, Hermione und Harry hatten sich ihr Frühstück hinauf in Harrys Wohnzimmer geholt. Mit dampfenden Kaffeebechern saßen sie nun da und sahen dem Sonnenlicht zu, wie es seinen Weg die neu gestrichenen Wände entlang fand.
Die Atmosphäre war noch immer ziemlich gespannt.
"Seid nicht sauer, Leute", sagte Harry lahm. "Wir sehen uns doch dann morgen."
Aber Hermione stocherte weiter unlustig in ihrem Rührei herum, während Ron stillschweigend Marmeladentoast mampfte.
Nicht einmal die Zeitung konnte man lesen, weil der Prophet noch nicht eingetroffen war. Nach einer Weile beschloss Harry, ein paar Sachen zu packen, die er mitnehmen wollte.
Er bückte sich nach seiner Tasche, die unterhalb des alten Gobelins auf dem Boden lag. Die Goldstickerei auf dem altersbrüchigen grauen Stoff blitzte im Licht der Morgensonne auf. Toujours pur erstrahlte in ganz unverdientem Glanz, wie Harry fand. Er wollte sich gerade abwenden, als ein Wort seinen Blick fing und ihn zusammenzucken ließ. Er sah genauer hin. Richtig, da stand es, winzig, aber deutlich zu erkennen und jetzt voll ins Sonnenlicht getaucht.
"Das gibt's doch nicht!"
"Was? Stehen die Potters drauf?", fragte Ron.
"Nein. Aber – hier, seht doch mal selbst! Gaunt! Da steht's!"
Während Hermione aufsprang, versuchte Ron, den Namen Gaunt einzuordnen.
"Gaunt, das war der Mädchenname von Voldemorts Mutter, weißt du nicht mehr?", sagte Hermione ungeduldig. "Harry ist ihm in Dumbledores Denkarium begegnet."
"Soll das heißen, Sirius war mit Du-weißt-, äh, Voldemort verwandt?", fragte Ron entgeistert.
"Er hat mir damals selbst gesagt, dass letztlich alle reinblütigen Zaubererfamilien miteinander verwandt sind", sagte Harry, der nachdenklich die winzige Namensstickerei betrachtete.
"Sie ist sogar hier drauf", stellte Hermione fest. "Da: Merope Gaunt. Und ihr Bruder Morfin. Aber mit den beiden endet der Zweig hier. Anscheinend konnte bisher niemand die Spuren weiterverfolgen."
"Du kannst das ja nachtragen, Harry", sagte Ron mit vollem Mund. "Du könntest Kreacher dazu bringen, sticken zu lernen und dann diesen Stammbaum seiner Herrschaften zu ergänzen."
"Gute Idee", stimmte Harry zu, allerdings nicht ganz bei der Sache.
Er versuchte, die Verwandtschaftsbeziehungen zu den Blacks herzustellen.
"Also, Meropes Urgroßmutter Charlotte war die Schwester von Elladora Black", rief Hermione da triumphierend. "Ihr wisst schon, die mit den Elfenköpfen. Die war die Schwester von Charlotte Peverell. Elladora heiratete Peter Black und blieb kinderlos – was für ein Glück. Charlotte heiratete Alexander Gaunt und bekam zwei Söhne, Jeremy und Lawrence. Jeremy hatte dann einen Sohn – Marvolo. Und Lawrence eine Tochter – Pandora. Die beiden heirateten – ist das überhaupt erlaubt, die waren doch Cousin und Cousine ersten Grades?"
"Also, wenn ich mich richtig erinnere, sagte Dumbledore mir sogar, dass das bei den Gaunts so Familientradition war", sagte Harry langsam.
"Ja, jetzt sehe ich es auch. Das kam in der Familie anscheinend dauernd vor."
"Das war wohl auch der Grund, warum Morfin und Merope ziemlich – na ja, irgendwie fast schon missgebildet aussahen", meinte Harry, der immer noch darüber nachgrübelte, was ihm der Name Peverell sagte.
"Guten Morgen allerseits!"
Lupin und Tonks standen in der Salontür.
"Die Tür draußen stand auf, da dachten wir, wir leisten euch Gesellschaft beim Frühstück", sagte Tonks fröhlich.
Sie dirigierte ein schwebendes, schwer beladenes Tablett zu Harrys Couchtisch.
"Ehrlich gesagt, ich denke, ich sollte bald aufbrechen", sagte Harry. "Ich werde nämlich den Zug nehmen."
"Den Zug nach Godric's Hollow?", lächelte Lupin. "Meinst du wirklich?"
Harry hatte nur eine ungefähre Vorstellung davon, wo das Dorf lag, in dem seine Eltern zu Tode gekommen waren.
"Wieso?"
"Na ja, es ist ein umständlicher Weg. Wir können natürlich bis Bristol mit dem Zug fahren, aber dann geht's vermutlich nur noch mit irgendeiner Bimmelbahn weiter. Es wäre leichter, wenn wir apparieren."
Harry wand sich ein wenig.
"Ich habe die Lizenz noch nicht. Und ich habe – irgendwie das Gefühl, der Zug ist das Richtige."
"Es ist dein Ausflug, Harry. Wenn du mit dem Zug fahren willst, werde ich nicht versuchen, dich davon abzubringen. Aber wenn wir morgen früh pünktlich zur Hochzeit im Fuchsbau sein wollen, wird es jetzt wirklich Zeit."
"Wir müssen auch bald los. Wir warten nur noch, bis Moody zurückkommt, um Tonks hier abzulösen, dann verschwinden wir auch", sagte Hermione.
"Ja, verdammt. Zurück ins Irrenhaus. Ich kann's gar nicht erwarten", murrte Ron.
Harry stopfte ein paar Brote in seine Tasche.
"Könnt ihr Hedwigs Käfig mitnehmen? Lasst sie selbst einfach zum Fuchsbau vorfliegen."
"Klar. Sollen wir auch deinen Festumhang mitnehmen?"
"Oh Mann, den hätt' ich jetzt glatt vergessen! Nehmt ihn bloß mit!"
Und siedend heiß fiel ihm ein, dass er auch kein Geschenk für Bill und Fleur hatte. Die Hochzeit hatte er bis gestern so gut wie vergessen gehabt.
Er griff sich die Portschlüssel-Schreibfeder und packte sie in seine Tasche, in der schon der Tarnumhang und verschiedene andere unentbehrliche Dinge steckten, und verwahrte das Gegenstück in einem Becher mit mehreren anderen Schreibgeräten, der auf seinem neuen Schreibtisch stand.
Tonks verabschiedete sich von Lupin, und Harry sah auf ihrem Gesicht die Sorge, die ihnen allen in den letzten Monaten vertraut geworden war: die Angst, einen geliebten Menschen vielleicht nicht mehr wieder zu sehen.
Etwas verlegen wandte er sich seinen Freunden zu. Zu seiner Überraschung umarmte Hermione ihn.
"Pass auf dich auf, Harry!"
"Mach ich. Und noch mal danke für alles. Das Haus ist wirklich schön geworden. Seid mir nicht böse, dass ich heute allein gehe."
oooOOOooo
Obwohl es ein Freitagmorgen im Sommer war, hatten Harry und Lupin Glück und fanden ein leeres Zugabteil. Hier fuhren sie nun Richtung Bristol, sahen hinaus in die vorbeifliegende Landschaft und hingen ihren Gedanken nach: Ein müde aussehender, schlecht gekleideter Mann Ende Dreißig, der älter wirkte mit seinem früh ergrauten Haar und den tiefen Falten in seinem freundlichen Gesicht, und ein hagerer, blasser Halbwüchsiger mit viel zu langem schwarzem Haar, dessen Jeans nicht nur zu kurz, sondern auch ausgefranst und fleckig war.
"Bist du eigentlich jemals in Godric's Hollow gewesen?", fragte Harry plötzlich.
"Ja. Bei James' Hochzeit. Und bei der Beerdigung deiner Eltern. Alle Mitglieder des Ordens waren dabei, zumindest die, die noch lebten. Und du? Hast du irgendeine Erinnerung an den Ort?"
"Nein. Ich war auch nie da, ich meine, außer als Baby, und daran erinnere ich mich natürlich nicht. Das Komische ist, dass ich bis vor kurzem auch nie daran gedacht habe, noch mal hinzugehen."
Es war ihm erst bei Dumbledores Begräbnis eingefallen. "Ich dachte, ich könnte doch wenigstens mal die Gräber meiner Eltern sehen. Und vielleicht die Stelle, wo es passiert ist."
"Ich habe das Haus damals gesehen. Es ist ziemlich zerstört, das Dach war eingestürzt, und ich glaube, auch der ganze zweite Stock. Wer weiß, was da inzwischen ist. Müsstest du nicht übrigens wenigstens das Grundstück geerbt haben?", fragte Lupin plötzlich.
"Keine Ahnung", sagte Harry. "Gehörte es ihnen denn? Ich dachte, sie wären da nur untergekommen."
"Nein, das Haus war schon lange im Familienbesitz, ich glaube, von der Seite deiner Großmutter her. Das weiß ich, weil Sirius seine Schulferien oft mit James bei deinen Großeltern verbracht hat. Er hat von James' Mutter geschwärmt. Sie war Auror, und was wohl noch wichtiger war, beinahe eine Profi-Quidditch-Spielerin."
Lupin sah, dass Harry gebannt zuhörte und auf mehr wartete. "Hat er dir denn nichts von den Potters erzählt?"
"Nein. Wir sind eigentlich nie dazu gekommen."
"James sagte immer, dass er es gewesen ist, der seiner Mutter die Karriere verdorben hat. Vielleicht hätte sie als Quidditch-Profi länger gelebt."
