Kapitel 8
Elfentreue
Als sich die Morgendämmerung durch die Ritzen der Jalousie stahl, erwachte Harry, weil ihn jemand heftig am Arm rüttelte.
"Harry, wach endlich auf! Ich glaube, Ron – er kommt zu sich!"
Verwirrt setzte sich Harry auf. Sein Rücken schmerzte, was kein Wunder war, offenbar hatte er auf dem Fußboden geschlafen. Er sah in Hermiones aufgeregtes Gesicht, dann fiel ihm alles wieder ein.
Von dem Bett kam ein Wimmern, ein Laut, der so gar nicht nach Ron klang. Sie sprangen auf.
"Alles dunkel", jammerte Ron wieder und klang erschreckend wie ein kleines Kind. "Alles so dunkel, und es bewegt sich!"
Er riss die Augen auf, in denen sie nacktes Entsetzen sehen konnten. Aber seine Pupillen waren wieder normal groß, und es waren eindeutig Rons blaue Augen, die sie anblickten.
"Ron, wir sind bei dir! Du bist im Haus am Grimmauldplatz. Alles in Ordnung!", sagte Hermione beruhigend.
"Es war so dunkel und kalt", sagte Ron jetzt mit seiner eigenen Stimme und versuchte sich aufzusetzen.
"Du bist unter einen Schockzauber geraten oder einen Bann, wir wissen es nicht genau. Kannst du dich an irgendwas erinnern?", fragte Hermione.
Ron starrte an die Decke und erschauerte wieder.
"Sollen wir dir was Warmes zu trinken holen?"
Ron nickte. "Ein Kaffee wäre toll!"
Sie lachten unwillkürlich vor Erleichterung. Das klang wirklich wieder nach Ron.
Hermione lief los, um einen Kaffee aus der Küche zu holen.
"Du hattest diese Spieldose aufgezogen, Mann, wie blöd kann man eigentlich sein?", sagte Harry rauh. "Die hat uns doch damals schon beinah umgehauen!"
"Spieldose? Quatsch. Ich hab nicht mal eine gesehen. Wo soll das eigentlich passiert sein?"
"Oben, im Zimmer von der alten Black. Ihr hattet in ihren Sachen rumgewühlt, du und Hermione."
Ron sah verwirrt aus. "Keine Ahnung. Kann mich an nichts erinnern. Doch, Moment! Du bist zu deiner Tante appariert. Mit Hermiones Zauberstab."
Harry seufzte. "Und sonst weißt du wirklich gar nichts mehr?"
Ron dachte nach und fröstelte.
"Die Stimmen", sagte er leise und voller Angst. "Ich hab Stimmen gehört, viele durcheinander, so unheimlich. Ich konnte niemanden sehen, weil alles dunkel war. Und ich konnte nicht verstehen, was sie sagten. Ich glaube – sie haben gesungen!"
"Trink erst mal den Kaffee", sagte Hermione munter, die gerade wieder ins Zimmer kam. "Melanie Raeburn hat unten übernachtet, sie kommt gleich rauf und sieht noch mal nach dir."
"Was soll der Quatsch – wer ist das? Au!"
Er hatte etwas von dem dampfenden Kaffee über seine Hand und das Bett gekippt. Entnervt setzte er sich auf.
"Mir geht's gut. Ich kann mich bloß an nichts mehr erinnern, aber das könnte auch besser so sein, oder? Müssen wir nicht packen? Morgen –"
Er schwang sich aus dem Bett und stöhnte auf.
"Ich bin nicht vom Besen gefallen oder die Treppe runter oder so, als ich – äh – unter Schock stand oder was immer? Auhu! Mir tun alle Knochen weh!"
"Sie sollten erst mal langsam machen, Mr Weasley", sagte Raeburns Stimme von der Tür her. "Schön, dass Sie aufgewacht sind und sich so gut fühlen."
Sie kam herein und untersuchte Ron, der die Augen verdrehte.
"Es scheint wirklich wieder alles in Ordnung zu sein", sagte sie schließlich. "Aber ich gebe Ihnen auf jeden Fall eine Flasche hiervon mit. Nehmen Sie es, wenn Sie sich plötzlich wieder ungewohnt schläfrig fühlen. Zehn bis fünfzehn Tropfen sollten reichen."
Ron gähnte herzhaft. Hermione und Harry grinsten.
"Und Sie passen auf Ihren Freund auf! Es kann sein, dass es wieder vorkommt. Und ich muss Ihnen nicht sagen, wie unangenehm es werden kann, wenn er irgendwo allein in diesen Zustand verfällt."
"Wir passen auf ihn auf", sagte Hermione. "Er kann doch morgen mit zur Schule abreisen?"
"Ich denke schon. Wenn er sichweiterhin wohl fühlt."
"Ich brauch' jetzt erst mal was zu essen", sagte Ron.
oooOOOooo
Später am selben Vormittag packten sie im Salon ihre Sachen für die Abreise nach Hogwarts zusammen. Hermione hatte sich geweigert, Harrys und Rons Sachen zu waschen oder sie noch häufiger daran zu erinnern, es selbst zu tun. Jetzt knüllten sie ihre Klamotten einfach so wieder in die Koffer und beschlossen, dass sie sie auch noch in Hogwarts waschen könnten.
Harry fand den Gedanken, jetzt doch wieder zur Schule zurückzukehren, sehr seltsam. Wieder hatte er das Gefühl, viel zu viel Zeit verloren zu haben. Er fühlte sich fremdbestimmt, vom Ministerium, den Leuten vom Phönixorden gesteuert und außerdem auch noch hilflos dagegen. Wenn es tatsächlich stimmte, dass er allein Voldemort vernichten konnte, wie konnte er sich dann so wehrlos im Netz von bürokratischen Bestimmungen einfangen lassen? Wieso hatte er sich wieder und wieder den Vorschriften gebeugt? Wieso war er nicht einfach abgehauen, vielleicht schon in Godric's Hollow – oder noch früher, direkt an seinem Geburtstag?
Weil ich dann vielleicht endgültig vom Ministerium schachmatt gesetzt worden wäre. Weil ich es riskiert hätte, dass die einzige Waffe, die es gegen Voldemort gibt, für unbestimmte Zeit weggesperrt wird.
