Kapitel 9
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Als Harry und Ron zum Frühstück hinuntergingen, saß Hermione schon am Tisch und studierte den Prophet.
"Lest das hier!", sagte sie düster.
Die Schlagzeile sagte schon alles. "'Energie' weg – zwei weitere Städte evakuiert. Muggel-Premier wendet sich an Minister Scrimgeour."
"Oh Mann! Der Premierminister?", fragte Harry erstaunt.
"Ja, seltsam, nicht? Irgendwie hatte ich immer gedacht, Voldemort wäre nur an der Zaubererwelt interessiert."
"Hier steht, sie plündern in den Städten. Die Leute hauen alle ab. Die Nachbarorte sind voller Flüchtlinge. Und keiner weiß, was los ist."
Das hatte etwas wirklich Bedrohliches. Harry erkannte, dass er sich im Hinterkopf immer an den Gedanken geklammert hatte, in der Muggelwelt könnten die Dinge noch einigermaßen in Ordnung sein, so dass sie im größten Notfall doch noch eine Zuflucht geboten hätte –
"Die Muggel denken an Terroristen", sagte Hermione. "Aber sie kriegen nicht raus, wie sie es machen – und wie man es wieder reparieren kann. Bisher waren es Kleinstädte. Habt ihr mal überlegt, was los ist, wenn er sich – sagen wir, London aussucht?"
Keiner wagte, sich das genauer auszumalen.
Und ich soll ihn aufhalten können, dachte Harry verzweifelt. Ich kann ja nicht mal das verdammte Buch öffnen!
"Ich muss euch nachher dringend was erzählen. Kommt nach dem Frühstück mit an den See", sagte er endlich und griff nach einem Becher Kürbissaft.
"Mach's doch nicht so spannend, Harry. Was ist denn los?"
"Wir haben in einer dreiviertel Stunde McGonagall", sagte auch Hermione ein wenig ungeduldig.
Harry kleckste Marmelade auf eine ungewöhnlich trockene Scheibe Toast.
"Ich kann das nicht hier erzählen, nicht beim Frühstück."
"Also gut, lasst uns runter an den See gehen", sagte Hermione. "Aber dann jetzt!"
Draußen war es wieder schön und sonnig, aber erstaunlich kalt.
"Die Blätter fallen schon!", sagte Hermione ganz überrascht, als sie den Weg zum See einschlugen. Tatsächlich lag um die alten Bäume am Seeufer bereits ein dünner Teppich von welken Blättern.
Harry aber hatte anderes im Sinn als den Herbstanfang. Aus seiner Tasche holte er das schwarze Buch. Er musste sich überwinden, es zu berühren.
"Das habe ich gestern Abend bekommen", sagte er. "Kreacher – Kreacher ist deshalb gestorben."
"Was?!"
"Ich hätte nie gedacht, dass der überhaupt sterben kann", sagte Ron. "Ich dachte, bei all dem Gift müsste er – konserviert sein."
Die beiden anderen sahen ihn strafend an.
"Was heißt das, er ist deshalb gestorben?", fragte Hermione dann.
"Er wollte es mir nicht geben. Lieber wollte er sich mitsamt dem Buch vernichten. Er – er ist ins Herdfeuer gesprungen. Aber das hat ihm nichts getan. Ich glaube, woran er wirklich gestorben ist, ist der Bissen, den er hier rausgebissen hat."
Er zeigte ihnen die winzige Lücke im Einbandleder, wo Kreacher seine Zähne hineingeschlagen hatte. Hermione sah aus, als wäre ihr übel.
"Was ist das denn bloß für ein Buch?"
"Es kommt aus dem Black-Nachlass, deshalb wollte Kreacher ja auch nicht, dass ich es bekomme. Aber ich habe keine Ahnung, was es ist. Es geht nicht auf."
"Nein! Nicht schon wieder so 'ne faule Sache!", stöhnte Ron.
"Quatsch", sagte Hermione. "Das kriegen wir schon auf. Da ist doch so ein Verschluss."
Sie begutachteten, was Harry am vergangenen Abend wie ein Reißverschluss erschienen war. Es waren winzige Silberschlangen in Spiralform, die vom oberen und unteren Deckelrand ausgingen und fest ineinander griffen. Dieser Verschluss rührte sich nicht im Geringsten, gleichgültig, wie viele Zaubersprüche Hermione auch ausprobierte.
"Wir könnten es mit Gewalt versuchen", schlug Ron vor. "Den Deckel abschneiden oder so."
"Ja, und dabei von dem Ding angegriffen werden! Denk an Kreacher. Das war kein Zufall!", sagte Hermione.
Schließlich mussten sie sich erst mal geschlagen geben.
"Professor Harper hat gesagt, sie würde mir helfen, es zu öffnen", sagte Harry. "Sie und McGonagall kamen dazu, als Kreacher – tot war."
"Dann lasst uns doch zu ihr gehen."
"Ich weiß nicht so recht. Wir können sie doch noch gar nicht einschätzen. Und wer weiß, was das für ein Buch ist. Sie hat übrigens das Wappen der Blacks erkannt."
"Ich würd' da auch keinen Lehrer mit reinziehen", sagte Ron. "Schon aus Prinzip nicht. Du fragst sie um Hilfe und endest mit Strafarbeiten am Samstagnachmittag."
Harry nickte.
"Auf jeden Fall müssen wir jetzt zurück. McGonagall wird sehr sauer, wenn wir zu spät kommen."
oooOOOooo
Einige Minuten später saßen sie alle im Klassenraum für Verwandlung, und Harry empfand wieder ein Gefühl der Unwirklichkeit. Das verstärkte sich noch, als er sah, wie sich Lavender Brown flüchtig nach Ron umsah und ihm ein kokettes Lächeln schenkte. Offenbar hatte sie noch nicht ganz aufgegeben. Hermione, die neben Harry saß, schien es nicht einmal zu bemerken.
"Guten Morgen, alle miteinander", grüßte Professor McGonagall die Klasse. "Ich heiße Sie willkommen zum Beginn Ihres letzten Schuljahrs. Zu den Prüfungen und Ihrer jeweiligen Fächerbelegung möchte ich Sie heute Mittag einzeln sprechen, wie gehabt. Aber bevor wir mit dem eigentlichen Unterricht beginnen, gibt es noch einige andere Dinge zu besprechen.
Da wäre zunächst die Gestaltung Ihrer Abschlussfeier. Traditionell verabschiedet sich die siebte Klasse mit einem Ball. Ich schlage vor, dass Sie dafür ein Festkomitee wählen und sich alle in irgendeiner Form einbringen. Erfahrungsgemäß ist das alles sehr viel mehr Arbeit, als man erst mal annimmt. Und denken Sie rechtzeitig daran, sich um Ihre Festumhänge zu kümmern", sagte sie mit einem Blick, der vor allem den Herren der Klasse galt.