Harry versuchte, sich eine Quidditch spielende Großmutter vorzustellen, aber das funktionierte nicht.
"Was ist mit ihr geschehen?"
"Deine Großmutter wurde wahrscheinlich von einem Todesser ermordet. Das war 1978, kurz nach der Hochzeit von James und Lily."
"Und mein Großvater?"
"Er war viel älter als sie." Lupin lächelte. "Er war übrigens Lehrer für Kräuterkunde in Hogwarts."
"Was? Wieso hat das nie jemand erwähnt?"
"Vielleicht gehen die wenigen, die das noch wissen, davon aus, dass du das sowieso weißt. Ich glaube, er war auch nicht lange da. Jedenfalls hat er den Schuldienst verlassen, nachdem seine Schülerin Artemis Pepperleaf ihren Abschluss gemacht hatte. Er hat sie dann nämlich geheiratet. Die Geschichte hat er selbst erzählt, bei James' Hochzeit."
"Artemis Pepperleaf?"
Harry hatte immer mehr Schwierigkeiten, sich seine Großmutter vorzustellen.
"Ein schöner Name für eine Jägerin, findest du nicht?", grinste Lupin. "Dein Großvater ist ziemlich bald nach ihr gestorben. Und James erbte das Haus, aber sie wohnten zuerst in London. Ich denke, du müsstest irgendwas darüber hören, dass dieses Grundstück dir gehört. Es muss ja auch bis jetzt von jemandem verwaltet worden sein."
In diesem Augenblick wurde die Abteiltür geöffnet. Ein Mann mit Aktentasche und Zeitung unter dem Arm drängte sich herein. Er musterte sie misstrauisch, offenbar gefiel ihm ihre Kleidung nicht. Dann setzte er sich mit einem gemurmelten Gruß auf den freien Platz neben der Abteiltür, entfaltete raschelnd seine Zeitung und verschwand dahinter.
Harry bedauerte die Störung sehr. Endlich konnte er etwas über seine Familie erfahren, und dann musste wieder jemand reinplatzen. Wieso hatte er Lupin nicht schon viel früher gefragt? Schließlich war er ein Schulfreund seiner Eltern gewesen. Er verstand auf einmal, warum er diese Reise auf Muggelweise hatte machen wollen. Er brauchte die Zeit zum Nachdenken, diese Reisezeit, während der er kaum etwas anderes machen konnte, als sich mit seinen Gedanken zu beschäftigen.
Lupin, der ihm gegenübersaß, riss ihn aus seinen Gedanken, indem er ihn mit dem Fuß antippte. Als Harry aufsah, erschreckte ihn Lupins Gesichtsausdruck. Er deutete mit dem Kopf auf die Zeitung des Mannes. Da war ein großes Foto, auf dem die rauchenden Trümmer eines Hauses zu sehen waren. Daneben schrie eine Schlagzeile "Bombenterror in Little Whinging?". Harry blieb fast das Herz stehen. Er entzifferte mit Mühe den Artikel darunter.
"In der Nacht zum Freitag wurden die Anwohner des Ligusterwegs, einer ruhigen kleinen Straße im idyllischen Londoner Vorort Little Whinging, gegen halb zwei aus dem Schlaf gerissen, als das Haus Nummer Vier von einer Explosion fast völlig zerstört wurde.
"Das Dach wurde komplett weggesprengt", sagte ein aufgeregter Nachbar. "Einige Ziegel sind bis in meinem Swimmingpool geflogen."
Nach bisherigen Ermittlungen kamen Menschen nicht zu Schaden. Die Besitzer des Hauses waren erst vor zwei Tagen in den Urlaub gestartet und konnten noch nicht erreicht werden."
Harry und Lupin sahen sich an. Aber es war natürlich nicht möglich, sich zu unterhalten, wenn der Mann mit der Zeitung zuhören konnte. Harry war das nur allzu klar bewusst.
Es hätte ihn nicht gewundert, wenn ihn am Bahnhof in Bristol die Polizei in Empfang nehmen würde. Unwillkürlich spürte er auch Mitleid mit den Dursleys. Er fragte sich, ob sie ihn verdächtigen würden. Dumme Frage. Onkel Vernon würde seinen Steckbrief durchgeben, bevor er sein ruiniertes Haus auch nur gesehen hätte.
Und wie erschreckend das war! Ob der "Bombenleger" gewusst hatte, dass niemand mehr im Haus war? (Harry war sich übrigens ziemlich sicher, dass es keine Bombe gegeben hatte, und auch sonst nichts, was Muggel würden entdecken können.) Oder ob er einfach die erstbeste Gelegenheit ergriffen hatte, als mit Harrys Volljährigkeit alle Schutzzauber um dieses Haus erloschen waren?
"Lass uns gehen, Harry", sagte Lupin leise, aber entschieden.
Er stand auf und verließ das Abteil. Harry folgte ihm, völlig durcheinander.
"Es ist nicht nötig, dass wir in Bristol aufgehalten werden, nur weil dein Onkel alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, um dich zu finden. Lass uns apparieren. Nimm meinen Arm und halt dich fest", sagte Lupin, als sie im Gang standen.
Wieder schien da Dumbledore aus seinen Worten zu sprechen, und Harry gehorchte ohne Widerspruch.
oooOOOooo
Als er am anderen Ende des Soges, der ihm nun schon vertraut, aber deshalb nicht lieber war, wieder auf seinen Füßen zu stehen kam, standen sie direkt vor einem Schild am Straßenrand.
„Willkommen in Godric's Hollow!", verkündete es.
Die Straße war kaum mehr als ein staubiger Damm zwischen grünen Wiesen. Zweimal am Tag fuhr hier der Überlandbus her, und auch der wurde eigentlich nur von den Feriengästen des Dorfes genutzt.
Lupin und Harry atmeten tief die sommerwarme Luft ein. Überrascht schmeckte Harry das Salz darin.
"Ist das Meer in der Nähe?"
Lupin wies auf die feine Linie des Horizonts in der flimmernden Luft. Weit hinten im Dunst konnte Harry mit viel Phantasie einen blauen Schimmer ausmachen.
"Wusstest du das nicht?", fragte Lupin seinerseits erstaunt. "Das kommt vom Apparieren. Unsereins beschäftigt sich einfach nicht mehr mit Landkarten und anderen Details des Reisens."
Als er losgehen wollte, hielt Harry ihn zurück.
"Einen Moment noch", bat er. "Fändest du es sehr verrückt, wenn wir zuerst zum Friedhof gehen könnten? Bevor wir ins Dorf gehen?"
"Wenn es dir so lieber ist, kein Problem. Wir können einen Bogen um das Dorf schlagen. Der alte Friedhof liegt nahe an der Küste, ein wenig außerhalb."
Sie bogen also links von der Hauptstraße ab und folgten den heckengesäumten Feldwegen in die ungefähre Richtung.
"Du meinst also auch, dass die Dursleys mich beschuldigen werden?", fragte Harry bedrückt.
"Harry, es war nur eine Frage der Zeit, bis das passieren musste. Ich weiß, dass Dumbledore das Haus mit einer Reihe von Schutzzaubern belegt hat, aber die waren hinfällig in dem Moment, in dem du es für immer verlassen hast. Natürlich werden deine Verwandten denken, dass du ihnen etwas heimzahlen wolltest."
"Na ja, ich hab so das Gefühl, dass die Verfolgung durch Onkel Vernon jetzt mein geringstes Problem ist", murmelte Harry halb zu sich selbst.
"So ist es. Schieb es von dir weg. Denk darüber nach, wenn du Zeit dafür hast. Heute geht es um deine wirkliche Familie."
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her.
"Was weißt du noch von meinen Eltern?", fragte Harry dann. "Hast du sie gemocht?"
"Es war schwer, Lily nicht zu mögen."
"Und ihn – meinen Vater?"
Lupin lächelte. "War ein verwöhnter Kerl. Reiche Eltern. Genau wie Sirius. Kannte keine Angst, keinen Zweifel. Er war deshalb vielleicht nicht besonders rücksichtsvoll mit anderen. Aber ein treuer, absolut zuverlässiger Freund. Doch, ich mochte ihn sehr. Aber ich stand ihm nie so nahe, wie Sirius das tat."
"Wo warst du, als sie starben?"
Lupin warf ihm trotz des Themas einen amüsierten Blick zu.
"Das klingt, als wolltest du mein Alibi hören."
"Nein, es ist nur – ich weiß von Sirius und Pettigrew in dieser Nacht, aber nichts von dir."
Lupin seufzte. "Dafür gibt es einen einfachen Grund. Es war – eine Vollmondnacht. Ich verbrachte sie eingesperrt im Keller meines Elternhauses."
"Wieso hat Sirius dich dann verdächtigt, der Verräter zu sein?"
"Ich glaube, damals haben wir uns alle gegenseitig verdächtigt. Es war alles so unklar. Ich – ich war sicher, dass Sirius es gewesen sein musste. Ich konnte es nicht glauben, aber ich wusste ja, dass er ihr Geheimniswahrer war. Besser gesagt, ich glaubte es zu wissen. Dass sie im letzten Moment doch Peter dazu gemacht hatten, wusste ich nicht, bis er es mir sagte, in Hogwarts vor drei Jahren."
In einiger Entfernung konnten sie nun das Dorf Godric's Hollow zwischen Bäumen sehen: ein paar alte Häuser und einen kleinen Kirchturm. Grauer Stein schimmerte zwischen den wehenden Zweigen von Weiden und Erlen auf.