Es gefiel ihm nicht, so von sich zu denken. Aber wenn man es genau nahm, lief es doch eben darauf hinaus. Er wollte Dumbledore nicht enttäuschen. Er wollte auf gar keinen Fall versagen. Was immer er oder andere dazu sagen mochten, er fühlte, dass es seine Aufgabe im Leben war, ein Ende mit Voldemort zu machen. Seine Eltern, Sirius, Dumbledore – sie sollten nicht umsonst gestorben sein. Und ja, er wollte auch Rache. Er wollte Snape bestraft, nein, vernichtet sehen und Draco zumindest in sicherem Gewahrsam wissen.
Was konnte er denn jetzt tun? Instinktiv fühlte er, dass viele Fäden des Gewebes, das er entwirren musste, in Hogwarts zusammenliefen. Hogwarts, das für Tom Riddle einst ebenso einzige Heimat gewesen war wie für ihn selbst. In Hogwarts würde er Hinweise finden, vielleicht sogar Antworten. Es war nicht das Verkehrteste, dort mit der Suche nach den Horcruxen zu beginnen.
Der Schrecken wegen Rons Unfall saß ihm noch in den Gliedern, aber in den letzten zwei Wochen hatte er begriffen, dass er seine Freunde brauchte, wenn er seine Aufgabe zu einem erfolgreichen Ende bringen wollte. Er hatte begonnen, das zu akzeptieren, ebenso wie er jetzt auch die Möglichkeit, nein, die Wahrscheinlichkeit mit in Kauf nahm, dass auch sie Schaden dabei erleiden könnten. Es würde seine Schuld sein, wenn ihnen etwas passierte, aber diese Schuld musste er auf sich nehmen.
Voldemort zu vernichten, seinem Terror für immer ein Ende zu machen, war wichtiger als seine Unversehrtheit – und die seiner Freunde.
Diese Erkenntnis hallte wie ein Gongschlag durch sein Hirn, seine Seele. Sie ließ ihn schaudern, und zugleich straffte sich etwas in seinem Innern. Er war jetzt bereit, die Verantwortung und, wenn erforderlich, auch die Schuld auf sich zu nehmen. Auf einmal fiel der Wust seiner Verwirrung von ihm ab, die Ängste, andere mit hineinzuziehen, die Fragen, wo er überhaupt beginnen und wie er es zu Ende bringen sollte. Er hatte Ron und Hermione an seiner Seite. Zusammen würden sie einen Weg finden. So musste auch Dumbledore gedacht haben, als er ihm erlaubt hatte, ihnen – und nur ihnen – von den Dingen zu erzählen, die er im Denkarium gesehen und die er mit Dumbledore besprochen hatte.
Er sah Hermione mit einem Stapel Bücher hereinkommen.
"Oh verdammt – ich hab ja gar keine Schulsachen gekauft!"
Das wurde ihm erst bei diesem Anblick schlagartig klar. Sie kam lächelnd heran und setzte den Stapel auf dem Tisch ab.
"Wir haben sie auf Verdacht schon für dich mitgekauft. Wir dachten, du kommst vielleicht doch noch mit zurück."
Er lächelte zurück. "Danke. Ihr seid wirklich die Besten. Danke!"
"Aber vergiss nicht das hier", fügte sie hinzu und knallte ein weiteres Buch auf den Stapel.
Harry verzog das Gesicht, als er Snapes Kopie von Zaubertränke für Fortgeschrittene erkannte. Das Buch des Prinzen.
"Du wirst es brauchen, Harry. Und wenn es nur ist, damit Slughorn sich nicht über deine plötzliche Schwäche im Tränke-Unterricht wundert. Und wer weiß, was du noch darin findest."
Harry nickte ergeben.
"Und noch was: Wir sollten Noblesse der Natur mitnehmen."
"Den fetten Wälzer? Brauchen wir den wirklich?"
"Könnt' ich mir denken. Du sagst uns ja nicht, was nun mit dieser Peverell-Slytherin-Geschichte ist, aber es ist nicht zu übersehen, dass sie sehr wichtig für dich ist. Und darum sollten wir das Buch mitnehmen, nur für den Fall, dass du noch mal was nachschlagen musst."
"In Ordnung. Ich pack es ein."
Er schob das Buch, das noch immer auf seinem Schreibtisch lag, zu den anderen und legte dann nach einigem Zögern auch das Schmuckkästchen mit den Ohrringen seiner Mutter und das Fotoalbum von Tante Petunia dazu. Die Schreibfeder, den einen Teil des Doppelports, der einen Gang zu diesem Haus hier öffnete, hatte er schon eingesteckt. In einem gut verschlossenen Seitenfach seines Koffers waren außerdem der Goldene Schnatz seines Vaters und der gläserne Fotobehälter seiner Mutter verwahrt, die er aus Godric's Hollow mitgenommen hatte.
Er hatte es heute bisher vermieden, weiter über seine Familiengeschichte nachzudenken. Was bedeutete es für ihn, dass er vermutlich tatsächlich ein Slytherin-Nachfahre war? Eigentlich fand er diese ganzen Bluts- und Abstammungsgeschichten ziemlich bescheuert. Seit Salazar Slytherin waren mehr als tausend Jahre vergangen. Was sollte ihn der heute noch kümmern? Aber Voldemort dachte ganz sicher anders darüber. Er musste es wissen und hatte vielleicht –
Plötzlich fiel Harry ein, dass der Familie seines Vaters außerdem die Gryffindor-Abstammung nachgesagt wurde. Das mochte nur ein Märchen sein, aber wenn Voldemort auch davon wusste –
Was sollte das bedeuten? Dass sich in ihm Slytherin und Gryffindor wieder vereinigten? Harry hatte auf einmal eine Gänsehaut auf den Armen.
oooOOOooo
Für einen Morgen im August war es kalt und trüb. Am Bahnsteig Neundreiviertel von King's Cross herrschte ein unglaubliches Gedränge. War das immer schon so gewesen? Es war doch wohl kaum anzunehmen, dass es in diesem Jahr mehr Schüler waren, die sich hier drängten – eher im Gegenteil – aber Harry kam es so vor, als sei es noch nie so voll und laut gewesen. Und wie jung die alle aussahen! Harry sah zwei Knirpse, deren Koffer um einiges größer schienen als sie selbst. Hedwig schimpfte indigniert in ihrem Käfig, weil sie zum wiederholten Mal heftig angerempelt worden war.
