Kapitel 5
Gold, Schlangen, Blut
Snape tauchte mühsam empor aus einem Schlaf, in den er wie in einen dunklen Abgrund gestürzt war vor – Tagen, Wochen?
Er wusste es nicht. Sein ganzer Körper schmerzte, und die Helligkeit, die selbst durch seine geschlossenen Lider drang, brannte in seinem Kopf. Da war auch ein Geruch, betäubend und süß und doch mit einer Beimischung von Fäulnis, der sich schwer auf seine Sinne legte, bevor er noch richtig erwacht war. Als es ihm endlich gelungen war, die Augen zu öffnen, versetzte ihm die fremde und völlig unerwartete Umgebung einen Schock.
Ein träger Wirbel aus Gold und blassem Rot und Schwarz verursachte ihm Schwindel. Langsam setzte er sich auf, schlug mit verwirrten Händen eine schwere Brokatdecke in Gold und Schwarz zurück, hielt sich schließlich den Kopf mit beiden Händen, in der Hoffnung, der Raum werde dadurch endlich zum Stillstand kommen.
Als das geschehen war, schien immer noch ein Teil seines Sichtfeldes schräg nach unten wegzusacken, und er fand sich damit ab.
Er saß auf einem breiten Bett mit kannelierten goldenen Pfosten, die in den hohen Raum aufragten und einen Baldachin aus schwarzem Samt trugen. Unter seinen Füßen, die immer noch in schweren Stiefeln steckten, erstreckte sich ein kalter Steinboden, in dem unzählige eckige Steinchen ein das Auge verwirrendes Mosaik in Weiß, Schwarz und Rosenrot bildeten.
Die Wände bestanden aus schwarzen Steinplatten, in die, wie er bei genauerem Hinsehen erkannte, Reliefs geschnitten waren. Er stöhnte auf, nicht nur, weil sein Körper sich anfühlte, als sei er von einer Kutsche überrollt worden, sondern auch vor Grauen über die abstoßenden Bilder von Qual und Tod, die überall die Wände säumten
Erschöpft wandte er den Blick ab. Das Licht, das ihm so grell erschienen war, kam von zahlreichen brennenden Lampen an den Wänden und auf dem kleinen Tisch bei dem Fenster, das, vom Boden bis zur hohen Decke reichend, von dunkelroten Vorhängen verdeckt war.
Er ging einige Schritte in den Raum hinein und wandte sich um, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung sah. Als er auf eine Nische zuging, die gegenüber der Fensterwand lag, stellte er fest, dass sie einen zimmerhohen Spiegel in einem reich geschnitzten und vergoldeten Rahmen barg. Sein Spiegelbild kam ihm entgegen, düster und abgerissen inmitten all dieser Pracht. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er noch immer den zerrissenen Umhang trug, dessen Brand- und Kampfspuren nur allzu deutlich an jene Nacht erinnerten, die nun – wie lange zurücklag? Sein Gesicht, weißer denn je unter dem schmutzigen, verfilzten Haar, blickte ihn stirnrunzelnd an. Was hatte er getan seitdem? Wie war er hierher gekommen?
"Nun, Severus", erklang eine unverkennbare Stimme, "bist du endlich wach!" Und Voldemort trat geradewegs aus dem Spiegel vor Snape hin, der um Haltung rang.
"Ich hatte dich gerufen, mein Prinz", Voldemort lächelte nicht ohne Spott, "und selbstverständlich bist du sofort hierher gekommen. Aber du schienst mir doch recht erschöpft von deinen Taten, und so ließ ich dich schlafen."
Voldemort machte ein paar beschwingte Schritte ins Zimmer hinein und drehte sich zu Snape um, der immer noch schwieg.
"Wie gefällt dir dein Zimmer hier in meinem neuen Palast?"
Snape hatte die Veränderung seines Herrn mit dem ersten Blick erfasst. Da lag wie eine geisterhafte Maske das Gesicht des gut aussehenden Tom Riddle dünn über dem schlangenähnlichen von Lord Voldemort, so dünn, dass dessen flache Reptilienzüge gespenstisch hindurchschienen. Die Aura von neuer Macht und Energie, die die hoch gewachsene Gestalt umgab, wurde noch unterstrichen von der prachtvollen Kleidung: einem schweren Umhang aus Brokatstoff, in dem sich die im Raum vorherrschenden Farben Gold, Nachtschwarz und Rosenrot wiederholten, und ein hoher, einer Tiara ähnlicher Hut, der an die uralten Bilder von babylonischen Priestern erinnerte.
Er hat immens an Macht gewonnen durch Dumbledores Tod, dachte Snape. Und ich habe das bewirkt ...
Voldemort beugte sich über einen Krug voller langstieliger Blumen, die Snape jetzt erst sah. Es waren weiße Lilien, und von ihnen kam der betäubende Duft, der das Zimmer durchzog.
"Dieser Palast, diese Festung wird meiner Machtfülle endlich eine würdige Umgebung bieten. Auch auf dich wartet endlich eine angemessene Wirkensstätte. Aber vorher müssen wir unsere Freunde empfangen, es sind wichtige Dinge zu besprechen."
Er maß Snape mit einem Blick, in dem sich Vergnügen und Spott mischten. "Zuallererst aber, mein lieber Freund, müssen wir ein wenig an deinem Äußeren arbeiten."
Er öffnete eine kleinere Tür direkt neben dem Blumenkrug. "Sieh hier!" Er zog aus einem dicht gefüllten Schrank einen Umhang heraus und legte ihn dem verblüfften Snape über den Arm. Tiefgrüner Samt, eingefasst von einer schmalen Goldborte mit winzigen, aufgestickten weißen Blüten.
"Du findest hier alles, was du brauchst, um deinem Rang gemäß gekleidet zu sein."
Dann öffnete er eine andere schmale Tür, und Snape stand allein in einem weiteren großen Raum, in dessen Mosaikboden eine Wanne eingelassen war. Auch hier Gold und Rot, Spiegel und Kristallleuchter. Die Gemälde, die die eine Wand verzierten, waren voller Gestalten, die sich lasziv durch Szenen bewegten, die Snape lieber nicht gesehen hätte. Aber die Wanne mit dampfendem Wasser war so einladend, dass ihm die Umgebung erst einmal gleichgültig war.
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Einige Zeit später wurde Snape von einem Hauself, der offenbar stumm war, durch eine Reihe von goldenen, spiegelnden Korridoren geleitet. Gelegentlich zweigten von ihrem Weg schmalere Gänge ab, die sich im Dämmerlicht verloren, und Snape konnte hinter eben noch erkennbaren Türen hin und wieder Schreie und andere Laute der Qual hören.
Endlich stieß der Elf eine zweiflügelige geschnitzte Tür auf, und Snape trat an ihm vorbei in einen hohen Saal, der auf den ersten Blick kreisrund wirkte. Hier bestand der Boden aus schwarzem Stein, während die Wände von Spiegeln bedeckt waren, als sollte in diesem Raum niemand etwas verbergen können. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch das in tausend Funken gebrochene und gespiegelte Licht eines großen Kronleuchters, der genau von der Mitte der Kuppel herabhing, die den Saal überwölbte.