Harry wandte im Weitergehen nicht die Augen von diesem Anblick, bis sie den Küstenweg erreichten und von Godric's Hollow nur noch die Kirchturmspitze zwischen den Bäumen zu sehen war. Hier oben um die grasige Kante war der Seewind stark zu spüren. Harry sah mit einem leisen Schwindelgefühl, wie tief die Klippen direkt zu seiner Linken abfielen. Aber vor ihnen gliederte sich der Küstenabbruch mehr und mehr, er konnte kleine Pfade ausmachen, die zwischen den Klippen hinunterführten zu schmalen, sandigen Buchten, wo man sicher auch schwimmen konnte.
In einiger Entfernung vor ihnen standen vier, fünf überwiegend junge Leute in kurzen Hosen und mit Rucksäcken auf dem Rücken um eine Frau herum, die ihnen in den Fels gehauene, nach unten führende Stufen zeigte.
"Kann man die Höhle auch besichtigen?", fragte eines der Mädchen gerade, als Lupin und Harry vorbeigingen.
Sie grinsten sich an. Irgendwie war es seltsam, dass es hier auch Touristen gab.
Und dann sah Harry den Friedhof: ein mit einem hohen schmiedeeisernen Gitter umzäunter Abschnitt dicht an der Küstenlinie. Vom Seewind landwärts gebogene Bäume, altersdunkle Steinkreuze. Es sah beinahe so aus, als sei ein Teil des Friedhofes schon von der Küste weggebrochen und als drohe dieses Schicksal nun dem nächsten Abschnitt. Harry wurde beklommen zumute, als er neben Lupin durch das Friedhofstor ging.
Sie gingen an einem alten Mann in grünem Kittel vorbei, der mit langsamen Bewegungen die kiesbestreuten Wege harkte. Er hielt inne, als er sie sah, und blickte ihnen nach. Lupin ging mit zielstrebigen Schritten, obwohl es immerhin sechzehn Jahre her war, dass er hier gewesen war. Aber vermutlich verfügte man als Werwolf über ein gutes räumliches Erinnerungsvermögen.
"Hier ist es", sagte er schließlich, als sie die hintere Ecke der seewärts gelegenen Friedhofsseite erreicht hatten. Die Grabstätte lag unter einer windschiefen Kiefer. Andere Bäume konnten sich hier wohl nicht halten.
In den grauen Stein waren nur die Namen seiner Eltern mit ihren Lebensdaten eingeschnitten. Das Polster einer rundblättrigen Pflanze hatte das Grab fast völlig überwuchert.
Es war unerwartet friedlich hier, mit dem Rauschen des Windes in den Kiefernzweigen und den Möwenschreien von der See her.
Harry stand einfach da, ein wenig ratlos, was jetzt zu tun war. Was hatte er erwartet? Einen Hinweis – darauf, wie es weitergehen sollte, wohin er sich wenden sollte?
Aber hier gab es nichts. Die Vorstellung, dass sich die Überreste seiner Eltern hier im Boden zu seinen Füßen befanden, war ebenso schwierig wie letztlich nichts sagend. Was James und Lily ausgemacht hatte, war hier jedenfalls nicht zu spüren. Und wenn er irgendeine Botschaft von ihnen erwartet hatte, würde er sie hier sicher auch nicht finden.
"Ist seltsam, mit Gräbern", sagte Lupin, als hätte er seine Gedanken gelesen. "Wenn die Toten einmal beerdigt sind, begreift man, dass man sie bei ihren Grabstätten am wenigsten wieder finden wird."
"Ist das immer so?", fragte Harry irgendwie erleichtert. "Mir kam es so wichtig vor, hierhin zu gehen und den Ort zu sehen. Und jetzt weiß ich nicht mehr, was ich eigentlich erwartet habe."
Der alte Friedhofsarbeiter harkte sich wie zufällig in ihre Nähe. Harry hatte schon im Vorbeigehen die Neugier in seinen wasserhellen Augen gesehen.
"Ich werde auf jeden Fall noch in ihr Haus gehen, oder dahin, wo es gestanden hat", sagte er dann entschieden. "Und Hermione würde wahrscheinlich nicht mehr mit mir reden, wenn ich nicht nach irgendwelchen alten Dokumenten, Zeitungsartikeln oder sonstigem Zeug über die – Ereignisse damals suche."
"Ich bezweifle, dass dich das weiterbringen wird. Das Ministerium hat damals alle Muggel gedächtnisverändert."
"Ja, das habe ich auch gehört", sagte Harry und dachte an die Unterhaltung zwischen Fudge, McGonagall, Rosmerta und Hagrid, die er vor drei Jahren in den Drei Besen belauscht hatte. "Aber Hermione würde sich solche Sachen zumindest ansehen. Zeitungsarchive und so was. Und irgendwie findet sie dabei immer was raus."
Der alte Mann war nun auf Hörweite herangekommen. Als er zu sprechen begann, sah Harry, dass er nur noch Zahnstummel im Mund hatte.
"Kannten Sie die beiden?", fragte er und nickte zum Grab der Potters herüber. "War schon 'ne Weile keiner mehr da, um sie zu besuchen. Ich schneid das Zeug hier immer zurück, wenn es über den Stein will."
"Das – das – äh – ist sehr nett von Ihnen", stammelte Harry.
"Is' mein Job, hier für Ordnung zu sorgen", sagte der Alte lässig. "Ich mein', jetzt ist hier ja nich' mehr viel los, seit sie drüben den neuen Friedhof angelegt haben, da hinter der Neubausiedlung. Aber damals – und gerade diese Sache –"
"Sie erinnern sich daran?"
"Machst du Witze, Junge? Das war die schlimmste Geschichte, die Godric's Hollow je erlebt hat! Gab vierzehn Tote damals, mit den beiden da. Ich war damals noch richtig als Friedhofsarbeiter angestellt, hatte jede Menge zu tun. Und dann all die Diskussionen, ob man die Potters denn überhaupt hier beerdigen sollte, in geweihter Erde, Sie verstehen schon. Man kannte die Familie ja, sie gehörte zu den Leuten, na, Sie wissen schon. Hexerei und so."
An dieser Stelle machte er eine Pause und sah sie scharf an. Als die beiden nicht reagierten, redete er weiter.
"Aber Pfarrer Gwynnith hat dem Gerede ein Ende gemacht. Sagte, er würde sie selbstverständlich hier beerdigen, wo doch auch schon Artemis und Alexander hier liegen und alle Vorfahren der Pepperleafs und viele der Potters. War ein guter Mann, der Pfarrer Gwynnith."
"Meinen Sie, wir könnten mit ihm sprechen?"
"Der ist tot, seit bald zehn Jahren. Jetzt teilen wir uns den Pfarrer mit den Nachbargemeinden. Im Pfarrhaus wohnt auch keiner mehr, da gibt's nur noch die Bibliothek und den Gemeindesaal."
"Eben haben Sie gesagt, dass schon lange keiner mehr hier war, bei diesem Grab. Heißt das, dass früher häufiger jemand kam?", fragte Harry.
"Häufig würd' ich nich' grad sagen. So ein, zwei Mal im Jahr kam ein alter Mann, ziemlich auffällig, mit 'nem langen weißen Bart und immer ziemlich verrückt angezogen. War aber immer sehr höflich zu mir. Es heißt, dass er auch das alte Haus gekauft hat, besser gesagt, das, was davon noch übrig ist."
"Das Haus der Potters?"
"Mmh, das Pepperleaf-Haus, heißt das hier! Lion's Lane Nummer sieben. Weiß allerdings keiner, warum er's gekauft hat. Er hat sich nie drum gekümmert, es in Ordnung gebracht oder so. Hat 'nen Zaun drum gezogen, so dass die Bengel keine Mutproben oder sonstige Spielchen da abhalten können. Und das war's. Ansonsten steht's da immer noch so wie damals, als da dieser Herd, oder was es auch war, in die Luft flog. Is 'n Wunder, dass es nich' ganz zusammengebrochen is."
Harry und Lupin sahen sich vielsagend an.
"Schade eigentlich, war 'n schönes Haus. Hatten Generationen von Pepperleafs drin gewohnt. Aber die sind ja jetzt wohl ausgestorben, genau wie die Potters. Hatten ja nur den einen Sohn. Sic transit und so weiter. Sie wissen schon."
Harry ging in tiefes Grübeln versunken neben Lupin her.
"Ich kapier das nicht", sagte er endlich. "Das mit den vierzehn Toten! Soll das etwa heißen, das war hier, wo Sirius und Wurmschwanz aufeinander getroffen sind?"
Lupin sah ihn überrascht an.
"Wusstest du das nicht?"
"Nein!", rief Harry empört. "Niemand hat mir das jemals richtig erzählt. Andeutungen ja, mal hier und da 'nen Satz – aber keiner hat mir wirklich was Zusammenhängendes gesagt. Das meiste hab ich aus 'nem Gespräch erfahren, das ich vor ein paar Jahren belauscht hab!"
"Na ja – ein Grund dafür ist sicher, dass die Zusammenhänge immer noch nicht richtig geklärt sind", sagte Lupin nachdenklich. "Ich hab damals ein paar Mal mit Sirius darüber gesprochen. Dadurch ist mir einiges klarer geworden, aber längst nicht alles."
"Also Sirius hat Wurmschwanz hier in Godric's Hollow gestellt?", kam Harry immer noch ungläubig auf seine Frage zurück. "Der ist wirklich am nächsten Tag am Ort des – des Verbrechens erschienen?"
"Offensichtlich. Aber warum, das ist die Frage. Er musste doch wissen, dass Sirius ihn verdächtigen und jagen würde."
"Vielleicht – könnte es nicht sein, dass Pettigrew auf Voldemorts Befehl in Godric's Hollow war?", überlegte Harry.
