Kapitel 10
Snape Upset
Snape wischte sich mit einem Ärmel seines Umhangs den kalten Schweiß von der Stirn. Dann stand er mühsam vom Boden auf, wo er die letzten zehn Minuten vor der Toilettenschüssel gekniet hatte. Er war sich ziemlich sicher, dass die Gestalten auf den Wandfriesen ihr übliches obszönes Treiben unterbrochen hatten, um ihm mit höhnischem Grinsen dabei zuzusehen, wie er sich die Seele aus dem Leib kotzte. Mit taumeligen Schritten eilte er zum Fenster des Laboratoriums und riss es auf. Hier oben wehte stets ein heftiger Wind, der ihm jetzt mit einer jähen Böe das schweißnasse Haar aus der Stirn fegte. Er atmete die kalte Luft in tiefen Zügen.
Wie so oft konnte er auch heute von diesem Fenster aus die tiefer gelegenen Teile der Festung nicht sehen, sondern blickte auf einen schimmernden Nebel hinab, aus dem hier und da ein Türmchen oder ein Giebel ragte. Aber er bildete sich ein, aus der Tiefe ganz leise das Rauschen der Brandung und gelegentlich den Schrei eines Seevogels zu hören.
Wie still es hier war – vor allem, wenn man an einen Ort wie Hogwarts gewöhnt war! Die Gäste, von denen Voldemort gesprochen hatte, waren jedenfalls noch nicht eingetroffen. Manchmal fragte er sich, ob der Dunkle Lord und er die einzigen Bewohner dieser anscheinend riesigen Anlage waren. Von den stummen Toten unten in den Gräben und den stummen Hauselfen in den Fluren einmal abgesehen. Aber so sicher, wie er wusste, dass die übrigen Todesser wieder in ihr jeweiliges Heim zurückgekehrt waren, so sicher war er auch, dass sich die drei Malfoys noch irgendwo hier befanden. Nicht tot, auch da war er sicher, diese Gnade hatte Voldemort ihnen noch nicht gewährt. Und Dracos Tod wäre in keinem Fall ohne Folgen für Snape gewesen. Unwillkürlich rieb er sein rechtes Handgelenk, das immer noch schmerzte.
Aber Snape hatte gar nicht erst versucht, sie zu finden. Es war seltsam mit Raum und Zeit in Lord Voldemorts Festung. Kaum je einmal fand er sein Laboratorium am selben Platz wieder, meistens kam er überhaupt nur dort an, wenn er sich von einem der stummen Elfen hinführen ließ. Erst in den letzten Tagen schien es sich dauerhaft neben seinen Privatgemächern zu befinden.
Während das Laboratorium an sich stets unverändert so blieb, wie er es verließ, geschahen in den Räumen, die Voldemort ihm zum Wohnen zugewiesen hatte, merkwürdige Dinge.
Nachts hatte er im schwachen Mondlicht gesehen, wie sich die zahllosen kleinen Mosaiksteinchen seines Fußbodens in Bewegung setzten und sich in sinnverwirrenden Wirbeln neu und immer wieder neu anordneten. Hatte er dem eine Weile zugesehen, dann schien es ihm unweigerlich, als wollten sich daraus Bilder formen, die er kannte und die ihm irgendetwas sagen sollten – aber kaum war es so weit gekommen, dass sie fassbar schienen, zerfielen sie erneut in wirre Muster.
Schließlich beachtete er den Fußboden nicht mehr, auch wenn er ihn, wie er feststellte, sogar hören konnte: ein feines, unheimliches, schleifendes Geräusch, wenn sich die Steinchen umordneten, das sich manchmal fast bis zu einem Kreischen steigerte. Aber er blieb mit geschlossenen Augen liegen.
Und auch die Zeit schien sich an manchen Tagen seltsam zu verhalten, er wusste nicht einmal genau, wie lange er jetzt schon hier war. Da dehnte sich ein Nachmittag, eine Nacht scheinbar ins Unendliche, während ihm ein andermal ein halber Tag einfach zu entgleiten schien. Er orientierte sich an den Mondphasen, soweit es das Wetter zuließ, und versuchte sich im Übrigen nicht weiter mit dem Thema zu beschäftigen.
Es gab eine Reihe Fragen, die er nicht stellte. Nach seinem Haus in Spinner's End zum Beispiel, oder nach dem Verbleib von Wurmschwanz. Und natürlich auch die Frage, was Voldemort eigentlich von ihm wollte. Sicher, er hatte eine ganze Reihe von Tränken für ihn herzustellen, was seine Tage neben dem Studium verschiedener Bücher recht gut ausfüllte. Aber hätte Voldemort dies nicht selbst tun können? Was wollte er von ihm, Severus Snape?
Er gab sich keinen Illusionen hin: Er war ein Gefangener. Ein privilegierter Gefangener sicherlich, aber dennoch ein Gefangener.