Also wählten sie ein Festkomitee, dessen Vorsitz Lavender übernahm.
"Der nächste Punkt ist das Jahrbuch. Für die Abschlussklasse wird immer ein Jahrbuch hergestellt, in dem jeder Schüler mit einem Artikel und einem Foto gewürdigt wird. Die Leitung dieses Projektes übernimmt üblicherweise jemand aus der sechsten Klasse, damit die Siebtklässler nicht allzu sehr von ihren Prüfungen abgelenkt werden. In diesem Jahr hat sich Luna Lovegood für diese Aufgabe gemeldet. Gibt es hier jemanden, der sich freiwillig als Mithelfer des Projektes zur Verfügung stellt?"
Zur Überraschung aller meldete sich Ron, der ziemlich rot wurde.
"Ich könnte das mit den Fotos machen", sagte er.
Jahrbücher und Horcruxe, ging es durch Harrys Kopf. Ich glaub es einfach nicht!
"Abschließend noch ein paar Worte zur Sicherheit. Auch für Sie sind die Ausflüge nach Hogsmeade zuerst einmal ausgesetzt. Das tut mir leid für Sie, aber es ist nicht zu ändern. Des Weiteren erwartet Sie im Unterricht bei Professor Harper in diesem Jahr aus aktuellem Anlass ein besonderer Kurs: der Kampf mit Magischen Waffen. Ich habe mich für jeden Einzelnen von Ihnen verbürgt und hoffe, dass Sie mir keine Schande machen. Weiteres erfahren Sie heute Nachmittag von Professor Harper selbst.
Und zu guter Letzt muss ich Ihnen leider auch mitteilen, dass jegliches Quidditch-Spielen fürs Erste untersagt ist. Wenn geklärt ist, ob die Schirmzauber um Hogwarts alle nach wie vor funktionstüchtig sind, wird über die weitere Regelung beraten. Glauben Sie mir, auch ich bin nicht erfreut darüber!", sagte sie, als einige Ausrufe der Empörung laut wurden.
Harry war sehr enttäuscht. Obwohl er im Sommer vor der Abreise bei McGonagall noch seinen Rücktritt vom Posten des Kapitäns der Gryffindor-Mannschaft erklärt hatte – er hatte nicht vorgehabt, überhaupt nach Hogwarts zurückzukehren – hatte er sich aufs Quidditch-Training gefreut, seit er sich zur Rückkehr entschlossen hatte.
"Und nun lassen Sie uns anfangen", fuhr Professor McGonagall fort. "Unser erstes großes Thema in diesem Schuljahr sind die komplizierteren Raumverwandlungen. Wie erweitere ich einen Raum – wie verkleinere ich ihn. Können Sie sich noch weitere Dinge vorstellen, die Sie einem gegebenen Raum angedeihen lassen könnten? Ja, Miss Granger?"
Und so begann der Unterricht in der siebten Klasse in aller Form und Ruhe.
oooOOOooo
Nach dem Mittagessen und einer knappen Besprechung zum Thema Fächerbelegung bei McGonagall schlenderten Ron und Harry über die sonnenbeschienene Wiese noch einmal zum See hinunter, setzten sich unter die große Buche und sahen eine Weile zu, wie die orangeroten und dunkelockerfarbenen Blätter bei jedem Windstoß vor dem blauen Himmel herunterregneten. Hermione hatte ihr Essen hinuntergeschlungen und war dann zu der Besprechung bei Professor Slughorn losgestürzt, von der sie schon im Zug gesprochen hatte. Ron und Harry dagegen hatten beschlossen, die Freistunde zu genießen.
Eben, als sie die breite Schlosstreppe hinuntergelaufen waren, hatten sie zwei Mädchen aus der sechsten Klasse überholt. Eine warf Harry über die Schulter einen bösen Blick zu. Er hatte gehört, was sie laut zu ihrer Freundin sagte.
"Warum ist der nicht weggeblieben? Dann wäre wenigstens Ginny hier!"
Es klang noch immer in seinen Ohren nach.
"Lass uns einen Besuch bei Hagrid machen", schlug Ron jetzt vor.
"Gute Idee. Hör mal, wie bist du eigentlich darauf gekommen, dich für diesen Jahrbuchkram zu melden?"
Ron wurde wieder rot und schwieg ein paar Schritte lang.
"Ich stell's mir ganz witzig vor, mit Luna zusammenzuarbeiten. Und ein paar Fotos, Mann, die krieg ich gerade noch hin."
Harry beschloss, sich dazu nicht weiter zu äußern. Arme Hermione, dachte er. Die kann einem echt leid tun.
Das strahlende Wetter hatte viele Schüler hinaus an den See und auf die Wiesen gelockt. Ständig musste man irgendeinem Ball oder sonstigen fliegenden Spielgeräten ausweichen. Harry sehnte sich auf einmal nach einem richtigen, guten Quidditch-Training.
"Erwartest du auch immer, im nächsten Moment irgendwo Malfoy zu sehen?", fragte Ron.
"Nee", antwortete Harry, der jeden Gedanken an Draco vermied, so gut er es konnte.
"Irgendwie fehlt einem beinahe was, wenn man nicht ständig mit seiner arroganten Fratze rechnen muss. Und Snape – der auch. Ich meine, ich will nicht behaupten, dass ich ihn geradezu vermisse, aber –"
"Jetzt halt aber die Klappe, Ron. Ich will von Snape nichts mehr hören. Ich hoffe – er sitzt irgendwo in einer dunklen Zelle und – leidet!"
Harry war selbst über die Intensität seines Hasses erschreckt, als die Worte heraus waren. Ron sah ihn fragend von der Seite her an, sagte aber nichts mehr, da sie Hagrids Hütte jetzt beinahe erreicht hatten. Außer dem rauchgeschwärzten Fundament deutete nichts mehr darauf hin, dass diese Hütte vor kaum mehr als zwei Monaten lichterloh gebrannt hatte. Hagrid selbst konnten sie im Garten dahinter hin- und hergehen sehen.
"Hallo Hagrid!", rief Ron ihm zu. "Dein Haus sieht wieder aus wie neu!"
"Hallo ihr beiden! Schön, euch zu sehen! Wo habt ihr denn Hermione gelassen?"
"Die ist zu einem Plauderstündchen mit Professor Slughorn."
"Oha. Sie is' verdammt ehrgeizig, unsere Hermione, wie? Na, dann geht schon mal rein, ihr könnt Teewasser aufsetzen. Komm gleich nach, muss nur noch 'n paar Kürbisse ernten. Hatten tatsächlich Bodenfrost letzte Nacht! Im August!"