"Es ist gleich elf Uhr!", sagte Hermione besorgt. "Meinst du, er schafft es noch?"
"Da hinten ist er! Und er schleppt ganz schön an deinem Vieh!", erwiderte Harry und zeigte auf Bill Weasley, der eben herankeuchte.
In der einen Hand trug er den großen Korb, in den der beleidigte und ziemlich missgelaunte Krummbein, Hermiones Kater, eingesperrt war. In der anderen schwang der Käfig mit dem wild zwitschernden Pigwidgeon, Rons kleinem Kauz. Die beiden nahmen dankbar ihre Haustiere entgegen.
"Ich habe es nicht früher geschafft. Dieser blöde Arnold ist im letzten Moment abgehauen. Wir haben das ganze Haus durchsucht, damit Ginny – na ja", unterbrach sich Bill plötzlich. "Sie kam mir nicht so ganz glücklich vor. Ich wollte ihr wenigstens diesen dämlichen Pygmäenpuschel mitgeben. Und wir haben ihn dann ja auch gefunden."
Sie sahen sich alle ein wenig betreten an. Harry senkte den Blick.
"Nun guckt nicht so. Ich glaube, Ginny hat da wirklich eine gute Entscheidung getroffen", sagte Bill, der heute wieder einen offenen Pferdeschwanz und den altvertrauten Schlangenzahn-Ohrring trug. Sein zerstörtes Gesicht trug ihm eine Menge neugieriger und verstohlener Blicke ein.
"So, Leute, ich muss ins Ministerium. Macht's gut und passt auf euch auf", sagte er dann und verschwand in der Menge.
Als Harry ihm nachblickte, sah er, wie Lupin und Tonks sich nicht weit von ihnen mit einem leidenschaftlichen Kuss voneinander verabschiedeten. Er wandte den Blick ab und stieg nach Hermione in den Zug. Ron folgte ihnen, immer noch ein wenig unsicher auf den Beinen und sehr blass.
Sie hatten Mühe, ein paar freie Plätze zu ergattern. Im überfüllten Gang des Zuges winkte ihnen Neville Longbottom.
"Kommt hierher, ich halte euch die Plätze frei!", rief er und zog damit die bösen Blicke derjenigen auf sich, die sich eben vor sein Abteil schoben. Aber Neville zeigte sich unbeeindruckt und verteidigte die Plätze, bis die drei ihn erreichten.
"Uff!", sagte Hermione, als sie ihre Koffer endlich im Gepäckfach verstaut hatten.
"Voll heute, nicht?", fragte Luna Lovegood freundlich, die am Fenster saß und von ihrer Zeitschrift aufblickte.
Auch sie hatte irgendwas an ihrer Frisur geändert, fiel Harry auf. Sie sah direkt hübsch aus.
"Und ich muss da gleich wieder durch!", stöhnte Hermione leise.
"Wieso, wo willst du denn hin?", fragte Ron erstaunt, der es sich gegenüber von Luna bequem gemacht hatte. "Unsere Tage als Vertrauensschüler sind doch glücklicherweise vorbei, oder? Jetzt rückt doch die nächste Generation nach, soweit ich weiß."
Hermione kramte in ihrer Tasche.
"He, Hermy! Spuck's aus, was ist los?", drängte Ron.
Hermione hörte auf zu kramen und sah sie an.
"Ich hatte einfach noch keine Gelegenheit, es euch zu sagen", begann sie. "Aber ich bin – Schulsprecherin. Der Brief kam am Tag von Bills Hochzeit."
Ron, Harry, Neville und Luna starrten sie an. Dann brachen sie in Johlen aus und klatschten Beifall. Hermione wurde rot und versuchte, nicht allzu selbstzufrieden auszusehen.
"Es bedeutet im Moment nur, dass ich rüber in den Wagen der –"
"Der Autoritätspersonen?"
"Meinetwegen. Jedenfalls durch den Gang."
"Wo bleibt denn eigentlich Ginny?", fragte Luna.
Ron sah ein wenig unbehaglich drein.
"Sie kommt gar nicht mit. Sie geht heute für ein Jahr nach Beauxbatons."
"Was?", fragte Luna verblüfft. Und dann, wie gewohnt ohne Umschweife: "Ist das wegen dir, Harry?"
Alle sahen Harry an.
"Ja", sagte er schließlich. "Glaub schon, irgendwie. Können wir jetzt das Thema wechseln? Ich hab das bis gestern Abend nämlich auch nicht gewusst und muss mich erst mal dran gewöhnen."
Daraufhin herrschte ein betretenes Schweigen im Abteil. Harry sah den Strom der Gesichter am Abteilfenster vorbeigleiten. Viele sahen zu ihnen herein, aber es war ganz anders als im vergangenen Jahr, als ihm von vielen – vor allem Mädchen – so etwas wie Heldenverehrung entgegengebracht worden war. Jetzt sah er eine Menge Leute, die ihn anstarrten, aber schnell den Blick abwandten, wenn sie merkten, dass er sie ansah. Ein paar Mal sah er auch offene Abneigung und sogar Feindseligkeit. Es traf ihn nicht besonders, da sich sein Leben in Hogwarts anscheinend immer zwischen diesen beiden Polen zu bewegen schien. Im einen Jahr war er der Held, im nächsten wieder eine verdächtige Gestalt. Aber es erinnerte ihn an Scrimgeours böse Worte im Fuchsbau, und die gaben ihm immer noch zu denken.
Als sich der Zug in Bewegung setzte, wurde es endlich ruhiger. Ron aß sich durch eine Tüte Schokofrösche und gähnte immer häufiger. Luna las den Quibbler. Neville sah aus dem Fenster.
Unsere letzte Fahrt zur Schule, ging es Harry durch den Kopf, und obwohl er sich die ganze Zeit ziemlich fehl am Platz gefühlt hatte, mischte sich nun doch eine gehörige Portion Wehmut mit hinein. Das trübe Licht draußen schien genau zu seiner Stimmung zu passen. Er setzte sich auf seinem Platz zurück und zog eine kleine Pergamentrolle aus seiner Hemdtasche.