Einige Male war es ihm gelungen, den Weg hinauf auf den Umgang der Außenmauern zu finden. Dort oben war der einzige Ort in dieser Festung, an dem er sich entspannen konnte. Hier konnte man den Seewind unverfälscht im Gesicht spüren, mit viel Glück sogar das Salz der tief unten aufschäumenden Gischt auf den Lippen schmecken. Und er konnte das Meer sogar sehen, wenngleich auch hier der Horizont fehlte, weil irgendwo draußen der schimmernde Nebel die Sicht verwehrte.
Aber wenn er nur ein wenig den Kopf wandte, trafen ihn die Wellen des fauligen Gestanks, der von den Gräben unten die innere Seite der Mauer hinaufstieg, und beim letzten Mal, als er dort oben gestanden hatte, hatte er hoch über sich zwischen den Wolken dahinjagende schwarze Schatten entdeckt.
Es war besser, jetzt nicht an diesen Gestank und seinen Ursprung oder an die flatternden Schatten zu denken. Er atmete noch ein paar Mal tief die frische Luft ein, dann wandte er sich ab und ging – wieder mit seinen üblichen zielstrebigen Schritten – zu einem Bord und nahm eine kleine Glasflasche mit rotgrünen Kapseln herunter. Mit geübtem Griff entkorkte er sie, ließ zwei Kapseln in seine Hand gleiten und schluckte sie.
Während er an den Arbeitsflächen mit Kesseln und Feuerstellen, mit Flaschen und großen Glasbehältern vorbei und zu einem Schreibtisch hinüberging, überlegte er mit einem ironischen Lächeln, ob Dumbledore wohl gewusst hatte, dass er all die Jahre hindurch unter einem schwachen Magen gelitten hatte und die Disziplin der Okklumentik, die ihm all seine Undercover-Aktionen abverlangten, gewöhnlich einen heftigen Tribut von ihm forderte. Als er sich an den Tisch vor das aufgeschlagene Buch setzte, wanderten seine Gedanken noch einmal für einen Moment davon.
Hier in der Goldenen Festung hatte er nun endlich gefunden, wonach er sein ganzes Leben lang gesucht hatte: eine herausragende Stellung, in der er zeigen konnte, was wirklich in ihm steckte. Er war zu einem Prinzen der Todesser aufgestiegen, dachte er mit einem zynischen Lächeln.
Jahrelang hatte er zugesehen, wie andere, die ihm an Begabung und Fähigkeiten weit unterlegen waren, die Stellen und den Ruhm einheimsten, die von Rechts wegen eigentlich ihm hätten zufallen sollen. Leute, die Idioten waren wie dieser Lockhart oder gar Quirrell. Leute, die charmanter waren als er und sich einfach besser zu verkaufen wussten. Das alles hatte die Bitterkeit in ihm immer weiter angehäuft. Es war nur eine geringe Befriedigung gewesen, dafür die Schüler bluten zu lassen.
Was für eine Verschwendung, kleinen Ignoranten mühselig die grundlegenden Begriffe der Tränkekunst einhämmern und sich von ihnen auch noch ständig Frechheiten anhören zu müssen! Ihre Unverschämtheit, ihre Dummheit, ihre unerträgliche Mittelmäßigkeit, mit der er sein Leben hatte verbringen müssen, er, der für Größeres geboren war und dies von klein an gewusst hatte! Und doch, all seine herausragenden magischen Fähigkeiten hatten ihm nicht dazu verholfen, als geachtetes und respektiertes Mitglied wenigstens im Kreise seiner Kollegen arbeiten und forschen zu können. Nein, auch hier blieb er immer der Außenseiter, der düstere, missgelaunte, ein wenig absonderliche Professor Snape.
Und jetzt, Ironie des Schicksals, hatte er alles, was er wollte. Mochten ihn die anderen Todesser auch nicht lieben und ihm seine besondere Stellung bei Voldemort neiden, so hatten sie doch Respekt vor ihm. Er hatte Zugang zu Büchern und Mitteln, von denen er sein Leben lang geträumt hatte und die in Hogwarts immer nur ein Traum hätten bleiben können. Er würde einem schwarzen Magier zur Herrschaft verhelfen, der keinerlei Skrupel kannte, und seine Macht würde auch auf ihn abfärben – wenn auch nur für eine kurze Weile, dessen war er sich sicher. Und dennoch kniete er, Prinz der Todesser, hier regelmäßig vor einer Toilettenschüssel und würgte sich seinen Ekel aus dem Leib.
Mit einem grimmigen Lächeln wandte er sich dem Buch zu und schlug wieder die Seiten auf, die sich dem Thema der Inferi widmeten. Er hatte sich einige Verbesserungen für den Trank zur Belebung dieser Körper einfallen lassen, der hier beschrieben wurde. Das Problem war, dass er dafür eine Reihe frischer Zutaten benötigte, die er hier nicht bekommen konnte.