Sie sahen ihm zu, wie er die riesenhaften Kürbisse in seinen nicht minder riesenhaften Händen zu einer kleinen Steinmauer hinübertrug und an den sonnengewärmten Steinen stapelte. Dabei fiel ihnen der Neubau in einiger Entfernung auf.
"He, Hagrid, was ist das denn da drüben?", fragte Ron und zeigte auf ein kleines kuppelartiges Bauwerk, das ein bisschen an einen geschlossenen Gartenpavillon erinnerte.
"Kleiner Neubau", murmelte Hagrid. "Professor McGonagall wollt' ihn haben."
Harry und Ron sahen sich an. Ihnen schwante nichts Gutes.
"Was ist denn da drin?", fragte Harry.
"Angelegenheit der Schulleitung", murmelte Hagrid noch leiser. "Fragt einfach nicht, Jungs, okay?"
"Na ja, wahrscheinlich ist es besser, wenn wir es nicht wissen", sagte Ron. "Vermutlich schlafe ich so ruhiger."
Sie gingen um die Hütte herum zur Tür, und Harry stolperte im hohen Gras über etwas und schlug hin. Verärgert griff er nach dem Zinnteller, der völlig unsichtbar im Weg gelegen hatte.
"He Hagrid, schmeißt du die Teller jetzt aus dem Fenster? Hast du den hier vermisst?"
Hagrid sah nur kurz auf.
"Ah, da ist er ja. Nö, ich wusste, der liegt hier irgendwo rum. Tu manchmal Reste drauf für so 'n paar Streuner. Kommen mir dann wenigstens nicht in die Bude."
Harry verzog das Gesicht, als er die klebrigen Reste von alten Fleischstücken an dem Teller bemerkte.
"Streuner?"
"Katzen", antwortete Hagrid. "Kann die Viecher in der Wohnung nich' leiden. Un' Fang schon gar nich'."
Sie gingen endlich durch die offene Tür in die Hütte, die nur aus einem einzigen Raum bestand. Der vor dem Kamin schlafende große Hund ließ sich von ihnen nicht im Mindesten stören. Fang kannte sie seit langem.
Sie setzten Wasser auf, und als der Kessel pfiff, kam auch Hagrid herein. Mit seiner bärenhaften Gestalt schien er mindestens die Hälfte des Raumes auszufüllen.
"Lass mich mal machen", sagte er und nahm Ron die Teebüchse aus der Hand. "Da muss ordentlich was rein!"
Er schaufelte Teeblätter in die Kanne, und Ron und Harry tauschten einen resignierten Blick.
"Kekse sin' auch da", sagte Hagrid fröhlich. "Aber nich' mehr viele. Grawp liebt sie, deshalb bring ich ihm immer die meisten mit."
Hagrids Halbbruder Grawp war ein Riese, dessen Vorliebe für Felsenkekse vermutlich eine seiner nettesten Eigenschaften war. Seit einiger Zeit lebte er in einer Höhle in den Bergen, wo Hagrid ihn ständig versorgte und um seine Bildung bemüht war.
"Er fragt übrigens immer nach Hermione, der Grawp. Sie muss ihn unbedingt mal besuchen kommen."
Auch darüber dachten sich Ron und Harry ihr Teil und schwiegen lieber.
"Sag schon, was ist in diesem Gartenhäuschen?", fragte Ron und tunkte seinen Keks versuchsweise in den dampfenden, tiefschwarzen Tee.
"Gartenhäuschen?" Hagrid schien ehrlich verwirrt. "Ach, du meinst das Bassin. Oh verdammt. Hab ich schon wieder zu viel gesagt."
"Bassin? Da ist ein Schwimmbad drin?", fragte Harry verblüfft.
"Jo", sagte Hagrid. "Aber eins, in das du besser nich' reingehst."
Sie hatten es ja geahnt.
"Also, was für ein Tier ist denn drin?"
"Totengräber."
"Hä?"
"Käfer?", fragte Harry ungläubig.
"Doch nicht Käfer. Quallen! Totengräber-Quallen."
"Nie gehört."
"Sei froh. Sin' verdammt giftig und verdammt dauernd schlecht gelaunt", murrte Hagrid. "Geb' mir schon alle Mühe, aber denen is' nix genug. Die fressen ohne Ende."
"Vielleicht vermissen sie das Meer", schlug Ron vor.
"Die kommen gar nich' aus dem Meer. Sin' Süßwasserquallen. Ich zeig sie euch mal. Aber man darf ihnen nich' zu nahe kommen."
"Und McGonagall hat die bestellt?"
"Sie und Professor Slughorn. Sie brauchen das Gift. Aber bitte, Jungs, fragt jetzt nich' weiter. Ich hab schon viel zu viel geredet!"
"Hagrid", begann Harry schließlich, "warst du noch mal im Büro – in Dumbledores Büro, meine ich?"
Hagrid sah ihn aus trüben Augen an und nickte.
"Weiß schon, worauf du hinauswillst, Harry. Aber er schläft immer noch. Hatte auch gehofft, er wird mal wach. Aber bisher – nichts. Hat jetzt sogar 'n paar Kissen unterm Kopf. Sieht aus, als wollt' er noch 'ne Weile schlafen."
Er trank einen großen Schluck. "Hat er vielleicht auch verdient, oder, ein bisschen ausruhen!"
Harry sah die Tränen in Hagrids Augen und fühlte zum ersten Mal seit Wochen, dass jemand da war, der genauso empfand wie er selbst.
Sie hörten eilige Schritte auf dem Weg draußen. Dann wurde die Tür aufgerissen, und Hermione stand im Zimmer, mit leuchtenden Augen und ziemlich außer Atem.
"Dachte mir doch, dass ich euch hier finde! Hallo, Hagrid! Dein Haus sieht wieder richtig gut aus."
"Setz dich, Hermione! Hier, nimm dir 'ne Tasse Tee."
Sie warf einen skeptischen Blick auf das teerartige Gebräu in Rons Tasse, in dem nun auch noch Kekskrümel schwammen. Aber da sie Hagrid sehr gern hatte, nahm sie ihre Tasse dankend entgegen und nippte sogar daran.
"Ihr ratet nie, was Slughorn wollte!", fing sie an.
"Ein – Date?", sagte Ron.
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
"Er hat gesagt, er will mich für ein Stipendium vorschlagen! Für die Akademie in Padua, nächstes Jahr, direkt nach dem Abschluss!"
"Das ist ja toll", sagte Harry.
