Kapitel 4
Hochzeits-Häppchen
Und hier war er: Ein goldener Tag im August mit all der reifen Wärme eines Sommertages, und doch ließ die Luft in der Dämmerung schon den Herbst ahnen, auch wenn er noch außer Sichtweite war. Ein sanfter Wind wiegte sich in den alten Bäumen des Weasley-Gartens, der so ordentlich und gepflegt war wie nie zuvor und in vollem Festschmuck prangte. Ein golden und blauer Tag, an dem sich die Schwalben vor dem hohen Himmel hinabstürzten auf die grauen Dächer von Ottery St. Catchpole, wieder davonjagten und schrill ihre Lebensfreude in die Welt zwitscherten. Ein Tag, wie geschaffen für eine Hochzeit.
Es sollte der letzte Tag in Freiheit sein.
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Als die Kirchturmglocke vom Dorf herüber sechs Uhr schlug, war Harry mit einem Schlag wach. Er war erst spät ins Bett gekommen – sie hatten noch bis in die Nacht hinein Stühle gerückt, Tische gedeckt und Blumenkübel und Torten hin und her getragen (vor allem bei Letzteren achtete Mrs Weasley streng darauf, dass niemand irgendwelche Transportzauber anwandte!) – aber eine heftige Unruhe schien ihn im Schlaf befallen zu haben und riss ihn nun direkt in den Tag.
Er hatte das Gefühl, wichtige Dinge übersehen oder vergessen oder nicht verstanden zu haben. Nach den Wochen, die er im Ligusterweg mit der Trauer um Dumbledore verbracht hatte, waren die letzten Tage so voller Informationen gewesen, dass er sich wie betäubt fühlte. Er wollte, musste nachdenken. Und die Zeit drängte, das spürte er. Er musste mit der Suche nach den Horcruxen beginnen. Wie lange würde Voldemort noch stillhalten? Und wieso tat er das überhaupt?
Harry stand auf, leise, um den schnarchenden Ron nicht zu wecken, trat ans offene Fenster und sah in den Garten hinab, der noch ganz im Schatten lag – der frisch gemähte Rasen ein samtiger Teppich, der bis hier herauf duftete. Er konnte den Tau auf den Stühlen sehen, die sich in vielen Reihen hintereinander vor einer Art Tribüne aus Holzbohlen drängten.
Hier sollten heute Bill und Fleur heiraten. Harry hatte keine Ahnung, wie eine Hochzeit unter Zauberern aussah. Aber die Anordnung im Garten, die natürliche Laube, die die Haselnusssträucher hinten über der Bühne bildeten, der Schmuck der Blumengirlanden – das alles wirkte doch recht vertraut auf Harry, als er es jetzt im Licht des frühen Morgens sah. Es fiel schwer, in dieser Umgebung über Horcruxe nachzudenken.
Stattdessen fiel ihm Ginny ein, Ginny, die in den vergangenen Wochen so weit aus seinen Gedanken gerückt war, dass ihm die Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, immer mehr wie ein Traum erschienen war. Und dann war sie gestern Abend wirklich da gewesen, eine blasse, stille Ginny in einem schokoladenbraun und rosa gestreiften, abgetragenen Pullover, den ganz sicher ihre Mutter gestrickt hatte und der sich scheußlich mit ihrem roten Haar biss. Ihr Gesicht darüber so weiß und elend. Sie war ihm in Hogwarts auch nach Dumbledores Tod noch so stark und zuversichtlich erschienen. Gestern Abend hatte sie ihm gesagt, dass sie morgen miteinander sprechen wollten, nicht jetzt. Und von da an hatte er sie nur immer wieder einmal im Licht der Lampen, die den Garten teilweise erhellten, auftauchen und dann wieder im Dunkel verschwinden sehen, mit Stühlen, Blumen, Kerzen.
Was wollte er hier? Er sollte längst nicht mehr hier sein. Vermutlich gefährdete seine bloße Anwesenheit die gesamte Hochzeitsgesellschaft. Das explodierte Haus der Dursleys fiel ihm ein, und ihm wurde heiß und kalt.
Im Haus begann es sich zu regen. Ab zehn Uhr sollte ein ausgedehntes Frühstück den Auftakt zu den Feierlichkeiten bilden. Nach und nach würden die Gäste eintreffen und sich dazu gesellen. Um zwölf Uhr sollte dann im Garten die Trauungszeremonie beginnen.
Harry wandte sich vom Fenster ab und betrachtete stirnrunzelnd seinen Festumhang, den Hermione ihm über den Stuhl gehängt hatte. "Deinen Koffer haben wir aber am Grimmauldplatz gelassen. Wir wussten ja nicht, ob du ihn hier brauchst oder was du so vorhast", hatte sie gestern Abend etwas spitz erklärt. Sie hatte ihm noch nicht verziehen, dass er sie und Ron nicht mit nach Godric's Hollow genommen hatte.
Es war gestern auch keine Zeit mehr für einen Bericht oder ein ausführlicheres Gespräch geblieben. Sie hatten alle in der Weasley'schen Küche gesessen und Suppe gegessen, dann wurde weiter gearbeitet. Und Harry war sogar ganz froh gewesen, dass er in dieser fröhlichen, erwartungsvollen Atmosphäre untertauchen durfte und eine Weile nicht mehr über Bedrohung und Tod nachdenken musste.
Aber eins war klar: Nur diesen einen Tag noch, dann würde er gehen. Keinen Tag länger würde er in der Nähe von Menschen verbringen, die ihm nahe standen.
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Zehn Minuten später hatte er sich gerade in seinen zerknautschten und reichlich muffigen Festumhang geworfen – er hatte keine Ahnung, was in Punkto Kleiderordnung für heute Morgen von ihm erwartet wurde, und Ron konnte er nicht fragen, weil der immer noch schlief – da wurde die Stille im Zimmer jäh gestört, als Fred und George in altvertrauter Manier gnadenlos hereinapparierten. Ihr Geschäftssinn und ihre Tüchtigkeit mochten sich stark entwickelt haben, seit sie ihren Laden führten, aber ansonsten schienen sie ganz dieselben geblieben zu sein.
"Guten Morgen, allerseits!", riefen sie munter, und Fred schnippte dem schlafenden Ron eine braune Bohne aufs Kopfkissen.
"Na, Harry, schon ganz in Schale? Es ist erst halb sieben!"
"Ich konnte nicht mehr schlafen. Ist der Festumhang richtig?"
"Mmh. Könnte ein Bügeleisen brauchen – 'ne Wäsche auch, findest du nicht?", fragte George und schnüffelte in seine Richtung. "Aber grundsätzlich ist er richtig. Setz dich einfach weit genug von den Delacours weg, dann wirst du schon kein Ärgernis erregen."
