Kapitel 6

Hausarrest

Hermione hatte Harry am Arm gepackt. Die Leute hörten nach und nach auf zu tanzen, als die Musik verstummt war. Zuletzt glitten nur noch die bunten Lichtstrahlen über die geschockte Menge und fielen überall auf erschreckte, geisterhaft bleiche Gesichter.

"Azkaban?", fragte Hermione leise.

Aus dem auseinander brechenden Kreis der Tanzenden sahen sie Ron auf sie zukommen. Ihm folgte Fabienne, mit der er getanzt hatte. Ganz in der Nähe entdeckte Harry, halb im Dunkel unter den Bäumen stehend, Hekate Harper, die das Geschehen aufmerksam beobachtete. Sie selbst schien völlig ruhig zu sein.

Derweil trat Scrimgeour in die Mitte der Tanzfläche, und alle verstummten.

"Ja, leider ist das richtig: Soeben wurde bekannt, dass Azkaban in die Hand – des Feindes gefallen ist", sagte er mit lauter Stimme. "Und es scheint, dass dies schon vor mindestens zwei Wochen geschehen ist."

Das Stimmengemurmel fing wieder an, vereinzelte Rufe wurden laut.

"Wieso erfahren Sie das jetzt erst?"

"Was ist mit den Dementoren?"

"Warum hat das keiner Ihrer Angestellten von dort mitgeteilt?"

"Leben die Gefangenen noch?"

Scrimgeour winkte um Ruhe.

"Wie es aussieht, sind alle Angestellten – und offenbar auch die Insassen – des Gefängnisses Voldemort zum Opfer gefallen", fuhr er dann etwas gedämpft fort. "Wir versuchen seit gestern Nacht, in die Nähe der Festung zu kommen, aber es ist nicht möglich. Azkaban ist offenbar von Voldemort mit einem Entrückungszauber umgeben worden. Es ist völlig in einem dichten Nebel verschwunden."

Harry beobachtete den Minister, der ihn vor zehn Minuten unter Hausarrest gestellt und bedroht hatte. Er war im Moment gut beschäftigt, die Leute drängten sich heran und stellten Fragen. Wenn er jetzt einfach verschwand? Irgendwohin apparierte oder einfach davonlief?

Er spürte Hermiones Blick auf sich.

"Nicht Harry", sagte sie leise. "Mach' es nicht noch schlimmer!"

"Was soll er lassen?", fragte Ron, dem es sichtlich etwas unbehaglich war, wie Fabienne sich an ihn lehnte.

"Er soll nicht abhauen. Scrimgeour hat ihn eben zu Hausarrest verdonnert. Im Hauptquartier."

"Was!"

Jetzt sahen sie Arthur und Molly auf sich zukommen, dicht gefolgt von Moody.

"Harry, es tut mir so leid!", rief Molly ihm entgegen.

Moody und Arthur Weasley sahen sehr ernst aus.

"Muss dich wohl gleich mitnehmen, Harry. Hatte mir den Abend auch anders vorgestellt", knurrte Moody.

"Die können mich doch jetzt nicht einfach einsperren!", sagte Harry verzweifelt. "Verstehen Sie doch, ich muss hier weg, ich habe – Dinge zu tun. Wichtige Dinge."

Ihm wurde bewusst, wie kindisch er sich anhörte.

"Das ist der Punkt, Harry. Kein Alleingang mehr, keine einsamen Helden. Stimme Scrimgeour darin zu. Könnte zuviel von dir abhängen."

"Wir kommen mit ihm", sagte Hermione entschlossen. "Und ich werde mich informieren, ob das überhaupt rechtmäßig ist. Schließlich hat er nichts getan!"

"Das Haus seines Onkels in London wurde vorletzte Nacht eindeutig durch magische Einwirkung zerstört", sagte Moody.

"Aber das war doch nicht Harry! Er war doch – wo ist denn bloß Lupin, der muss doch hier mal eingreifen!" Hermiones Stimme klang verzweifelt.

"Ich bin schon da", sagte Lupin und trat aus der Dunkelheit zu ihnen heran. Die bunten Lichter waren endlich verloschen, und das Gelände lag im schwachen Licht einiger Laternen da. Die Leute strebten dem Haus zu. Hier und da hörte Harry ein Weinen.

Lupin sah sehr müde aus.

"Ich kann leider nichts dagegen ausrichten, Harry", sagte er leise. "Wir alle wissen, dass du damit nichts zu tun hast. Es ist ein Vorwand von Scrimgeour. Er steht zur Zeit sehr unter dem Druck der Öffentlichkeit, und das wird noch schlimmer werden. Er will einfach sicher sein, dass der Auserwählte unter seiner Kontrolle ist."

"Das hörte sich bei ihm eben aber anders an. Da ließ er anklingen, dass mich viele für einen schwarzen Magier halten, der Voldemort im eigenen Interesse loswerden will. Und manche denken, ich hätte die Seite gewechselt. Wie auch immer, Scrimgeour will mich zu einer Legilimentation zwingen", sagte Harry.

Die anderen starrten ihn an.

"Das kann er doch gar nicht", sagte Hermione.

"Er will mich im Notfall anklagen – wegen Beihilfe zum Mord."

"Was!"

"Wir sollten das jetzt nicht hier diskutieren", sagte Arthur Weasley. "Kommt mit rein. Die Dinge stehen schlimm genug. Es ist vielleicht nicht mal das Schlechteste, wenn du für einige Zeit am Grimmauldplatz untergebracht bist. Da ist es wenigstens sicher."

"Schön. Denn dann seid ihr sicher beruhigt, wenn ihr hört, dass ich mit ihm dahin gehe", sagte Ron, was ihm einen dankbaren Blick von Hermione eintrug.

Molly wollte etwas sagen, ließ es dann aber und sah resigniert aus.

"Harry, ich weiß nicht, wie ich es dir verständlich machen soll", begann Arthur Weasley, während sie hineingingen. "Auch der Orden ist nicht ganz glücklich über dein Schweigen, weißt du. Alastor hat beschlossen, deine Entscheidung erst mal zu respektieren. Aber es sind auch Zweifel geäußert worden."

"Was für Zweifel?"

"Nun, einige fragen sich, ob es richtig ist, dass du jetzt, wo Dumbledore tot ist, immer noch – Informationen für dich behältst, die du von ihm hast."

"Aber er hat mir gesagt, ich soll mit niemandem, wirklich niemandem darüber reden!", sagte Harry und verschwieg instinktiv, dass es zwei Ausnahmen von diesem Verbot gegeben hatte. Er wollte nicht, dass sie sich auch noch seine Freunde vorknöpften.

"Das haben wir ja auch akzeptiert, Harry. Aber Dumbledore ist nun tot. Hat er damit gerechnet? Und wenn, hätte er dann nicht vielleicht andere Verfügungen getroffen?

"Das werden wir nun nie erfahren, nicht wahr?", sagte Harry ziemlich angriffslustig. Er war auf einmal unheimlich wütend. Was wollten sie bloß alle von ihm? Wieso konzentrierten sie sich nicht darauf, Snape zu jagen – der würde ihnen sicher eine Menge erzählen können, und nicht nur über Dumbledore.

oooOOOooo

Draußen war es grau und drückend. Sie hatten beide Türen zum Balkon offen stehen und hingen unschlüssig im Salon herum. Ron lag auf dem Sofa, Hermione strich unruhig an den Bücherregalen entlang, und Harry stand einfach da und sah auf die Kastanie hinaus.

Er dachte an den überstürzten Aufbruch am vergangenen Abend. Sie waren alle wie betäubt gewesen vom plötzlichen Szenenwechsel. Die Hochzeit endete abrupt und in bedrückter Stimmung. Ron, Hermione und er hatten ein paar Sachen zusammengepackt – Harrys waren ja ohnehin noch zum größten Teil am Grimmauldplatz – und waren mit Moody und Lupin unter der Aufsicht von Scrimgeour persönlich nach London appariert. Bis zum Grimmauldplatz konnte er sie nicht begleiten, weil er nicht in das Haus hineingefunden hätte, nachdem der Geheimniswahrer Dumbledore dessen Ortung sozusagen mit ins Grab genommen hatte.

"Ihre Apparier-Lizenz wird selbstverständlich erst einmal einbehalten", hatte Scrimgeour kalt gesagt.

Er hatte jedoch nichts dagegen einwenden können, dass Ron und Hermione ihn begleiteten. Harry war überrascht, wie dankbar er dafür war, dass sie mitkamen. Seine Gedanken waren ein einziges Chaos, und wenn er mit niemandem würde sprechen können während seines Arrests, würde er verrückt werden, das wusste er.

"Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um dich da herauszuholen", hatte Arthur zum Abschied gesagt. "Und mach dir nicht zu viele Gedanken wegen dieser Legilimentationssache Ich glaube kaum, dass er damit durchkommt."

Harry wandte sich von der Kastanie ab und zu seinen Freunden um.

"Ich kann auf keinen Fall eine Legilimentationmachen", sagte er entschlossen. "Wenn die mich dazu zwingen wollen, haue ich ab."

"Was genau soll das eigentlich sein?", meldete sich Ron vom Sofa her.

"Ein anerkannter Legilimens durchforscht sein Hirn nach den Sachen, die sie wissen wollen", erklärte Hermione.

"Ich wette, die meinen diese Harper. Hat nicht einer gesagt, dass sie ein Legilimens ist?"

"Percy war das. Kannst du sie nicht mit irgendwas abspeisen, damit sie nicht die schweren Geschütze auffahren?", fragte Hermione.

"Das hat doch keinen Zweck. Die sind eindeutig hinter der Sache mit den Horcruxen her. Lupin zum Beispiel wusste, dass Horcruxe im Spiel sind. Und wenn diese Harper Verteidigung gegen die Dunklen Künste gibt, dann weiß sie darüber auch Bescheid. Ich bin sicher, dass die sich im Orden schon lange darüber klar sind, dass Voldemort Horcruxe benutzt. Sie suchen wahrscheinlich schon ewig danach."

"Aber Harry – willst du dann nicht vielleicht doch mit ihnen reden? Ihnen sagen, was du weißt? Ich meine, die stehen auf unserer Seite!", sagte Hermione. "Bevor du hier festsitzt."

"Snape war auch im Orden", sagte Harry. "Und Dumbledore hat mir ganz eindeutig gesagt, dass ich auf keinen Fall mit jemandem darüber reden soll, außer mit euch. Er hatte seine Gründe dafür. Die Horcruxe sind meine Aufgabe. Wie Voldemort auch", fügte er leise hinzu.

Sie schwiegen. Eine Weile hingen sie alle ihren Gedanken über diese verfahrene Situation nach. Was konnten sie tun – drei kaum erwachsene Schüler, mit der Schule noch nicht einmal fertig, gegen einen Zauberer wie Voldemort?

Endlich hörte Hermione mit ihrem Hin- und Hertigern auf und setzte sich an Harrys Schreibtisch.

"Okay", sagte sie in entschlossenem Ton. "Dann werden wir jetzt methodisch vorgehen. Hast du hier irgendwo Pergament und Federn?"

"Denk' schon. Müsst ihr doch besser wissen."

"Stimmt. Hier ist was", sagte sie und glättete die Rolle mit energischen Bewegungen. "Also. Das Thema lautet Horcruxe. Was wissen wir darüber? Von wem können wir weitere Informationen kriegen? Wie kann man sie vernichten?"

"Du bist echt gut, Hermione", sagte Ron. "Vielleicht könnte einer von euch noch mal genau erklären, was das überhaupt ist?"

"Horcruxe sind Gegenstände, auf die mithilfe schwarzer Magie Seelenstücke eines Menschen übertragen wurden. Sie schützen einen vor dem Tod, denn selbst wenn man getötet wird, lebt ein Stück Seele von einem da drin weiter und kann wieder zurück ins Leben geholt werden – auf welche Weise auch immer", sagte Hermione.

"Eigentlich keine schlechte Einrichtung."

"Von der Tatsache mal abgesehen, dass du selbst jemanden töten musst, um Stücke von deiner Seele abzuteilen", erwiderte Hermione grimmig. "Das kannst du doch nicht vergessen haben!"

"Nein, nein. Reg dich nicht auf. Ich hör dich einfach gern dozieren, Hermy. Mach weiter."

Aber es war Harry, der fortfuhr.

"Voldemort wollte ganz sicher gehen. Er hatte vor, seine Seele in sieben Teile zu teilen, um endgültig unsterblich zu werden. Ein Teil, das in seinem Körper bleibt, und sechs Horcruxe. Wenn wir die finden und vernichten, dann haben wir schon fast alles geschafft. Dann müssen wir nur noch dem Dunklen Lord selbst das Licht auspusten."

"Schöne Aussichten", murmelte Ron bedrückt.

"Jetzt lasst uns mal sammeln und auflisten, was wir über die Horcruxe von Voldemort wissen", sagte Hermione und zückte die Feder. "Das Riddle-Tagebuch war sein erstes Horcrux. Und es ist vernichtet."

"Ja, aber vielleicht hat er inzwischen ein neues gemacht. Er weiß ja, dass das Tagebuch hinüber ist", sagte Harry.

"Okay, weiter. Der Ring seines Großvaters, den hat Dumbledore vernichtet."

"Ja, und er meinte, dass Voldemort sich wahrscheinlich nicht dessen bewusst wird, wenn eines seiner Horcruxe gefunden und vernichtet wird", sagte Harry nachdenklich. "Also weiß er das vermutlich nicht. Dann das verdammte Medaillon. Gibt es das richtige Medaillon noch, oder ist es R.A.B. gelungen, es zu vernichten?"

Hermione schrieb eifrig mit. "Über R.A.B. reden wir gleich. Jetzt erst mal alle Horcruxe."

"Also, Dumbledore vermutete, dass Voldemort gern besondere Gegenstände als Horcruxe nimmt, nach Möglichkeit etwas von den Hogwarts-Gründern. Slytherin ist ja schon vertreten. Vermutlich auch ein Pokal von Helga Hufflepuff, den hat er sich zusammen mit dem Medaillon durch den Mord an dieser Frau, Hepzibah Smith, angeeignet. Hab ich euch ja erzählt."

"Das wären dann – der Ring, das Medaillon, der Pokal, drei Stück, von denen eins sicher und ein anderes vielleicht vernichtet ist."

"Noch etwas von den anderen Gründern, Ravenclaw oder Gryffindor. Und die Schlange Nagini hatte er auch im Verdacht."

"Das wären dann sechs, plus das Tagebuch, das er vielleicht durch eines dieser anderen Horcruxe ersetzt hat."

Hermione schrieb ihre Liste, dann strich sie nachdenklich mit dem gefiederten Ende der Schreibfeder über ihre Nase.

"Hatte Dumbledore eine Idee, was genau das für Objekte von Ravenclaw und Gryffindor sein könnten?"

"Nein. Nur, dass es nicht Godrics Schwert sein kann." Harry warf sich aufs andere Ende des Sofas.

"Und wo sollen die Dinger sein?", fragte Ron. "Ich meine, wir brauchen doch irgendeinen Anhaltspunkt! Er könnte sie doch überall versteckt haben."

Hermione schrieb in großen Buchstaben Wo versteckt? auf ein anderes Stück Pergament.

Sie schwiegen.

"Lasst uns erst mal darüber nachdenken, wer etwas über Horcruxe im Allgemeinen und die von Voldemort im Besonderen wissen könnte", sagte Hermione dann.

"Im Allgemeinen ja wohl alle Lehrer für Verteidigung, oder?", sagte Ron. "Oder meint ihr, dass das nicht zur Ausbildung für Verteidigung gehört?"

"Voldemort, R.A.B., wer immer das sein mag, und Snape vielleicht", ergänzte Harry.

"Warum denkst du, Snape weiß etwas darüber?"

"Er hat Dumbledore geheilt, jedenfalls das Schlimmste in Ordnung gebracht, nachdem Dumbledore sich den Marvolo-Ring geholt hatte."

Hermione sah überrascht auf. "Snape?"

"Ja. Dieser Ring war wohl mit irgendwelchen Flüchen gesichert. Ihr erinnert euch doch noch, wie Dumbledores Hand aussah, so abgestorben? Das ist dabei passiert. Und er sagte, Snape hätte ihm – sozusagen das Leben gerettet."

"Warum?", fragte Ron.

"Vermutlich brauchte er ihn da noch", sagte Harry kalt. "Und vergesst nicht, er war schon immer ein echter Star in den Schwarzen Künsten. Ich bin sicher, dass er was darüber weiß. Außerdem war – ist er ein Todesser."

"Ja, aber wir können ihn wohl kaum fragen, oder?"

Aber Harry hörte nicht zu. Ihm war etwas eingefallen. Ein Satz, den er vor Jahren einmal gehört hatte, schwebte am Rande seines Bewusstseins, und er hielt ganz still, um ihn nicht zu verscheuchen. Dann hatte er es.