"Zu diesem Schluss sind wir auch gekommen. Vielleicht wollte Voldemort ihn dabeihaben, für den Fall, dass sich Peters Angaben als falsch erwiesen hätten. Aber warum war er am nächsten Tag in Godric's Hollow? Wir haben lange darüber nachgedacht. Aber erst, als du Sirius dann damals erzähltest, dass Peter bei diesem Wiedererstehungsritual Voldemorts Umhang und Zauberstab hatte – da kam uns eine Idee. Möglicherweise waren es eben diese Gegenstände, die Peter damals noch aus dem Haus holen wollte."
Darüber musste Harry erst mal nachdenken.
"Aber war es nicht gefährlich, das erst am nächsten Tag zu tun? Ich meine, die Muggel hätten sie doch finden können, finden müssen! Die sind doch dann in das Haus gekommen, nachdem meine Eltern tot waren."
"Ein guter Einwand. Aber nimm mal an, dass Peter irgendwie beim oder im Haus auf Voldemort warten sollte – und dann ging die Sache für Voldemort so unerwartet aus. Peter wagte sich an den Ort des Geschehens – wahrscheinlich in Rattengestalt. Dort entdeckte er nur noch den Umhang und den Zauberstab seines Herrn und Meisters – er wollte sie an sich nehmen, wurde aber gestört, vermutlich durch Sirius' Eintreffen. Er muss die Sachen im Haus versteckt haben, um sie später zu holen. Als Sirius eintraf, hat er jedenfalls weder Umhang noch Zauberstab gesehen."
Auf ihrem Weg ins Dorf kamen sie nun an den ersten Häusern vorbei. Auf den Gartenmauern blühten in verschwenderischer Fülle kleine Rosen, und überall summten Hummeln in den dunkelblauen Büscheln des Lavendels.
"Stell dir vor, wie es in dieser Nacht zugegangen sein muss – ein friedliches kleines Dorf, in dem plötzlich ein Haus mehr oder weniger in die Luft fliegt! Es kann nicht lang gedauert haben, bis die Leute von allen Seiten herbeiströmten. Es ist eher ein Wunder, dass sowohl Sirius als auch Hagrid noch ungesehen kommen und gehen und dich mitnehmen konnten! Aber danach gab es sicher keine ruhige Sekunde mehr in dieser Straße und dem zerstörten Haus."
"Ja", murmelte Harry und dachte an seine durch das Fernsehen erworbenen Erfahrungen mit Polizeiarbeit. "Die Polizei wird alles auf den Kopf gestellt haben."
"Genau. Und vergiss nicht, dass es hier immer schon einen großen Anteil magische Bevölkerung gab. Die werden sich ihren eigenen Reim auf die Ereignisse gemacht haben. Und als die Nachricht von Voldemorts Niederlage dann offiziell war – also, ich denke, da wird es eine Menge Schaulustige gegeben haben. Peter konnte sich vielleicht unter die Menge mischen, aber unauffällig etwas aus dem Haus entfernen konnte er sicher nicht."
"Du meinst, er hat gewartet, bis sich die Wogen am nächsten Tag etwas geglättet hatten, und ist dann noch mal in das Haus, um –"
"Wir wissen es nicht und werden es auch wohl nie mehr genau erfahren", sagte Lupin düster. "Sirius sagte mir, er habe Peter noch in der Nacht überall gesucht. In seiner Wohnung war er ja schon gewesen, bevor er nach Godric's Hollow kam. Er ging davon aus, dass Peter geflohen war – die Frage war, wohin und in welcher Gestalt! Es war eine aussichtslose Sache, Peter hätte überall sein können. Also ist Sirius am nächsten Tag noch mal zum Tatort zurückgekommen, in der Hoffnung, hier irgendeinen Hinweis zu finden."
"Aber ihm muss doch klar gewesen sein, dass Dumbledore ihn für den Verräter halten würde, oder? Dass jetzt alle ihn suchen würden?"
"Ja, natürlich. Die einzigen, die wussten, dass James und Lily im letzten Moment Peter an seiner Stelle zu ihrem Geheimniswahrer gemacht hatten, waren tot. Ich glaube, Sirius war damals völlig außer sich. Er wusste, dass er verloren war. Und dann traf er ausgerechnet hier in Godric's Hollow auf Peter, auf offener Straße – als wäre nichts geschehen! Peter hat dieses eine Mal in seinem Leben die Flucht nach vorn angetreten und Sirius als Verräter gebrandmarkt, so laut, dass alle es hören konnten."
Harry mochte sich gar nicht vorstellen, in welcher Verfassung sein Pate damals gewesen sein musste. Kein Wunder, dass er nach Pettigrews finalem Schachzug nur noch zu verrücktem Gelächter imstande gewesen war.
"Aber was hat Pettigrew dann mit dem Umhang und dem Zauberstab gemacht? Oder meinst du, er ist irgendwie als Ratte damit verschwunden?"
"Das ist eine weitere interessante Frage. Wenn er die Sachen als Ratte hätte mitnehmen können, hätte er das ja auch schon nachts tun können", sagte Lupin nachdenklich. "Ich denke eher, dass er sie versteckt hat, irgendwo hier in der Nähe, wo er sie später unauffällig abholen konnte."
Sie waren nun im Dorf und gingen auf das Zentrum zu, in dem sich außer einem Supermarkt noch Kirche und Apotheke befanden.
"Ich möchte noch in diese Bibliothek. Vielleicht haben die ja irgendwelche – äh, Archive oder so –", sagte Harry vage, als sie an der Kirche vorbei kamen. "Ich meine, Hermione würde auf jeden Fall nach so was fragen."
oooOOOooo
Die örtliche Bibliothek war, wie der alte Mann gesagt hatte, im Pfarrhaus neben der Kirche untergebracht, und sie hatten Glück: Freitags war von neun Uhr dreißig bis zwölf Uhr geöffnet, und jetzt war es gerade zwanzig vor zwölf.
Sie betraten einen kleinen, mit Bücherregalen zugestellten Saal und gingen zögernd über die knarrenden Holzdielen zu einem Schreibtisch, an dem eine geschäftstüchtig aussehende Dame am Ende des mittleren Alters saß.
Eine gute halbe Minute lang studierte sie weiter die vor ihr liegenden Ausleihkarten, bevor sie den Kopf hob und die beiden Neuankömmlinge mit einem strengen Blick über die goldgefasste Halbbrille hinweg musterte, die auf ihrer Nasenspitze saß. Fliederfarbene Seidenbluse mit Rüschenborte am Kragen, die Brille an einer langen Kette befestigt, ein Gesicht, dem das Bewusstsein, letztlich doch immer Recht zu behalten, geradezu aufgeprägt war – sie war die typische kleinstädtische Pfarreibibliothekarin.
"Jaa – was kann ich für Sie tun?", fragte sie in einem Ton, der zu verstehen gab, dass es, was immer es auch sein mochte, eine intellektuelle Unterforderung für sie darstellen würde.
Dann glitt ihr Blick prüfend über die beiden Besucher. Offenbar neue Feriengäste am Ort. Ein Mann und ein Junge, eindeutig nicht Vater und Sohn – und wie merkwürdig der Mann aussah in seiner schlecht sitzenden, in verschiedenen Grautönen zusammengestellten Kleidung –
"Haben Sie eine Abteilung – äh – Heimatkunde oder so etwas ähnliches?", fragte Harry stammelnd.
Das hier wäre eindeutig mehr Hermiones Sache gewesen.
Wieder so ein prüfender Blick über den Brillenrand.
"Sie interessieren sich für die Geschichte des Ortes und lokale Sehenswürdigkeiten? Aus welcher Zeit?"
"Äh –", begann Harry wieder.
"Wir haben hier eine ganze Reihe von Büchern zur Geschichte der Umgebung. Und ein kleines Bändchen zur Legende des Ortes, diesen Kram über Godric Griffens und seine Braut, den hat der letzte Pfarrer gesammelt und dann veröffentlicht."
Ihr missbilligender Ton ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, was sie von Geschichten dieser Art hielt.
"Godric Griffens?", fragte Harry überrascht. "Hieß der nicht Gryffindor?"
Ein scharfer Blick.
"Kennen Sie das Buch?"
"Nein – äh, ich habe von ihm gehört, von Godric, meine ich."
"Sie haben wahrscheinlich eine von Patricias Führungen mitgemacht", sagte sie abfällig. "Patricia bauscht diese Geschichtchen gerne auf, weil es hier ja nicht allzu viel zu sehen gibt."
"Nein – aber das klingt sehr interessant", sagte Harry. "Wo kann ich denn etwas darüber nachlesen?"
"Ich sagte Ihnen ja bereits, Pfarrer Gwynnith hat ein Buch darüber geschrieben. Erzählt diese alte Schauermär von dem Alchimisten Godric Griffens, der hier um die Wende des ersten Jahrtausends Zuflucht gesucht haben soll. War mit der Tochter seines Freundes oder Rivalen, das ist nicht ganz klar, durchgebrannt und wurde nun von ihm verfolgt. Godric soll mit dieser Frau in der Höhle oben in den Klippen gewohnt haben. Selena hieß sie, glaube ich. Bis ihr Vater sie dann doch eines Tages fand. Er brachte sie dazu, sich von den Klippen zu stürzen, Godric konnte sie nicht retten und versuchte dann, seinen ungnädigen Schwiegervater zu erschlagen. Wie das ausgegangen ist, ist unbekannt."
Lupin und Harry tauschten einen Blick.