"Und wie! Das ist eine der ältesten Schulen für Zauberei in ganz Europa. Das heißt natürlich auch, dass ich jetzt jede Menge dafür tun muss, neben allem anderen. Ich muss einen Aufsatz über das Projekt vorbereiten, das ich während meines Aufenthaltes dort bearbeiten will. Oh Mann, ich hab noch nicht die geringste Ahnung, was – es gibt so viele interessante Themen!"
"Du vergisst aber nicht, dass du dich auch auf die Abschlussprüfungen vorbereiten musst?", sagte Ron boshaft.
Hermione seufzte. "Ich wünschte, ich hätte den Zeitumkehrer wieder, wisst ihr noch, von damals?"
"Klar", sagte Harry und ließ seine Gedanken kurz zurück ins dritte Jahr schweifen, als sie mithilfe des Zeitumkehrers Sirius gerettet hatten.
"Übrigens, wo wir gerade von Zeit reden", sagte Hermione. "Wir müssen rauf ins Haus! Harpers erste Stunde! Ich bin total gespannt!"
Während sie den Weg zur Schule hinaufliefen, sagte sie noch: "Ach, Harry, Slughorn lässt dich an die Party heute Abend erinnern. Acht Uhr in seinem Arbeitszimmer."
"Oh nein! Ich hatte gehofft, er würde es irgendwie – vergessen."
"Er vergisst wohl kaum, dass er den Auserwählten eingeladen hat", schnaubte Ron.
oooOOOooo
Professor Harper kam mit energischen Schritten in den Raum und wandte sich mit einem Schwung, der ihren nachlässig übergeworfenen schwarzen Umhang flattern ließ, der Klasse zu. Das konnte einen beinahe an ihren Vorgänger erinnern, dachte Harry und verzog das Gesicht ein wenig.
Um ihn herum warteten vierzehn Schüler gespannt darauf, was diese weitere neue Lehrkraft in Verteidigung ihnen nun sagen würde. Sie ließ ihren kühlen Blick über die ihr zugewandten Gesichter gleiten.
"Wie Ihnen Professor McGonagall ja bereits mitgeteilt hat, werden wir in diesem Schuljahr angesichts der besonderen Situation einen ungewöhnlichen Schwerpunkt in der Verteidigung gegen die Dunklen Künste haben, der im Übrigen auch mein Spezialgebiet ist: Magische Waffen."
Sie machte eine kleine Pause und konnte mit der Aufmerksamkeit, die sie geweckt hatte, zufrieden sein.
"Der Kampf mit Magischen Waffen", fuhr sie fort, "hat vor allem das Ziel, schwere Verletzungen und Beschädigungen des Gegners anzurichten oder ihn zu töten. Er ist überwiegend eine Dunkle Kunst. Das Studium dieser Materie ist eigentlich Bestandteil der höheren Auroren-Ausbildung. In Ihrem Fall wurde wegen der augenblicklichen Gefahrenlage eine Ausnahme genehmigt, so dass ich Sie in diesem Jahr in einige Grundkenntnisse einweihen werde, die für Sie vielleicht wichtig werden könnten."
Als Harper innehielt, meldete sich Hermione. Harper nickte ihr zu.
"Aber es gibt doch auch Magische Waffen in der weißen Magie?"
"Ja, und die dienen im Wesentlichen dazu, sich gegen die dunklen Waffen zu verteidigen. Und es gibt solche, die den Träger mit einem Schutz umgeben, vergleichbar mit einem Patronus, den Sie nicht mehr aufrufen müssen, sondern schon bei sich tragen. Allerdings ist ein solcher Schutz nicht so vielseitig anwendbar wie ein Patronus. Entscheidend ist, dass magische Waffen üblicherweise viel kleiner und unauffälliger als ein Zauberstab sind und diesen im Fall eines Kampfes ersetzen können.
Die Herstellung von und der Kampf mit magischen Waffen ist eine uralte Kunst, die nicht zu Unrecht ein zwiespältiges Ansehen hat. Sie können größten Schaden anrichten. Das Ministerium und der Wizengamot müssen in jedem Einzelfall zustimmen, ob jemand zum Studium oder zur Lehre dieser Kunst zugelassen werden darf. Der Bewerber wird durch einen Legilimens auf die Lauterkeit seiner Absichten geprüft. Diese Prüfung muss er in regelmäßigen Abständen wiederholen, damit gewährleistet ist, dass er nicht zwischenzeitlich vom Weg abgekommen ist.
"Und wenn der Bewerber nun selbst ein guter Okklumens ist?", platzte Hermione heraus.
"Gute Frage – Miss Granger, wie ich vermute", sagte Harper mit einem Zögern, das eindeutig gespielt war. "Ich sehe, Sie denken mit. Der Bewerber muss diese Prüfung in einem – sagen wir, schutzlosen Zustand ablegen. Es gibt Mittel, die ihn unfähig machen, seine Okklumentik-Fähigkeiten einzusetzen."
"Wie stellt man sicher, dass der Legilimens nicht selbst dunkle Absichten hat?", fragte Harry.
Harper maß ihn mit einem scharfen Blick.
"In normalen Zeiten verlässt man sich in dieser Hinsicht auf die Weisheit des Wizengamots. In Zeiten wie diesen, da vermuten Sie richtig, Mr Potter, kann letztlich niemand die Integrität eines anderen garantieren."
Mit großen Schritten ging sie zu ihrem Pult zurück und setzte sich auf dessen Kante.
"Sie kennt unsere Namen, hast du das gemerkt?", flüsterte Hermione Harry aufgeregt zu.
"Legilimentik! Was hast du erwartet?", flüsterte Harry zurück.
Aber Hermione schüttelte den Kopf und wollte noch etwas sagen, entschloss sich dann jedoch, lieber zuzuhören.
"In diesem Kurs", nahm Harper den Faden wieder auf, "wird jeder Schüler lernen, eine magische Schutzwaffe zu seinem eigenen Gebrauch herzustellen. Da diese Kunst stets nur mündlich vermittelt wird, werden Sie kein Lehrbuch haben, in dem Sie nachschlagen können. Ich lege Ihnen deshalb dringend ans Herz, genau aufzupassen." Ihr Blick fiel möglicherweise nicht zufällig auf Ron.
"Vielleicht ist Ihnen bewusst, welche Gefahr darin liegt, einem unbelebten Objekt etwas von Ihrer Persönlichkeit zu geben. Denn darum geht es letztlich bei der Magischen Waffe: Sie ist sozusagen ein Teil von Ihnen – Sie haben sie dazu gemacht. Sie haben einen Gegenstand ausgewählt, der für Sie und nur für Sie eine bestimmte Bedeutung besitzt. Sie haben ihn mit Ihren Fähigkeiten zu einem magischen Gegenstand gemacht, der nur in Ihrer Hand zur Waffe taugt. Wenn er in fremde Hände fällt, ist er bestenfalls nutzlos. Schlimmstenfalls aber kann er gegen Sie verwendet werden."