"Hört mal, mir ist da was eingefallen! Damals, auf diesem Friedhof, ich meine, als Voldemort wieder – ins Leben zurückgekehrt ist – da hat er was über die Todesser gesagt, das vielleicht wichtig ist. Er sagte, dass sie die Schritte kannten, die er vor langer Zeit unternommen hatte, um sich vor dem endgültigen Tod zu schützen."

"Und du meinst, er redete von den Horcruxen? Dass die Todesser davon wussten?", fragte Hermione gespannt.

"Was soll er denn sonst gemeint haben?"

"Das ist sehr wichtig. Wenn die Todesser Bescheid wussten, gibt es vielleicht irgendeine Möglichkeit, was von ihnen zu erfahren. Oder von ihren Angehörigen."

"Oder von ihren Hauselfen!", sagte Ron.

"Dobby! Genau! Der war doch so lange bei den Malfoys", rief Harry. "Und Kreacher vielleicht auch – ich meine, Sirius' Bruder war doch auch ein Todesser."

"Ja, aber ja doch nur sehr kurz. Wie stellst du dir das eigentlich vor, was können sie wohl davon gewusst haben?"

Harry starrte in die Luft und dachte nach.

"Ich denke, es könnte vielleicht so 'ne Art Ritual geben, wisst ihr, so wie die Sache damals auf dem Friedhof. Ein Ritual, wie man ein Horcrux macht. Vielleicht braucht man dafür Zeugen oder so. Vielleicht hat er die Todesser als Zeugen genommen."

"Gute Idee!" Sie schrieb Horcrux-Ritual vor Zeugen? auf ihre Rolle.

"Und dann hat Snape sicher Bescheid gewusst", schloss Harry.

"Falls Voldemort die Horcruxe nicht schon viel früher gemacht hat", wandte Hermione ein. "Ich meine, wie lang kann Snape denn damals dabei gewesen sein? Der war doch erst so um die zwanzig, als Voldemort – na ja, ihr wisst schon."

"Woher weißt du, wie alt Snape ist?", fragte Ron verwundert. "Nein, sag es nicht! Die alten Prophet-Ausgaben! Du hast was erzählt von 'ner Geburtsanzeige, stimmt's?"

"Du hast mal zugehört? Sehr ermutigend."

"Wir wissen nicht, wie sehr Snape in den letzten Jahren mit Todesser-Angelegenheiten beschäftigt war", gab Harry zu bedenken. "Er könnte dabei gewesen sein, als Voldemort das Riddle-Tagebuch durch ein neues Horcrux ersetzte!"

"Jedenfalls können wir ihn nicht fragen."

"Wie ist es denn mit Dumbledore?", warf Ron ein. Als er die Blicke der beiden anderen sah, fügte er rasch hinzu: "Klar, er ist tot. Aber was ist mit seinem Porträt, in seinem Büro? Du hast doch oft genug gesagt, dass die Porträts da oben jede Menge reden und sich einmischen."

"Vielleicht ist das gar nicht so blöd!", dachte Harry laut.

"Herzlichen Dank auch!"

"Wenn er inzwischen – äh – aufgewacht ist. Ich meine, als ich ihn damals in dem Porträt gesehen habe, da hat er einfach geschlafen."

"Auf jeden Fall müssen wir rausfinden, wer R.A.B. ist", sagte Hermione energisch. "Der muss ja ein Verbündeter sein, und ein ziemlich schlauer noch dazu."

"Ja, und ein ziemlich toter wahrscheinlich auch. Hast du vergessen, was in diesem Brief stand?", sagte Ron.

Einen Moment lang sah Hermione etwas betreten aus, dann fing sie sich wieder.

"Trotzdem müssen wir wissen, wer er war. Oder sie", fügte sie nachdrücklich hinzu. "Schon damit wir wissen, ob das echte Horcrux noch existiert." Und sie schrieb schwungvoll Wer ist R.A.B.? und Medaillon vernichtet? auf ihr Pergament. Dann sah sie auf. "Das macht hungrig. Lasst uns was essen."

"Ich war schon in der Küche", sagte Ron trübselig. "Die haben da anscheinend nur gebackene Bohnen in Dosen und alten Toast."

Hermione verzog das Gesicht.

"Vielleicht sollten wir mal einkaufen gehen."

"Ich denk eher, hier fehlt ein Hauself", sagte Ron aufsässig.

"Stimmt, ihr habt ja zu Hause auch so viele Hauselfen, nicht wahr?", schnappte Hermione zurück. "Beweg deinen Hintern und kauf ein paar Kekse und Äpfel oder so."

"Schokolade", sagte Harry.

"Geht doch selbst. Ich hab nicht mal Muggelgeld. Und könnte damit auch nicht einkaufen."

"Okay. Aber dann lasst uns das hier vorher noch zu Ende machen."

Harry lachte plötzlich. Er fühlte sich in dieser Sekunde glücklicher als jemals seit Dumbledores Tod. Er war eingesperrt, aber er hatte seine Freunde bei sich, mit denen er nicht nur über alles reden konnte, sondern die ihn auch immer wieder auf den Boden der Realität zurückholten. Vielleicht fühlten die beiden anderen dasselbe, jedenfalls fingen sie auch an zu lachen.

"Wir haben besprochen – die Fragen was wissen wir über Horcruxe? und von wem können wir Informationen dazu kriegen?. Fehlt noch: Wie kann man sie vernichten? Und wo sind sie versteckt?"

"Keine Ahnung und keine Ahnung", sagte Harry nach längerem Schweigen schließlich. "Zur Vernichtung von Horcruxen steht doch sicher was in irgendwelchen Büchern. Vielleicht könnten wir Slughorn fragen? Aber der wird sich zieren bei dem Thema."

"Wir fragen ihn auf jeden Fall. Schließlich hat er da was gutzumachen, oder? Er hat Riddle immerhin einiges dazu erzählt."

"Du hast doch schon eins vernichtet, Mann", sagte Ron.

"Stimmt. Aber bei dem Marvolo-Ring war zum Beispiel außerdem noch dieser Fluch drauf. Dumbledore hat es nur gerade eben überlebt. Wir sollten davon ausgehen, dass es nicht so einfach ist, ein Horcrux zu vernichten."

"Dann bleibt noch – wo sollen wir suchen?"

"Dazu müssten wir mehr über Voldemort selbst wissen. Wo er gelebt hat. Was wichtig für ihn war. Und so was. Dumbledore hat sich jahrelang mit ihm beschäftigt. Jetzt ist sein ganzes Wissen weg."

"In der Muggelwelt würde man Voldemort einen Serienkiller nennen. Die Polizei würde ein Täterprofil erstellen", sagte Hermione auf einmal nachdenklich.

"Was?" Ron verstand überhaupt nichts mehr.

Aber Harry hatte wie Hermione viele Schulferien in der Muggelwelt verbracht und dabei – wenn es die Laune der Dursleys zuließ – seine Langeweile oft genug vor dem Fernseher zu vergessen versucht. Er wusste, worauf Hermione hinauswollte.

"Das heißt, wir müssen alles zusammentragen, was wir über ihn, über seine Persönlichkeit wissen", fuhr Hermione aufgeregt fort. "So können wir etwas über seine Schwächen herausfinden oder seine – Besessenheiten. Vielleicht finden wir dann einen Weg, ihn zu bekämpfen."

"So etwas Ähnliches hat Dumbledore auch gesagt", meinte Harry nachdenklich, "ich glaube, deshalb hat er mir diese ganzen Sachen aus Voldemorts Vergangenheit im Denkarium gezeigt."

"Genau!"

"Aber du vergisst eine wichtige Sache", wandte Harry ein.

"Und?"

"Voldemort ist ein Zauberer. Der größte schwarze Magier, der je gelebt hat, wenn man den Gerüchten glauben darf. Und da hätten wohl selbst Profiler vom FBI ihre Schwierigkeiten."

"Könnte mir mal jemand erklären –"

"Trotzdem ist er doch noch irgendwie ein Mensch, oder? Mit Schwächen, die wir rauskriegen könnten. Zum Beispiel die Prophezeiung, die sagt doch, dass er eine Macht schon mal nicht hat –"

"Jetzt fang nicht wieder mit dieser Liebessache an! Wirklich, ich kann das nicht mehr hören! Es ist einfach – peinlich!"

"Oh ja, Mann, ich bin echt froh, dass niemand über mich so was gesagt hat, in einer Prophezeiung oder sonst wo."

"Ja, Ron. Für 'nen Liebesgott würde dich auch dann keiner halten, keine Sorge. Vielleicht können wir jetzt mal ernsthaft darüber reden?"