"Ehrlich gesagt, die sind ohnehin wahrscheinlich voll damit beschäftigt, sich über die Hauptpersonen aufzuregen. Haben den Schock von vor zwei Wochen noch nicht überwunden, schätze ich."
"Was ist passiert?"
"Sie wollten Bill kennen lernen. So 'ne Art Antrittsbesuch machen. Kannten ihn ja bisher nur von Fotos und Phlegms zweifellos beschönigenden Erzählungen."
"Ich glaube, denen hätte Bills Frisur und der Ohrring, über den Mum ja immer so herzzerreißend zetert, schon voll ausgereicht. Aber unser Bill hatte diesmal noch mehr auf Lager."
Harry dachte an die furchtbaren Verletzungen, die Bills Gesicht von dem Angriff des Werwolfs Fenrir Greyback in jener Nacht vor fünf Wochen davongetragen hatte. Er fand es ziemlich herzlos, wie die Zwillinge darüber sprachen.
"Nein, wir reden nicht von seinem Gesicht. Aber unglücklicherweise war vor zwei Wochen Vollmond. Der erste, seit es passiert ist."
Harry erschrak. "Es hat ihn also doch erwischt?"
"Wir wissen es nicht genau. Er wurde seltsam in der Woche, irgendwie brütend, ging beim kleinsten Anlass in die Luft. Manchmal hatten wir den Eindruck, dass er nicht so genau wusste, wer wir waren."
"Von ihm selbst ganz zu schweigen!"
"Remus gab Mum den Rat, ihm den Wolfsbann-Trank zu geben."
"Als die Delacours ankamen, lag er oben im Flur und schlief. Er hatte das Gebräu brav genommen, sich umgezogen – und ist dann einfach umgefallen."
"Der hat zwei Tage ununterbrochen gepennt. Remus meinte, an der Dosierung müssten wir noch arbeiten, bis sie auf ihn eingestellt ist."
"Aber er hat sich nicht irgendwie – verwandelt?"
"Nee. Nicht erkennbar. Aber du hättest Fleur sehen sollen. Die ist fast ausgeflippt."
"Kann man ihr nicht verdenken", murmelte Harry.
In diesem Moment gab es ein Zischen und dann einen lauten Knall. Ron sprang aus seinem Bett und hielt sich ein Ohr.
"Seid ihr völlig verrückt geworden? Mann, ich bin gottverdammt taub!"
Ein roter Kussmund schwebte zögernd zwischen ihnen und rief dann silberhell: "Aufwachen, Won-Won!"
Fred und George gackerten los. Ron schlug nach dem Gebilde, das sich sofort in Luft auflöste.
"War der nicht gut?"
"Kannst du auf einen bestimmten Namen einstellen."
"Und es wirkt garantiert immer!"
"Nur ab dem dritten Mal nicht mehr", knurrte Ron. "Dann bist du nämlich auf beiden Ohren taub."
Harry fühlte sich seltsam am Rande stehend, weil ihm einfach nicht nach Lachen zumute war.
"Ich geh mal Zähne putzen", sagte er lahm und machte sich auf den Weg.
Auf dem Flur traf er Molly, die in ihrem Küchenumhang steckte, aber über dem Arm ein Seidenkleid hielt. Als sie Harry sah, umwölkte sich ihr Blick.
"Harry – Harry – auf ein Wort!", sagte sie und winkte ihn hinter sich in die Küche. Dort waren sie in dem Moment allein. Es duftete intensiv nach Kaffee und gebratenem Speck.
"Harry, du weißt, du bist für mich in den letzten Jahren so etwas wie mein – wie einer meiner eigenen Söhne geworden. Mir liegt sehr viel daran, dass du glücklich bist, das musst du mir glauben. Aber Harry – ich muss dich bitten, mit Ginny keine – keine Beziehung mehr anzufangen."
Harry, der zwar schon auf etwas in der Art gefasst gewesen war, hatte doch Mühe zu antworten.
"Ich – wir –"
"Ich weiß, sie hat mir alles erzählt. Und ich denke, dass du richtig entschieden hast. Sie – sie darf dir jetzt einfach nicht nahe stehen, verstehst du? Ich habe sie schon einmal beinahe an – an Du-weißt-schon-wen verloren. Lass nicht zu, dass er sie noch einmal in die Hände bekommt!"
Molly hatte Tränen in den Augen.
"Wartet wenigstens, bis – bis sich die Dinge geklärt haben!"
Harry verzichtete darauf, ihr zu sagen, dass er selbst dann vielleicht nicht mehr leben würde. Er verstand Molly ganz genau, schließlich sprach sie seine eigenen Befürchtungen aus. Und doch, es tat weh, das zu hören. Und tief in ihm regte sich der böse Gedanke, dass sie vielleicht anders reden würde, wenn er wirklich einer von ihnen gewesen wäre, ein reinblütiger Zauberer ...
Er verscheuchte den Gedanken, aber es kostete ihn einige Mühe, und er umschwirrte ihn immer wieder, wie ein lästiges Insekt.
So sagte er brüsker, als er wollte: "Ich hab Ginny in Hogwarts gesagt, dass wir – dass wir uns erst mal trennen müssen. Sie war damit einverstanden."
"Und sie leidet darunter, Harry! Sieh sie dir doch nur mal an!"
Harry murmelte etwas. Ja, er hatte sie gesehen.
"Ich muss mich jetzt umziehen, Harry. Die ersten Gäste sind bald da. Danke, dass du Verständnis hast."
Aber kein Wort darüber, dass sie sich ansonsten freuen würde, mich als Ginnys Freund zu sehen, redete die böse Stimme in ihm weiter. Wenn nicht zufällig Voldemort hinter mir her wäre.
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Im ersten Moment, als er die Frau neben Percy erkannte, dachte Harry, dass Penelope Clearwater ja ordentlich zugelegt hatte seit der Schule. Dann begriff er, dass sie schwanger war.
"Mutter, darf ich dir vorstellen", begann Percy spröde, "Penelope, meine Frau. Wir haben im Januar geheiratet."
Molly starrte ihn an, und nicht nur Harry rechnete jetzt mit einem handfesten Ausbruch. Stattdessen schien sie sich zu fassen.
"Und das ist in Anbetracht der Umstände ja wirklich beruhigend", sagte sie nur in kühlem Ton.
Fred und George, die in der Nähe standen, kicherten. Aber zu früh, wie sich zeigte, denn in Mollys Gesicht zuckte es, und dann rauschte sie weinend aus dem Zimmer.