Snape wurde bereits erwartet: Etwa vierzig Personen standen in einem schweigenden Kreis beieinander. Voldemort wandte sich ihm zu.
"Ah, hier kommt er. Severus, vollende unseren Kreis!"
Snape nahm seinen Platz neben Voldemort ein und sah in die Runde. Keine Kapuzen heute, keine Masken. Der engste Kreis der Getreuen, die meisten kannten einander ohnehin seit vielen Jahren. Zu seiner Überraschung sah er Lucius Malfoy, den er immer noch in Azkaban vermutet hatte, blass und ausgezehrt an Voldemorts anderer Seite stehen. Neben ihm wiederum Bellatrix Lestrange, die Snape einen scheelen Blick zuwarf.
"Nun sind wir also alle versammelt, meine Todesser. Wir haben Grund zu feiern, wie ihr alle wisst. Durch Severus Snape ist uns der mächtigste Feind aus dem Weg geräumt worden, der unserem Streben entgegenstand. Nun steht nur noch einer zwischen uns und der Errichtung der Gesellschaft, von der wir seit so vielen Jahren geträumt haben. Und dieser eine ist noch fast ein Junge, noch kaum ein Mann. Ohne Dumbledore ist Harry Potter hilflos wie ein Kind. Es wird nicht lange dauern, bis er unterliegt."
Voldemort machte eine Pause und ließ seinen glimmenden Blick über die weißen Gesichter der Versammelten gleiten. Vielleicht war es ihre Anspannung, die ihn reizte, jedenfalls flackerte ein Ausdruck des Unmuts über das gespenstisch doppelte Gesicht.
"Ja, wir werden feiern, ihr Kleinmütigen! Ich habe mir einen Palast errichtet, der nirgends seinesgleichen hat. Meine Getreuen werden hier alles vorfinden, was ihr Herz begehrt."
Und mit einem Mal flammten weitere Lichter auf, die einen lang gestreckten Teil des Saales beleuchteten, der zuvor im Dunkel gelegen hatte. Unter zwei großen runden Leuchtern aus schwarzem Metall, die mit elfenbeinfarbenen Kerzen besteckt waren, sahen die Todesser eine lange, festlich gedeckte Tafel, die mit üppigen Speisen und Getränken gedeckt war. Edles Porzellan, Kristall und Besteck schimmerte auf weißem Damast, große Blumengestecke krönten den Anblick.
Snape konnte die Luftperlen sehen, die in den gläsernen Kelchen aufstiegen, und die winzigen Wassertropfen an den Außenseiten, wo sie von der Kälte des Getränks beschlagen waren. Auf einmal verspürte er ungeheuren Durst.
"Zuvor aber gibt es noch einige Angelegenheiten zu regeln!", riss ihn die schneidende Stimme zurück. "Severus, mein getreuer Prinz, Kronprinz meiner Macht –", wandte sich Voldemort mit kaum verhohlener Bösartigkeit an Snape, "du warst ein wenig übereifrig. Es war nicht dein Auftrag, Dumbledore zu töten. Damit ist nun deine Rolle als mein Spion in Hogwarts leider ausgespielt. Und wer wird mich jetzt auf dem Laufenden halten?"
Es herrschte Stille, die ganz unerwartet von Bellatrix Lestrange gebrochen wurde.
"Mein Gebieter", begann sie atemlos, und es war offensichtlich, dass sie schon die ganze Zeit darauf gebrannt hatte, ihre Neuigkeit loszuwerden. "Hekate Harper ist wieder aufgetaucht! Ich weiß von einer Quelle aus dem Ministerium, dass sie in Hogwarts als Lehrkraft eingestellt worden ist!"
Diese Nachricht sorgte für nur mühsam unterdrücktes Stimmengemurmel. Auch Snape war einigermaßen fassungslos und vermutete, dass es den anderen ähnlich ging. Voldemort aber lächelte mit seinem zurückeroberten Riddle-Gesicht.
"Das ist mir bekannt, Bellatrix!", sagte er nur.
"Aber es hieß doch, sie sei seit Jahren tot!", entfuhr es Avery, der neben Bellatrix stand.
"Mein Gebieter, sie hat Euch verraten!", keuchte Bellatrix. "Wo ist sie denn all diese Jahre gewesen – und wie kann es sein, dass Dumbledores Nachfolgerin sie eingestellt hat?"
"Hekate Harper, mein Schlänglein!", flüsterte Voldemort, und das Zerrbild einer grausigen Zärtlichkeit glomm auf seinen Zügen. "Selbstverständlich weiß ich, wo sie ist, Bellatrix. Ich weiß immer, wo sie sich aufhält."
"Aber sie ist nicht einmal eine von uns!", entrang es sich Bellatrix, die Voldemort gequält betrachtete. Er musterte sie mit spöttischen Augen.
"Bellatrix, meine gute alte Freundin, das braucht sie auch nicht. Sie muss keine von euch sein, solange sie nur eine der meinen ist! Und sie ist meine beste Schülerin. Zweimal hat sie mir geholfen, mein Leben zu bewahren."
Niemand sagte etwas. Bellatrix atmete schwer.
"Hekate Harper hat sich in Hogwarts auf mein Geheiß beworben!", sagte Voldemort in abschließendem Ton. "Dank Severus' Übereifer kann er mir dort nicht länger dienen. Deshalb schickte ich Hekate. – Und das bringt uns wieder zu dir, Severus."
Seine Stimme wurde plötzlich eisig. Starr ruhten die roten Augen auf dem reglosen Snape.
"Du hast die Aufgabe, die ich diesem kleinen Versager erteilt habe, eigenmächtig übernommen und ihn dann heim zu seiner Mutter gebracht. Nun, das ist rührselig, nicht wahr?"
"Ich konnte nicht anders handeln, Herr", sagte Snape ruhig und hielt dem Blick stand. "Die Situation duldete keinen weiteren Aufschub."
"Ja, so habe ich dich verstanden. Aber dennoch werden wir heute Gericht halten müssen. – Draco Malfoy, komm herein!", rief er, und nun zuckte auch Snape zusammen. Draco hier?
Derselbe alte Hauself wie eben öffnete die Türflügel und geleitete ohne erkennbare Gefühlsregung die beiden verzweifeltesten Gestalten herein, die man sich denken konnte.
Draco stolperte über seine eigenen Füße und wurde nur von seiner Mutter am Fallen gehindert. Hilflos starrte er in die Runde, bis seine Augen an seinem Vater hängen blieben, der aber den Blick abwandte. Narcissa Malfoy hielt ihn am Arm fest, aber sie sah so aus, als brauche sie selbst dringend eine Stütze. Ihr langes blondes Haar war nachlässig zusammengeknotet, und sie hatte, was Snape sogleich auffiel, ihr Kleid falsch geknöpft. Ihr langes, blasses Gesicht, das einmal den ganzen Adel eines Jahrhunderte alten, reinblütigen Zauberergeschlechts aufgewiesen hatte, war nun eine Maske der Verzweiflung. Über die reglosen Züge rannen unablässig Tränen.