Sie sah die beiden streng an, und wie sie da so hinter Harrys großem Schreibtisch saß, den Pergamentbogen vor sich und die Feder schreibbereit in der Hand, da konnte Harry sich plötzlich sehr gut vorstellen, wie sie einmal an – vielleicht McGonagalls Stelle – hinter einem Lehrerpult in Hogwarts sitzen würde.

"Mir fallen da zwei Sachen ein. Einmal, dass er ein Sammler ist. Er sammelt Objekte, die mit seinen Morden oder anderen Taten zu tun haben. Und das Wichtigste: Seine größte Angst ist es, zu sterben", sagte Hermione. "Man könnte sagen, er hat sein ganzes Leben mit dem Versuch verbracht, sich unsterblich zu machen."

"Und er kam mir irgendwie – eitel vor", sagte Harry langsam und versuchte sich genau an die verschiedenen Denkarium-Szenen zu erinnern, in denen er Tom Riddle alias Voldemort begegnet war. "Er war sich so sicher, schlauer als alle anderen zu sein. Er verachtete alle anderen, auch seine Anhänger. Vielleicht die ganz besonders. Er manipulierte die Leute gern. Und er war total skrupellos. Andere bedeuten ihm nichts."

"Ob er nie jemanden geliebt hat?"

"Und ob jemals jemand ihn geliebt hat?", sagte Harry.

Er sah plötzlich wieder Merope Gaunt, Voldemorts Mutter, vor sich, diese geschlagene Kreatur, die nur eine einzige Liebe gekannt hatte. Für ihren Sohn hatte sie nur noch einen Namen gehabt, aber nicht mehr die Kraft weiterzuleben. Und ebenso plötzlich stand das Bild wieder vor ihm, wie seine eigene Mutter ihn mit ihrem Körper vor Voldemort geschützt hatte, bis sie starb. Er schluckte.

"Besonders viel wissen wir ja nicht. Daran müssen wir noch arbeiten. Slughorn fragen, zum Beispiel."

Hermione hatte weitergeschrieben. Harry stand auf und sah über ihre Schulter auf die Pergamentrolle.

"Klasse", sagte er. "Sehr nützlich. Aber wir müssen es verstecken."

"Kein Problem", erwiderte Hermione und nahm ihren Zauberstab. "Rana!"

Und mit einem leisen Plopp verwandelte sich die Rolle in einen gläsernen Frosch. Sie setzte ihn auf die unbeschriebenen Pergamentrollen, und er war nichts weiter als ein unauffälliger und recht hübscher Briefbeschwerer.

Sie gab vor, die bewundernden Blicke der anderen nicht zu bemerken, aber ihr Strahlen war zu deutlich, als dass sie ihr das abgenommen hätten.

"Und jetzt, Ron, werden wir einkaufen gehen", sagte sie.

oooOOOooo

Nach den beiden ersten Tagen von Harrys Hausarrest begannen sie, sich wirklich zu langweilen. Harry hatte ihnen endlich ausführlich von allem erzählt, was er in Godric's Hollow erlebt hatte, und sie hatten die rätselhaften Punkte heftig diskutiert, ohne zu sinnvollen Ergebnissen zu kommen. Auch ihre Überlegungen zu den Horcruxen hatten sie wieder und wieder durchgekaut, kamen aber ohne weitere Informationen nicht voran. Sie lasen sich durch einige Bücher aus der Black'schen Bibliothek, ohne auf etwas Nützliches zu stoßen.

Dann überraschte Lupin sie am dritten Tag mit einer Nachricht, die sie wenig später auch im Prophet lasen: Nach dem Fall von Azkaban hatte das Ministerium beschlossen, das Schuljahr aufgrund der unsicheren Lage so bald wie möglich beginnen zu lassen. Statt am ersten September sollte der Hogwarts-Express in diesem Jahr schon am fünfzehnten August fahren. Die Schule galt immer noch als einer der sichersten Orte im ganzen Land.

Harry fing wieder an, von Horcruxen zu träumen und schlief schlecht. Am Morgen des vierten Tages war er so genervt, dass er nur noch durch die Wohnung tigerte und nicht einmal mehr Appetit hatte.

Hermione beobachtete ihn eine Weile und sagte dann plötzlich in einem Ton, als wolle sie einen Geistesblitz verkünden: "Okklumentik!"

"Was meinst du damit?", fragte Harry gereizt. Ihm war schon das Wort zuwider.

"Hat Lupin nicht auch gesagt, du musst noch Okklumentik lernen? Und Dumbledore?"

"Das wird mir bei der Legilimentation aber auch nicht helfen", sagte Harry mürrisch. "Selbst wenn es möglich wäre, dass ich jetzt noch mal so eben Okklumentik lerne – was ich übrigens nicht kann!"

"Wieso nicht?"

"Bei der Legilimentationverpassen sie dir vorher so einen Trank, der dich unfähig macht, deine Gedanken zu verbergen", antwortete Harry düster. "Hab ich nachgelesen."

"Trotzdem. Alle haben dir gesagt, du sollst auf jeden Fall Okklumentik-Techniken können, wenn du Voldemort entgegentreten willst."

"Vergiss es. Ich kann es einfach nicht."

Ihn schauderte, wenn er nur an die fehlgeschlagenen Unterrichtsstunden bei Snape vor zwei Jahren dachte.

"Moment mal, bloß weil Snape es dir nicht beibringen konnte, heißt das nicht, dass es unmöglich ist. Vielleicht wollte der dir ja gar keinen guten Unterricht darin geben."

"Das finde ich sogar ziemlich wahrscheinlich."

"Na also. Ich glaube, ich habe gestern ein, zwei Bücher zu diesem Thema hier gesehen."

Hermione eilte an ein Bücherregal. Sie war in ihrem Element.

"Und es würde dir vielleicht auch jetzt helfen, gegen die Ungeduld, meine ich. – Ah, hier: Schweigen des Geistes. Grundlagen der Okklumentik. von Julia Tranquill. Und direkt daneben Ersetzende Imagination. Techniken der Okklumentik., auch von Tranquill."

"Wie bitte?"

Hermione packte die beiden recht dünnen Büchlein und ließ sich damit auf dem Sofa nieder. Als sie in den Grundlagen zu lesen begann, nahm sich Harry das andere vor und schlug die Techniken auf.

Wider Erwarten war es recht interessant. Es war völlig anders als das, was Snape damals gemacht hatte. Der hatte ihm nur knapp befohlen, seine Gedanken abzuschirmen und sich von seinen Emotionen zu lösen. Harry fühlte sich immer mehr in seinem Verdacht bestätigt, dass er nie wirklich die Absicht gehabt hatte, ihm etwas beizubringen. In den Tranquill-Büchern nun wurden Methoden und zahlreiche Übungen beschrieben.

Hermione schaffte es, Harry und auch Ron von da an täglich zu einer Okklumentik-Übungsstunde zu zwingen. Sie war der Ansicht, dass es ihnen allen dreien nur nützlich sein würde, wenn sie ihren Geist abschirmen könnten. Abgesehen von allem anderen half es auch gegen die Langeweile, fanden Harry und Ron, und setzten sich ergeben auf den Teppich vor dem Kamin, den Hermione als den besten Übungsplatz erwählt hatte.

"Denkt ihr, man kann auch Legilimentik lernen? Oder muss man eine bestimmte Begabung haben?", überlegte Harry eines Nachmittags.

"Du meinst so was wie eine Anlage zur Telepathie oder so?"

"Verwechsle das bloß nicht!", sagte Harry säuerlich. "Snape hat mir damals einen Vortrag gehalten, etwa in dem Sinn, dass nur so plumpe Trottel wie ich die hohe Kunst der Legilimentik für Gedankenleserei halten. Aber ehrlich gesagt, klar ist der Unterschied dabei nicht geworden."

"Nach allem, was ich bisher gelesen habe", begann Hermione ein wenig geschraubt, "besteht da wirklich ein Unterschied. Ein Legilimens dringt bewusst in den Verstand eines anderen ein, aber er kann ihn nicht lesen, nicht seine Gedanken sozusagen in Wörtern hören. Er sieht Bilder und das Chaos, das wir normalerweise so im Hirn haben. Er muss nach dem suchen, was er wissen will, und es dann entschlüsseln, es aus der Bildersprache des anderen übersetzen und deuten. Ich meine, wir haben doch viel mehr Bilder im Kopf als Wörter und Sätze."

Die Ausführungen Tranquills schienen Hermiones Ansicht zu stützen; vor allem die Technik der "ersetzenden Imagination" ging davon aus, dass der Verstand mit Bildern arbeitete. Wollte man einen bestimmten Gedanken verbergen, so sollte man ihn durch ein anderes Bild, eine andere Vorstellung ersetzen und sich vollständig auf diese konzentrieren. Dabei konnte es hilfreich sein, wenn zwischen dem originalen Gedanken und dem ersetzenden Bild irgendeine Verbindung bestand. Die durfte natürlich nicht zu eng oder zu deutlich sein.