"Ohne deiner Familie auch nur ein Wort davon zu sagen!", hörten sie sie schluchzen.
"Hattest wohl wieder Angst, wir könnten dich kompromittieren, was, Perce?", fragte Fred.
"Ich denke, dass meine Leistungen und meine Loyalität für sich selbst sprechen, Fred, danke", erwiderte Percy gestelzt. "Und jetzt entschuldigt uns, es sind noch andere Leute zu begrüßen."
"Ist er nicht ein Super-Mistkerl?", fragte Ron. "Was macht der überhaupt hier – wir haben ihn bestimmt nicht eingeladen!"
"Komm, lass uns endlich zum Frühstück gehen", sagte Harry etwas erschöpft und ging die Treppe hinunter. Er war schon fast unten, als er merkte, dass Ron immer noch oben stand.
"He Alter, kommst du jetzt oder nicht?"
Aber Ron starrte mit einem Ausdruck entrückter Verzückung an Harry vorbei in die durcheinander wuselnde Gästeschar unten in der Diele, wo die Haustür weit geöffnet war. Harry folgte seinem Blick und erkannte die Delacours direkt unten an der Treppe. Bei ihnen stand Gabrielle, Fleurs kleine Schwester. Und daneben –
Ein weiteres Mädchen, in ein bodenlanges, vogeleiblaues Kleid gehüllt; ein blassblauer feiner Schleier umfloss ihre schlanke Gestalt. Ihr aufgestecktes silberblondes Haar schmückten mehrere kleine kreisförmige Spangen, die mit ebenfalls hellblauen Steinchen besetzt waren. Ihre Ähnlichkeit mit Fleur war unübersehbar, und sie war so schön, dass es auch Harry den Atem verschlug.
"Noch eine Schwester von Fleur?", fragte er. Ron nickte.
"Fabienne. Und sie hat keinen Freund!", sagte er. "Hat Fleur gestern noch gesagt."
Harry wurde ärgerlich.
"Findest du das besonders fair Hermione gegenüber?"
"Fair?", wiederholte Ron, nicht mit seinem intelligentesten Gesichtsausdruck. "Hermione?"
"Also hör mal, Ron! Ich dachte, ihr hättet euch endlich mal – zusammengerauft."
Idiotischer Ausdruck, dachte er. Und was misch' ich mich eigentlich ein!
"Äh – hast du nicht gemerkt, wie sie die ganze Zeit auf mir rumhackt? Sie lässt doch keine Gelegenheit aus, mir unter die Nase zu reiben, für wie unterbelichtet sie mich hält. Meinst du, das macht mich besonders an?" Ron kam jetzt endlich die Treppe herunter. "Und nach großer Liebe sieht so was für mich auch nicht aus."
Er war rot, und Harry wurde klar, dass er in ein Wespennest getreten war.
"Mach dir um Hermione keine Sorgen!", sagte Ron sauer. "Warte, bis du sie siehst!"
Wenige Sekunden später hatte Harry Gelegenheit, seine Einmischung noch heftiger zu bereuen. An dem Tisch, der sich durch den ganzen Raum zog und Platz für bestimmt dreißig, vierzig Personen bot, saß Hermione bereits. Und neben ihr, in ein angeregtes Gespräch mit ihr vertieft, saß Viktor Krum. Hermione sah Harry und Ron hereinkommen und warf ihnen einen Blick voll schlecht verhohlenem Triumph zu.
"Na, kapierst du, wovon ich rede?", sagte Ron noch ein bisschen saurer.
"Was macht denn Krum hier?", fragte Harry total überrascht.
"Oh, er ist Trauzeuge. Fleur hat ihn eingeladen. Hat anscheinend auch jahrelang Briefe an ihn geschrieben. Hermione war ziemlich sauer, als sie das hörte. Wie mich das Getue nervt!"
"Harry! Ron! Setzt euch doch hierher!", zwitscherte Hermione in diesem Moment.
"Komm schon, Ron. Gib nicht kampflos auf", sagte Harry grinsend, und sie setzten sich zu den beiden.
Angesichts der Schüsseln mit Ei und Schinken, der Platten mit Toast, der Schalen mit Müsli und Obst – so eine hatte Hermione vor sich stehen – spürte Harry, wie hungrig er war. Während er mit einem Ohr Hermiones Geplänkel mit Krum verfolgte und auf der anderen Seite Rons gezischte Kommentare dazu anhörte, aß er sich erst mal durch einen Teller voll Rührei mit gebratenem Speck und Pilzen und Toast. Dann begann er sich an der schon bunt besetzten Tafel umzusehen.
Alle paar Minuten kamen neue Gäste hinzu, es gab Begrüßungen und über den Tisch gebrüllte Unterhaltungen. Die Delacours hatten mit leicht verkniffenen Mienen am anderen Tischende Platz genommen, weit ab von der lärmigen Weasley-Verwandtschaft.
Schließlich kamen Lupin und Tonks, dicht gefolgt von Percy und Penelope. Die vier ließen sich gegenüber von Harry und Ron nieder. Penelope warf Harry einen misstrauischen Blick zu und sah dann sofort wieder weg. Er bemerkte, wie sie unbehaglich in ihrem Essen zu stochern begann, während Percy selbstgewiss wie immer Konversation nach allen Seiten machte. Harry hörte, wie er zu einem älteren Herrn, der eindeutig dem Weasley-Clan angehörte, sagte: "Der Minister wird übrigens später auch noch vorbeischauen. Ich werde ihn dann gleich zurück nach London begleiten. Ach ja", wandte er sich dann an Harry, Ron und Hermione, "ich denke, er hat auch noch eine Überraschung für euch."
"Was meinst du damit?", fragte Ron finster. "Bringt er uns eine Tüte Schokofrösche mit oder was? Überraschung – pah. Was glaubst du eigentlich, wie alt wir sind?"
Percy musterte seinen Bruder stirnrunzelnd.
"Wirklich Ron, du solltest allmählich aufhören, dich so kindisch zu benehmen. Minister Scrimgeour bringt, soviel ich weiß, eine Bekannte mit." Er machte eine Kunstpause.
"Ah ja", sagte Ron und verdrehte die Augen.
"Eine Bekannte, die ihr sicher gerne kennen lernen werdet. Wenn meine Informationen zutreffen – und davon gehe ich eigentlich aus – dann handelt es sich um eine neue Lehrkraft für Hogwarts."
"Was?"
"McGonagall stellt jetzt eine Neue ein?", fragte Hermione überrascht.
"Nun ja, die Stelle für Verteidigung gegen die Dunklen Künste ist doch wieder einmal frei, oder?"