Unwillkürlich warf Snape Lucius Malfoy einen Blick zu. Aber von da kam keine Hilfe für die beiden, die nun von Voldemort in den sich öffnenden Kreis gewinkt wurden.
"Heißen wir Draco Malfoy willkommen – und seine trauernde Mutter!"
Draco versuchte etwas zu sagen, aber es kam nur unverständliches Gestammel heraus. Snape, der nur zu gut wusste, woran das lag, spürte, wie sich sein Inneres verkrampfte.
"Draco, du hattest von mir den Auftrag erhalten, Albus Dumbledore zu töten. Sage uns, was geschehen ist, was dich gehindert hat, diesen Auftrag auszuführen!"
Weiteres Gestammel. Aber wenigstens keine Tränen, nicht von Draco.
Voldemort hörte eine Weile den Versuchen zu, ein verständliches Wort herauszubringen. Dann schnitt er ihm mit einer knappen Handbewegung das Wort ab.
"Lucius, sprich für deinen Sohn! Hat er sich würdig erwiesen, zu diesem Kreis zu gehören, was meinst du?"
"Nein, mein Herr", sagte Malfoy leise.
"Ist es ihm gelungen, die Fehler, die sein Vater gemacht hat, wieder von der Familienehre zu waschen?"
Malfoy schüttelte den Kopf.
"Nein, Herr", wiederholte er noch leiser.
"Und was meinst du, was ihn gehindert hat? Sein Kopf? Seine Hand? Sein – Herz?"
Es herrschte atemlose Stille. Die festliche Tafel im Hintergrund war vergessen, die Düfte, die von den Speisen dort herüberzogen, verursachten Snape ein Gefühl der Übelkeit. Voldemort ließ seinen Blick böse über die Versammlung gleiten, bevor er Draco Malfoy damit umfasste.
"Nun, Draco, sag du es mir. Warum hast du versagt? Was hat versagt? Hirn? Herz? Oder nur die Hand?"
Draco schüttelte stumm den Kopf, die Augen weit aufgerissen.
"Vielleicht befreist du ihn von seiner Sprachlosigkeit, Severus?", sagte Voldemort scharf.
Snape hob schwerfällig den Zauberstab und murmelte: "Finite!"
Aber Draco schwieg immer noch.
"Dann wollen wir um Dracos Willen annehmen, es sei nur seine Hand gewesen, die ihm den Dienst versagt hat, nicht wahr?"
"Oh Herr, vergebt ihm! Er ist doch noch – ein Kind!", rief Narcissa und warf sich vor Voldemort zu Boden. Der entzog den Saum seines Umhangs mit einer angewiderten Miene ihren Händen und wandte sich an Lucius.
"Ich kann Draco nicht mit dem Tod bestrafen, obwohl er ihn verdient hat. Aber sein Tod würde mich etwas kosten, auf das ich im Augenblick nicht verzichten möchte."
Er weiß es, dachte Snape. Natürlich weiß er es.
"Lucius, du weißt, dass ich Versagen nicht ungestraft durchgehen lasse?"
Wieder nickte Dracos Vater.
"Und du stehst nach wie vor in meiner Schuld, nicht wahr? Ich warte noch immer auf einen Beweis deiner Treue. Heute hast du endlich Gelegenheit dazu!"
Snape fühlte, wie die Übelkeit weiter in ihm aufstieg. Er kannte Voldemort gut genug, um zu ahnen, was nun kommen würde.
Malfoy fuhr zusammen. Auf eine Handbewegung Voldemorts hin hatte sich der schwarze Steinboden in der Mitte des Kreises aufgestülpt und ein Becken gebildet, das auf einem gewundenen Schlangenleib ruhte. Die Todesser waren zurückgewichen.
"Bring deinen Sohn her, Lucius", zischte Voldemort. Er hielt auf einmal ein langes, glitzerndes Schwert in den Händen.
Malfoy führte den offenbar völlig willenlosen Draco am Arm zu dem schwarzen Steinbecken.
"Welche Hand hat mich verraten, Draco Malfoy?"
Zitternd streckte Malfoy die linke Hand aus.
Voldemort lachte.
"Ein echter Slytherin, selbst jetzt noch! Ich weiß, dass du Rechtshänder bist, Draco!"
Und in diesem Augenblick schoss eine schwarze Schlange aus dem Becken und fesselte Dracos rechten Arm an den Steinrand, so dass sein Handgelenk über dem Becken lag.
"Lucius, du wirst Draco bestrafen! Du wirst dein Fleisch und Blut zur Ordnung rufen!"
Mit diesen Worten reichte Voldemort Lucius Malfoy das Schwert.
"Nein!", schrie Narcissa. "Nein, Lucius, er ist dein Sohn!"
Nach einem langen Moment des Zögerns hob Malfoy das Schwert. Snape konnte den feinen Laut hören, mit dem die Klinge die Luft durchschnitt.
Wurde es tatsächlich dunkler in diesem Moment? Einen schwindelnden Augenblick lang hatte Snape den Eindruck, dass all der gleißende Prunk um ihn herum plötzlich sein wahres Gesicht zeigte und zu einem Gewimmel schwarzer Schlangenleiber zerfiel – die Spiegelrahmen, die Kristalltropfen des Kronleuchters, der Stein der Wände und des Fußbodens. Sogar auf den Gewändern der Umstehenden schienen sie sich zu winden. Einen Augenblick lang war die Übelkeit in ihm so stark, dass er voller Entsetzen befürchtete, sich übergeben zu müssen.
Das Zischen der herabsausenden Klinge – dann zerriss der Aufschlag von Metall auf Stein die fürchterliche Stille. Schreie. Und Blut.
Gellender Schmerz in seinem rechten Arm ließ Snape zusammenfahren. Ein karmesinrotes Band zog sich um sein Handgelenk, von dem das Blut zu Boden rann. Die Schreie Dracos und Narcissas lenkten die Aufmerksamkeit der anderen von Snape ab, der seine Hand hastig mit dem Saum seines Umhangs umwickelte. Er kämpfte verbissen darum, nicht zu schreien, sich nicht vor Schmerz am Boden zu winden, wie der unglückselige Draco es tat, dessen Hand in dem schwarzen Steinbecken lag, während Lucius nur da stand, das blutige Schwert in der Hand, und nicht zu wissen schien, wo er war.
Aber Voldemort ließ seine glühenden Augen wissend von Draco zu Snape wandern, wo sie verharrten. Ich beobachte dich, sagte sein Blick. Und ich kann warten.
Snape sah, wie sein Blut den neuen Umhang tränkte und die winzigen weißen Blüten rot färbte. Auch diese hier waren Lilien, wie ihm jetzt erst auffiel.
"Nun, Todesser! Der Gerechtigkeit ist Genüge getan! Lasst uns jetzt essen!", rief Voldemort.