"Im Grunde ist das nicht anders als Vokabeln lernen", meinte Hermione. "Vokabeln in deiner eigenen Sprache, die nur du selbst verstehst."

Diese Vorstellung fand Harry ganz hilfreich. Er hatte jedoch, ebenso wie Ron, anfangs große Schwierigkeiten mit der Technik des "leeren Geistes". Wenn er sich hinsetzte und ganz ruhig werden, alle Gedanken und Gefühle loslassen wollte, wie es gefordert wurde, turnten die Gedanken umso wilder durch seinen Kopf.

"Julia schreibt, dass das bei Anfängern völlig normal ist", beruhigte Hermione die beiden, obwohl es ihr selbst nicht anders erging.

Am nächsten Tag gelang es Ron, bei den Übungen einzuschlafen.

"Immerhin scheint er sich wirklich entspannen zu können", sagte Harry. Er selbst hatte damit keinen so großen Erfolg.

"Ich kann das einfach nicht", murrte er. "Und überhaupt, das ist doch so wie Trockenschwimmen, wenn wir nicht mal 'nen echten Legilimens zum Üben haben."

"Okklumentik kann man lernen", sagte Hermione. "Da sind sich alle einig."

"Ich glaube, das ist alles großer Quatsch." Er ließ sich hintenüber auf den Teppich fallen und starrte missmutig an die Decke. "Wir üben hier so was wie Meditation. Aber ich sag dir, wenn dir Snape mit seinem bösen Blick in die Augen sieht, kippst du einfach um, und er liest in deinem Kopf, was immer er will."

Ron schnarchte.

"Denk nicht mehr an Snape."

"Ich frag mich, wo er jetzt ist. Und Malfoy."

"Vergiss sie. Das lenkt dich nur ab. Harry, ich glaube, du musst das einfach lernen." Hermione sah ihn mit echter Besorgnis an. "Das hier ist kein Spiel", sagte sie leise. "Ich bin sicher, dass du das hinkriegen kannst."

"Es hat irgendwie wenig mit Magie zu tun."

"Sieh es als die nächste Stufe des Zauberns. Die, bei der es nicht mehr so sehr auf einen gut gelernten und richtig gesprochenen Zauberspruch ankommt, sondern auf – dich selbst. Versuche, dich selbst als etwas zu sehen, das magische Kräfte einfängt und bündelt."

"Hast du das von Tranquill?"

"Nein, das stelle ich mir immer vor, wenn ich appariere."

Harry war wider Willen beeindruckt. Hermiones Worte schienen etwas auszusprechen, das er selbst bei einigen Gelegenheiten unklar empfunden hatte, vor allem, wenn er den Patronus-Zauber ausgeführt hatte.

"Und wie schaffst du es, dich so zu konzentrieren?"

"Stell dir irgendein kleines Objekt vor und versuche, es ganz genau vor dir zu sehen. Das klappt bei mir meistens."

Harry versuchte, sich auf einen bestimmten Gegenstand zu konzentrieren und konsequent alle anderen Bilder, die ihm durchs Hirn flattern wollten, abzuweisen. Das kleine Amulett seiner Mutter kam ihm in den Sinn, und er versuchte, es sich vorzustellen, jede Maserung des grünlichen Holzes, die bizarren Zacken an der Bruchseite. Die Wirkung war erstaunlich. Er beschloss, dieses Bild nun immer in seinem Kopf entstehen zu lassen, wenn er seinen Geist abschirmen wollte.

"He Ron, kannst du mal mit dem Geschnarche aufhören und dich wieder an die Übungen machen?", sagte Hermione schließlich.

"Du meckerst doch nur, weil du es nicht hinkriegst", sagte Ron gähnend und streckte sich.

oooOOOooo

Harry wachte plötzlich auf. Es war noch völlig dunkel, im Haus war alles ruhig. Was hatte ihn geweckt?

Dann wusste er es wieder. Das Päckchen. Dumbledores Päckchen, das Tante Petunia ihm zum Geburtstag gegeben hatte. Das Päckchen mit der Aufschrift Für Harry, zu seinem siebzehnten Geburtstag, nicht früher und nicht später.

Wie hatte er es nur vergessen können?

Er sprang auf und suchte im Schrank nach seinem Koffer.

"Lumos!"

Mit etwas Licht war es leichter. Da war er. Er wuchtete den alten Koffer mit einiger Mühe aus dem Fach über seinem Kopf und ließ ihn auf den Boden krachen. Irgendwie war ihm der Schrecken in die Glieder gefahren. Was, wenn es weg war?

Hastig löste er die Riegel des Koffers und klappte den Deckel auf. Leer. Nein, halt, da war etwas. Ganz hinten lag noch ein alter und – wie er befürchtete – ziemlich muffiger Quidditch-Umhang. Mit zitternden Händen zerrte er ihn hervor. Und da war es. Dumbledores Päckchen fiel unversehrt aus dem Kleiderbündel.

"Merlins Bart!", stöhnte er erleichtert. "Was bin ich bloß für ein Trottel!"

Dann wog er das kleine Ding noch einmal in der Hand. Ein leises, wuschendes Geräusch, als rutsche darin etwas Kleines herum. Schließlich öffnete er die Schachtel. Darin lag – ein kleiner, hübsch verschnörkelter, goldener Schlüssel. Sonst nichts. Kein Brief, kein Zettel. Harry starrte das Schlüsselchen in seiner Hand an und fühlte sich auf den Arm genommen. Sollte das ein Scherz sein? Ein winziges Schlüsselchen – in einer Welt voller Schlösser! Woher sollte er das richtige finden, das dieser Schlüssel öffnete?

Aber Dumbledore musste etwas damit bezweckt haben. Er hatte gewollt, dass Harry diesen Schlüssel bekam, zu seiner Volljährigkeit. Er hatte ihn etwas wissen lassen wollen – vielleicht war es ihm zu gefährlich erschienen, etwas dazu zu schreiben, das in falsche Hände hätte fallen können? Er musste davon ausgegangen sein, dass Harry mit diesem Schlüssel etwas anzufangen wusste.

Harry seufzte. Eine Weile ging er im Geist alle kleinen Schlösser durch, die ihm jetzt einfallen wollten. Ein Schrank in Dumbledores Büro? Eine Geheimtür? Wer weiß, vielleicht sogar etwas in dem Haus in Godric's Hollow? Er versuchte sich an alles zu erinnern, was er dort gesehen hatte. Sicher hatte es dort Schränke gegeben. Irgendein verschlossener Gegenstand, ein Kasten oder Ähnliches war ihm aber nicht aufgefallen.

Er seufzte noch einmal und betrachtete den Schlüssel noch einmal ganz genau. Etwas an diesem Schlüssel kam ihm vertraut vor, wurde ihm plötzlich klar. Nur noch ein klein wenig nachdenken ...

Die Tür wurde aufgerissen. Ron und Hermione standen in Schlafanzügen und mit erschrecktem Gesichtsausdruck auf der Schwelle.

"Was machst du denn da mitten in der Nacht?"

"Du hast uns total erschreckt mit dem Gerumpel!", riefen sie durcheinander.

Mist. Die Erinnerung war fort. Harry war sauer.

"Ich kann doch wohl mal aufstehen, oder?"

"Es ist drei Uhr morgens!", sagte Hermione vorwurfsvoll.

"Musstest du noch nie nachts aufs Klo?"

"Willst du sagen, du hast in den Schrank –", begann Ron.

"Jetzt reicht's! Ich bin aufgewacht, weil mir was eingefallen ist. Im Schlaf, ja!"

"Und was hatte das mit dem Schrank zu tun? Es hörte sich an, als hättest du ihn umgekippt."

"Ich hab meinen Koffer aus dem oberen Fach geholt, er ist mir aus den Händen gefallen."

Ron ließ sich auf Harrys Bett plumpsen und gähnte.

Hermiones Blick fiel endlich auf den Schlüssel in Harrys Hand.

"Was ist das?"

"Wonach sieht's denn aus?", erwiderte Harry grantig. "Also, meine Tante hat mir zum Geburtstag das Päckchen hier gegeben. Sie hatte es von Dumbledore bekommen, schon vor Jahren. Sie sollte es für mich aufbewahren."

"Für Harry, zu seinem siebzehnten Geburtstag, nicht früher und nicht später", las Hermione laut. "Und warum bist du dafür mitten in der Nacht aufgestanden und –"

"Okay, ich hatte es – einfach vergessen! Kapiert? Die letzten Tage waren so voll – ich hab einfach nicht mehr dran gedacht."