Das erinnert mich an ein Horcrux, dachte Harry auf einmal. Und beschloss, sehr genau aufzupassen. Hermione wandte sich ihm zu, und in ihrem vielsagenden Blick konnte er lesen, dass sie genau dasselbe gedacht hatte.
"Und noch etwas möchte ich Ihnen sagen, bevor wir mit dem eigentlichen Unterricht beginnen werden", sagte Professor Harper, und nun fiel der Blick ihrer grauen Augen eindeutig auf Harry, dem der spöttische Funke darin nicht entging. "Wie einige von Ihnen vielleicht gehört haben, arbeite ich gelegentlich auch als Legilimens. Diese Tätigkeit übe ich aber nur in bestimmten Fällen aus – sagen wir, wenn ich angemessen dafür bezahlt werde. Sie können mir also ungefährdet in die Augen sehen."
oooOOOooo
Um fünf vor acht stand Harry im Gemeinschaftsraum und wartete auf Hermione. Ron saß am Tisch und blätterte lustlos in einem Quidditch-Buch. Harry hatte beschlossen, diese Party dazu zu nutzen, Slughorn in lockerer Atmosphäre ein wenig über das Thema Horcruxe auszuhorchen. Er wünschte sich, er könnte endlich aufbrechen und es hinter sich bringen, umso mehr, als Ron sich seit einer Viertelstunde in bissigen und, wie er offenbar annahm, humorvollen Bemerkungen zum Thema Partys im Allgemeinen und Slug-Club im Besonderen erging.
Aber Hermione ließ sie gnadenlos warten, und es war zehn nach acht, als sie endlich den Raum betrat, in frisch gebügeltem Umhang, mit Lippenstift und einem deutlichem Hauch von Parfüm. Dieser Auftritt gab Ron sichtlich den Rest.
"Ich schreib dann mal weiter an Fabienne", sagte er und stand auf.
"Der wird alt, Ron", gab Hermione zurück. "Versuch's mit einem Spaziergang mit Luna!"
Harry stöhnte.
"Jetzt lass uns endlich gehen! Sonst kriegen wir nicht mal mehr was zu essen ab!"
Schon auf dem Flur hörten Harry und Hermione das Gesumm der Stimmen aus Slughorns Arbeitszimmer, untermalt von den heiteren Klängen einer barocken Streichermusik.
Wenigstens keine Weihnachtslieder heute, dachte Harry. Mit gemischten Gefühlen betrat er zusammen mit Hermione Slughorns Arbeitszimmer.
Auch diesmal musste es – mit welchen Mitteln auch immer – sehr viel geräumiger gemacht worden sein, als es die Zimmer der Lehrer üblicherweise zu sein pflegten. Anderenfalls hätten unmöglich all diese Leute hier Platz gefunden. Obwohl – Platz hatten sie eigentlich nicht mehr so viel. Sie standen in kleinen Grüppchen so dicht beieinander, wie es die Gläser in ihren Händen eben noch zuließen. Es war nicht einfach, sich einen Weg hindurch zu bahnen, ohne mit Alkoholika der verschiedensten Art bekleckert zu werden.
Was machten die bloß alle hier – und wer war das überhaupt alles?
Harry erkannte natürlich eine Reihe von Gesichtern als die seiner Schulkameraden, so den unvermeidlichen Blaise Zabini oder Cormac McLaggen.
"Was macht der denn hier?", fragte Harry Hermione leise. "Der hat doch letztes Jahr seinen Abschluss gemacht!"
Hermione sah ihn strafend an.
"Hat er nicht. Harry, kriegst du eigentlich gar nichts mehr mit? Im letzten Jahr haben überhaupt keine Abschlussprüfungen mehr stattgefunden! Was meinst du, warum im Moment so viele Schüler hier sind? Die letzte siebte Klasse muss in den nächsten zwei Tagen ihre Prüfungen ablegen!"
Gerade schob sich, wie es schien, eine silberne Platte auf Beinen an ihnen vorbei. Die Pastetchen auf dem Silber sahen ein wenig angebrannt aus, und die Petersilie dazwischen war eindeutig verwelkt. Harry griff sich frustriert ein möglichst blasses Häppchen.
"Aber die Tische in der Halle – da waren doch überall noch Lücken!", sagte er.
"Klar, die sind doch verlängert worden. Sie wussten ja nicht, wer alles zurückkommen würde", schnaubte Hermione und musterte das Schinkenpastetchen in ihrer Hand skeptisch. "Ob er die selbst gebacken hat?"
Harry fühlte seinen Optimismus schwinden. Wie sollte er in dem Gedränge ein Gespräch mit Slughorn führen, noch dazu eins über Horcruxe? Vielleicht wäre es doch besser, wenn er es in einer ruhigen Stunde in seinem Büro versuchen würde? Aber irgendwie war er sich sicher, dass Slughorn ihn dann abwimmeln würde. Nein, die gelockerte Atmosphäre einer Party, auf der seiner Eitelkeit von allen Seiten geschmeichelt wurde, war die bessere Wahl. Schließlich konnte er Slughorn nicht jedes Mal betrunken machen, wenn er Informationen von ihm haben wollte.
"Hast du 'ne Ahnung, wer die alle sind? Und was die hier machen – ich meine, irgendwie stehen wir doch unter Bewachung, sozusagen im Ausnahmezustand, oder?"
Sie betrachteten beide das bunte Treiben ringsum. In einer Ecke hatten es sich ein paar junge Leute auf den diversen Fußbänkchen und Sitzpolstern bequem gemacht, die sonst über den ganzen Raum verteilt waren. Sie sahen, wie Harry fand, abschreckend erfolgreich und selbstsicher aus in ihren gut geschnittenen Partyklamotten, mit den teuren Haarschnitten und dem reichlich eingestreuten, zahnblitzenden Gelächter.
"Die sind fast immer dabei. Ehemalige von Slughorn. Oh, da ist ja auch Rosemary Johnson, die hat im letzten Jahr dasselbe Stipendium bekommen wie das, für das ich mich bewerben will! Ich muss unbedingt mit ihr reden!", sagte Hermione ganz aufgeregt und war schon verschwunden.
Endlich entdeckte Harry Slughorn, und der Mut sank ihm endgültig. Er war umringt von einer kleinen Gruppe älterer Zauberer und stellte ihnen offenbar gerade die Frau vor, die neben ihm stand: Hekate Harper. Die hatte heute Abend zwar keine ausgefransten Säume, soweit Harry erkennen konnte, aber sie trug einen schwarzen Umhang über einem schwarzen Kleid und hatte, wohl um so etwas wie ein Party-Outfit daraus zu machen, noch einen dunkelblauen, flatterigen Schal um den Hals geworfen, der gut zu Sybill Trelawney gepasst hätte. Die stand übrigens, wie Harry jetzt erst sah, ebenfalls in der Gruppe und starrte Professor Harper mit spiegelnden Brillengläsern an.