"Wer ist es?"
Percy genoss sichtlich das Interesse, das er ausgelöst hatte.
"Sie hat die vergangenen Jahre im Ausland verbracht. Dem Ministerium ist sie als Legilimentik-Spezialistin bekannt. Ihr Name ist Hekate Harper", schloss er und sah triumphierend in die Runde.
Harry hatte den Namen nie zuvor gehört, und Ron schien es nicht anders zu gehen. Aber auf Hermione konnte man sich wie immer verlassen.
"Hekate Harper – den Namen kenne ich!", rief sie und sprühte einige Müslikrümel über ihren Teller. "Sie hat Interview mit einem Dementor geschrieben. Und ein Buch über Azkaban, Moment – Selbstverlust als Katharsis oder so ähnlich."
"Ganz genau", mischte sich Lupin ein, der die letzten Minuten interessiert zugehört hatte.
"Na, die scheint ja die passenden Interessen zu haben", murmelte Ron.
"Ich dachte, Harper ist seit Jahren tot. Ich bin ganz sicher, von einem tödlichen Unfall gehört zu haben", sagte Lupin. "Sie war in Hogwarts, ein paar Jahre jünger als wir, und verließ nach ihrem Abschluss ziemlich bald das Land, glaube ich. Und McGonagall hat sie eingestellt?"
"Der Minister hat sie empfohlen", sagte Percy, als sei damit alles gesagt.
"Oh Mann, noch mal so 'ne Umbridge übersteh ich nicht", murrte Ron.
Penelope, die immer unruhiger geworden war, gelang es endlich, Percys Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie wisperte ihm ein paar Sätze zu, und Harry sah, wie ihr Blick dabei wieder zu ihm herüber flatterte.
"Aber Liebes – ich bitte dich."
Noch etwas mehr erregtes Gemurmel.
Schließlich erhob sich Percy.
"Meine Frau zieht einen anderen Platz vor. Nun ja. Schwangere Frauen – das kennt man ja!" Aber der Blick, mit dem er Harry streifte, war kühl.
Und er führte sie am Arm zu einem freien Platz, der so weit weg wie möglich von Harry war.
"Das war meinetwegen!", platzte Harry heraus. "Sie hat schon die ganze Zeit so komisch rübergeguckt. Als hätte ich – den bösen Blick oder so was!"
Wenige Minuten später kam Bill ins Zimmer, begleitet von einem kurzen, rundlichen Mann in marineblauem Festumhang mit weißem Spitzenkragen. Bill, der ihn um anderthalb Kopf überragte, bot einen ziemlich schockierenden Anblick. Die eine Hälfte seines Gesichts war ein noch kaum verheilter Krater, offenbar hatte Greyback ein großes Stück seiner linken Wange herausgerissen. Die Vernarbung hatte sein Gesicht zusätzlich verzerrt, so dass ein Auge und der eine Mundwinkel immer ein wenig verzogen waren. Aber er lachte seinen Gästen entgegen.
"Hallo, ihr alle! Hier ist Antonius Merryweather vom Ministerium, Abteilung Magisches Ritual und Zeremoniell. Er wird uns heute trauen. Die meisten von euch kennen ihn ja schon."
Merryweather grüßte freundlich in die große Runde, setzte sich dann auf den nächsten freien Platz – Harry und Ron gegenüber – und ließ einen hungrigen Blick über den Tisch schweifen.
"Ich werd mich dann mal in Schale werfen", sagte Bill. "Ist Charlie schon da?"
"Draußen, mit Fred und George. Stellprobe mit der Band oder so was", antwortete Ron mit vollem Mund.
"Es gibt 'ne Band?", fragte Hermione.
"Yeah, Taranis et ses Chiens – toller Name, was? Fleur hat sie aus Frankreich kommen lassen. Ihr Bruder spielt da mit, Etienne, der große, düstere Typ, dem du vorhin so schmachtend nachgesehen hast."
"Ron, du hast echt ein Problem!", sagte Hermione genervt.
Harry war satt, und allmählich verschmolzen die Stimmen und Gesichter um ihn herum zu einem Wirbel aus Klang und Farben, der ihn nichts anzugehen schien. Er saß da vor seinem Teller, auf dem Toastkrümel und Reste von Rührei klebten, und fühlte sich, als sinke er in einen kalten, dunklen Schacht, immer tiefer und tiefer. Andere Stimmen umgaben ihn dort auf einmal, zischend, kreischend, irr. Sie hallten unheimlich, wie durch dunkle Gänge und Verliese.
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Genau um zwölf Uhr – die Kirchturmuhr vom Dorf hatte eben geschlagen – waren alle auf ihren Plätzen im Garten versammelt. Zum Klang von Geige, Flöte und tatsächlich einem Dudelsack gingen Bill und Fleur endlich den Gang zwischen den Stuhlreihen entlang zu den beiden zerbrechlich aussehenden, mit exotischen Schnitzereien verzierten Stühlen vorne auf der Tribüne. Ein ehemaliger Kollege von Bill hatte sie extra aus Ägypten mitgebracht.
Bill trug einen nachtblauen Umhang mit Silberstickerei, das lange rote Haar lag zu einem Zopf geflochten ordentlich über seinem Rücken, und der Anstoß erregende Ohrring war zur Feier des Tages einer unregelmäßig geformten, dunkelgrau schimmernden Perle gewichen. Er strahlte, als er seine zukünftige Frau an all den bewundernden Blicken vorbei führte, und schaffte es, trotz seines zerstörten Gesichts sehr attraktiv auszusehen.
"Das ist er endlich, ihr großer Auftritt", zischte Hermione Harry zu, als Fleur an ihnen vorbeiging. "Vermutlich der Höhepunkt ihres Lebens."
Aber Harry gaffte wie alle anderen. Ihr Kleid schimmerte in zartem Lindgrün, auf den ersten Blick schien es schulterfrei und ziemlich freizügig ausgeschnitten, dann sah man den hauchdünnen Spitzenstoff, der ihren Hals und die Arme bis zu den Handgelenken umschloss. Auf ihrem silbrig blonden Haar ruhte ein funkelndes, schmales Diadem – Großtante Muriels koboldgefertigte Tiara, wie Harry sich erinnerte. Fleur trug dieses Zeichen ihres Sieges über Mollys Widerstand mit unübersehbarem Stolz.
Als auch die Braut ein wenig umständlich auf dem ägyptischen Sesselchen Platz genommen hatte, wurde es endlich ganz still. Der Beamte des Ministeriums, Antonius Merryweather, trat mit gemessenen Schritten aus dem Hintergrund und blieb in der Mitte der Holztribüne unter der Girlande aus Sommerblumen stehen, das Gesicht den gespannten Versammelten zugewandt.