Dann las er noch einmal, was er schon gestern Abend gelesen hatte, als Lupin ihm den Brief weitergegeben hatte:
"Lieber Harry,
nach unserem Gespräch am Tag von Bills Hochzeit habe ich eingesehen, dass es keinen Zweck hat. Vielleicht hast du ja Recht. Und Mum auch. Jedenfalls hat Mum vorgeschlagen, dass ich für dieses Schuljahr als Gastschülerin nach Beauxbatons gehen soll. Und nach unserem Gespräch hab ich mich ergeben. Ich reise genau wie ihr am Freitag ab und wohne erst mal für zwei Wochen bei den Delacours.
Harry, ich bin dauernd am Heulen. Wieso haben wir so ein Pech? Ich will nicht von dir weggehen, jetzt, wo du uns alle so dringend brauchst. Aber ich kapiere, was du gesagt hast. Vergiss mich wenigstens nicht. Wir sehen uns wieder!
Ich bin bei dir,
Ginny"
Harry konnte sehen, dass sie geweint hatte. Die kleine Pergamentrolle hatte mehrere Flecken und verwischte Stellen. Ihm war selbst zum Heulen zumute, aber er fühlte zugleich eine so große Erleichterung, dass er beinahe ein schlechtes Gewissen bekam. Er wusste nicht, ob es überhaupt stimmte, aber er hatte das Gefühl, dass sie in Beauxbatons jedenfalls viel sicherer sein würde als in Hogwarts – oder irgendwo sonst in seiner Nähe.
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Später, als die Frau mit dem Imbisswagen sie mit Kesselkuchen und anderen Köstlichkeiten versorgt hatte, kam in dem Zugabteil wider Erwarten doch noch richtig gemütliche Stimmung auf. Neville, Harry, Ron und Luna unterhielten sich über ihre Zukunftspläne, als wäre nie etwas geschehen, das diese Zukunft in einem unsicheren Licht erscheinen lassen könnte.
"Ich werde nach der Schule Kräuterkunde studieren", sagte Neville mit einem ganz neuen Selbstbewusstsein. "Seit wir Tränke nicht mehr bei Snape haben, macht mir sogar das Spaß. Guckt mal, was ich in den Ferien gezüchtet habe!"
Er schälte vorsichtig das Papier um einen kleinen Blumentopf ab und brachte eine Pflanze mit wundervollen weißen Blüten zum Vorschein. Sie waren trompetenförmig und innen ganz zart fliederfarben gezeichnet. Ein leiser süßer Duft ging von ihnen aus.
"Es ist eine neue Sorte Denkanmich. Ich habe schon lange versucht, sie weiß zu kriegen, sonst wollen sie ja alle nur in Rottönen. Ich werde sie vor das Grab pflanzen, wisst ihr, wenn sie es erlauben."
Keiner musste fragen, wessen Grab er meinte. Dumbledore schien in ihren Gesprächen auch ungenannt ständig anwesend zu sein, das war Harry schon bald aufgefallen.
Vielleicht weil sie gerade über Pflanzen sprachen, fiel Harry die Frage ein, die er Luna hatte stellen wollen.
"Luna, hast du schon mal von einem Amulettbaum gehört?"
"Klar", antwortete sie. "Das hat doch jeder. Oder hast du noch nie Kleine Hexen gelesen?"
"Äh – nein", antwortete Harry.
"Oh, schon gut. Du bist kein Mädchen. Aber jedes Mädchen hat das Buch gelesen, da kannst du sicher sein. Und da kommt der Amulettbaum drin vor, oder besser gesagt seine Früchte. Man zerbricht sie und jeder kriegt eine Hälfte. Nur die Hälften derselben Frucht passen zusammen. Es ist so was wie 'ne Liebeserklärung, wenn dir jemand so ein Teil schenkt."
"Klingt ja ganz schön kitschig", sagte Ron, obwohl er es insgeheim netter fand als eine schwere Goldkette mit den daran baumelnden Buchstaben My Sweetheart.
"Ich kenn zwar Kleine Hexen nicht, aber den Amulettbaum", meldete sich Neville. "Und den kennt ihr auch alle, denn es steht einer direkt unten am See von Hogwarts. Professor Sprout hat schon ein paar Mal darüber gesprochen, weil man aus der Rinde einen Tee gegen Kopfschmerzen machen kann."
Hermione kam zurück ins Abteil.
"Jede Menge Neue", verkündete sie mit gekrauster Stirn. "Ehrlich gesagt hatte ich erwartet, dass sie dieses Jahr gar keine Neuen aufnehmen würden. Bis die Situation geklärt ist. Ach, und bei Slughorn im Abteil sitzt diese Harper zu einem kleinen Tête-à-Tête. Ich hab gehört, sie war auch seine Schülerin."
"Wer ist Harper?", fragte Neville.
"Unsere neue Lehrkraft für Verteidigung. Unsere nächste Ein-Jahres-Kandidatin", antwortete Hermione.
"Doch nicht etwa Hekate Harper?", fragte Luna zur Überraschung aller.
"Doch, genau die. McGonagall hat sie eingestellt."
"Aber – aber die ist doch vor Jahren von einem Dementor getötet worden!"
"Sagt der Quibbler", sagte Hermione ironisch.
"Ja. Und das ist noch nicht alles", fuhr Luna unbeirrt fort. "Sie soll die Tochter von Du-weißt-schon-Wem sein! Und die hat McGonagall eingestellt?"
"Was ist das denn wieder für ein Quatsch? Harper wurde vom Ministerium vorgeschlagen! Die ziehen sie sogar als Legilimens zu Rate. Glaubst du ernsthaft, sie würden das tun, wenn sie Voldemorts Tochter wäre?", fragte Hermione ungeduldig und ignorierte das Zucken, das die Nennung des unnennbaren Namens hervorrief.
"Der Chefredakteur meines Vaters hat damals selbst den Bericht recherchiert", sagte Luna, ohne beleidigt zu wirken.
Hermione verdrehte die Augen.
"Heute also keine kleinen Gourmet-Picknicks für die Auserwählten des Slug-Clubs?", fragte Ron, der sich bemühte, es leichthin zu sagen. Slughorns Arroganz ihm und seiner Familie gegenüber hatte ihn zutiefst beleidigt.