Harry fragte sich mit einem plötzlichen Grinsen, wie seltsam wohl eine Begegnung zwischen einer Seherin und einem Legilimens für die Beteiligten sein musste. Wer würde sich durchschauter fühlen?
Schließlich gab er sich einen Ruck und arbeitete sich zu Slughorns Gruppe vor.
"... bedauerlicherweise alles dahingeschludert heute!", sagte Slughorn gerade ziemlich empört. Er hielt ein Käsehäppchen mit aufgespießtem Radieschen in die Höhe, an dem noch die Wurzel hing, und betrachtete es anklagend.
"Ich glaube, da hat es gestern Abend einen Zwischenfall in der Küche gegeben", ließ sich Harpers tiefe Stimme vernehmen. "Einer der Hauselfen hatte einen tödlichen Unfall. Vermutlich sind sie deshalb heute etwas verstört."
Aber jetzt hatte Slughorn Harry entdeckt, und seine Züge erstrahlten.
"Harry, mein Junge! Gesellen Sie sich zu uns!", rief er und winkte mit dem Radieschen. "Es gibt hier einige Leute, denen ich Sie gern vorstellen möchte!"
Zögernd reihte sich Harry in die Runde. Trelawney betrachtete ihn unheilvoll wie immer.
"Eldred Worple kennen Sie ja noch von meiner Weihnachtsparty, wie ich annehme. Dies sind Ignatius Sparkle, ein berühmter Feuerwerker, und Theodorus Mortar, ein Kollege von mir, allerdings sehr viel erfolgreicher, als es mir je beschieden war. Es zahlt sich eben doch aus, die freie Wirtschaft anstatt der Schule zu wählen!"
Mortar, der große Hände mit tief eingefressenen Verfärbungen und Verätzungen hatte, schüttelte den ziemlich kahlen Kopf.
"Na, na, Horace – ich würde sagen, du hast dir auch so einen sehr guten Namen gemacht!" Dann wandte er sich mit einem freundlichen Lächeln an Harry.
"Ich glaube, ich kannte Ihren Großvater, Alexander Potter, nicht wahr?"
Harry nickte.
"Wir haben mehrere Jahre zusammen gearbeitet. Aber er ist dann ja sehr schnell wirklich reich geworden mit –"
Slughorn unterbrach ihn plötzlich ein wenig hastig.
"Ja, natürlich, natürlich! Und hier, Harry, darf ich Sie Ihrer neuen Lehrerin für Verteidigung vorstellen, Miss –, nein, Professor Hekate Harper muss ich ja nun sagen! Hekate ist eine überaus begabte Schülerin von mir gewesen. Ravenclaw durch und durch!"
Professor Harper grüßte Harry mit einem kühlen Blick aus grauen Augen. Von nahem gesehen wirkte ihr Gesicht noch jünger, und der Kontrast, den das weiße Haar dazu bildete, fesselte unwillkürlich den Blick.
Vermutlich der Grund, warum sie es nicht färbt, dachte Harry grantig.
"Wir sind uns schon begegnet", sagte er etwas patzig.
"Ah ja?"
"Ja. Ich glaube, Professor Harper sollte mich in Scrimgeours Auftrag einer Legilimentation unterziehen, aber dazu ist es dann doch nicht gekommen."
"Ts, ts", machte Slughorn indigniert. "Dass das Ministerium aber auch immer überreagieren muss! Aber Sie sollten sich deshalb nicht grämen, Harry. Ich bin sicher, dass Sie Hekates Unterricht ganz und gar faszinierend finden werden. Man begegnet nicht oft Experten, die sich intensiv mit Dementoren befasst haben."
"Ich habe Ihre Bücher natürlich gelesen, Ms Harper", fiel Worple nun ein, der ungewöhnlich blass, geradezu blutleer wirkte. "Aber ich würde doch gern genauer wissen, wie es Ihnen denn nun eigentlich möglich war, sich unbeschadet so lange in der Nähe eines Dementors aufzuhalten!"
Harry hätte das unter anderen Umständen auch sehr interessant gefunden, aber heute gingen ihm die Horcruxe nicht aus dem Kopf. Er musste Slughorn unbedingt für eine Weile allein sprechen, nicht zu allein allerdings, noch schön in die Atmosphäre seiner Party gehüllt. Im Moment war aber gar nicht daran zu denken, ihn aus dieser Gruppe wegzulotsen. So blieb Harry noch eine Weile ergeben stehen und hörte Professor Harper zu, die über fortgeschrittene Okklumentik dozierte. Wider Willen stellte er fest, dass sie ihm eigentlich gar nicht so unsympathisch war. Ihre Art zu sprechen hatte etwas angenehm Unverschnörkeltes, Klares. Außerdem gefiel ihm, dass sie sich offenbar nicht besonders mit Kleidungsvorschriften aufhielt.
Zerstreut beobachtete er die Hauselfen, die weiterhin ihre ziemlich misslungene Kollektion von Partyhäppchen durch das Gedränge balancierten, und fragte sich mit einem inneren Schaudern, ob sie Kreacher schon beerdigt hatten. Dann riss er seine Gedanken schnell von Kreacher und dem vergangenen Abend zurück. Kreachers qualvolles Sterben hatte ihn zutiefst erschüttert und in seinem Inneren eine Tür geöffnet, durch die er nicht einmal hatte sehen wollen.
Schließlich hatte er das Partygetue gründlich satt und überlegte, wie er sich unauffällig verdrücken könnte.
Harry schob sich durch das Gedränge, fing hier und da Fetzen von angeregten Unterhaltungen auf, denen er unter anderem entnahm, dass für den späteren Abend sogar noch eine Dichterlesung geplant war – die bekannte Schriftstellerin Queenie Stephens würde ihr eben vollendetes Werk Dunkle Türme vorstellen – und schloss sich doch keinem Gespräch an.
Ihm war klar, dass dies in den Augen der meisten anderen und insbesondere für Slughorn eine gelungene Party sein musste. Ihm selbst aber machte neben den Horcruxen auch der Gedanke an Dumbledore zu schaffen – war dies wirklich die richtige Zeit, um Partys zu feiern? Er sah Hermione, die mit blitzenden Augen den Kreis der Erfolgreichen geentert hatte und sich offenbar prächtig unterhielt.
Weitermachen wie bisher, hatte McGonagall gesagt. Dumbledore hätte die Party gefallen, dachte Harry, und ihm fiel ein, dass er in seinem Büro die gesammelten Werke von Queenie Stephens auf einem Bord gesehen hatte.