Und sie, die sich schließlich Todesser nannten, ließen sich an der Festtafel nieder, während der Hauself immer noch ohne eine Gefühlsregung Draco und seine Mutter hinausgeleitete, irgendwohin in die Tiefe dieses Grauen erregenden Palastes.
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Oben am Kopf der langen Tafel nahm Voldemort Platz, der sich allerdings nicht am Essen beteiligte. Er wachte darüber, dass die drei Hauselfen ihren Dienst bei Tisch korrekt versahen.
"Es hat einiges für sich, wenn sie stumm sind", sagte schließlich Avery mit einem vielsagenden Blick auf die schmächtige Elfe, die ihm soeben Wein nachgoss.
"Dieses ewige Gerede und Gejammer, Meister hier und Meister da, das geht einem mit der Zeit wirklich auf die Nerven. Welchen Verstummungszauber habt Ihr verwendet, mein Herr?"
Voldemort lächelte.
"Zeig es ihm, Elfe", sagte er harsch. "Öffne deinen Mund."
Die Elfe zitterte so sehr vor Entsetzen darüber, die Aufmerksamkeit der Herren auf sich gezogen zu haben, dass ihr die Weinflasche entglitt und auf dem Steinboden zerbarst. Als sie ihren Mund zu einem unartikulierten Schrei aufriss, sahen Avery und Snape, der neben ihm saß, dass ihre Zunge herausgeschnitten worden war.
"Es gibt nichts, was sie sicherer verstummen lässt!", sagte Voldemort. "Und nun wisch das auf", zischte er die Elfe an, die am Boden kauerte.
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Das Essen war hervorragend. Dennoch kämpfte Snape mit den Bissen. Sein Handgelenk, das zwar inzwischen nicht mehr blutete, schmerzte heftig. Schließlich trank er einen kleinen Schluck Wein, entspannte sich und richtete dann seine Aufmerksamkeit konzentriert auf seine Umgebung, um sich von dem Schmerz zu lösen.
Neben ihm saß Lucius Malfoy, wachsweiß im Gesicht, und bewegte sich wie eine aufgezogene Puppe. Snape fragte sich, ob ihn das Entsetzen über das, was er seinem Sohn zugefügt hatte, lähmte, oder ob es nicht vielmehr seine Angst war, die Gunst Voldemorts möglicherweise endgültig verloren zu haben. Er beteiligte sich jedenfalls nicht an der Unterhaltung, sondern löffelte Kartoffelstücke, Fleisch und Gemüse in seinen Mund, ohne sich darum zu kümmern, dass jeder zweite Bissen in seinen Schoß fiel und ihm die Bratensoße vom Kinn tropfte.
"Euer Palast ist herrlich, mein Lord!", rief Bellatrix, die immer noch das Flackern in den dunklen Augen hatte, das der Anblick von Grausamkeiten darin hervorzurufen pflegte. Sie saß so nah bei Voldemort, wie sie es hatte bewerkstelligen können, und aß mit erregten Bewegungen winzige Häppchen. "Und einen neuen Koch habt Ihr auch. Aber natürlich, das konnte ja auch nicht anders sein."
Betretene Blicke bei einigen zarter besaiteten Todessern.
"Ich meine, als wir zuletzt bei Euch zu Gast waren –"
"Wir wissen alle, was du meinst, Bellatrix", sagte Voldemort sanft. "Die Köchin, an der du solchen Anstoß genommen hast, hat uns auf andere Weise einen Dienst erwiesen."
"Ich habe nie verstanden, wie Ihr die Anwesenheit dieser – dieser schmutzigen Muggel ertragen konntet!"
"Ich hatte meine Gründe, Bellatrix. Vielleicht konnte Amy Benson nicht besonders gut kochen. Aber sie war meine erste Dienerin. Und sie hat mir sogar noch mit ihrem Tod gedient."
Bellatrix runzelte die Stirn und beugte sich über ihren Teller.
Snape wunderte sich wieder einmal darüber, wie jemand, der so wenig emotionale Disziplin besaß, schon so lange in der Nähe Voldemorts hatte überleben können.
Dann wanderten seine Gedanken zu dem Haus, in dem Voldemort damals, vor so vielen Jahren, seine Getreuen gelegentlich empfangen und bewirtet hatte. Es war ein großes Haus gewesen, aber eben nur ein altes Wohnhaus in einer heruntergekommenen Gegend Londons, in der niemand Fragen stellte, wenn seltsame Gestalten ein und aus gingen oder es in einer Wohnung bis in den Morgen hinein laut war. Bücherregale bis an die Decke, zerschlissene Sessel, abgetretene Teppiche auf knarrenden Holzböden
Und dazwischen immer die demütige, verhärmte Gestalt Amy Bensons, die als Wirtschafterin, Köchin und schlicht als Mädchen für alles fungierte. Sie öffnete die Tür, wenn die Todesser eintrudelten, sie nahm ihre Umhänge entgegen, servierte das Essen und räumte das Geschirr wieder ab.
Snape hatte sich manchmal gefragt, wieso Voldemort eine Muggel beschäftigte anstatt eines Hauselfen. Er hatte schließlich angenommen, dass sie für ihn so etwas wie ein Maskottchen darstellte. Ein weiteres Objekt, das er bei einer bestimmten Gelegenheit aufgelesen hatte und nun in nutzbringender Weise bei sich aufbewahrte. Bewusst lenkte er seine Gedanken von der Erinnerung an Amy Bensons Ende ab und hörte den Gesprächen der anderen zu.
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Endlich waren die gebratenen Wachteln, die Lammkoteletts, Käse und Obst verzehrt. In Erinnerung an frühere Abende in dieser Gesellschaft fragte sich Snape resigniert, was nun noch folgen mochte. Der Schmerz in seinem Handgelenk hatte nachgelassen, und er empfand endlich so etwas wie Dankbarkeit, dass er seine Hand zumindest noch besaß, auch wenn er sie im Augenblick nicht recht bewegen konnte.
"Lasst uns nun spielen, meine Freunde!", rief Voldemort plötzlich, nachdem er längere Zeit den Gesprächen der anderen gelauscht hatte, die durch den Wein allmählich gelöster geworden waren. "Ich habe ein Vergnügen besonderer Art für diesen Abend vorbereitet. Zugleich werde ich dabei sehen, wie es um eure Fähigkeiten steht. Kommt mit mir!"
Er stand auf und ging zu dem runden Teil des Saales hinüber, wo er neben dem schwarzen Schlangenbecken stehen blieb. "Nehmt Platz!"
Erst jetzt sah Snape die an ein Chorgestühl erinnernden Sitze aus dunklem Holz, die sich an den Spiegelwänden entlang der Rundung des Saales befanden. Auch die anderen wirkten überrascht, und Snape vermutete, dass dieses Gestühl eben erst aufgetaucht war. Sie alle fanden einen Platz und saßen nun im weiten Kreis, gespannt wie Schulkinder auf ein neues Experiment.
"Und nun wollen wir Theater spielen. 'Das Theater der Inferi' wäre, wie ich glaube, ein passender Name für unser Spiel."