"Kein Wunder", murmelte Ron, der schon halbwegs wieder schlief.

"Und das war drin? Der Schlüssel?"

"Ja. Und sonst nichts. Kein Wort."

"Und wofür ist er?"

"Wenn ich das wüsste, ging's mir besser, Hermione!", brüllte Harry. "Gerade hatte ich das Gefühl, dass er mich an irgendwas erinnert, da seid ihr reingetrampelt und alles war weg!"

Harrys Lautstärke hatte auch Ron wieder geweckt.

"Lass mal sehen, vielleicht fällt uns ja was ein", sagte er besänftigend.

"Aber klar!", schnaubte Harry, aber er reichte Ron den Schlüssel.

Ron betrachtete ihn und gähnte wieder.

"Ja, alles klar", sagte er. "Das ist ein Schlüssel von Gringotts. Bankverlies. Weißt schon!"

Harry starrte ihn an. Während Ron sich gähnend wieder zurück sinken ließ und offenbar sofort einschlief, sahen Harry und Hermione einander an und fingen an zu lachen.

"Unser Won-Won!", kicherte Hermione schließlich. "Er kann's im Schlaf!"

"Na ja, das weißt du wohl besser als ich", sagte Harry grinsend und bekam prompt einen ziemlich kräftigen Schlag in die Rippen. "Jetzt ist mir auch klar, wieso er mir bekannt vorkam. Ich hab doch selbst einen von Gringotts. Obwohl der zur Zeit bei seinem Dad ist, glaube ich", fügte er mit einem Blick auf Ron hinzu.

"Was wohl in dem Verlies ist, zu dem er gehört?", überlegte Hermione neugierig.

"Sicher irgendwas von meinen Eltern. Irgendwas, das sie für mich verwahren wollten."

"Aber sie haben doch schon ein Verlies mit Geld."

"Vielleicht haben sie extra noch eins genommen. Damit ich es erst zur Volljährigkeit sehe. Oder Dumbledore hat das so gemacht. Oder es ist einfach ein zweiter Schlüssel zum selben Verlies? Nein, das wäre ja Quatsch."

"Wir müssen morgen früh sofort in die Winkelgasse", sagte Hermione.

"Vergiss es", sagte Harry nur düster.

"Oh Mann, ja. Hab ich gerade wirklich vergessen. Du kannst ja nicht raus. Wir werden für dich gehen, was hältst du davon?"

"Meint ihr, die Kobolde lassen euch da dran? Hat Bill nicht was darüber gesagt, dass die Sicherheitsbestimmungen bei Gringotts zur Zeit so streng sind?"

"Du kannst uns ja 'ne Vollmacht mitgeben."

"Dieser verdammte Hausarrest. Hoffentlich fällt Rons Dad oder Lupin bald was ein, damit ich hier wieder rauskomme. Ich werd hier sonst noch verrückt!"

"Wir sollten jetzt erst mal schlafen gehen."

Sie sahen beide auf Ron, der sich in Harrys Bett gekuschelt hatte und friedlich wie ein Baby schlief.

"Ich lass ihn da", sagte Harry. "Für die paar Stunden wird's auch sein Bett tun."

oooOOOooo

Als sie am nächsten Morgen hinuntergingen, um zu frühstücken, fanden sie in der Küche Moody und Lupin vor. Sie sahen ihnen mit besorgten Gesichtern entgegen.

"Gut, dass ihr kommt."

"Ist was passiert?"

"Die Dementoren haben wieder zugeschlagen. Mindestens vierzig Leute aus einer Kleinstadt in der Nähe von Cambridge. Überwiegend Muggel. Die Magischen Brigaden kommen kaum noch nach. Aber Gedächtnisveränderung kann die Gerüchte auch nicht mehr stoppen. Es war in allen Nachrichten. Nur dass die Muggel keine Ahnung haben, was wirklich passiert ist."

"Ich muss einfach hier raus!", sagte Harry leise und verzweifelt. "Warum halten die mich hier fest? Ich muss –"

"Ja, Harry? Was musst du?", fragte Moody und sah ihn aufmerksam an. Sein magisches Auge bohrte sich förmlich in seinen Blick. "Gibt es irgendetwas, womit du die Dementoren aufhalten kannst? Irgendetwas, das wir vielleicht wissen sollten?"

Harry sah ihn nur an und fühlte, wie die Hoffnungslosigkeit sich in ihm breit machen wollte. Auch Moody wollte ihn aushorchen. Und ehrlicherweise konnte er es ihm und den anderen vom Orden nicht mal verdenken. Sie saßen im Grunde genauso hilflos herum wie er selbst – und sie vermuteten, dass er über ein geheimes Wissen verfügte, das ihnen vielleicht helfen könnte.

"Und sonst?", fragte Ron schließlich. "Hat mein Vater sich gemeldet?"

Die beiden schüttelten nur den Kopf.

"Ron und ich müssen heute in die Winkelgasse", sagte Hermione beiläufig. "Schulbücher kaufen und diesen Kram."

Moody und Lupin wechselten wieder einen Blick.

"Ich denke, das wird in Ordnung sein", meinte Lupin schließlich.

"Wenn geklärt ist, dass ihr nur in die Winkelgasse geht. Keine Umwege. Keine kleinen Abstecher, in die Nokturngasse etwa oder so", sagte Moody streng.

"Nur die Winkelgasse. Schulkram, und Gringotts natürlich", sagte Hermione.

"Da werdet ihr euer Vergnügen haben", seufzte Lupin düster. "Inzwischen wartet man stundenlang, bis die Kobolde alle Sicherheitsüberprüfungen durchgemacht haben."

"Na, das müsste doch ganz in eurem Sinne sein", sagte Harry etwas spitz. Er hätte aus seiner Haut springen mögen vor Ungeduld und Wut darüber, hier festzusitzen.

Nachdem Ron und Hermione unter Harrys neidischen Blicken mit dem Schlüssel abgezogen waren, begann der Tag sich ins Endlose zu dehnen.

Harry beschloss, sich mit den Okklumentik-Übungen zu beschäftigen. Sie erschienen ihm allmählich nicht mehr ganz so schwierig und auch nicht mehr so sinnlos.

Er begann zu spüren, wie sich eine ungekannte Ruhe in ihm ausbreitete, wenn es ihm gelang, seinen Geist zu "leeren", wie Hermione es nannte. Es war eine Wohltat, Abstand von der zerrenden Ungeduld zu finden.

Aber es wurde Abend – und Lupin, der heute den Wachdienst im Haus versah, war immer unruhiger geworden – bis Ron und Hermione bepackt und verschwitzt und völlig ausgehungert wieder eintrafen.

Harry war überglücklich, als er Mrs Black unten in der Halle loslegen hörte, und rannte hinunter. Auch Lupin kam aus der Küche hinauf.

"Na endlich! Wir dachten schon, ihr hättet euch doch irgendwo abgesetzt."

"Quatsch. Aber es war viel los. Die Schule fängt nächste Woche wieder an, und anscheinend sind die meisten entschlossen, wieder hinzufahren. Überall Schüler. Wir sind Lavender gerade noch entwischt", sagte Hermione mit einem Seitenblick auf Ron.

"Ja, und Luna haben wir auch getroffen", sagte der rasch. "Sollen dich von ihr grüßen."

"Und – sonst?", drängte Harry.

Hermione sah ihn warnend an. Lupin stand noch bei ihnen.

"Können wir vielleicht erst mal 'nen starken Tee trinken?"

"Ja, und was essen?", fügte Ron hinzu.

"Ich mach uns was zu essen, dann sehen wir uns oben im Salon", schlug Harry vor.

"Wir bringen erst mal den Krempel rauf", riefen die beiden, schon halb auf der Treppe.

Harry gab sich alle Mühe, seine Ungeduld zu zügeln und ein paar Sandwiches zusammenzupappen. Sie gerieten ziemlich fettig, was auch an den Vorräten in der Küche lag. Der Tee aber wurde gut. Er nahm noch Milch und Zucker mit und schickte dann das schwere Tablett die Treppe hinauf.

"Schönen Abend noch!", sagte Lupin, der in ein Buch vertieft am Küchentisch saß.

Im Salon hatten es sich Ron und Hermione inzwischen in den Sesseln am Kamin gemütlich gemacht. Auf dem Teppich lag ein wirrer Stapel aus Schulbüchern und Umhängen und Zaubertrankzutaten. Harry sah, wie sich einige besonders fette Maden auf dem Teppich wanden, sie waren aus einem Glas gefallen, das nicht richtig verschlossen war.