"Völliger Unsinn, wenn Sie mich fragen. Es gibt nichts, was diese Legende in irgendeiner Weise belegt. Und wer würde sich in dieser Höhle da oben auch verstecken – die ist für jedermann leicht zugänglich. Übrigens gibt es auch eine überlieferte Geschichte, wonach sowohl Godric als auch sein Schwiegervater große Hexenmeister gewesen sein sollen, die sich dann ein spektakuläres Zaubererduell geliefert haben. Das ist vielleicht mehr nach Ihrem Geschmack", fügte sie hinzu, und ihren Ton konnte man nur als naserümpfend bezeichnen. "Wir haben hier am Ort einen ganzen Club, der sich mit Hexerei befasst. Zieht immer wieder Spinner von außerhalb an. Nun ja, jedem das Seine."
"Das war eine interessante Geschichte", meldete sich nun Lupin mit seiner besten Professorenstimme zu Wort. "Aber um ehrlich zu sein, ging es uns um ein Kapitel aus der jüngeren Geschichte des Ortes. Und dafür würden wir gern Einblick in ein Archiv der hiesigen Tageszeitungen nehmen, wenn Sie so etwas führen."
Das wirkte. Ihr wurde klar, dass sie sich mit ihrer Einschätzung geirrt hatte. Der Mann war wahrscheinlich ein Lehrer oder ein College-Professor, der hier recherchierte, und der Junge einer seiner Studenten. Nicht nur äußerlich waren die Grenzen zu den Spinnern manchmal recht verschwommen –
"Wir haben hier die Jahrgänge der Village News von 1958 an auf Mikrofiche", sagte sie ein wenig spitz. "Das Gerät finden Sie hinten im Leseraum. Wenn Sie mir sagen, für welchen Jahrgang Sie sich interessieren, werde ich Ihnen die entsprechenden Mikrofiches holen."
Harry und Lupin tauschten einen weiteren Blick, in dem sich Alarmiertheit und Hilflosigkeit kreuzten. Die Bibliothekarin missverstand ihr Zögern.
"Leider sind wir noch nicht computerisiert", sagte sie, und es war klar, an wessen Einspruch ein solches Vorhaben in jedem Falle gescheitert wäre, "aber wenn Ihnen der Umgang mit dem Mikrofiche-Gerät nicht mehr vertraut ist, kann ich Ihnen behilflich sein. Worum geht es denn?"
"Wir würden gern die Ausgaben von Anfang November des Jahres 1981 sehen", sagte Lupin.
Mit einem Schlag wich die überhebliche Distanziertheit aus dem Gesicht der Bibliothekarin und machte echter Betroffenheit Platz.
"Oh – sind Sie Angehörige? Ich meine – haben Sie auch jemanden hier verloren, damals?"
"Äh – ja", murmelte Harry.
"Das war eine schreckliche Sache", sagte sie gedämpft. "Meine Schwester und ihre Familie gehörten zu den Opfern. Die – die ganze Straße – war einfach – zerstört."
Ihre Stimme zitterte, und sie stand ruckartig auf.
"Ich hole Ihnen die Ausgaben. Wir haben sie auch noch als gebundene Originale."
So kam es, dass Harry und Lupin zehn Minuten später an einem Lesetisch über drei in schwarzes Kunstleder gebundene Folianten gebeugt saßen und nur leicht vergilbte Zeitungsseiten in durchsichtigen Einsteckhüllen studierten.
Es gab nicht viel. Aber das hatten sie auch nicht erwartet, waren aber nach dem Gespräch mit dem Friedhofswächter gespannt darauf, wie die Muggel es darstellten.
Und so lasen sie in der Ausgabe vom 2. November 1981 über die Katastrophe, die das beschauliche Leben in Godric's Hollow so jäh unterbrochen hatte. Die Polizei vermutete, dass eine defekte Gasleitung im Haus der Potters zunächst die beiden Bewohner getötet und dann zur Explosion des Hauses geführt hatte. Von einem Baby war nirgends die Rede.
Am Vormittag des nächsten Tages hatte das Unglück dann noch einmal zugeschlagen. Vielleicht dieselbe defekte Gasleitung hatte die Straße in einer gewaltigen Explosion aufgerissen und einen Krater und zwölf Tote hinterlassen.
Harry starrte auf die kleinen Schwarzweißfotos, auf denen nicht viel zu erkennen war. Die zerstörte Straße sah man, im Vordergrund das Gesicht einer Frau, im Moment des Entsetzens mit zum Schrei geöffnetem Mund und weit aufgerissenen Augen erstarrt. Rauch und Trümmer überall. Und da – da war Sirius! Winzig, mitten im Bild. Die Hände zu Fäusten geballt, die Arme aber ohnmächtig nach unten hängend. Verwirrung und Wildheit gleichermaßen in seinen Gesichtszügen, selbst hier noch zu erkennen. Minuten später mussten die Beamten der Magischen Polizeibrigade eingetroffen sein, die ihn dann nach Azkaban abgeführt hatten.
"Kein Wort über Sirius und Pettigrew", murmelte Harry. "Dabei waren es doch Muggel, die berichtet haben, was die beiden gesagt und gemacht haben."
"Ja – gegenüber den Magischen Brigaden, und bevor sie gedächtnisverändert wurden", erwiderte Lupin. "Was erhoffst du dir eigentlich von diesen Zeitungen?"
"Ich weiß es auch nicht so genau. Ich wollte einfach mal sehen, was damals darüber geschrieben wurde, bei den Muggeln, meine ich."
"Es muss eine sehr schwierige Aufgabe gewesen sein, die Gedächtnisse all dieser Leute zu verändern", murmelte Lupin.
Vor ihm lag eine Seite mit einem großen Foto von aufgebahrten Särgen, alle nebeneinander. Zwei davon waren wahrscheinlich die seiner Eltern gewesen, wurde Harry jäh bewusst.
Er dachte an die Gräberreihe draußen an der Steilküste. Wie seltsam, dass so viele Muggel von jenem Ereignis betroffen gewesen waren – noch heute betroffen waren – das seit Jahren eine so persönliche Bedeutung für ihn hatte. Und keiner von ihnen wusste wirklich, was geschehen war. Mit Ausnahme der Leute vielleicht, die die Bibliothekarin für Mitglieder eines Club für Hexerei hielt.
"Wir schließen jetzt", sagte diese nun. Sie war zu ihnen herüber gekommen und hatte offenbar einen Großteil ihrer forschen Haltung wiedergefunden. "Sie können am Montag um neun Uhr dreißig weiter lesen, ich werde Ihnen die Bände gerne zurücklegen."
"Vielen Dank", sagte Harry. "Aber ich glaube, wir haben alles gefunden, was wir wissen wollten."
Sie hob die Augenbrauen voller Zweifel.
"In so kurzer Zeit? Nun ja. Heute muss ja alles schnell gehen. Wenn Sie meinen. Aber ich muss jetzt schließen, wir haben schon zehn nach zwölf."
oooOOOooo
Als sie hinaus in die Mittagssonne traten, sagte Lupin: "Du hast mich heute morgen um mein Frühstück gebracht. Lass uns ins Wizard and Wand gehen und etwas essen!"
"Wizard and Wand?"
"Das ist ein alter Pub am Marktplatz, gleich um die Ecke. Falls es den noch gibt."
"Wird er vom Club der Spinner betrieben?"
"Wegen des Namens, meinst du? Nein, der Besitzer war damals ein Muggel. Aber das ist ein Ort mit magischer Geschichte, Harry. Nicht mal die Muggel können sich dem ganz entziehen, das hast du ja gehört."
"Was ist denn dran an der Geschichte über Godric?", fragte Harry, während sie über das abgeschliffene Kopfsteinpflaster gingen.
"In dieser Form hab ich sie heute auch das erste Mal gehört. Bei uns erzählt man sich nur, dass Godric hier im Alter eine Weile gewohnt haben soll. Als eine Art Einsiedler. Was wir da eben aufgetischt bekommen haben, war ja ganz schön fantastisch. Gibt einem zu denken."
Das fand Harry auch.
Als sie wieder auf die Hauptstraße abbogen, rannte ihnen eine Horde von fünf, sechs kreischenden Kindern entgegen. Sie jagten lachend und johlend die Straße entlang, von einer wütenden Frau in weißer Schürze verfolgt, die einen Besen hinter ihnen her schüttelte.
"Lasst euch bloß nicht noch mal hier blicken!", schrie sie erbost. "So eine Frechheit!"
Als sie Lupin und Harry sah, gab sie die Jagd auf, wandte sich um und ging vor sich hin schimpfend die Straße entlang zurück. Sie verschwand in einem behäbig aussehenden, altersdunklen Haus, das halb von einer großen Weide verdeckt wurde.
"Da ist es!", sagte Lupin und wies auf das Haus. "Wizard and Wand."
Jetzt sah auch Harry das Schild und verspürte plötzlich Hunger.
"Ich hoffe, du hast Muggelgeld bei dir?!", fragte Lupin alarmiert.
"Ja, klar."
"Ich hab mein letztes Geld für die Fahrkarte ausgegeben", sagte Lupin zerknirscht. "Bin's einfach nicht gewohnt, so zu reisen."
"Tut mir leid, dass ich dir das aufgeschwatzt hab. Ich lad dich zum Essen ein!", grinste Harry.
Als sie in den Pub hineingingen, sahen sie zwei verwüstete Blumenkübel, die die Tür einrahmten.
Drinnen war es dämmrig und angenehm kühl. Der Duft nach Fish and Chips war verlockend. An der Bar spülte die Frau, der sie eben auf der Straße begegnet waren, mit heftigen Bewegungen Gläser, während sie sich mit einem Mann, eindeutig dem Wirt, unterhielt.
"Diese verdammten Gören! Haben mir sämtliche Geranien rausgerissen. Jedes Jahr derselbe Ärger!"