"Sieht nicht so aus", antwortete Hermione, und als Harry erleichtert aufseufzte, setzte sie hinzu: "Freu dich nicht zu früh, Harry. Er hat schon angedeutet, dass er morgen Abend ein kleines Jahresanfangsessen bei sich geben will – und er lässt dich ausdrücklich einladen. Mich will er morgen Mittag schon sprechen."
Harry stöhnte.
oooOOOooo
Als Harry endlich wieder die Große Halle betrat, war ihm die Kehle ziemlich eng. Schon draußen, als er die hell erleuchteten Fenster des Schlosses durch die Dunkelheit hatte blinken sehen, war ihm ganz wackelig ums Herz geworden. Hierher gehörte er, dieser Ort hatte ihm gefehlt, und er hatte gedacht, er würde ihn nie mehr wieder sehen. Es war absurd, beinahe lächerlich, sich jetzt so einfach wieder mit dem Strom der anderen Schüler hineintreiben zu lassen. Zugleich hatte er Angst, dass alles ganz anders sein würde – ohne Dumbledore. Neben ihm ging Hermione, und ihr schien es ähnlich zu gehen, denn sie machte ein angestrengtes Gesicht, als müsse sie mühsam das Gleichgewicht wahren. Ron hatte immer noch ein wenig glasige Augen, als er sich da hinter ihnen her schob.
Die Halle war strahlend erleuchtet, wie jedes Jahr zum Festessen am ersten Abend. Zahllose Kerzen schwebten über den Tischen in der Luft, in der schon der Duft der verschiedensten Köstlichkeiten hing, wenn auch auf den Tellern noch nichts zu sehen war.
Erleichtert gingen Harry, Ron und Hermione zum Gryffindortisch und begrüßten Schulkameraden. Die Halle war vom Summen vieler Stimmen erfüllt, aber ein feines Ohr hätte gemerkt, dass in diesem Jahr der Oberton von Ausgelassenheit und Unbeschwertheit fehlte. Man begrüßte sich, freute sich über das Wiedersehen, tauschte Neuigkeiten aus – aber alles war ein wenig gedämpfter, als es sonst am ersten Abend zuzugehen pflegte.
Die Blicke der Schüler gingen schließlich immer häufiger zum Lehrertisch am oberen Ende der Halle, und ganz langsam dünnte das Stimmengewirr aus.
Da saß Professor McGonagall mit freundlichem, aber ernstem Gesicht, und Harry verspürte einen Stich, als er an Dumbledores stets heitere Gelassenheit dachte.
Da waren sie alle, die Professoren Flitwick, Slughorn, Sinistra, Vector, Binns, sogar Trelawney, und zu Harrys Freude auch Hagrid, unübersehbar und in seinem besten Anzug. Auf Snapes Platz saß heute Hekate Harper, die die meisten neugierigen Blicke auf sich zog, sich aber nichts daraus zu machen schien. Es war ihr kinnlanges, lockiges Haar, das sofort den Blick fing, weil es so schlohweiß war, während sie doch die Jüngste am Tisch zu sein schien. Ihre Kleidung war dunkel und nachlässig, der teilweise gelöste Saum ihres einen Umhangärmels fiel sogar Harry auf.
Harry sah sich weiter um und suchte nach den Lücken in den Reihen seiner Mitschüler. Am Gryffindor-Tisch schien kaum jemand zu fehlen, während bei den Slytherins die freien Plätze nicht zu übersehen waren. Draco fehlte natürlich, ebenso aber auch Crabbe und Goyle und eine Reihe anderer.
Harry betrachtete mit beklommenem Herzen die Slytherins genauer. Sahen so die schwarzen Magier von morgen aus? War es wirklich so schlimm, einer von ihnen zu sein?
Die Gegnerschaft zwischen Slytherin und Gryffindor erschien ihm jetzt wie ein etwas kindisches Spiel, das dem Schulalltag zwar ein wenig Würze verlieh, aber er glaubte nicht mehr ernsthaft, dass diese Spaltung die Kluft zwischen guten und bösen Zauberern markierte. Und doch war er froh, nicht an diesem Tisch sitzen zu müssen, und noch froher, dass niemand außer ihm wusste, dass er eigentlich dorthin gehört hätte.
In den vergangenen zwei Jahren hatte der Sprechende Hut in seinem Lied auf einmal die notwendige Einigkeit der vier Häuser Hogwarts angesichts der drohenden Gefahr betont. Harry fragte sich gerade, wie sein Lied wohl heute lauten mochte, als die lange Reihe der Neuen hereinkam, angeführt von der energisch ausschreitenden Professor Sprout, die einen dreibeinigen Stuhl in der einen und den uralten Sprechenden Hut in der anderen Hand hielt. Die Neuen sahen aus wie immer: aufgeregte, blasse Knirpse, überwältigt von den ungewohnten Eindrücken und voller Spannung auf das bevorstehende Ritual der Auswahl.
Es wurde jetzt völlig still in der Großen Halle, und so hörte man Rons Gähnen bis zum letzten Platz. Aber keiner kicherte. Nur der Fast Kopflose Nick, der Gryffindor-Hausgeist, warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.
Professor Sprout, die in diesem Jahr offenbar die Pflichten von Professor McGonagall übernommen hatte, stellte den Hocker vor die Neuen und setzte den Hut darauf. Dann warteten sie alle gespannt auf die Worte des Hutes, der jedes neue Schuljahr mit einer unterschiedlich gearteten Erzählung der Gründungsgeschichte eröffnete.
Die Stille begann sich zu dehnen, und Harry fing an, sich unbehaglich zu fühlen. Man hörte Husten und Niesen, Räuspern und Herumrücken. Schließlich Gemurmel.
Der Hut aber schwieg. Das war noch nie vorgekommen.
"Was denkt ihr ist da los?", fragte Seamus Finnigan zischend seine Tischnachbarn. "Wieso fängt er nicht endlich an?"
"Vielleicht – vielleicht findet er es nicht richtig, dass die Schule wieder geöffnet hat?", überlegte Neville leise.
Überall wurden ähnliche Theorien im Flüsterton geäußert. Die Neuen waren kurz davor, herumzuzappeln und laute Fragen zu stellen.