"Uäh, Ron, das sind sicher deine. Heb sie auf und tu sie weg!", sagte Hermione, die Harrys Blickrichtung gefolgt war.

"Lass doch jetzt die blöden Maden! Sagt mir lieber endlich, was ihr gefunden habt!"

Die beiden tauschten einen Blick.

"Nichts? Ihr seid gar nicht reingekommen, oder?", fragte Harry mit sinkendem Mut. "Oder es war doch kein Schlüssel von Gringotts!"

"Jetzt halt doch mal die Klappe und lass uns erzählen!", sagte Ron.

"Es war einer von ihren Schlüsseln. Und es hat zwar ewig gedauert, aber irgendwann haben sie uns reingelassen. Keine Ahnung, was die schließlich überzeugt hat. Jedenfalls sind wir dann noch 'ne Ewigkeit mit dieser Karre durch die Gänge gerast."

"Und – nun sag schon endlich, was war in diesem Verlies?"

"Es war gar kein Verlies. Es war ein kleines Schließfach, in einer riesigen Wand voll solcher Fächer."

"Der Kobold hat irgendwas mit dem Schlüssel gemacht, jedenfalls war dann eine Zahl oder so was drauf, so dass er wusste, zu welchem Fach er gehörte."

"Ich hatte schon Angst, wir müssten wissen, zu welchem Fach er passt. Oder alle durchprobieren."

Harry verdrehte die Augen.

"Bitte! SAGT ES MIR ENDLICH! WAS WAR DRIN?"

"Das hier."

Hermione gab ihm ein altertümlich aussehendes Kästchen aus Holz, der Deckel war mit Perlmutt und grünem Stein eingelegt. Harry nahm das kleine Ding und sah verwirrt aus.

"Das war alles? Was ist denn drin?"

"Also ehrlich, Mann. Glaubst du, wir haben reingeguckt?"

"Jetzt mach's schon auf. Nach all dem Theater wollen wir jetzt auch endlich wissen, was es ist", sagte Hermione. "Oder – oder willst du doch lieber allein sein?", fügte sie mit einem verspäteten Anfall von Feingefühl hinzu.

"Nein. Bleibt hier."

Und er öffnete die Dose. Auf schwarzem Samt lag ein Paar Ohrgehänge aus filigran gearbeitetem Silber, die Harry sofort erkannte.

"Die gehörten meiner Mutter! Ich hab sie auf zwei Fotos gesehen – und in dieser Szene von ihrer Hochzeit, die ich in dem Haus in Godric's Hollow gesehen habe!"

Alle drei beugten sich über das Kästchen und betrachteten die Ohrgehänge. Sie fühlten sich ein wenig enttäuscht.

"Du meinst, all das war nur wegen einem Familienschmuckstück?"

Aber Harry war in den Anblick versunken. Er hatte die Ohrringe noch nie so genau ansehen können wie jetzt. Die Anhänger bestanden aus zahlreichen feinen Silberfäden, die in regelmäßigen Abständen von schwarzgrünen, dunkel schimmernden Steinperlen zusammengefasst waren. Zusammen bildeten sie ein schlangenförmiges Gebilde – und richtig, jetzt sah er das winzige, kunstvoll gearbeitete Schlangenköpfchen, in dem die Fäden am unteren Ende zusammenliefen, die winzigen glitzernden Edelsteinaugen. Dann sah er hauchzarte Silbergespinste an den Seiten des Schlangenleibes. Flügel, wie er erkannte, zusammengefaltet wie kleine Fächer. Es war gar keine Schlange, es war ein –

"Es ist ein winziger Drache!", rief Hermione überrascht.

Und in dem Moment, in dem sie das Wort aussprach, wusste Harry, wo er diesen Drachen schon einmal gesehen hatte. Und glaubte zu verstehen, innerhalb eines Sekundenbruchteils. Die Erkenntnis fuhr wie ein Blitz durch seinen Verstand.

Er war aufgesprungen.

"Nein!", sagte er tonlos.

"Was ist denn?"

"Ich – kann das jetzt nicht sagen. Ich muss erst mit jemandem sprechen!"

Er stürmte mit dem Kästchen davon.

"He, Harry! Das ist ja wohl total gemein von dir! Was ist mit den Dingern?"

"Wo willst du denn hin? Es ist Abend, und überhaupt, du kannst doch nicht weg!"

Harry warf sich mit wilden Bewegungen seine Jacke um.

"Ich bin in ein paar Stunden wieder da!"

"Harry, jetzt warte mal! Das kannst du nicht machen! Sag uns, was los ist! Mit wem willst du denn jetzt noch reden?"

"Mit Tante Petunia", antwortete er zu ihrer Überraschung.

"Aber – aber du hast doch keine Ahnung, wo die Dursleys jetzt sind!"

Das stoppte Harry kurz.

"Ich versuch's bei Tante Marge", sagte er dann. "Vermutlich sind sie erst mal da untergekommen."

"Nein, jetzt halt mal", sagte Hermione entschieden. "Du kannst nicht weg, Harry. Wenn du das machst, lässt Scrimgeour dich einsperren, da kannst du Gift drauf nehmen. Schlaf erst mal 'ne Nacht drüber."

Harry ließ die Arme sinken. Sie hatte ja Recht. Aber er zitterte am ganzen Körper. Das konnte einfach nicht wahr sein. Das musste einfach alles anders zusammenhängen. Und doch – es ergab einen Sinn. Vieles bekam plötzlich einen Sinn, vor diesem neuen Hintergrund. Aber es war ihm unmöglich, Ron und Hermione von seinem Verdacht zu erzählen. Er fühlte sich so erschöpft und irgendwie elend.

"Trink einen Tee mit uns", sagte Hermione leise und zog ihn zu einem Sessel. "Wir drängeln nicht mehr. Du musst uns nichts sagen. Aber mach jetzt keinen Unsinn, den du später bereuen wirst."

Harry ließ sich in einen Sessel fallen und war Hermione vage dankbar.

oooOOOooo

Beim Frühstück am nächsten Morgen waren alle drei ungewohnt schweigsam. Harry grübelte immer noch über die Ohrringe seiner Mutter. Hermione schien ebenfalls nachzudenken. Ron las den Prophet und trank Kaffee.

"Also, gestern –", begann Hermione, wurde aber unterbrochen, als genau in diesem Moment unten die Tür geöffnet wurde und hastige Schritte auf der Treppe zu hören waren. Es war Lupin, dicht gefolgt von Arthur Weasley, der ein Dokument in der Hand schwenkte.

"Harry! Du hast es geschafft! Der Wizengamot hat die Legilimentation erst mal verboten." Weasley kam atemlos bei ihrem Frühstückstisch zum Stehen. "Und der Hausarrest ist auch aufgehoben. Scrimgeour musste nachgeben, weil die anderen der Ansicht waren, dass er dich nicht ernsthaft der Beihilfe zum Mord anklagen könne."

Die drei jubelten. Es waren nur zehn Tage gewesen, aber die hatten gereicht.

"Allerdings ist eine Auflage damit verbunden", sagte Lupin. "Du musst nach Hogwarts und die Schule beenden."

Harrys Lächeln verblasste. Er fragte sich, wann man ihn endlich einmal seinen eigenen Weg gehen lassen würde.

"Komm schon, Mann! Wir sind froh, wenn du mitkommst."

Und du hast ja dort auch einiges zu tun, sagte Hermiones Blick.

"Du musst hier unterschreiben, dass du am Fünfzehnten dieses Monats – das ist übermorgen – mit dem Hogwarts-Express abreisen wirst."

"Andernfalls?"

"Anderenfalls stehst du weiter unter Hausarrest. Und du machst dich nicht beliebter bei Scrimgeour."

"Als ob ich das wollte", murrte Harry.

Aber was sollte es. Wie sich in den Gesprächen der vergangenen Tage herausgestellt hatte, gab es auch in Hogwarts noch einiges zu erledigen. Er konnte ebenso gut da anfangen. Dableiben und brav das Schuljahr zu Ende machen – das hatte er jedenfalls nicht vor.

Und da war auch die Sehnsucht nach der Schule, nach der Welt, die sie für ihn zu seiner eigenen Überraschung auch nach dem Tod Dumbledores noch verkörperte. Er wollte zurück, merkte er auf einmal. Wieder die rauhe, frische Luft atmen. Über den See fliegen. Sich noch einmal nur wie ein Schüler fühlen, dem nichts Schlimmeres bevorstand als eine Abschlussprüfung.

Er nahm die Feder und unterschrieb.