Er klatschte in die Hände, und eine Tür in der verspiegelten Wand sprang auf. Herein drängten sich mit schwankenden, schlurfenden Schritten halbnackte Gestalten, deren fischbauchweiße Haut die Helligkeit im Saal nicht zu ertragen schien. Sie kreischten und wimmerten und suchten mit blinden Augen Deckung vor dem Licht.
Die Todesser saßen mit angehaltenem Atem auf ihren Plätzen, bemüht, den Schauer von Angst und Ekel nicht zu zeigen, den dieser Anblick ihnen verursachte. Während die Inferi sich alle zusammen in einem wimmelnden Haufen bei dem Schlangenbecken niederkauerten, begann Voldemort wieder zu sprechen.
"Das sind eure Schauspieler, meine Freunde! Sie warten auf euren Willen, der sie lenken wird, zu tun, was immer ihr ihnen befehlt. Unterhaltet mich, meine Todesser! Verschafft mir einen kurzweiligen Abend, indem ihr eure dunklen Wünsche und Fantasien in Szene setzt! Amüsiert euren Herrn!"
Noch während er sich selbst auf einem der geschnitzten Stühle niederließ, regte sich in den Inferi das einzige Verlangen, das sie noch kannten: der Hunger auf lebendes Fleisch. Schnüffelnd begannen einige von ihnen, sich in die Richtung der Todesser zu bewegen, mit langsamen, ungeschickten Bewegungen, aber dennoch zielstrebig und entschlossen. Einer von ihnen erreichte eine zitternde Frau, deren Namen Snape nicht kannte, und schlug mit einer plötzlichen Bewegung seine Zähne in ihr Bein. Sie sprang kreischend auf und versuchte, dem Toten mit blutendem Bein zu entkommen, was unter den übrigen Todessern für schallendes Gelächter sorgte.
Als sie schreiend in Richtung der Tafel zu fliehen versuchte und dabei die abräumenden Hauselfen überrannte, hob Voldemort wieder seinen Zauberstab, und augenblicklich ließ der Inferius von seinem Opfer ab und kehrte mit schlenkernden Armen zurück in den Kreis.
Nun sprang Bellatrix auf, nahm mit einem bösen Funkeln in den Augen ihren Zauberstab auf und richtete ihn auf das Becken aus schwarzem Stein, in dem noch immer die Hand des unglückseligen Draco lag. Sie machte eine kurze scharfe Bewegung mit dem Zauberstab, murmelte ein Wort, und die Hand flog, einen Schleier aus Blutstropfen hinter sich herziehend, in die Gruppe der kauernden Inferi. Sie sprangen mit Kreischen auf, versuchten, einander wegzudrängen, um an das Stück noch warme Fleisch zu kommen. Eine Frau mit wehendem schwarzem Haar fing die Hand aus dem Flug mit den Zähnen und wankte mit ihrer Beute den anderen Inferi hastig davon. Diese verfolgten sie mit tierhaftem Heulen, aber Bellatrix' Zauberstab hielt sie vorerst zurück.
Voldemort klatschte geziert, als der weibliche Inferius Fleischfetzen aus Dracos Hand riss und hinunterschlang. Snape konnte das Knacken der Knochen bis zu seinem Platz hören, als sie einen ganzen Finger abbiss. Er hörte auch ein Wimmern von Lucius Malfoy, der neben ihm saß und beide Hände in sein verzerrtes Gesicht krallte.
"Sehr schön, Bella, sehr gekonnt! Immer noch eine Meisterin des Grauens, nicht wahr?"
Unglaublicherweise errötete Bellatrix vor Freude über den Beifall ihres Herrn. Mit frischem Enthusiasmus hob sie die magische Sperre auf, die sie vor die übrigen Inferi gelegt hatte. Sofort warfen sich diese mit wildem Geheul über die Fressende.
Snape wandte angewidert den Blick von Bellatrix und verfolgte dann wieder mit unbewegtem Blick das Treiben der Inferi. Die Frau, die Dracos Hand verschlungen hatte, teilte nun deren Schicksal. Snape konnte in dem Gewirr der Leiber nur noch ihren linken Oberarm ausmachen. Ihn zierte – was, wie er wusste, unter Muggeln derzeit Mode war – eine schwarze Tätowierung in Form eines chinesischen Schriftzeichens.
Wie seltsam erbarmungswürdig dieser Anblick doch war.
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Der Abend artete schließlich in einen Wettstreit zwischen Avery und Bellatrix Lestrange aus, die einander in scheußlichen Einfällen zu übertrumpfen versuchten, um ein Lob ihres Herrn zu erlangen.
Die anderen tranken und klatschten Beifall, wenn es erwartet wurde – und tranken weiter. Auch Voldemort wirkte schließlich gelangweilt. Dicht hing der Dunst von Blut und Angst und Alkohol in der Kuppel des Saales und betäubte die wenigen, die Wein und Grauen noch nicht besiegt hatten.
Voldemort klatschte in die Hände, und der Hauself erschien.
"Bring sie in ihre Zimmer. Fang mit ihm da an", sagte Voldemort und zeigte auf Lucius Malfoy, der schon lange bewusstlos über der Lehne seines Stuhles hing, das lange weißblonde Haar von Rotwein und Bratensoße besudelt.
Snape war einer der wenigen, die aus eigener Kraft aufstehen konnten. Er wirkte kühl und unberührt von den Szenen der vergangenen Stunden. Einzig der von getrocknetem Blut steife Saum seines Umhangs wies darauf hin, dass der Abend auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen war. Voldemort sah ihn mit einer gewissen Achtung an.
"Was gäbe ich dafür, deine Gelüste zu kennen, mein Freund!", sagte er mit leiser Ironie. "Immer zurückhaltend und kühl wie eine viktorianische Jungfrau."
"Ermüdet, Herr", sagte Snape.
"Müde der fremden Exzesse?"
"Welche Herausforderung liegt darin, seinen Willen diesen hirnlosen Kreaturen aufzuzwingen?"
"Geh schlafen, Severus", lachte Voldemort. "Ich brauche deine ganze wohl ausgeruhte Geisteskraft."
"Gute Nacht, Herr", sagte Snape und verließ mit dem Hauself den Saal.
"Noch etwas, Snape!", rief Voldemort ihm nach. "Versuche nicht, Draco Malfoy zu finden. Es wäre Zeitverschwendung. In meinem Palast findest du nur, was ich dich finden lassen will."
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Am Morgen fand Snape in einen beinahe tropisch anmutenden Innenhof, in dem es einen Springbrunnen, üppig blühende Büsche und Blumen und Bänke gab, die zum Verweilen einluden. Die Stimmen fremdartiger Vögel erfüllten die Luft. Wenn man den Blick hob, sah man zwischen den Palmwedeln und Blütenranken die zyklopischen schwarzen Mauern in den Himmel ragen, die diesen ganzen Ort umgaben und die seinem wahren Charakter weit mehr entsprachen als dieses kleine Idyll hier.