"Nu reg dich nicht mehr auf, Lizzie! Du hast noch jede Menge von dem Grünzeug. Du kannst die Kästen wieder füllen."
"Ach, du solltest da endlich mal eingreifen! Die machen das doch aus reiner Gemeinheit. Ich will dich hören, wenn die beim nächsten Mal eine Scheibe einschlagen!"
Der Wirt wandte sich seinen eben herein gekommenen Gästen zu.
"Dürfen Sie ihr nich' übel nehmen", sagte er, während er zwei Bier für sie eingoss. "Die Blumen sind ihr ein und alles. Und die Kinder, na ja. Stimmt schon. Freche kleine Kröten. Aber sie ham ja sonst nich' so viel von ihrem Leben."
Harry wusste nicht, was seine Aufmerksamkeit geweckt hatte und wann. Aber plötzlich fühlte er in seinem Kopf etwas wie einen Sog, der alle Gedanken in eine einzige Richtung mit sich riss. Noch wusste er nicht, wo sie ankommen würden, aber es war unausweichlich und würde in den nächsten Minuten klar werden, er fühlte es mit wild schlagendem Herzen –
"Die machen hier jedes Jahr Sommerurlaub. So ein Kinderheim oder so was."
"Ein Waisenhaus", meldete sich Lizzie von der Bar, noch immer verstimmt. "Kommen extra aus London. Ich frag mich, woher die das Geld haben, diese Rotzgören auch noch in die Sommerfrische zu schicken. Sollten sich lieber ein paar ordentliche Erzieher leisten."
"Hör schon auf zu grummeln, Mädchen. Ich sag immer –"
Harry war so heftig aufgestanden, dass sein Stuhl beinahe hintenüber gefallen wäre. Lupin sah ihn erschreckt an. Harry war weiß bis in die Lippen geworden.
"Ein Waisenhaus? Aus London?", fragte er atemlos.
"Ja. Die kommen schon seit Ewigkeiten her, ist so eine Tradition geworden, schätze ich. Wohnen draußen bei den Wiltshires und den Carmichaels, immer so zehn, fünfzehn Kinder."
"Früher waren's sogar noch mehr, da hatten die ein eigenes Haus am Rande des Dorfes", warf Lizzie ein. "Mussten sie aber vor Jahren schließen."
Und Harry begriff. Seine Gedanken wurden aus dem Sog hinausgeschleudert und mündeten in eine Erkenntnis, die schon eine Weile irgendwo in ihm gelauert hatte, seit er die Steilküste mit ihren wilden Zerklüftungen gesehen hatte, vielleicht schon seit dem Moment, in dem er die Salzluft geschmeckt hatte, nachdem sie appariert waren.
Godric's Hollow – wieso hatte Dumbledore es ihm nicht gesagt? Er war schon einmal ganz in der Nähe gewesen, es war noch keine fünf Wochen her. Die Höhle in der Steilküste – wenn auch nicht die, die den Touristen gezeigt wurde. Tom Riddles Höhle. Godric's Hollow.
Er konnte es nicht fassen.
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass ihn die anderen anstarrten.
"Entschuldigung. Mir ist nur gerade was eingefallen."
Er setzte sich wieder hin und kam sich vor wie ein Idiot. Der Wirt verschwand, um sich um das Essen zu kümmern. Lupin sah Harry immer noch an, fragte aber nichts, und Harry war ihm dankbar dafür.
Als das Essen kam, wandte sich Harry an den Wirt.
"Wie lange kommen die Kinder schon her?", fragte er.
"Oh – bestimmt schon ewig – also, ich hab als Kind schon mit einigen von den Jungs gespielt."
"Einige von denen, die als Kinder hier waren, haben sich später auch hier niedergelassen", meldete sich Lizzie von der Theke her.
"Ja genau, Fredericks drüben zum Beispiel, der vom Supermarkt."
"Und der alte Bishop, der kam doch auch von da, Sean, oder?"
Harry wäre beinahe wieder aufgesprungen, konnte sich aber im letzten Moment bremsen.
"Haben Sie Bishop gesagt?"
"Ja. Haben Sie den etwa gekannt?", fragte der Wirt überrascht. "Jetzt ist er jedenfalls schon seit ein paar Jahren tot. War zum Schluss ziemlich verrückt, ist immer in den Klippen rumgestiegen. Und irgendwann dann wohl abgestürzt."
"Seine Leiche wurde nicht gefunden", fügte seine Frau düster hinzu.
Harry und Lupin beendeten ihr Essen schweigend.
In Harrys Kopf rasten die Gedanken. Was sollte das alles? Was bedeutete es, dass der Ort, an dem seine Eltern durch Voldemort den Tod gefunden hatten, derselbe Ort war, an dem der junge Tom Riddle als Kind seine Sommerurlaube verbracht hatte? Bedeutete es überhaupt etwas?
Abgesehen davon, dass Riddle die richtige Höhle gefunden hatte.
Er wünschte sich jetzt sehnlichst, er hätte Ron und Hermione mitkommen lassen. Mit ihnen hätte er reden können. Hermione hätte sicher schon ein paar Erklärungen gefunden. So musste das warten, mindestens bis morgen.
Einen schaudernden Moment lang fragte er sich, ob es irgendeinen Zweck haben würde, nach der Höhle zu suchen. Seine Finger schlossen sich um das Medaillon, das Dumbledore und er aus jener Höhle geholt hatten. Das gefälschte Horcrux, für das Dumbledore letztlich gestorben war und das Harry seitdem immer bei sich trug. Er entschied, dass es zu diesem Zeitpunkt keinen Sinn haben würde, noch einmal dorthin zu gehen – wenn es ihm überhaupt gelänge, die Höhle wieder zu finden. Diese Erkenntnis erleichterte ihn sehr. Er konnte im Moment nicht einmal den Gedanken ertragen, diesen Ort jemals wieder sehen zu müssen.
Und heute würde er sich noch einer anderen Sache stellen müssen.
Eine halbe Stunde später machten sie sich auf, um der Lion's Lane Nummer sieben einen Besuch abzustatten.
oooOOOooo
Die Lion's Lane war typisch für die alten Straßen dieses Dorfes: ein– und zweistöckige Häuser aus grauem Stein, zum Teil mit moosbewachsenen Ziegeldächern, liebevoll gepflegte Vorgärten mit einer Unmenge von Kletterrosen, Weinreben und Dahlien in allen Farben.
Nummer sieben bildete da auf den ersten Blick nur insofern eine Ausnahme, als das Grundstück von einer hohen Mauer aus aufeinander geschichteten Steinen umgeben war. Überall aus den Fugen wuchsen Grasbüschel und wilde Blumen.
Vor dem Eisentor blieben die beiden stehen. Es gab kein Schloss.
Als Lupin es mit Alohomora! versuchte, geschah gar nichts.
"Versuch du's!", sagte er. "Wenn Dumbledore hier Schutzzauber errichtet hat, dann solltest wenigstens du als rechtmäßiger Erbe hineinkommen."
Also zog Harry den Zauberstab und murmelte wenig überzeugt: "Alohomora!" Zu seiner Überraschung sprang das Tor geräuschlos auf.
Als sie hindurchgegangen waren, konnten sie die Zerstörung nur allzu deutlich sehen. Im ersten Stock fehlten einige Fensterscheiben. Über der Haustür hing ein Wappenschild, das einen Löwen und ein Blatt zeigte, zwischen denen ein Goldener Schnatz schwebte.
"Daran erinnere ich mich gut. Das ist das Wappen der Pepperleafs", sagte Lupin. "Auf James' Festumhang war es in Gold eingestickt, und er fand das immer tödlich peinlich."
Sie gingen durch den verwilderten Garten, in dem noch eine alte Schaukel und eine Gartenbank standen.
"Ich würde damit rechnen, dass Dumbledore da drin einige Dinge für dich hinterlassen hat", sagte Lupin leise, als sie vor der Haustür standen.
Harrys Herz schlug wie wild, seit sie das Grundstück betreten hatten. Das hier war ganz anders als der Friedhof.
"Und vielleicht", fuhr Lupin fort, "vielleicht spricht auch etwas von deinen Eltern zu dir. Ich werde hier draußen im Garten auf dich warten."
Harry öffnete die Haustür, die unverschlossen war.
Im Flur, der ihm nach dem hellen Licht draußen dämmrig und kühl erschien, hing ein großes Bild an der Wand. Das Licht, das durch das staubblinde Fensterchen oben am Treppenabsatz fiel, war zu schwach, um Genaueres erkennen zu lassen. Er sah eine Bewegung darin, sagte leise: "Lumos!", und sein Zauberstab erhellte ein goldgerahmtes Porträt. Ein weißhaariger, großer Mann und eine sehr schlanke junge Frau in einem dunkelroten Kleid, die sich an ihn schmiegte. Beide lächelten. Auf den ersten Blick dachte er, er hätte Vater und Tochter vor sich. Als er die Frau genauer betrachtete, traf ihn der Anblick ihres schmalen, munteren Gesichts, das von schlecht frisiertem, tiefschwarzem Strubbelhaar umgeben war, wie ein Schlag. Kein Zweifel, dies war seine Großmutter, die Ähnlichkeit mit James war frappierend. Um ihren Hals hing an einer dünnen goldenen Kette ein winziger Goldener Schnatz. Er hatte die Form eines stilisierten Löwenkopfes. Artemis Pepperleaf, die Beinahe-Profi-Jägerin, lächelte ihrem Enkel aus dunklen Augen zu.
Harry ging langsam weiter über die knarrenden Dielen und betrat das Wohnzimmer. Hier schien nichts zerstört zu sein, nur ein paar Bücher waren aus dem Regal gefallen.
Er öffnete die andere Tür des Zimmers und spähte in die Küche.