"Willkommen! Ich begrüße euch alle, die Familien Weasley und Delacour, die Freunde und Kollegen und ganz besonders natürlich die Brautleute, Fleur Delacour und Bill Weasley."
Er hatte eine klare, ruhige Stimme und sprach freundlich und doch voll Würde.
"In dieser dunklen Zeit, in der sich die Anzeichen für das uns allen drohende Unheil täglich mehren, ist euer Entschluss zur Ehe ein Zeichen der Hoffnung, das uns alle ermutigen sollte. Und ganz besonders ist es das in eurem Fall, denn ihr nehmt damit ein gemeinsames Leben mit ungewisser Zukunft an: Du, Bill, weißt noch nicht, was diese Zukunft aus dir machen wird. Und du, Fleur, bindest dich an einen Mann, der nicht nur vom Bösen gezeichnet wurde, sondern auch sein Gift in sich trägt und für den Rest seines Lebens dagegen ankämpfen muss. Ihr habt beide eine mutige Entscheidung für eure Liebe getroffen, und wir danken euch dafür."
Merryweather trat zu den beiden hin.
"Gern wollen wir nun Zeugen sein, wenn ihr einander den Unverbrüchlichen Eid der Treue und Liebe schwören wollt. Kniet also nieder."
Als die beiden einander gegenüber auf dem Boden niederknieten, sah Harry ein kleines Tischchen zwischen ihnen, auf dem ein gläserner Kelch stand. Zu beiden Seiten lagen die Zauberstäbe von Bill und Fleur.
"Gebt euch die rechte Hand."
Das taten sie. Er berührte mit der Spitze des Zauberstabes ihre verbundenen Hände.
"Willst du, William Jonathan Weasley, diese Frau, Fleur Adrienne Delacour, in Liebe zu deiner Frau nehmen und sie lieben und ehren bis in den Tod?"
"Ich will", antwortete Bill. Eine funkelnde dunkelrote Flamme wand sich um ihre verschränkten Hände.
"Willst du, Fleur Adrienne Delacour, den hier anwesenden William Jonathan Weasley in Liebe zu deinem Mann nehmen und ihn lieben und ehren bis in den Tod?"
"Ich will", antwortete Fleur – akzentfrei. Schimmernd verflocht sich eine silberne mit der dunkelroten Flamme und umschloss ihre Handgelenke wie ein Armband.
Liebe, dachte Harry. Die Waffe gegen Voldemort. Die Macht, die der Dunkle Lord nicht kennt. Dumbledore glaubte, dass ich sie habe. Aber stimmt das?
Als er an Liebe dachte, war es nicht Ginny, die ihm vor Augen stand, und schon gar nicht Ron und Hermione. Nein, verrückterweise war es dieses kindische kleine Amulett, das seine Mutter möglicherweise wer weiß wie viele Jahre aufbewahrt hatte, zuletzt in dem gläsernen Fotorahmen.
"Dann erkläre ich euch vor all diesen Zeugen zu Mann und Frau", fuhr Merryweather lächelnd fort.
Die beiden küssten sich unter dem Beifall der Versammelten, ohne die Hände zu lösen oder aufzustehen.
"Remus Lupin und Viktor Krum, ihr seid von den Brautleuten zu Zeugen gewählt worden. Seid ihr bereit, Bill und Fleur in ihrem gemeinsamen Leben nach Kräften zu unterstützen und ihnen bei der Wahrung ihres Eides beizustehen?"
"Das sind wir", antworteten die beiden Männer und legten ihre Hände auf die des Brautpaares.
Bis hier war die Zeremonie Harry recht vertraut erschienen, auch wenn es ihn einigermaßen schockte, dass das Ehegelöbnis unter Zauberern in Form eines Unverbrüchlichen Eides abgelegt wurde. Hieß das, der Partner würde sterben, der diesen Eid je brach? Er musste Hermione danach fragen.
Aber offenbar war die Trauung noch nicht vorbei.
"Dann tauscht jetzt die Zauberstäbe", forderte Merryweather die beiden nun auf.
Bill nahm seinen Zauberstab auf und reichte ihn Fleur, die den ihren an Bill übergab.
Dann hob Bill Fleurs Zauberstab – Rosenholz mit Veelahaar, wie Harry sich erinnerte, "ein eigenwilliger Zauberstab!", hatte Ollivander damals gesagt – und sagte: "Ich will dir ein Licht sein, wenn alles dunkel ist. Lumos!"
Und tatsächlich, von Fleurs Zauberstab kam ein helles Leuchten, das die beiden umgab. Harry sah rosa Funken darin aufblitzen.
Fleur hob Bills Zauberstab mit angespannter Miene, hielt einen Moment inne und sagte dann mit einem Lächeln: "Lass mich dir Wasser sein, wenn dich dürstet. Aguamenti!"
Und von Bills Zauberstab sprühten Funken, fielen in den Kelch, der zwischen ihnen stand, und füllten ihn mit klarem Wasser.
Jetzt kam Beifall auf, und Harry klatschte mit. Er wusste, dass es immer ein Risiko war, mit einem fremden Zauberstab zu zaubern.
"Es hat geklappt!", sagte Hermione, ein wenig überrascht. "Sie passen also wohl doch besser zusammen, als wir dachten."
"Was war das mit dem Eid?", beeilte sich Harry zu fragen. "Heißt das etwa, sie sterben, wenn sie jemals – äh – die Ehe brechen oder so?"
"Das schockt doch irgendwie immer alle Männer", sagte Hermione abfällig. (Allmählich fragte sich Harry, wieso sie so schlecht gelaunt war.) "Aber wenn es dich beruhigt, nein. Diesen Bund kann man lösen, wenn es unbedingt sein muss. Aber ich glaube, man sollte das besser tun, bevor man die Ehe bricht. Gute Einrichtung, finde ich."
Nach der Trauungszeremonie gab es Sekt. Er war rosa und schäumte in regelmäßigen Abständen in den Gläsern auf und machte dabei ein Geräusch, das wie das Rülpsen eines Drachens klang. Die Mutter der Braut stellte ihr Glas nach dem ersten Ausfall dieser Art angewidert auf das nächstbeste herumgetragene Tablett zurück. Molly entschuldigte sich wohl hundertmal, dass sie offenbar die falsche Marke gekauft hatte, und bekam überhaupt nicht mit, wie Fred und George feixten.