Während Snape noch hinsah, erreichte die Sonne den oberen Rand der einen Mauer, und augenblicklich flammte sie in gleißendem Gold auf.
"Die Goldene Festung!", erklang da Voldemorts Stimme geradezu schwärmerisch. "Ist sie nicht wunderschön? Der Stein enthält metallische Einschlüsse. Je nach Lichteinfall erscheint er schwarz oder eben golden."
Er stieg die Treppe hinab, die in den Hof führte.
"Guten Morgen, Severus! Irgendwie ahnte ich, dass ich dich hier finden würde."
Er stand nun neben Snape und verfolgte, wie die aufgehende Sonne rasch mehr und mehr von der schwarzen Mauer aufstrahlen ließ.
"Ein schöner Anblick! Und man wird ihn bald im ganzen Land kennen lernen. – Nun, dir war nicht nach Frühstück? Dann lass mich dir mehr von deinem neuen Zuhause zeigen."
Sie stiegen eine steile, enge Treppe hinauf, die aus demselben schwarzen Stein gehauen war. Sie führte zu einem Umgang hoch oben auf der wuchtigen Außenmauer.
Snape wandte sich dem inneren Bereich zu, den die Mauern umgaben. Er sah hinter einer schmaleren Innenmauer Dächer, Kuppeln und Türmchen. Das Areal musste riesig sein. Alles schien in einen schimmernden Nebel getaucht zu sein, der es unmöglich machte, die tatsächlichen Ausmaße der Anlagen oder die Entfernungen abzuschätzen.
Über dem bizarren Gewirr erhob sich klar eine große Kuppel, die wohl den Bankettsaal vom gestrigen Abend überwölbte, wie Snape vermutete. Dann machte er noch die Umrisse eines gigantischen Turmes aus, der im Dunst beinahe verschwand. Seine Höhe verschleierten die Wolken.
"Und nun dreh dich um, sieh nach außen!", forderte Voldemort ihn auf.
Als Snape über den äußeren Mauerrand blickte, konnte er tief unten die rauhe See bis fast gegen den Mauersockel anrollen sehen.
"Azkaban! Das ist Azkaban!", rief er vollkommen überrascht.
"Endlich gelingt es mir einmal, dir eine Gefühlsregung zu entlocken! Ja, das war Azkaban. Seit Dumbledores Tod habe ich Tag und Nacht daran gearbeitet, aus diesem heruntergekommenen Gefängnis die Festung zu machen, die du jetzt siehst. Ich glaube allerdings kaum, dass die Nachricht über den Fall Azkabans schon lange nach draußen gedrungen ist."
"Wo sind die Dementoren?"
"Ausgeflogen. Ich lasse sie ein wenig jagen. Sie waren recht hungrig. Aber wir sind dennoch nicht ungeschützt. Siehst du die tiefen Gräben dort?"
Snape waren die Gräben zwischen äußerem und innerem Mauergeviert natürlich aufgefallen. Sie schienen mit schwarzgrüner Flüssigkeit gefüllt, die ihn an das modernde Wasser eines Moores erinnerte. Hier und da standen große schleimige Blasen auf der reglosen Oberfläche, die den leeren Himmel widerspiegelte. Ein Ekel erregender Geruch stieg in Wellen bis nach hier oben von den Gräben auf. Als er jetzt hinabsah, konnte er hier und da unter der Oberfläche träge Bewegungen ausmachen.
Voldemort sah es auch und lachte leise.
"Was du da siehst, ist die Armee deines Herrn. Die, die du gestern Abend hirnlose Kreaturen zu nennen beliebtest – das werden unsere Soldaten sein. Da unten treiben sie dahin in einem traumlosen Schlummer, mit ihren blicklosen, weit geöffneten Augen, über die sich der Schlick der Gräben legt. Da unten in den Tiefen meiner Festung, da findest du Gewölbe und Gemächer, in denen – ah, das sind nokturne Träume, die wir uns dort erfüllen!"
"Ihr seid ein wahrer Poet des Grauens, mein Lord", sagte Snape nach einer Pause mit gekräuselten Lippen. Einen Moment lang glaubte er, zu weit gegangen zu sein. Aber dann hörte er Voldemort wieder leise lachen.
"Ich schätze deinen Mut, Severus, mein Prinz! Du ahnst nicht, wie langweilig es auf die Dauer ist, immer von Kleingeistern umgeben zu sein. Sieh dir Lucius an – alles hohle Fassade: der alte Adel, die superbe Arroganz – er ist zusammengebrochen, als er das erste Mal selbst Blut vergießen musste! Oder Bellatrix – oh, Bellatrix! Alles, wovon unsere Freundin Bellatrix in der Tiefe ihres unruhigen Herzens träumt, ist, ihren Körper in schweißnasser Ekstase um den meinen zu winden! Wie ermüdend! Und wie – nun, dumm!"
Voldemort sah sich zu Snape um, und in seinem Gesicht stand echte Ratlosigkeit.
"Ich habe nie verstanden, warum gerade dieser Trieb eine solche Macht über die Menschen hat. Ist die Ekstase nicht wie ein Vorgeschmack des Todes? Ist die Fortpflanzung nicht wie ein Götzendienst für die Sterblichkeit? Aber sie alle fallen diesem Trieb zum Opfer. Meine eigene Mutter – sie hätte alles erreichen können! Sie hätte die mächtigsten Männer behexen können, ihr zu Willen zu sein – aber sie wollte nur den einen, meinen Vater. Als dieser sie nicht mehr wollte, gab sie sich auf. Ist das vielleicht nicht dumm? Sag du es mir, Snape: Was ist das für eine Macht, die so auf die Menschen wirkt?"
"Ihr scheint zu denken, dass ich eine Antwort darauf weiß."
"Nun, ich denke vor allem, dass du dich wieder herauswinden willst. Ein andermal wirst du mir schon noch Rede und Antwort stehen. Jetzt gibt es anderes, um das wir uns kümmern müssen. Ein Wort noch zu den Inferi. Sie mögen hirnlose Kreaturen sein. Aber unterschätze nicht das Grauen, das sie auslösen! Unterschätze nicht ihren Hunger! Sie mögen für einen guten Zauberer leicht zu führen sein – bis sie lebendes Fleisch wittern. Dann bedarf es eines wahrhaft starken Geistes, sie zu zügeln. Ich denke, du wirst ein guter Heerführer sein, Snape. Komm jetzt!"
Er wandte sich von der Mauer ab und eilte mit wehendem Umhang die Treppe hinunter. Snape folgte ihm zurück ins Innere. Voldemort führte ihn in einen kleinen, seltsam feminin gestalteten Salon, von dem aus man in den Innenhof mit seinen Brunnen und üppig blühenden Pflanzen sehen konnte.
"Ich hoffe, mein Palast gefällt dir. Ich erwarte hier für die nächste Zeit eine Reihe von Gästen. Darunter auch solche, die es gewohnt sind, dass man ihnen einiges an Komfort und Ästhetik bietet. Und ich möchte diesem Gerede endlich ein Ende machen, wonach wir Barbaren sind, ohne Geschmack, ohne Sinn für die schöne Form", sagte Voldemort, während er sich an dem Teetischchen niederließ. Ein stummer Hauself stand bereit und servierte Tee in zierlichen eierschalenfarbenen Porzellantassen.