Zersplittertes Porzellan und Glas übersäten den Küchenboden. Harry verzichtete darauf, die Küche zu betreten, nachdem er gesehen hatte, wie sich das Licht in den Splittern von Glas und Porzellan brach, von denen der Boden übersät war. Leise schloss er die Tür wieder und sah sich noch einmal im Wohnzimmer um. Hatte Dumbledore, der dieses Haus doch wohl für ihn so bewahrt hatte, erwartet, dass er etwas Bestimmtes suchen würde?
Sein Blick fiel schließlich auf eine abgegriffene, lederbezogene Kiste unter dem Regal. Er erkannte darin einen Quidditch-Koffer und zog ihn hervor. Richtig, als er die Verschlüsse löste und den Deckel zurückklappte, lagen vier Bälle vor ihm: zwei schwarze Klatscher, ein roter Quaffel und ein Goldener Schnatz. Er griff nach dem kleinsten und sah, dass ihm die Buchstaben L.E. aufgeprägt waren. Der Schnatz, der so lange in seinem Gefängnis geschlafen hatte, zuckte ein wenig mit den winzigen Flügelchen. Harry strich sacht über die Initialen seiner Mutter, die in verblasstem Grün schimmerten.
Und plötzlich war es, als könne er durch den Schnatz wie durch ein Guckloch in etwas hineinsehen, das ihm wie eine Szene aus einem alten Film erschien.
Da war seine Mutter, die ein Kleid aus elfenbeinfarbener Seide trug; das lange dunkelrote Haar fiel ungeflochten über ihren Rücken, nur in ein hauchfeines Netz gelegt, in dem hier und da smaragdgrüne Splitter funkelten. An ihren Ohren sah er dieselben filigranen Silbergehänge, die er schon von dem Foto von Petunias Hochzeit kannte.
Harry fand seine Mutter wunderschön.
Jetzt neigte sich sein Vater ins Bild, in einen Festumhang aus dunkelblauem Samt gekleidet, und hielt ihr etwas in seiner geschlossenen Faust vor die Augen.
"Sieh mal, aber schnell!", flüsterte er und öffnete die Faust ein wenig. Ein goldener Schnatz flatterte verzweifelt mit den Flügelchen, und James schloss die Hand schnell wieder darum. Aber Harry hatte die Buchstaben "L.E." darauf erkennen können. Lily lachte.
"Lass ihn bloß nicht frei! Er landet sicher in der Torte!"
"Ich lass ihn nie mehr frei. Jetzt, wo ich ihn endlich gefangen habe", murmelte James dicht an ihrem Ohr.
Und damit verlosch das Bild, und der Schnatz in seiner Hand war wieder nur ein alter Schnatz. Harry schloss die Finger um ihn wie sein Vater und wandte sich dann der Treppe zu.
Ihm wurde bewusst, dass die Ruine des Obergeschosses wie ein Gewicht auf ihm lastete. Dort musste es passiert sein, dort, wo das Schlafzimmer seiner Eltern gewesen war. Zögernd und vorsichtig tastete er sich Stufe für Stufe der wackligen Holztreppe hinauf.
Der Dachboden war vollständig zerstört. Durch einen großen Einbruch des Bodens waren Trümmer des Daches bis ins Zimmer im Stockwerk darunter gefallen. Dumbledore musste das Haus mit einem sehr dauerhaften Zauber versehen haben, denn obwohl das Tageslicht durch die eingebrochene Zimmerdecke hereinfiel, sah das Schlafzimmer seiner Eltern so aus, als sei das Unglück eben erst darüber gekommen. Weder Regen, noch Tiere, noch allgemeiner Verfall hatten diesem Raum in den vergangenen sechzehn Jahren weiteren Schaden zufügen können. Es war gespenstisch. Ziegel und Mörtelstücke lagen auf den staubigen Holzdielen, auf dem Bett, dem Kinderbettchen. Ein Nachttischchen lag umgeworfen vor Harry.
Der Raum war von einer stummen Spannung aufgeladen.
Harry bückte sich nach etwas, das wohl von dem Nachttisch unter das Bett gerollt war. Es war ein Foto in einem kleinen Behälter aus rauchigem Glas. Er sah seine Mutter, die ihn selbst als kleines Baby herumwirbelte, offenbar im Garten dieses Hauses. Es war ein sehr glückliches Bild.
Ob ihn der Schnatz noch mehr sehen lassen konnte? Er hielt ihn auf einer Handfläche und strich sanft über die zerknitterten Flügelchen. Und tatsächlich, noch einmal war es so, als öffne sich ein Loch in der Wirklichkeit – oder vielleicht in der Zeit – und sauge ihn hinein in einen anderen Tag, eine andere Stunde, in ein Geschehen, das hier in diesem Raum begann –
oooOooo
Der Kleine war endlich eingeschlafen. Lily legte ihn vorsichtig, um ihn nicht wieder zu wecken, in sein Bettchen und deckte ihn zu. Dann ließ sie sich seufzend auf den Rand ihres eigenen Bettes sinken, das keinen Meter von dem Kinderbett entfernt stand. Es war dunkel, nur der Kürbis auf dem Regalbord schickte sein orange leuchtendes Grinsen durch das Zimmer.
Er war witzig gemeint, aber dem beobachtenden Harry verursachte er eine Gänsehaut. Das schwache Licht reichte aus, dass Harry auf dem Kissen neben Lily den dunklen Kopf seines Vaters ausmachen konnte.
Seine Eltern begannen ein Gespräch im Flüsterton.
"Ich frage mich immer wieder, ob es nicht doch ein Fehler war, Peter zum Geheimniswahrer zu machen", sagte Lily.
"Darüber haben wir jetzt schon so oft gesprochen! Du hast Sirius doch gehört. Und ich stimme ihm zu, Voldemort wird an ein Würstchen wie Peter keinen zweiten Gedanken verschwenden."
"Aber Dumbledore wollte die Sache in zuverlässigen Händen wissen. Er hat sich selbst angeboten, James. Er war nicht einmal mit Sirius wirklich einverstanden, ist dir das nicht aufgefallen?"
"Oh, Lily bitte! Nicht schon wieder!" James setzte sich auf, diesmal war sein Haar wirklich verstrubbelt. "Dumbledore hält ihn eben für zu impulsiv…"
"Und war er in dieser Sache nicht auch genau das – impulsiv?", fragte Lily leise.
"Du bist voreingenommen gegenüber Sirius. Aber auch wenn er mit Frauen ein wenig leichtsinnig umspringt, kann er ein zuverlässiger Freund sein."
"Psst – du weckst Harry noch auf! Ich meine ja nur, Dumbledore schien mir wirklich besorgt zu sein."
"Und was glaubst du, was ich bin? Meinst du, ich verstecke mich zum Spaß in diesem Kaff? Ich bin nicht Auror geworden, um mich zu verkriechen! Und jetzt sitzen wir hier fest, wer weiß wie lange noch. Ich frage mich, wie sich Dumbledore das vorstellt. Sollen wir uns den Rest unseres Lebens vor Voldemort verstecken?"
Ärgerlich schlug er nach einer winzigen schwarzen Fledermaus mit leuchtenden grünen Augen, die durch das Zimmer schwirrte. Ein letztes Überbleibsel der Halloween-Scherztüte, die sie vorhin für Harry geöffnet hatten.
Lily seufzte und legte sich zurück, die Arme unter dem Kopf verschränkt, mit weit offenen Augen ins Dunkel starrend. Einige Minuten war es still, so still, dass Harry das Baby in seinem Bett leise im Schlaf schmatzen hörte.
Das Baby, das er selbst gewesen war.
Dann beugte sich James über seine Frau und flüsterte: "Nicht böse sein, Liebes. Mir fällt hier einfach die Decke auf den Kopf. Ich liebe euch. Ich liebe dich, Lily. Ich liebe dich seit dem ersten Tag, als ich dich im Hogwarts-Express neben diesem kleinen Schleimer gesehen habe."
Er küsste sie.
"Ich hole mir noch was zu trinken", sagte sie. "Willst du auch noch was?"
"Ja, bitte! Bring am besten gleich die ganze Wasserflasche mit. Die Kartoffeln waren doch wieder mal ziemlich versalzen, vorhin –"
Sie schlug mit ihrem Kissen nach ihm und ging dann auf nackten Füßen aus dem Zimmer ins dunkle Treppenhaus.
Harry wünschte, das Baby würde brüllen, um sie zurückzuhalten. Sie sah so verletzlich aus in ihrem T-Shirt. Und spürte sie denn nicht das Unheil, das sich schon um diesen kleinen Raum zusammengezogen hatte?
Aber unerbittlich wurde sein Blick von ihrer Gestalt mitgezogen – die dunkle Treppe hinunter bis in die Küche, in die durch das Fenster ein Streif Mondlicht fiel.
Harry sah ihn zuerst. Er sah das rote Glimmen in der dunkelsten Ecke der Küche, als Lily sich die Wasserflasche vom Tisch schnappte. Er sah, wie sich die Nacht zu einem Umriss verdichtete, der sich aus dem umgebenden Dunkel löste.
"So treffen wir uns also wieder, Lily", sagte Voldemort gelassen.
Lily schrie gellend auf. Sie fuhr herum und sah in das ehemals gut aussehende, nun seltsam mutierte, beinahe reptilienhafte Gesicht der großen Gestalt, die an ihrem Küchenschrank lehnte.
"Ich fürchte, du hast die falschen Entscheidungen getroffen, Lily. Immer wieder die falschen Entscheidungen. Und jetzt musst du die Konsequenzen tragen."
Lily wollte nach einem Zauberstab tasten, aber der lag oben neben ihrem Bett.