Auf einmal fand er sich vor Slughorns Schreibtisch wieder.
Neben diesem befand sich ein Flaschenschrank, wie er mit einem Grinsen sah, dicht gefüllt mit Weinflaschen, von denen einige ziemlich eingestaubt waren. Offenbar hatte ihm das Erlebnis im letzten Frühjahr, als er Ron mit seinem im Eichenfass gereiften Met versehentlich beinahe vergiftet hatte, nicht die Lust am Trinken genommen.
Gerade als sein Blick auf Slughorns nicht weniger dicht gefüllten Bücherschrank fiel – er konnte sich ja auch selbst ein wenig umsehen, beschloss er – hörte er Slughorns Stimme hinter sich.
"Harry, Sie wollen doch wohl nicht schon wieder verschwinden?", fragte er mit schelmischem Drohen. "Queenie Stephens sollten Sie sich auf keinen Fall entgehen lassen! Es ist mir vorher noch nie gelungen, sie einzuladen, denn sie hat einen furchtbar überfüllten Terminkalender. Ich glaube nicht, dass es mir noch einmal gelingen wird. Ich erwarte sie eigentlich jede Minute."
"Professor, eigentlich wollte ich Sie noch etwas anderes fragen", begann Harry in dem plötzlichen Entschluss, es einfach zu versuchen. "Sie haben doch im letzten Jahr etwas über – na ja, Horcruxe – äh – gesagt."
Ihm war nur zu bewusst, dass Slughorn keineswegs darüber gesprochen hatte und schon gar nicht zu ihm, Harry. Und prompt sah er, wie die Züge des Tränkeprofessors ihr Strahlen verloren und alle Visiere herunterklappten.
Wie eine Schnecke, die die Hörner einzieht, dachte Harry ironisch.
"Bitte, es ist wirklich sehr wichtig!", fuhr er hastig fort. "Sagen Sie mir nur, in welchen Büchern ich etwas zu diesem Thema finden kann."
"Mein Junge, das ist kein Thema, das Sie in Büchern behandelt finden, die Sie hier in Hogwarts einsehen können", sagte Slughorn kühl. "Ich habe übrigens den Verdacht, dass Sie im vergangenen Schuljahr einen Moment der Schwäche ausgenutzt und sich meine diesbezügliche Erinnerung – nun sagen wir – erschlichen haben. Angesichts der Umstände", fuhr er seufzend fort, "angesichts all der schrecklichen Dinge, die sich ereignet haben, möchte ich allerdings darüber hinwegsehen. Und ich würde Ihnen sogar weiterhelfen, wenn ich könnte, Harry. Aber es gibt nur wenige Bücher, die sich mit diesem Thema befassen, und wie ich schon sagte, werden Sie keines von ihnen hier in Hogwarts – oder irgendwo sonst frei zugänglich – finden."
"Mir würde schon ein Titel weiterhelfen", drängte Harry, dem der Stimmungsumschwung Slughorns nicht entging und der das Eisen schmieden wollte, solange es heiß war.
Slughorn spitzte den Mund und betrachtete ihn nachdenklich.
"Nun, da ist vor allem das uralte Werk Weltennacht – oder De Caligine mundi, wie der lateinische Titel lautet – von Salazar Slytherin persönlich zu nennen. Es existiert nur in wenigen Abschriften, und ich habe nie von jemandem gehört, der eine davon tatsächlich zu Gesicht bekommen hat."
Er machte eine Pause.
"Grindelwald hatte offenbar Anfang dieses Jahrhunderts Zugang zu diesem Werk. Er hat es in Auszügen neu ediert und mit Kommentaren unter dem Titel Nachtwelten herausgegeben. Dieses Buch ist leichter zugänglich, aber ich besitze es nicht. Es wäre jedoch eine gute Quelle für dieses Thema", fügte er zögernd hinzu. "Wenn Sie sich wirklich mit so dunkler Materie befassen müssen."
Harry nickte.
"Es ist wirklich bedauerlich, dass der Name Slytherin immer wieder nur in diesen – düsteren Zusammenhängen fällt. Salazar Slytherin war nicht allein die Weltennacht, er war ein genialer Zauberer, dem wir zahlreiche andere Schriften verdanken. Es ist nicht angemessen, ihn auf das Thema schwarze Magie zurückstutzen zu wollen, das ihn zwar offenbar gefesselt hat – was ihn aber nicht gleich selbst zu einem schwarzen Magier macht."
Slughorn wandte sich zu seinem Bücherschrank und zog ein dickes Buch heraus, das Harry auf den ersten Blick erkannte. Es war Noblesse der Natur.
"Sehen Sie hier, ich will Ihnen einmal zeigen, wie viel – nun, nennen wir es ruhig: Adel und Genie – sich in seinem Geschlecht vereinigen. Es ist keine Schande, sich ein Slytherin zu nennen, und das sollte gerade auch in diesen Tagen nicht vergessen werden!"
Harry wusste so genau, wo Slughorn dieses Buch nun aufschlagen würde, dass ihn ein Gefühl von Déjà vu überkam, als er ihm tatsächlich dieselbe Seite zeigte, auf die er noch vor wenigen Tagen fassungslos gestarrt hatte.
"Sehen Sie selbst, er heiratete eine normannische Prinzessin, kann man fast sagen, und ihre Nachkommen und die ihrer Familie wurden ein sehr berühmtes Geschlecht hier, nachdem sie sich erst einmal in Großbritannien niedergelassen hatten. Reihenweise kluge und geniale Köpfe in den Reihen der Peverells und Slytherins, sogar in denen der Gaunts."
Slughorn sah auf einmal lächelnd auf.
"Wie amüsant! Genau dieses Buch, ja, genau diesen selben Abschnitt habe ich vor Jahren Ihrer Mutter gezeigt! Das war – lassen Sie mich nachdenken – auf einer Weihnachtsparty vor so vielen Jahren. Da kann sie nicht älter als vierzehn, fünfzehn Jahre gewesen sein. Nach all den spitzen Bemerkungen, die sie zu diesem Thema zu machen pflegte, wollte ich ihr wohl auch einmal zeigen, worauf sich das Haus Slytherin tatsächlich berufen darf."
Slughorns Blick ging über Harrys Kopf hinweg und bekam für einen Moment etwas beinahe Schwärmerisches.
"Ah ja, Lily Evans! Sie war eine Schönheit, aber was wichtiger ist, sie war wirklich – nun, hell. Nicht nur im Kopf, Harry. Sie hatte so etwas Heiteres, Lichtes an sich, das spürten alle in ihrer Nähe."