Harry wanderte ziellos zwischen den Grüppchen umher, immer stärker von dem Gefühl geplagt, dass er eigentlich nicht hier sein sollte. Sein Bedürfnis, endlich irgendeine ruhige Ecke zum Nachdenken zu finden, wurde immer dringender.
Er sah Hermione, Gabrielle, Fabienne und Ron, zu denen sich Merryweather gesellt hatte, ein gefülltes Glas in der Hand, das offenkundig nicht sein erstes war. In der Gesellschaft der Mädchen entpuppte er sich als reichlich gesprächig und spreizte unter dem Mantel beruflicher Würde mächtig die Federn. Sein leutseliges Lächeln schloss auch Harry mit ein, als er sich zögernd zu ihnen stellte.
"Ja, ja, es besteht immer ein gewisses Risiko, wenn die Leute dann tatsächlich zaubern. Viele tauschen nur die Stäbe und belassen es bei dieser symbolischen Handlung. Gut ausgebildete Zauberer rufen meist einen einfachen Zauber auf, wie Bill und Fleur hier. Wasser und Licht sind am beliebtesten, schon wegen der Symbolik. Und dann ist das natürlich Schulstoff, recht einfach eben. Selbst wenn man normalerweise ein guter Zauberer ist, hat man doch unter dieser Anspannung und vor all den Leuten ja oft gewisse Hemmungen, nicht wahr?"
"Kommt es auch vor, dass es – misslingt?", fragte Hermione, die sich recht gut daran erinnerte, dass Aguamenti im vergangenen Schuljahr nicht eben allen leicht gefallen war –
"Oh ja. Meistens passiert dann einfach gar nichts. In einigen Fällen zauberten die Betreffenden sozusagen daneben, irgendetwas völlig anderes. Das ist dann im Allgemeinen ein Lacherfolg, wenn auch nicht für das Brautpaar. Nur wenige wagen sich an wirklich schwierige Zauber in dieser Situation – man will sich ja nicht die Hochzeit verderben, nicht wahr? Aber unter Auroren ist es zum Beispiel recht beliebt, den Patronus des anderen mit dessen Zauberstab aufzurufen. Eine wirklich schwierige Sache!"
"Sie sind Harry Potter, nicht wahr?", wandte sich Merryweather dann ganz plötzlich an Harry, der am liebsten schnell verschwunden wäre. Inzwischen hatte er angefangen, es zu hassen, wenn man ihn erkannte.
"Ja", sagte er ergeben. Der Mann lächelte ein wenig.
"Ich habe Sie schon vorhin bei Tisch erkannt. Ich habe Ihre Eltern getraut", fuhr er dann völlig unerwartet fort. "Ich glaube, sie standen damals sogar noch vor dem Beginn ihrer Aurorenausbildung. Aber sie hatten schon den ganzen Ehrgeiz und haben es versucht."
"Versucht?", fragte Hermione zögernd.
"Nun, Mr Potters Vater hatte keine Probleme. Aber die Braut brauchte drei Anläufe, bis es ihr gelang. Zweimal hat sie mit dem Zauberstab ihres Mannes den eigenen Patronus aufgerufen, übrigens wirklich ein Kunststück, wenn das auch damals die wenigsten zu würdigen wussten. Es wurde viel gelacht bei dieser Trauung. So viele Einhörner hatten wir selten gesehen!"
"Ihr Patronus war ein Einhorn?", fragte Harry.
"Ja. Sehr hübsch. Nun ja, es fielen natürlich auch ein paar böse Bemerkungen von einigen älteren Herrschaften aus der Pepperleaf-Verwandtschaft. Ihre Mutter war muggelstämmig, wenn ich mich recht erinnere, nicht wahr? Und die Pepperleafs hatten ja doch so etwas wie einen Ahnenwahn. Führten sich direkt auf Gryffindor zurück, nicht wahr? Sie fanden die Braut wohl nicht ganz passend für ihren letzten Spross."
"Harry – dann fließt das Blut der Gryffindors in dir!", rief Hermione ganz aufgeregt.
"Oh ja, und jede Menge erstklassiges, reines Muggelblut! Hör schon auf, Hermione, du wirst doch nichts auf diesen ganzen Kram mit dem Blut geben!"
"Nein, es geht doch um die Abstammung! Verstehst du nicht, du wärest ein Nachkomme von Godric Gryffindor, vielleicht der einzige!"
"Nun, nun – ich bin mir nicht sicher, wie berechtigt der Anspruch der Pepperleafs war! Sie lebten seit vielen Generationen in diesem Dorf, nicht wahr, in Godric's Hollow, wo dann ja auch später – das Unglück geschah, nicht wahr. Also vielleicht hat der Ort da auch eine Rolle gespielt und zu einer gewissen – äh – Legendenbildung hinsichtlich der Abstammung geführt."
Dem Ministeriumsangestellten wurde die Richtung, die das Gespräch eingeschlagen hatte, nun doch ein wenig unbehaglich.
"Übrigens, ich denke, da wird jetzt gerade die Hochzeitstorte angeschnitten, nicht wahr. Lassen Sie uns hinübergehen."
Und sichtlich entzückt über seine schmückende Gesellschaft ging er los. Harry blieb allein zurück. Wie seltsam war es, dass in den letzten Tagen plötzlich alle von seinen Eltern zu berichten anfingen – nach all den Jahren, in denen er kaum mal ein Wörtchen über sie erfahren hatte.
Ihm war nicht nach Torte, noch weniger, nachdem er einen Blick auf Ginnys blasses Gesicht geworfen hatte. Mollys Worte vom Morgen schmerzten mehr, als er gedacht hatte.
Eine Weile sah er dem Treiben um das Kuchenbuffet zu, dann bahnte er sich seufzend einen Weg und ging geradewegs auf Ginny zu.
"Komm, lass uns ein bisschen spazieren gehen", sagte er und fühlte sein Herz heftig schlagen.
"Mum hat dich schon bequasselt, stimmt's?", fragte Ginny mit düsterem Blick und spießte ein Stück Zuckerguss auf ihre Kuchengabel.
Er nickte nur.
"Okay."
Sie stellte ihren Teller im Vorbeigehen auf einem Tisch ab, dann verließen sie ungesehen den Garten und schlugen den Weg in Richtung Dorf ein.
"Was ändert es denn, letztlich?", fragte Ginny mürrisch. Sie hatte ihn nicht einmal geküsst. "Im Grunde sagt sie doch dasselbe wie du."
"Ja."
"Hast du mich vermisst, in den letzten Wochen?", fragte sie plötzlich geradeheraus.
Harry fühlte sich elend. Ihm wurde bewusst, dass er sie kaum vermisst hatte, weil er die letzten Wochen in einer Art Vakuum verbracht hatte. Aber wie sollte er ihr das erklären?