"Lass das doch. Wir wissen beide, dass es nichts helfen wird."
Laute Schritte auf der Treppe, dann stand James im Zimmer, den Zauberstab gezückt.
"Was ist hier los? Lily, warum –"
Er brach ab, als er die rot glimmenden Augen vor sich im Dunkel der Küche schweben sah. Im selben Moment flog auch sein Zauberstab in einem sanften Bogen durch die Luft und landete in Voldemorts Hand.
"Lily, nimm Harry und lauf! Er ist es!", schrie James überflüssigerweise und wollte Lily aus dem Zimmer drängen. "Schnell fort, ich halte ihn auf!" Aber die Tür schlug krachend zu.
Einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle er sich auf seinen Gegner stürzen, aber Lily hielt ihn zurück. Da blieb er vor ihr stehen, als hätte er sie so schützen können.
"Oh, und da ist ja auch James. Unser bester Mann von Gryffindor. Klug, mutig, und genau im richtigen Maße wild, um nicht ganz wie ein gezähmtes Haustier zu wirken." Voldemort lachte verächtlich. "Lass dir noch eins sagen, James. Ein Mann, der niemals gezweifelt hat, der niemals zweifeln musste, der hat auch nie wirklich Mut beweisen müssen. Und jetzt ist es dazu leider zu spät. Du darfst aber gern als Held sterben, James."
Und in eben dem Moment, in dem James sich doch noch in den Kampf stürzen wollte, und sei es mit bloßen Fäusten, zuckte ein grüner Strahl von Voldemorts Zauberstab und traf ihn genau in die Brust.
Lily schrie. Sie versuchte, den zusammensackenden Körper ihres Mannes zu halten, musste aber nachgeben und ließ ihn langsam zu Boden gleiten.
"Ich nehme an, du weißt, warum ich hier bin, Lily", sagte Voldemort kühl. "Gib mir den Jungen, dann muss dir nichts geschehen."
"Nein, nein, nein!", schrie sie außer sich. "Du Ungeheuer!"
Und plötzlich sprang sie auf, entkam durch die Küchentür und schien damit sogar Voldemort zu überraschen. In atemloser Panik raste sie die Treppe hinauf, stolperte, verlor beinahe das Gleichgewicht, fing sich eben noch und schaffte es, ins Schlafzimmer zu kommen, bevor Voldemort es erreichte.
Der Zauberstab lag auf dem Nachttisch. Aber Lily riss das Baby aus dem Bettchen und versuchte, zum Fenster zu kommen.
"Bleib stehen", sagte Voldmort kalt. "Lass den Unsinn. Du solltest wissen, wann du aufgeben musst. Gib ihn mir."
"Nicht Harry, nicht Harry, bitte nicht Harry! Ich tu alles –"
Harry, der zuschauende, beinahe erwachsene Harry, fragte sich inmitten des namenlosen Entsetzens, das ihn gepackt hielt, warum Voldemort nicht einfach beide tötete. Stattdessen versuchte er, Lily das Kind zu entreißen, aber sie wehrte sich wie ein wildes Tier.
"Geh zur Seite, du dummes Mädchen – geh weg jetzt –"
Aber Lily presste sich in die Zimmerecke, schützte das kläglich schreiende Baby mit ihrem Körper.
"Nicht Harry, bitte nicht, nimm mich, töte mich an seiner Stelle –"
Und Harry sah, wie er den Zauberstab ein weiteres Mal hob und den grünen Blitz auf seine Mutter herabjagen ließ.
"Nicht Harry! Bitte – verschone ihn – verschone ihn –"
Voldemort lachte schrill, als Lily zusammensank, das Kind noch im Tod umklammernd.
"Nun sind wir unter uns, nicht wahr?", wandte er sich mit schauriger Belustigung an das weinende Baby, das daraufhin so abrupt verstummte, als hätte er es mit einem Schweigezauber belegt. Voldemort betrachtete seinen winzigen Widersacher einen Augenblick lang.
"Sie hätte nicht sterben müssen, weißt du", sagte er. "Auch die letzte Entscheidung hat sie falsch getroffen. Aber jetzt zu dir."
Dann geschahen die Dinge so schnell, dass Harrys Verstand kaum folgen konnte.
Voldemort hob den Zauberstab und sprach mit schneidender Stimme den tödlichen Fluch aus. Zum dritten Mal in dieser Nacht zerschnitt der grüne Lichtstrahl die Dunkelheit. Der Blitz stieß auf das Baby herab, das immer noch im Arm seiner Mutter festgehalten wurde. Harry sah, wie der Blitz von ihm abprallte und auf Voldemort zurückfiel. Er sah die Überraschung in Voldemorts Gesicht in dem Sekundenbruchteil, bevor ihn der Strahl traf. Für einen langen Augenblick stand der grüne Strahl zitternd zwischen dem Kind und dem Mann.
In diesem Moment der Erstarrung stürmte unvermittelt eine schwarz gekleidete Gestalt ins Zimmer. Harry hatte keine Schritte von draußen gehört.
"Nein!", schrie der Mann – ein wildes, wahnsinniges Nein, im Sprung ausgestoßen.
Im grünen Licht des Blitzes konnte Harry eine Kapuze und ein maskiertes Gesicht erkennen. Ein Zischen kam von Voldemorts Lippen, als er, von seinem eigenen Zauber getroffen, zusammenzuschrumpfen begann. Zugleich erschütterte eine explosionsartige Welle das Haus, und das Dach stürzte ein; Harry konnte die Zimmerdecke unter der Last der aufschlagenden Ziegel bedrohlich schwanken sehen.
Der Todesser war zu spät gekommen, daran hatte auch sein halsbrecherischer Sprung nichts ändern können. Die Hand mit dem Zauberstab ins Leere gestreckt, konnte er nur noch zusehen, wie sein Herr und Meister zu einem hässlichen, kleinen, unidentifizierbaren Ding zusammenschnurrte und dann einfach verschwand. Auf dem Boden blieb sein leerer Umhang zurück.
Der Todesser schrie wieder. Eine wortlose, gellende Klage, markerschütternd, wie von einem Tier. Er sank auf dem Boden zusammen, wo Voldemort eben noch gestanden hatte, und blieb dort reglos liegen.
Harry das Baby begann wieder zu weinen, er hatte einen Schnitt auf der Stirn, von dem Blut in großen Tropfen herabrieselte.
oooOooo
Der erwachsene Harry klammerte sich an den kleinen Ball in seinen Händen, fühlte die zerbrechlichen Flügel verzweifelt flattern, und kam atemlos in die Gegenwart zurück. Er saß am Boden und zitterte am ganzen Leib.
Vor ihm tanzte der Staub in dem einen Sonnenstrahl, der über den Boden fiel. Die Spannung, die in dem Raum vibriert hatte, war verschwunden.
Harry steckte den Schnatz in seine Tasche, griff sich das Foto in dem Rahmen aus rauchigem Glas und warf noch einen letzten Blick in das Zimmer. Dann ging er langsam die Treppe hinunter, am Porträt seiner Großeltern vorbei, die ihm zuwinkten, und trat ins goldene Licht der Spätnachmittagssonne hinaus.
oooOooo
Lupin saß auf der verwitterten Bank im Garten und sah ihm entgegen. Harry setzte sich neben ihn.
"Du hattest Recht. Dumbledore hat einige Zauber hier hinterlassen. Es ist alles so geblieben, wie es damals war, glaube ich. Er wollte wohl, dass ich es so sehe. Und vielleicht hat er auch was mit diesem Schnatz hier gemacht –"
Er brach ab und betrachtete das Foto, das er in den Händen hielt.
"Ich kann jetzt nicht darüber sprechen", sagte er dann. "Aber mit einer Sache hattet ihr Recht. Da war noch jemand dabei."
Lupin nickte. "Wir können ja später darüber reden."
Auch er sah Lily zu, die ihren kleinen Jungen herumwirbelte.
"Was ist das denn?"
Harry hielt einen graugrün gemaserten Gegenstand in der Hand, der wie ein flaches, an einer Seite zackig ausgebrochenes Stück Holz aussah. Er drehte den gläsernen Fotobehälter um, und richtig, da war ein Verschluss herausgefallen – und aus dem Innenraum dann wohl dieses seltsame Objekt.
Lupin beugte sich darüber.
"Sieht aus wie eine Frucht vom Amulettbaum." Er lächelte. "Noch nie gesehen? Bizarr geformte, holzige kleine Dinger. Aber sie sind meist schön gefärbt, ein bisschen wie Meerkiesel. Und sie zerbrechen immer in zwei Teile, die jeweils immer nur zu dem einen Gegenstück passen. Ist bei kleinen Mädchen sehr beliebt."
Klingt nach etwas, worüber Luna sicher genau Bescheid weiß, dachte Harry. Er steckte das Amulett zurück in das Glas und verschloss es wieder. Der Gedanke an Luna Lovegood hatte etwas seltsam Tröstliches an diesem Tag, der so voller Szenenwechsel und verstörender Entdeckungen gewesen war.
"Wir sollten zum Fuchsbau apparieren, Harry", sagte Lupin sanft. "Es ist schon spät. Und ein Vorteil des Zaubererdaseins liegt darin, dass wir wenig Zeit aufs Reisen verschwenden müssen. Du kannst also jederzeit nach hier zurückkehren."
Harry dachte an seine Freunde und das große, chaotische Heim der Weasleys. An die Wärme und Herzlichkeit und nicht zuletzt an das unübertroffen gute Essen von Molly Weasley.
"Du hast Recht. Lass uns gehen."
"Ich sollte wirklich möglichst noch heute Abend da sein. Ich bin nämlich Bills Trauzeuge."