"Sehr gut, Harry. Dann bist du jetzt frei", strahlte Arthur Weasley.

oooOOOooo

Harry hatte die Füße auf seinen Schreibtisch gelegt, drehte eines der Ohrgehänge in den Händen und grübelte. Vor ihm auf dem Tisch lag das Fotoalbum von Petunia.

Hermione saß ihm gegenüber, vor sich die Horcrux-Aufzeichnungen, die sie verfasst hatte, neben sich einen Stapel Bücher aus Harrys ererbter Bibliothek.

Nach einer langen Weile schwang Harry seine Füße mit einer endgültigen Bewegung vom Tisch.

"Könnt ihr Lupin heute irgendwie ablenken?", fragte er.

"Du hast Glück. Er ist eben weg. Heute ist Hestia hier", sagte Hermione säuerlich.

"Ich muss einfach weg. Wenn ich Glück hab, dauert es nicht lang."

"Schon klar. Auf zu Tante Marge, was?"

"Das scheint dir nicht zu passen."

"Ich find es nicht okay, es vor Lupin zu verheimlichen", sagte sie geradeheraus. "Er vertraut dir. Irgendwie bürgt er hier sogar für dich."

"Ich muss das allein machen. Es ist wirklich wichtig, Hermione!"

Als sie schweigend eine Seite in ihrem Buch umblätterte, fühlte Harry, wie einiges von seiner Wut und Ungeduld zurückkehrte.

"Hör mal, die haben mich hier eingesperrt. Jetzt zwingen sie mich, zurück in die Schule zu gehen. Ich habe es satt, mit fairen Mitteln weiterzumachen. So komme ich nicht weiter. Und noch was: Ich bin erwachsen und frei. Ich kann gehen, wohin ich will."

Hermione sah ihn einigermaßen überrascht an.

"Eigentlich hast du Recht", sagte sie. Und dann fuhr sie fort, mit einem Seufzen, als habe sie sich zu einem Entschluss durchgerungen.

"Der Drache – er ist das Wappen der Peverell, oder?"

Harry war so verblüfft, dass er in der Tür innehielt.

"Woher weißt du das denn? Wie hast du das rausgekriegt?"

"Oh, es gibt hier 'ne Menge Bücher, gerade auch über Wappen und Genealogien und so weiter. Das Buch, das ich eigentlich gesucht habe, war nicht da. Obwohl ich weiß, dass Sirius es hatte. Wir haben damit damals dieses komische spinnenartige Instrument platt gehauen, erinnerst du dich?

"An die Spinne schon, aber das Buch – meine Güte, Hermione, was hast du eigentlich für ein Gedächtnis?

"Es war Noblesse der Natur. Eine Genealogie der Zauberei", sagte Hermione selbstgefällig. "Jetzt ist es weg. Na ja. Kreacher vermutlich. Das Wappen der Peverell war jedenfalls nicht so schwer zu finden. Sie müssen mal eine sehr bedeutende Familie gewesen sein. Es stand allerdings kaum etwas dazu in den Büchern, die ich durchgesehen habe, da ging es hauptsächlich um die Wappenbilder. Ich werde noch weiter lesen."

Harry dachte an den Gegenstand, auf dem er diesen Drachen zum ersten Mal gesehen hatte: Es war der Ring von Marvolo Gaunt gewesen, der Ring, der sich dann als eines von Voldemorts Horcruxen entpuppt hatte.

Harry fühlte immer noch den Schock, den es ihm versetzt hatte, dieselbe Drachendarstellung bei den Ohrgehängen seiner Mutter zu entdecken. Sogar die dunklen Steine schienen von derselben Art zu sein wie der große Stein von Marvolos Ring, in den der Drache eingraviert gewesen war – zumindest bis er durch die Magie, die Dumbledore bei der Vernichtung des Horcruxes angewandt hatte, geborsten war.

"Charlotte Peverell – so hieß sie doch? Wir haben sie doch hier auf dem Wandteppich entdeckt", sagte Harry. "Voldemorts Urgroßmutter. Mir fiel da einfach nicht mehr ein, woran mich der Name Peverell erinnerte. Ich hatte ihn aus der Denkarium-Szene, von der ich euch erzählt habe. Marvolo Gaunt zeigte seinen Ring diesem Ministeriumsangestellten, Ogden. Er gab mit dem Wappen der Peverell an, so als müsste jeder wissen, wer die sind."

Er war aufgestanden und stand nun vor dem Wandteppich.

"Genau, hier ist es. Charlotte Peverell. Frau von Alexander Gaunt, Mutter von Jeremy und Lawrence. Großmutter von Marvolo und Pandora Gaunt."

Nachdenklich ging er zum Schreibtisch zurück und setzte sich wieder.

"Die Peverells müssen irgendwie mit Slytherin zu tun haben. Warum hätte Marvolo Gaunt damals sonst so besonders auf dieses Wappen hinweisen sollen? Ich meine, es ging ihm ja gerade darum, seine Slytherin-Abstammung darzulegen."

"Vielleicht wollte er mit dem Peverell-Wappen aber auch nur generell auf seine reinblütige Herkunft hinweisen, nicht speziell auf Slytherin", überlegte Hermione. "Er sagte, der Ring sei seit Jahrhunderten in seiner Familie gewesen, oder? Also sind die Peverells jedenfalls schon ein ziemlich altes Geschlecht."

"Deshalb denke ich ja, dass auf dieser Seite die Verbindung zu Slytherin besteht, verstehst du? Ich meine, Dumbledore sagte zwar, dass die Gaunts eine alte Familie seien – aber doch wohl kaum so alt, oder?"

Hermione strich nachdenklich über ihr Buch.

"Ich frag mich, woher deine Mutter diese Ohrringe hatte. Und ob sie wusste, was sie bedeuteten."

"Ich dachte zuerst, sie wären ein Familienerbstück. Weil sie sie schon als Mädchen getragen hat, bei Tante Petunias Hochzeit. Da war sie erst sechzehn. Und dann bei ihrer eigenen Hochzeit. Ich glaube, sie waren sogar der einzige Schmuck, den sie da trug."

"Aber wie soll eine Muggelfamilie an diese Sachen gekommen sein?"

"Das frag ich mich auch. Deshalb muss ich ja auch mit Tante Petunia reden."

"Könnte jemand sie ihr geschenkt haben? Ich meine, jemand, der nicht zur Familie gehörte?"

Harry schwieg und starrte finster auf die Ohrgehänge, die da so harmlos auf seinem Schreibtisch lagen.

"In Godric's Hollow habe ich gesehen, wie Voldemort meine Eltern getötet hat", begann er schließlich.

"Ja. Das hast du erzählt."

"Aber nicht alles. Es war alles entsetzlich. Aber ich wusste es ja irgendwie schon. Was mich fast am meisten geschockt hat, war, wie Voldemort meine Mutter begrüßt hat – wie eine alte Bekannte."

"Waren sie sich nicht schon dreimal vorher begegnet? Das sagte doch die Prophezeiung."

"Ja, aber irgendwie habe ich da an – na ja, kämpferische Begegnungen gedacht. Die dem Dunklen Lord dreimal die Stirn geboten haben – so hieß das doch. Aber er redete anders mit ihr, mehr so als ob – Und er sagte zu ihr, dass sie immer die falschen Entscheidungen getroffen hätte."

"Denkst du etwa, er hat sie ihr geschenkt?", fragte Hermione konsterniert.

Harry schwieg wieder. Sein Verdacht kam ihm noch sehr viel schlimmer vor. Er konnte es einfach nicht aussprechen.

Hermione schien auch mit einem Gedanken zu kämpfen.

"Meinst du, die Dinger könnten – ein Horcrux sein?"

Sie flüsterte beinahe.

Daran hatte Harry nicht einmal gedacht.

"Das hätte Dumbledore doch sicher gewusst. Ich meine, er muss doch gewusst haben, wozu er mir den Schlüssel hinterließ, oder?"

"Er wusste aber auch nicht, dass das Medaillon das falsche war", erinnerte Hermione ihn überflüssigerweise.

"Ich muss mit meiner Tante reden. Und jetzt stehe ich nicht mehr unter Hausarrest. Ich werde sie heute besuchen. Hoffentlich sind sie wirklich bei Tante Marge!"

Harry stand auf und schloss den Deckel des Schmuckkästchens.

"Lass uns mitkommen", sagte sie.

Aber Harry schüttelte den Kopf.

"Ich will das allein klären."

Er konnte ihr nicht sagen, dass er Angst vor dem hatte, was er vielleicht erfahren würde. Und dass er dabei nicht einmal seine besten Freunde als Mitwisser haben wollte.