Ginny blieb stehen, als er schwieg. Ihre dunkelbraunen Augen starrten ihn zweifelnd an. "Harry?"
"Klar hast du mir gefehlt. Aber – ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, Ginny."
"Brauchst du gar nicht", sagte sie kühl.
"Lass uns nicht streiten, bitte. Ich hab so das Gefühl, dass ich – am besten nicht mal mehr an dich denken sollte in der nächsten Zeit. Kannst du das verstehen?"
"Ich verstehe jedenfalls eins. Du – du fühlst nicht dasselbe wie ich. Und das tut verdammt weh."
Von der Seite sah er, wie eine Träne an ihrer Nase entlanglief. Und doch, er konnte jetzt nicht einmal den Arm um sie legen. Das ist toll, dachte er. Ich bin wirklich der Mann der Liebe.
Er ballte die Faust in der Hosentasche und stieß mit den Fingern an Metall. Dann schlossen sie sich um etwas Rundes, Glattes. Das Medaillon. Das falsche Horcrux.
"Ginny, gib mir ein paar Wochen. Stell dir einfach vor, ich müsste – wieder so was machen wie das Trimagische Turnier – oder mich auf eine Prüfung vorbereiten oder –"
"Für wie blöd hältst du mich, Harry? Übrigens, das mit den Prüfungen kommt ja hin. Abschlussprüfungen!", erinnerte sie ihn, als sie seinen verwirrten Blick sah. "Oder etwa nicht?", fügte sie angespannt hinzu. "Wie ist es – kommst du mit zurück nach Hogwarts?"
"Ich – ich weiß es einfach noch nicht."
Er suchte verzweifelt nach irgendetwas, das dieses Gespräch zu einem versöhnlichen Abschluss bringen konnte.
"Ich weiß im Moment einfach nicht, wie ich weitermachen werde. Ich muss ein paar Sachen erledigen. Allein, glaube ich. Und mir kommt unsere Zeit zusammen jetzt so weit weg vor, schön, glücklich, aber furchtbar weit weg. Ich möchte daran denken und auch an dich, aber – ich hab Angst davor."
Weil ich dann nämlich wegrennen würde, mit dir wahrscheinlich; vielleicht würde ich mir einreden, wir könnten zusammen in der Muggelwelt untertauchen und diesen ganzen Quatsch über Horcruxe und Voldemort und Dementoren vergessen, zuckte es auf einmal blitzartig durch seinen Verstand.
Es war Ginny, die ihn am Arm fasste.
"Ich glaube, ich kann's doch verstehen", sagte sie leise. "Mir gefällt es nur nicht. Und ich glaube, du hast Recht. Lass uns zurückgehen, bevor Moody und der ganze Orden uns suchen."
Sie hob die Hand und strich ihm das zu lange Haar aus der Stirn, berührte sacht die Narbe.
Wegrennen, dachte Harry wirr. Weg. Mit ihr. Nach London. Nein, besser noch ins Ausland. New York. Kanada.
"Komm", sagte sie sanft und nahm seine Hand.
Sie gingen Hand in Hand zurück zum Fuchsbau, wo inzwischen ein wenig Ruhe eingekehrt war, weil alle eine Pause einlegten, bevor es am frühen Abend mit Musik, Tanz und großem Buffet weitergehen sollte.
Sie setzten sich zu Ron und Hermione, die im Garten unter einem Baum saßen, und klatschten über den bisherigen Verlauf der Hochzeit und die Gäste, wobei vor allem Percy und Penelope sehr schlecht wegkamen.
Und für zwei Stunden waren sie alle einfach nur gute alte Freunde an einem schönen Sommertag.
oooOOOooo
Die Dämmerung brach herein, als die ersten Geigentöne von der Tribüne aufklangen. Kurze Zeit später hatten sich sämtliche Gäste wieder im Garten eingefunden und lauschten wilder irischer Tanzmusik.
"Die müssen da was verwechselt haben, diese Franzosen", meckerte Ron.
"Ach, halt doch die Klappe! Ich find's toll!", rief Hermione und klatschte begeistert mit, als Bill und Fleur auf die Tribüne kamen und nach ein paar Sätzen an die Gäste den Tanz eröffneten.
Harry sah zu, wie die anderen tanzten, lachten, aßen und tranken, wie es immer dunkler wurde und die bunten Licht- und Nebelwerfer aus Weasleys Zauberhafte Zauberscherze die fröhlichen Gesichter flackernd beleuchteten. Er wurde immer unruhiger. Das Gefühl von herannahendem Unheil verdichtete sich mit jedem Atemzug.
Er überlegte gerade, ob er hinein gehen sollte, als sein Blick auf ein Paar fiel, das eben vom Haus her den Garten betrat. Den großen Mann mit der Mähne ergrauenden Haares und dem löwenhaften Gang erkannte er sofort. Die Frau, die neben dem Zaubereiminister ging, wirkte klein neben ihm, schien aber dank ihrer energischen Gangart mühelos mithalten zu können. Ihr kinnlanges Haar war weiß, aber als sie näher kamen, sah Harry, dass ihr Gesicht noch nicht alt war.
Harry hatte eine Sekunde zu lange gezögert. Scrimgeour hatte ihn entdeckt und kam zielstrebig auf ihn zu.
"Gut, dass ich Sie sehe, Mr Potter", sagte er anstelle eines Grußes.
Der ist meinetwegen hier, erkannte Harry schlagartig.
Scrimgeour nahm sich kaum die Zeit, seine Begleiterin als Hekate Harper vorzustellen, eine Information, die Harry zu jedem anderen Zeitpunkt sehr interessiert hätte. Dann fuhr er fort, ohne sich um einen verbindlichen Ton zu bemühen.
"Ich muss mit Ihnen sprechen, Mr Potter. Bitte folgen Sie mir doch ins Haus. Ich bin sicher, Arthur und Molly haben nichts dagegen, wenn wir uns drinnen unterhalten."
Harry verlor keine Zeit mit Widerspruch. Hekate Harper blieb indessen draußen stehen.
Drinnen gingen sie ins Wohnzimmer, wo sich im Moment niemand sonst aufhielt. Durch die geöffneten Fenster drang die Musik herein, und Harry sah sehnsüchtig in die wogende Menschenmasse unter den flackernden Lichtern draußen. Zugleich wusste er mit einem Gefühl seltsamer Endgültigkeit, dass es nun vorbei war.
Scrimgeour musterte Harry, der noch immer einen Teller mit Häppchen vom Buffet in der Hand hielt, mit einem kalten Blick.