Schließlich wurde deutlich, dass der Hut nicht mehr sprechen würde. Professor McGonagall, die neue Schulleiterin, erhob sich. Augenblicklich wurde es wieder ruhig.
"In diesem Jahr scheint es eine weitere Neuerung zu geben", sagte sie bedächtig. "Der Hut schweigt, und wir werden versuchen müssen, den Grund dafür herauszufinden."
Sie zögerte. Harry begriff, dass sie überlegte, ob der Hut wohl bereit sein würde, sein Schweigen für die Verteilung der Neuen auf die Häuser zu brechen. Als sie weitersprach, war ihre Entscheidung gefallen.
"Zuerst aber möchte ich euch alle herzlich willkommen heißen, die neuen wie die alten Schüler. Nun, da es in diesem Jahr offenbar keine Auswahl durch den Sprechenden Hut geben wird, schlage ich vor, dass die neuen Schüler sich vorerst einmal einfach einen freien Platz an den Tischen suchen."
Jetzt brach lautes Stimmengewirr aus. Das hatte es noch nie gegeben, das war unerhört! Keine Auswahl! Die Neuen sollten sich selbst ihren Tisch, ihr Haus aussuchen?
Harrys und Hermiones Blicke begegneten sich über all dem Trubel.
"Er weigert sich, die Aufteilung in die vier Häuser weiter fortzusetzen!", sagte Hermione leise, und Harry nickte.
"Einigkeit im Angesicht des Feindes", murmelte er.
Zögernd und verwirrt suchten sich die Neuen ihre Plätze. Die trübselig dreinblickende Pansy Parkinson am Slytherintisch sah sich plötzlich von vier elfjährigen Jungen umgeben, und offenbar besserte das ihre Stimmung nicht im Geringsten.
"Lasst es euch schmecken!", sagte McGonagall mit dem Anflug eines Lächelns. "Alles Weitere nach dem Nachtisch!"
Sie klatschten Beifall, und endlich schien sich die Spannung etwas zu lösen. Das Essen, das plötzlich überall auf den Platten erschienen war, tat ein Übriges, und kurze Zeit später waren alle mit dem Leeren ihrer Teller beschäftigt.
"Bin ich froh, dass wir den alten Fettkopf da oben nicht mehr sehen müssen", sagte Ron irgendwann undeutlich durch ein Stück Steak hindurch und deutete mit dem Kopf in Richtung Lehrertisch.
"Dabei fällt mir ein", sagte Dean Thomas, ebenfalls mit vollem Mund, "habt ihr gehört, dass die Malfoys verschwunden sind? Alle, meine ich. Auch Dracos Eltern. Und ihr Haus hat wochenlang leer gestanden und ist anscheinend geplündert worden."
"Wer sagt das?", fragte Hermione.
"Mein Onkel arbeitet bei den Magischen Polizeibrigaden."
Harry fand nicht, dass dieses Gesprächsthema zum Essen passte. Er fragte sich, ob er allein so überempfindlich auf alles reagierte, was auch nur entfernt mit Dumbledores Tod zu tun hatte. Dann wurde ihm klar, dass er der Einzige gewesen war, der Dracos hilfloses Ansetzen zum Mord und Snapes Avada Kedavra tatsächlich mit angesehen hatte.
Er hatte den Appetit verloren und kaute lustlos auf einem Stück Sirupkuchen herum, als sich Professor McGonagall wieder erhob.
"Jetzt, da wir alle satt sind, möchte ich natürlich noch ein paar Worte sagen. Zunächst einmal freue ich mich, dass Sie alle wieder zurückgekommen sind. Weil wir das erwartet und erhofft haben, hat sich der Vorstand entschlossen, die Schule trotz aller dagegen sprechenden Umstände weiterhin geöffnet zu halten."
"Wir alle", fuhr sie langsam fort, "wir alle trauern um Albus Dumbledore, der diese Schule in so vielen vergangenen Jahren mit seiner unerreichten Weisheit, seiner Güte, seiner Weitherzigkeit und nicht zuletzt seinem Humor geprägt hat. Sein Verlust hat eine Lücke in unsere Reihen gerissen, die nie wieder gefüllt werden kann. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass wir das Andenken Albus Dumbledores am besten ehren, indem wir weitermachen wie bisher: indem wir diese Schule – seine Schule – weiterhin zu einen Ort machen, an dem junge Hexen und Zauberer in einem Geist der Freiheit und Toleranz unterrichtet und ausgebildet werden. In diesem Sinne möchte ich Sie nochmals alle willkommen heißen.
Des Weiteren möchte ich Sie bitten, sich nicht an der Verbreitung böswilliger Gerüchte zu beteiligen, auch und insbesondere nicht über Severus Snape und Draco Malfoy, die zur Zeit zu den unglückseligsten Mitgliedern unserer Gemeinschaft gehören dürften. Wir wollen nicht urteilen, bevor wir das Ende der Geschichte kennen, wie Professor Dumbledore gesagt hätte."
Harry verzog das Gesicht. Böswillige Gerüchte?
"Dann darf ich Ihnen ein neues Mitglied des Lehrkörpers vorstellen: Professor Hekate Harper, die sich nicht gescheut hat, die Stelle der Lehrkraft für Verteidigung gegen die Dunklen Künste anzutreten."
Harper lächelte in die Runde, und sie klatschten.
"Ich selbst werde das Amt der Schulleiterin ausüben, bis im März offiziell die Wahl des neuen Schulleiters stattfindet. Über die Situation, in der wir uns alle befinden, muss ich sicher keine Worte mehr verlieren. Nur so viel: Ich weise Sie alle an, jede Anordnung zu Ihrer Sicherheit genau zu befolgen. Wir stehen unter dem Schutz von – nun, von besonderen Wachleuten, und die speziellen Schildzauber, die über Hogwarts liegen, werden zur Zeit gerade tatkräftig überprüft und überarbeitet. Sie sind hier sicher. Lernen und arbeiten Sie!"
McGonagalls Blick glitt mit ernstem Lächeln über all die ihr zugewandten Gesichter, und sie setzte sich wieder.