"Allerdings muss ich zugeben, dass das auf einen Großteil meiner neu gewonnenen Anhänger leider zutrifft", fuhr Voldemort fort. "Nicht wenige unter ihnen halten schon das Essen mit Besteck für eine Kunstform. Nun, das sind Verbündete, auf die man in einem Krieg bedauerlicherweise eben angewiesen ist.
Aber sieh dir die anderen an, den engsten Kreis, der von Anfang an dabei war! Das sind Menschen, die sich jahrhundertealter, reinblütiger Abstammung rühmen, die reich und verwöhnt sind und seit Generationen von erlesenem Luxus und kostbarsten Gegenständen umgeben. Sie peitschen ihre Hauselfen, wenn die ihnen eine Falte in die Unterwäsche bügeln. Wie man zu welchem Essen angemessen gekleidet ist, ist bei ihnen Gegenstand philosophischer Erörterungen. Aber wenn du in ihre Träume blicken kannst, ah – Severus, da erwartet dich ein ganz anderes Bild. Da waten sie im Blut und wälzen sich im Dreck. Und ich, ich kann ihnen das geben: die Verwirklichung ihrer Träume, ohne Scham und Reue. Im Gegenteil: Ich schenke ihnen noch das Bewusstsein, es für eine würdige Sache zu tun, dazu."
Snape trank einen Schluck Tee aus seiner Tasse.
"Die vergangenen Wochen haben dich nicht unbedingt gesprächiger gemacht, mein Freund. Während mich der Überschwang gelegentlich davonträgt! Ich gestehe, dass ich stolz bin auf das Erreichte. Dies ist der Ort, den ich erschaffen wollte, und endlich verfüge ich über die Mittel und die Gelegenheit, es zu tun. Ich verspreche dir, auch dich werde ich noch begeistern können. Lass mich dir dein neues Laboratorium und meine Bibliothek zeigen, die ich nun endlich in einer würdigen Umgebung unterbringen kann."
Und mit den beschwingten Schritten, die zu seiner erneuerten Persönlichkeit zu gehören schienen, ging er voran und bedeutete Snape, ihm zu folgen.
"Der Tee war jedenfalls ganz hervorragend", sagte Snape.
"Feinster erster Schnitt! Nur die zartesten Blattspitzen. Ich beziehe ihn inzwischen direkt aus Japan."
Sie gingen den Korridor entlang bis zur Eingangshalle und dort die breite Treppe hinauf. Vom nächsten Treppenabsatz aus führten zwei Treppen in unterschiedliche Richtungen weiter.
Voldemort wandte sich nach rechts und sagte mit einer Kopfbewegung in die Gegenrichtung: "Dort oben befindet sich – nun, nennen wir es ein Museum. Ein Museum der Sterblichkeit, ja, so könnte man es bezeichnen. Eine exquisite Ausstellung, die ein weites Gebiet des Themas abdeckt! Nicht das ganze, natürlich." Voldemort lächelte. "Es ist ein Gebiet, das kaum erschöpfend behandelt werden kann, da es sich sozusagen ständig erweitert und dem eifrigen Sammler stets neue Überraschungen zu bieten hat. Und da ich gerade von Sammlungen spreche: Meine kleine Sammlung ganz persönlicher Kostbarkeiten befindet sich ebenfalls in diesem Flügel. Einige Exponate habe ich gerade noch aus dem Geheimversteck unseres Freundes Lucius retten können, bevor die Auroren ihre ungehobelten Finger darauf legen konnten. Eines Tages werde ich dir beide Sammlungen zeigen. Du wirst sie zu würdigen wissen."
Oben angekommen gingen sie den Korridor entlang, bis Voldemort schwungvoll eine Tür öffnete und Snape hereinwinkte. Snape fand sich in einem großen Raum wieder, dessen Wände Regale und Schränke verdeckten, die voller Gläser, Flaschen und Behälter aller Art waren. Schimmernde Geräte, Modelle, Tafeln mit Abbildungen von Pflanzen, Tieren und zahlreichen magischen Gegenständen waren säuberlich auf gut erreichbaren Borden untergebracht. Und dann ein Bücherschrank, dessen Inhalt tatsächlich einen beinahe ehrfürchtigen Ausdruck auf sein Gesicht zauberte.
Severus Snape stand da und staunte. Voldemort betrachtete ihn mit einem lauernden Blick von der Seite.
Snape hob eine Hand und berührte einen übergroßen, in altersbrüchiges Leder gebundenen Folianten. Zögernd nahm er ihn schließlich mit beiden Händen aus dem Regal und schlug ihn langsam auf.
"De Caligine mundi", las er laut. "Weltennacht! Ihr besitzt es tatsächlich!"
"Eine von nur drei existierenden Abschriften des Originals von Salazar Slytherin, ja. Nicht diese Version für Kinder, die Grindelwald daraus gemacht hat. Nachtwelten – pah. Populäres Gewäsch. Nein, das ist der wahre Slytherin."
"Als Junge habe ich alles versucht, um an diesen Text zu kommen", murmelte Snape. "Nur hineinsehen wollte ich. Es war zwecklos."
"Nun, jetzt kannst du ihn in Ruhe studieren. Zu unser aller Nutzen, wie ich hoffe."
Snape hob den Blick von den Seiten.
"Ich erwarte weiterhin Großes von dir, Severus", sagte Voldemort, und Snape entging der drohende Unterton keineswegs.
oooOOOooo
Es war dunkel geworden, als Voldemort Snape wieder in seinem neuen Laboratorium aufsuchte. Dieser war in die Lektüre des alten Buches versunken und löste den Blick mit sichtlicher Mühe von den Pergamentseiten.
"Genug gelesen, Snape. Du darfst dich nicht so in den Büchern vergraben! Es gibt noch mehr, das ich dir zeigen will. Hier, nimm deinen Umhang mit, es ist kalt dort oben."
Snape stand auf und warf gehorsam seinen Umhang um.
"Auf den Turm hinauf?", fragte er nur.
"Richtig, mein aufmerksamer Schüler. Wir sollten apparieren – um ehrlich zu sein, es gibt keinen anderen Weg hinauf. Es sei denn, du willst den Besen nehmen."
Snape hatte immer noch Mühe, sich an die gute Laune seines Herrn zu gewöhnen. Er folgte ihm und stand Sekundenbruchteile später auf einer kleinen Plattform hoch oben auf dem Turm, den er am Morgen betrachtet hatte. Eine schwankende kleine Laterne verbreitete ein schwaches Licht, das eben ausreichte, dass sie einander sehen konnten. Der Wind ertönte als ein beständiges Heulen hier oben, und hin und wieder verdeckten ziehende Wolkenfetzen die Sicht nach unten.
Snape war überrascht, als er dort, wo er nach allem, was er wusste, nur das Meer hatte vermuten können, auf einmal die Lichtmuster einer Muggelstadt erkannte.