"Ja, wir müssen miteinander reden", begann er. "Und damit wir beide diesen Abend noch ein wenig genießen können, werde ich gleich zur Sache kommen. Ich weiß ja, dass diplomatische Umschweife ohnehin nicht nach Ihrem Geschmack sind."
Harry schwieg.
"Ich will Ihnen nicht verheimlichen, Mr Potter, dass im Ministerium – und auch sonst, wie ich höre – in letzter Zeit wieder Stimmen laut geworden sind, die aufgreifen, was in all den Jahren immer wieder gemunkelt wurde: dass nur ein seinerseits hoch begabter schwarzer Magier Voldemort die Stirn bieten konnte. Ich persönlich halte das nach wie vor für Unsinn. Ein Baby ist ein Baby, und wenn es noch so große Anlagen für Magie, schwarze oder weiße, besitzen mag – diese lassen sich jedenfalls nicht ohne viele Jahre des Studiums und der Ausbildung so weit entwickeln. Nein, meiner Ansicht nach haben Sie damals einfach ungeheures Glück gehabt, dass Voldemort an Ihnen zunächst einmal gescheitert ist."
Scrimgeour machte eine Pause, und Harry dachte, dass die Wandlung vom Chef des Aurorenbüros zum Minister für Zauberei sich nun auch auf seinen Satzbau auszuwirken begann. Als er nicht auf seine Worte reagierte, redete der Minister weiter, und die Anzeichen seiner Verärgerung wurden stärker.
"Ich will Sie auch darauf aufmerksam machen, dass nicht wenige inzwischen zu der Ansicht neigen, dass Sie möglicherweise nicht mehr auf der richtigen Seite stehen. Es ist doch ein wenig auffällig, was den Leuten zustößt, die Ihnen in irgendeiner Weise nahe stehen. Leute, die zu den fähigsten Zauberern unserer Gesellschaft gehören, möchte ich hinzufügen."
Harry wurde blass und hatte Mühe, sich zu beherrschen, wie Scrimgeour mit einer gewissen Befriedigung erkannte.
"Wollen Sie etwa behaupten, ich hätte etwas mit Professor Dumbledores Tod zu tun? Mit der Ermordung meiner Eltern, meines Paten –?"
"Wir wollen doch jetzt nicht pathetisch werden, Mr Potter", erwiderte Scrimgeour genüsslich. "Aber ich darf Sie daran erinnern, dass wir für das zuletzt Vorgefallene – für die Ermordung Dumbledores, die Flucht von Snape – nur einen einzigen Augenzeugen haben: Sie. Und Sie behalten wichtige Details für sich, was Sie ja auch zugegeben haben. Sie haben Ihrer Schulleiterin, Professor McGonagall, schlicht und einfach die Auskunft darüber verweigert, wo Sie mit Dumbledore gewesen sind – angesichts des Vorgefallenen ist das ganz ungeheuerlich. Ich kann da McGonagalls Zurückhaltung weder verstehen noch gutheißen. Ich war bereits im Juni der Ansicht, dass der Wizengamot Sie erneut zu einer Anhörung vorladen müsse. Sie müssen uns Rede und Antwort stehen – und sei es durch eine Legilimentation."
Dieses Wort ließ der Minister erst einmal wirken. Harry stand da mit seinem Häppchenteller und hätte ihn Scrimgeour am liebsten ins Gesicht geschlagen.
"Ich glaube nicht, dass Sie mich zu einer Legilimentation zwingen können. Soweit ich gehört habe, muss ich damit einverstanden sein – es sei denn –"
"Es sei denn, es besteht der berechtigte Verdacht auf ein schweres Verbrechen. Richtig, Mr Potter. Ich denke, Sie haben die Wahl: Berichten Sie uns freiwillig und ausführlich alles, was Sie wissen. Helfen Sie uns, die Mörder Ihres Mentors zu überführen."
"Ich habe Ihnen den Mörder genannt. Es ist Ihre Aufgabe, ihn aufzuspüren, oder?"
"Sie haben jemanden beschuldigt, das ist richtig, und selbstverständlich fahnden wir nach ihm. Aber wenn Severus Snapes Vergangenheit auch gewisse – äh – dunkle Punkte aufweist, so hat er doch in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten Dumbledores Vertrauen genossen –"
"Professor Dumbledore hat sich geirrt – er ist getäuscht worden!"
"– und sich, wie ich gehört habe, darüber hinaus als Mitglied des Phönixordens verdient gemacht. Wohingegen es an Ihrer Schule bekannt ist, dass Sie gegenüber Snape seit je einen – unbegründeten Groll hegen."
"Jetzt reicht es mir! Sie –"
"Nein, Mr Potter. Ich habe genug. Genug von Ihrer Sturheit, Ihrer Überheblichkeit. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, war die Explosion des Muggelhauses gestern. Das Haus Ihrer Tante, in dem Sie aufgewachsen sind. Da war Magie im Spiel. Und bis wir Genaueres wissen, stelle ich Sie unter Hausarrest. Ich habe eine entsprechende Verfügung dabei. Sie werden das Hauptquartier des Phönixordens nicht mehr verlassen, bis ich es Ihnen erlaube. Mr Moody ist unterrichtet, er wird Sie nach Ende der Feierlichkeiten hier nach – nun, nach dort begleiten."
Harry stand geschockt da. Zu spät, dachte er nur. Ich hab's verpatzt!
"Und ich werde Sie vorladen, Potter. Sie werden uns haarklein berichten – oder ich lasse Sie einer Legilimentation unterziehen. Wegen vermuteter Beihilfe zum Mord."
Scrimgeour fixierte ihn mit seinen durchdringenden bernsteingelben Augen und ließ Harry dann einfach stehen.
Als er sich wieder rühren konnte, ging er langsam in den Garten zurück. Die Band spielte jetzt etwas Langsames, und Harry sah viele Paare eng umschlungen tanzen, darunter auch Molly und Arthur Weasley.
Sein Blick fiel auf Hermione, die ein wenig abseits unter den Bäumen stand, und dankbar ging er zu ihr.
"Was ist passiert? Ich hab dich mit Scrimgeour reingehen sehen."
"Er hat mich unter Hausarrest gestellt. Grimmauldplatz. Bis er mich vorlädt. Zu einem Verhör mit Legilimentation."
Hermione starrte ihn fassungslos an.
In diesem Augenblick verstummte die Musik, und mit einem Mal klangen angstvolle Stimmen durch die laue Dunkelheit der Sommernacht. In der Stille war deutlich der Ruf einer Frauenstimme voller Panik und Entsetzen zu hören.
"Azkaban ist gefallen!"