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Nach dem Festessen, als die anderen in die Gemeinschaftsräume oder auch schon in die Schlafsäle schlenderten, hatte Harry wieder die Unruhe überkommen. Er beschloss, dem Büro der Schulleitung noch einen Besuch abzustatten, vielleicht war Professor McGonagall ja noch dort und ließ ihn ein. Ihm würde schon eine Ausrede für sein spätes Erscheinen einfallen. Aber er musste einfach nachsehen, ob Dumbledore in seinem Porträt war, ob er immer noch schlief oder vielleicht doch –
Er wagte den Gedanken gar nicht zu Ende zu denken, so sehr wünschte er sich mit einem Mal, wieder seine Stimme zu hören.
Aber als Harry endlich oben im Flur des siebten Stocks vor dem Wasserspeier stand, der zur Seite rücken musste, um den Weg zum Büro der Schulleitung – Dumbledores altem Büro – freizugeben, war alles dunkel und verlassen. Harry hatte keine Ahnung, wie das Passwort, das den Wasserspeier in Bewegung gesetzt hätte, heute lauten mochte. Versuchsweise probierte er es mit "Brausebonbon", aber wie er erwartet hatte, zeigte es keine Wirkung. Der Wasserspeier schien ihn höhnisch anzugrinsen.
Langsam machte er sich auf den Rückweg.
Als er endlich im Gemeinschaftsraum der Gryffindors ankam, war auch dieser verlassen. Ein paar leere Butterbierflaschen und mehrere leere Chipstüten lagen herum und überall haufenweise Krümel. Arbeit für die Hauselfen.
Harry war müde, aber ihm fiel eine Sache ein, die er vielleicht doch noch heute erledigen konnte.
"Dobby?", fragte er in die Stille des leeren Zimmers hinein.
Er wartete, aber nichts geschah.
"Dobby? Kreacher?", fragte er dann zögernd nach seinem eigenen Hauselfen, der jetzt hier in Hogwarts arbeitete. Er hatte keine große Lust, sich heute mit ihm auseinander zu setzen und ahnte auch, dass das nicht sehr ergiebig sein würde. Kreacher, den er von Sirius Black geerbt hatte, hasste ihn unnachgiebig. Dennoch hätte er auf Harrys Befehl hin zumindest erscheinen müssen.
Weil auch Dobby nicht kam, der sich sonst überschlug, um Harry zu Diensten zu sein, bekam Harry das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Er beschloss, in die Küche hinunterzugehen und selbst nachzusehen. Vielleicht hatten sie alle nur viel zu viel zu tun nach dem Festbankett des ersten Abends?
Er eilte durch dunkle Korridore und düstere Treppen hinab (wobei er sich einmal kurz ducken musste, um nicht von den Professoren McGonagall und Harper gesehen zu werden, die in ein Gespräch vertieft den Gang entlanggingen), bis er den Flur vor der Küche erreichte. Dort hing ein Gemälde an der Wand, das ein Stillleben mit Obst zeigte. Er berührte die gemalte Birne, die zu kichern begann und sich wand, bis sie zu einem Türgriff geworden war. Harry öffnete die Tür.
In der riesigen Schlossküche wuselten in Küchenhandtücher gekleidete Elfen durcheinander, mit dem Abwasch und Aufräumen nach dem großen Festessen beschäftigt, ganz wie Harry erwartet hatte. Nach einer Weile gelang es ihm, einen von ihnen zu fragen, wo Dobby war.
"Ich hörte, dass er nach Kreacher sehen wollte, Sir. Kreacher hatte vorhin einen – Anfall. Als er hörte, dass Harry Potter wieder in Hogwarts ist, hat er –"
Er wurde unterbrochen, aber weitere Erklärungen erübrigten sich, denn was da durch einen anderen Eingang in die Küche hineinpolterte, waren Kreacher und Dobby, in einen erbitterten Kampf verklammert. Die Elfen sahen von ihren Arbeiten auf und verfolgten mit weit aufgerissenen Augen das Geschehen.
"Es gehört Harry Potter!", schrie Dobby wütend und zerrte an einem schwarzen Gegenstand in Kreachers Händen. Kreacher zischte vor Wut.
"Kreacher spuckt auf den Namen des Schmutzblutes! Die Bücher seiner Herrin bekommt er nicht! Niemals!"
"Dein Herr hat es Harry Potter hinterlassen! Gib es her!"
Harry erkannte, dass der schwarze Gegenstand ein Buch war. Er sah Silberbeschläge aufblitzen und etwas, das auf den ersten Blick wie ein Reißverschluss aussah, der um drei Seiten des Buches herumlief. Jetzt hatte Dobby ihn entdeckt.
"Harry Potter, Sir!", rief er laut. "Kreacher versteckt Sachen seines Herrn!"
Kreacher hielt inne, als auch er Harry bemerkte. Ein hässlicher Ausdruck trat in sein ohnehin bösartiges Gesicht. Er riss dem abgelenkten Dobby das Buch aus den Händen und rannte los. Aber Dobby erwischte ihn am Bein, Kreacher stolperte und fluchte. Er trat nach Dobby, so heftig, dass dieser einige Schritte zurückflog. Dann setzte er sich auf und sah sich um. Als er sah, dass Harry auf ihn zukam, packte er das Buch und schlug mit einem Ausdruck der Verzweiflung seine nadelspitzen Zähne in den schwarzen Einband. Es gelang ihm tatsächlich, ein Stück abzubeißen.
Er kaute und versuchte zu schlucken, wobei ihm die Augen beinahe aus dem Kopf quollen. Dann biss er erneut zu, aber er konnte von dem Einband nichts mehr abbeißen. Als er das begriff, zögerte er nur eine Sekunde, dann presste er das Buch an seine magere Brust und stürzte sich mit einem Schrei in die knisternden Flammen des großen Herdfeuers.
"Nein, nicht!", schrie Harry entsetzt.
Da waren schon mehrere der Elfen beim Herd und rissen Kreacher aus den Flammen. Diese hatten nicht einmal sein einziges Kleidungsstück, einen schmuddeligen Lendenschurz, ansengen können. Aber der alte Elf lag auf dem Boden und wand sich und schrie, als stünde er in Flammen. Das Buch hielt er immer noch an sich gepresst, die Hände zu Klauen verkrampft.
"Nein, oh nein, Kreacher hat versagt! Kreacher hat seine Herrin im Stich gelassen!", schrie er, und Harry konnte sehen, wie sein Gesicht eine seltsame, bläuliche Färbung anzunehmen begann. "Jetzt fällt alles dem Schlammblut in die Hände! Oh, was wird die Herrin zu Kreacher sagen!"