"Gefällt es dir?", fragte Voldemort, der Snapes erstaunten Blick auffing.
"Ja", sagte Snape und meinte es ehrlich.
"Da unten schlafen sie, die Muggel, und ahnen nichts von uns. Vielleicht würden sie sogar über uns lachen, wenn man ihnen von uns erzählte. Magie gehört für sie in die Kinderstuben und zu den Märchen, die sie ihrer Brut erzählen. Und doch haben sie Angst, oh so viel Angst! Oft wissen sie nicht einmal wovor und rennen zu ihren Seelenärzten – dabei liegt es nur daran, dass sie die Magie aus ihren Vorstellungen von der Wirklichkeit verbannt haben." Voldemort lachte. "Aber ich werde sie wahre Angst lehren!"
Er stand dicht neben Snape und sah über das Geländer der Plattform in die Tiefe.
"Ihre Furcht ist meine Macht. Je mehr sie mich fürchten, desto intensiver lebe ich. Du musst ihre größte Angst herausfinden lernen, mein Freund. Das ist der Schlüssel zur Macht. Es ist eine ganz besondere Kunst, die Angst der Menschen herauszufinden. Meistens fürchten sie nämlich etwas ganz anderes als sie zu fürchten glauben. Sie leben so sehr in ihrem Alltag mit seinen alltäglichen Sorgen und Nöten. Sie wissen gar nicht, welche Abgründe sich unter ihren Füßen auftun können – in jeder Sekunde." Voldemort lachte leise und sah in das lichtgepunktete Dunkel unter ihnen. "Sie sind solche – Kreaturen! Sie werden geboren, sie wachsen auf, sie zeugen die nächste Generation, werden alt und sterben. Und keiner wagt es, das auch nur in Frage zu stellen! Sie unterwerfen sich einfach. Sie sind so erbärmlich. Sie haben nichts anderes verdient als den ewigen Kreislauf, das ewige Sterben!"
Snape erschauerte neben ihm, der scharfe Wind hier oben ließ ihn sogar unter dem schweren Umhang frösteln.
Nachdem Voldemort eine Weile hinabgesehen hatte, wandte er sich unvermutet heftig an Snape.
"Und was ist mit dir, Severus –! Ich muss gestehen, dass es mich ungeheuer reizt, zu erfahren, was denn deine dunkelste Angst ist. Ich beobachte dich schon so lange, aber du verstehst es wirklich, dir keine Blöße zu geben. Alsdann –", er wandte sich mit seinem bösen Lächeln an sein Gegenüber, "alsdann, Severus, sag es mir. Sag mir, was dich aus deinen tiefsten Träumen aufschrecken lässt, was deinen Körper mit kaltem Schweiß bedeckt, dich zitternd die Augen schließen lässt!"
Snapes Gesicht lag im Schatten.
"Vielleicht sehe ich ein überwuchertes, vergessenes Grab. Mein eigenes Grab", antwortete er schließlich.
"Eine gute Antwort. Und möglicherweise ist sie sogar wahr, wenn es auch ganz sicher nur die Angst deines Geistes ist. Und doch – sag mir noch etwas, Severus! Was hat dich bewogen, dich für den kleinen Malfoy so zu engagieren?"
Und mit einer plötzlichen Bewegung umfasste er Snapes Handgelenk mit einem eisernen Griff. Die Spitzen seiner langen Fingernägel schnitten in die verletzte Haut dort. Voldemort lächelte immer noch, aber in der Tiefe seiner roten Augen glomm ein grausamer Funke.
"Habe ich das? Bin ich etwa eingeschritten, als sein Vater das Schwert gegen ihn erhob?"
"Weich mir nicht aus", warnte Voldemort leise. "Wage es nicht, mich für dumm zu halten! Es war die Frau, Narcissa, oder? Sie wird dich tränenreich um Hilfe angefleht haben. Ich hätte eigentlich nicht gedacht, dass Frauentränen eine solche Macht über dich haben –"
"Und das haben sie auch nicht, Herr", sagte Snape spröde. "Es war der Junge. Nur ein Junge – fast noch ein Kind."
"Ist sie das – deine geheime Schwäche? Knaben?"
Snape lächelte ein ironisches kleines Lächeln. Voldemort konnte es in seiner Stimme hören, als Snape antwortete: "Nein, das nicht. Er war mein Schüler. Der Sohn eines Mannes, den ich seit vielen Jahren kenne. Ich wusste, er war mit der Aufgabe überfordert. Und er hat sich ja auch erbärmlich genug angestellt und durch sein Versagen beinahe das ganze Unternehmen infrage gestellt."
"Ja, das ist mir bekannt. Aber das war es nicht, was ich wissen wollte. Wieso hast du dich mit dem Eid an diese Frau gebunden, Snape?"
"Um sie zu beruhigen. Um ihr Vertrauen in mich zu stärken. Und ich ging davon aus, Ihr würdet ohnehin von mir erwarten, dass ich im Falle von Malfoys Versagen eingreifen würde."
Voldemort musterte ihn eine ganze Weile stumm.
"Und noch einmal gut geantwortet, Severus", sagte er dann langsam. "Was mir zu denken gibt, ist, dass du deinen Tod jedenfalls nicht zu fürchten scheinst. Das gibt mir viel zu denken. Ein Diener, der den Tod nicht fürchtet, ist entweder ein sehr guter oder ein sehr gefährlicher Diener."
Snape antwortete nicht, sondern hielt dem Blick stand.
"Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob du dich nicht doch täuschst. Vielleicht hast auch du mehr Angst, als du glaubst. Vielleicht kannst auch du die Abgründe nicht erahnen, in die ich eine Menschenseele zu stürzen vermag."
Er streckte einen langen, weißen Zeigefinger aus und berührte Snapes Brust.
"Oder auch einen Menschenleib", fügte er nachdenklich hinzu. "Das wollen wir nicht vergessen."
Dann raffte er mit einer abschließenden Bewegung seinen Umhang um sich und sagte in anderem Ton: "Aber nun sieh her! Ich will dir etwas zeigen."
Er hob den Zauberstab über die Stadt tief unter ihnen. Snape sah, wie sich seine Lippen bewegten. Dann eine kurze, schneidende Bewegung des Zauberstabes.
Zuerst begriff er nicht, was geschehen war. Dann erkannte er, dass sich unter ihnen vollständiges Dunkel ausbreitete. Alle Lichtfunken der Stadt waren verloschen. Voldemort lachte.
"Genial, oder was meinst du? Ich glaube, unsere Freunde werden dieses Werk gar nicht recht zu schätzen wissen. Aber du und ich, wir sind beide bei den Muggeln aufgewachsen. Wir wissen, wie sehr sie an ihren Steckdosen hängen, nicht wahr?"
Noch immer lachend, wandte er sich zu Snape um.
"Weißt du, sie machen Filme über solche Dinge. Sie lieben es, sich alle möglichen Weltuntergänge auszumalen! Ich werde sie ihnen schenken, einen nach dem anderen!"