Slughorn musterte Harry mit einem unglücklichen Ausdruck, der ihn mit seinem Schnauzbart wie ein trauriges Walross aussehen ließ.
"Wie schade, wie unendlich schrecklich, dass ein solcher Tod sie treffen musste!"
Er seufzte, während in Harrys Kopf die Gedanken wirbelten. Also Slughorn – Slughorn hatte sie darauf gestoßen! Er war sich plötzlich sicher, dass seine Mutter in jenem Gespräch von Slughorn unwissentlich Antworten auf Fragen bekommen hatte, die sie sich schon jahrelang gestellt haben mochte.
Slughorn strich nachdenklich über das schwere Buch, das er wieder geschlossen hatte.
"Dieses Buch hätte längst eine Neuauflage mit Ergänzungen erleben sollen", sagte er, immer noch in bedauerndem Ton. "Aber auch hier hat das Schicksal zugeschlagen. Ein anderer Schüler von mir, ein wahres Talent auf diesem Gebiet, hatte schon in seiner Schulzeit damit begonnen. Dabei fällt mir ein, Sie kennen seinen Namen vielleicht sogar, Regulus Black, er war der jüngere Bruder von Sirius Black. Auch er wurde ermordet, nach seinem – nun ja, etwas unglückseligen Ausflug in die Welt der Extremisten. Tja, und seitdem habe ich nicht mehr gehört, dass an diesem Projekt weitergearbeitet worden wäre."
Sorgfältig passte er das Buch wieder in den engen Freiraum im Bücherschrank ein
"Ja, Harry, Ihre Mutter, Ihr Vater, Regulus, Sirius, Dumbledore – alle verschlungen von den Schrecknissen unserer Zeit! Verrat, Mord, – es ist entsetzlich."
Seufzend wandte er seinem Blick dem Partytreiben um sie herum zu und fuhr dann scheinbar ohne Zusammenhang fort:
"Die Liebe ist eine furchtbare Macht. Sie macht uns zu Mördern und Verrätern. Bei allen großen Verbrechen spielt sie eine entscheidende Rolle. Sie ist wie ein gigantischer Mahlstrom, der alles mit sich reißt, was ihm zu nahe kommt. Sie haben keine Vorstellung davon, Harry, was Liebe in einem – nun, nennen wir es: brütenden Charakter anrichten kann. Ein isolierter Charakter, ohne das Talent, sich Freunde zu gewinnen, der immer wieder nur über sein Verlangen, seine Sehnsucht, das Objekt seiner Träume grübelt und –"
"Ich hatte gedacht, dass Voldemort zur Liebe nicht fähig ist", wagte Harry einzuwenden.
"Was? Oh ja. Nein, ich sprach nicht über – äh – Voldemort", sagte Slughorn und fuhr dann hastig fort: "Auf jeden Fall sind das Gründe dafür, warum ich mich nie auf diese Macht eingelassen, sondern mich immer als Beobachter schön am Rande gehalten habe."
In diesem Moment kam eine vierschrötige, dunkelhaarige Hexe mit einer schwarzrandigen, ausgesprochen hässlichen Brille durch die Tür, und Slughorn sprang auf und eilte ihr mit ausgebreiteten Armen entgegen.
"Queenie! Meine Liebe, endlich! Wir erwarten Sie alle schon sehnsüchtig!"
Und er geleitete sie am Arm in den Raum. Harry nutzte die Chance, um ungesehen zu entwischen, dicht gefolgt von Hermione, die ihn im Flur einholte.
"Warte doch! Hast du etwas erfahren?"
"Wir brauchen Nachtwelten von Grindelwald. Und was ist mit dir, willst du nicht die Lesung mit anhören?"
"Ich steh' nicht so auf Horrorgeschichten", sagte Hermione. "Oh Mann, gibt es wirklich nichts außer Nachtwelten? Das Buch kriegen wir nie!"
Harry nickte düster. Sie standen vor dem Porträt.
"Nasenhaartrimmer", sagte er und stockte dann. "Äh, stimmt das wirklich, oder ist das wieder so ein blöder Witz von Ron?"
Aber die Fette Dame schwang mit grimmigem Gesichtsausdruck zur Seite.
"Irgendwer hat sich wieder über die Passwörter beschwert", erklärte Hermione, während sie durch das Porträtloch in den Gemeinschaftsraum stiegen. "Ich glaube, das ist ihre Art von Rache."
Vor dem Kamin fanden sie Ron, der im Sessel eingeschlafen war. Ansonsten waren nur noch ein paar Fünftklässler an einem Tisch in der Ecke anwesend, die offenbar in eine Diskussion über Prüfungstexte vertieft waren.
Harry rüttelte Ron.
"Wach auf!"
"Meinst du, er ist wieder –?"
Aber Ron regte sich und setzte sich gähnend auf.
"Na, schon zurück? Sind ihm die Wachteleier ausgegangen oder was?"
"Lass den Blödsinn. Das Essen war miserabel, du hast also nichts verpasst."
"Na, so richtig locker und partymäßig seht ihr ja nicht aus!", befand er fröhlich, als er in ihre bedröppelten Gesichter sah. "Nichts rausgekriegt?"
"Doch. Wir brauchen nur Grindelwalds Buch Nachtwelten, und schon können wir alles über Horcruxe nachlesen", knurrte Harry.
"Das Buch gibt's leider nicht so einfach", erklärte Hermione.
"Oh doch", sagte Ron, und ein gewaltiges Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. "Nachtwelten – genau, das war es! Es steht in Mrs Blacks Vitrinenschrank! Oh Mann, endlich weiß ich wieder, was passiert ist! Ich hatte das Buch oben im Schrank gesehen und drin geblättert – scheußliche Bilder übrigens. Ich hatte gerade das Kapitel über Horcruxe aufgeschlagen und wollte Hermy rufen, um es ihr zu zeigen. Da fiel diese blöde Spieldose aus dem Fach und fing an zu spielen. Und dann", schloss er verwirrt, "dann weiß ich nichts mehr!"
Harry und Hermione hatten atemlos zugehört. Jetzt starrten sie einander an und fielen sich dann johlend in die Arme.
"Wow! Das gibt's nicht!"
"Ron, du bist einfach – Wahnsinn!"
"Los, wo ist der Portschlüssel?"
"Kommen wir innerhalb des Schlosses überhaupt raus damit?"
"Versuchen wir's doch!"
"Wollen wir alle zusammen gehen?"
"Vernünftig ist das nicht gerade. Einer sollte hier die Stellung halten."
"Ich bleib freiwillig!", sagte Ron großzügig. "Ein kleines Nickerchen vor dem Kamin –"
"Hauptsache, du passt auf den Portschlüssel auf!"
"Aber klar!"