Er wälzte sich auf dem Boden und litt offensichtlich grausame Schmerzen.
"Wir müssen etwas tun!", stieß Harry hervor. "Wir müssen ihm helfen!"
Er kniete neben ihm und versuchte, ihn am Arm zu fassen, aber Kreacher zuckte zurück, als sei er gebissen worden. Der Abscheu in seinem alten, schmerzverzerrten Gesicht ließ Harry zurückfahren.
"Harry Potter wird Kreacher nicht anfassen!", fauchte er. "Kreacher will nicht besudelt sterben! Weg! Weg mit Potter!"
Dann überwältigte ihn der Schmerz. Er schrie, und seine großen Augen quollen immer stärker hervor. Große Tränen rannen über sein Gesicht.
"Herrin, verzeihe Kreacher!", heulte er, wobei er anscheinend kaum noch Luft bekam.
"Solche Schmerzen!", röchelte er. "Weh! Kreacher – will – nicht – sterben – helft –"
Dann brach seine Stimme, und er wurde zuckend über den Boden geschleudert, als wüte der Schmerz wie ein wildes Tier in ihm. Schließlich sanken seine Hände kraftlos zur Seite, das Buch fiel mit einem endgültigen Krachen zu Boden. Dann lag Kreacher still. Sein Gesicht war blau angelaufen, die Zunge hing aus seinem verzerrten Mund, und die Augen waren so verdreht, dass fast nur noch das Weiße zu sehen war. Ein kleines Rinnsal Blut lief ihm aus dem rechten Augenwinkel.
Die Stille dröhnte in Harrys Ohren. Er zitterte.
Vor kaum mehr als zwei Wochen hatte er den Tod seiner Eltern nacherlebt; er war Augenzeuge bei Sirius Blacks und Dumbledores Tod gewesen. Aber in keinem Fall hatte er tatsächlich ein Sterben mit angesehen. Das Avada Kedavra hatte seine Eltern wie ein Blitzschlag gefällt, und sowohl Sirius als auch Dumbledore waren im Augenblick ihres Sterbens seinem Blick entzogen gewesen. Das hier aber war der Tod. So sah er also aus.
Auch den Hauselfen stand das Entsetzen in die kleinen Gesichter geschrieben. Sie standen immer noch wie erstarrt, als sie eilige Schritte auf der Treppe hörten. Dann wurde die Tür mit einem Schwung geöffnet, und McGonagall stand in der Küche.
"Was geht hier vor?", fragte sie streng. Hinter ihr stand Professor Harper.
Sie sahen den toten Hauself auf dem Küchenboden.
"Was ist passiert?"
"Er wollte – das Buch da vernichten", krächzte Harry. "Wollte nicht, dass ich es kriege, glaub ich."
"Was ist das für ein Buch, Potter?"
Harper hatte es schon aufgehoben. Sie sah auf das große Wappen der Blacks, das den tiefschwarzen Ledereinband verzierte.
"Ich weiß es nicht", antwortete Harry. "Aber er ist tot, glaube ich. Hat versucht, es zu essen, und als er merkte, dass es nicht ging, ist er damit ins Feuer gesprungen."
Harper sah ihn an.
"Dieses Buch lässt sich nicht öffnen", sagte sie.
"Es ist meins. Bitte geben Sie es mir", sagte Harry bestimmt.
"Ich sehe hier das Wappen der Familie Black", erwiderte Harper ruhig. "Wieso sollte das Buch Ihnen gehören, Mr Potter?"
"Sirius Black war mein Pate. Als er starb, hat er mir seinen gesamten Besitz vererbt", antwortete Harry und griff mit entschiedener Miene nach dem Buch. Harper ließ es sich aus der Hand nehmen.
"Moment mal", sagte Professor McGonagall. "Dieses Buch hat anscheinend gerade einen Hauself getötet. Ich werde nicht zulassen, dass Sie es einfach an sich nehmen, Mr Potter."
"Es ist meins. Ich werde vorsichtig damit umgehen, aber ich werde es behalten."
McGonagall und er starrten einander in die Augen. Nach einer Weile wandte McGonagall den Blick ab und sagte kalt: "Sie sind volljährig, Potter. Ich werde Sie also nicht hindern, obwohl ich als Ihre Schulleiterin das Recht dazu hätte. Aber ich warne Sie, bringen Sie niemand anderen damit in Gefahr."
Harry schüttelte den Kopf.
"Ich kann Ihnen vermutlich helfen, dieses Buch zu öffnen", sagte Professor Harper. "Sie sind jederzeit damit willkommen."
McGonagall musterte ihn immer noch mit einem sehr strengen Blick.
"Was ist mit Kreacher?", flüsterte Harry. "Was geschieht jetzt mit ihm?"
"Das überlassen Sie den Elfen. Sie mögen es nicht, wenn wir uns in diese Dinge einmischen. Sie haben ihre eigenen Bräuche."
McGonagall schnaubte, als könne sie nicht glauben, dass er so unwissend war und ihr dennoch die Stirn zu bieten wagte.
"Denken Sie nicht, dass sein Tod genauer untersucht werden müsste?"
"Sie müssen mich nicht an meine Pflichten erinnern, Potter, vielen Dank. Nehmen Sie Ihr Buch und verschwinden Sie in Ihren Schlafsaal, wohin Sie ohnehin seit etwa einer Stunde gehören. Wir sprechen uns morgen noch!"
Harry verließ die Küche auf zittrigen Beinen.
oooOOOooo
Harry lag endlich in seinem Bett, die Decke fast bis über den Kopf gezogen. Rings um sich hörte er das leise oder weniger leise Atmen seiner Zimmergenossen.
Verzweifelt versuchte er, sich an etwas aus Julia Tranquills Schweigen des Geistes zu erinnern, das ihm jetzt helfen konnte. Aber seine Übungen in Okklumentik waren noch nicht weit genug gediehen, es half nichts. Er zitterte am ganzen Körper, es schüttelte ihn geradezu.
Kann ich töten? schrie es in ihm. Kann ich wirklich Leben nehmen? Kann ich absichtlich solche Qualen auslösen? Werde ich töten können?