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Als eine Weile später die Tür geöffnet wurde, drehte er sich um, froh, dass der Hauself, der mit seiner üblichen ausdruckslosen Miene eintrat, ihn nicht mehr am Boden vorfand. Dass er niemals anklopfte, bestätigte Snape in seiner Annahme, dass er ein Gefangener eher als ein Gast war.
Der Elf bedeutete ihm, ihm zu folgen. Snape gehorchte und ging ihm nach, viele Treppenstufen hinunter und Flure entlang. Er wusste zwar, dass es seiner Orientierung nicht helfen würde, wenn er sich seine Umgebung einprägte, aber schon aus Gewohnheit hatte er seine Aufmerksamkeit niemals abgelegt. So erkannte er die Treppe wieder, die zu Voldemorts geheimnisvollem Museum führte, und folgte dem Elf mit gemischten Gefühlen hinauf.
Er trat durch eine schmale Tür und stand im Dunkeln. Zumindest schien es ihm so, bis seine Augen sich an die plötzliche Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann konnte er zahlreiche schwache Lichtinseln ringsum erkennen, die sich als die Exponate von Voldemorts Ausstellung erwiesen. Viele von ihnen ruhten auf schwarzem Samt unter Glas. Viele waren aber auch zu ganzen Szenen zusammengestellt und bildeten Dioramen des Schreckens.
Snape ging mit vorsichtigen Schritten durch den lang gestreckten Raum auf den dunkleren Schatten an seinem Ende zu, in dem er Voldemort erahnte.
"Nun, Severus, habe ich dir nicht versprochen, dass ich dir meine Sammlungen eines Tages zeigen würde?", begrüßte ihn dieser. "Wie du siehst, habe ich einige meiner Lieblingsszenen nachbilden lassen. Kobold-Arbeit, übrigens. Kunstfertige Kerlchen. Wann immer du den letzten Schliff des Besonderen für einen Gegenstand suchst, solltest du dich an Kobold-Kunsthandwerker wenden. Bessere Arbeiten findest du nicht."
Snape, dem die beklemmende Lebensnähe einiger Figuren in diesen Glaskästen nicht entgangen war, nickte.
"Aber wir sind nicht hier, um uns über Kunsthandwerk zu unterhalten, auch wenn das zweifellos ein ergötzliches Thema wäre. Nein, mein Prinz und Professor, ich habe dich vielmehr zu mir bestellt, um dir endlich den Auftrag zu erteilen, zu dessen Ausführung du eigentlich hier bist. Ich vermute, dass du immer noch ganz vergraben bist in die Schrift meines geschätzten Vorfahren Salazar. Das trifft sich gut, denn darin wirst du alles beschrieben finden, was du für deine Aufgabe benötigst."
Voldemort machte eine Pause, tippte mit dem Zauberstab gegen die Glaswand des ihm am nächsten stehenden Schaukastens, und griff, als diese einfach verschwand, hinein, um prüfend über den nackten und sehr weißen Arm einer Figur zu streichen.
"Manchmal neigen diese Materialien dazu, inwendig zu faulen oder Moos anzusetzen", erklärte er, während er seine Finger betrachtete. "Ich dachte, ich hätte einen verräterischen Schimmer dort gesehen, aber es ist alles in Ordnung. Du bist perfekt wie immer, meine Schöne", sagte er, während er das Glas wieder erscheinen ließ.
"Um zum Thema zurückzukehren, Severus – ich habe vor, die Mitglieder des Bundes zusammenzurufen, damit sie noch einmal dem Großen Ritual als Zeugen beiwohnen."
Snape fühlte, wie sein Magen wieder eine sanfte Vorwärtsrolle versuchte.
"Das Große Ritual?", fragte er mit trockenem Mund.
"Ja, und diesmal sollst du der Ritualmeister sein. Das wird das Ganze viel feierlicher und eindrucksvoller machen, als wenn ich alles selbst übernehme, meinst du nicht?"
"Ich hatte angenommen, Ihr wäret fertig mit dieser Arbeit", sagte Snape.
"Aber Severus, du enttäuschst mich! Wir beide wissen, dass eines meiner Objekte zerstört wurde. Nun habe ich die Macht und die Gelegenheit, es zu ersetzen. Und du als Zeremonienmeister wirst diese Feier zu einem krönenden Ereignis für alle Mitglieder unseres Bundes machen."
"Wenn Ihr es wünscht, mein Lord –"
"Allerdings", sagte Voldemort mit einer gewissen Schärfe. "Ich will, dass du mir so bald wie möglich den Zwietrank braust."
"Für den Zwietrank brauche ich, wenn ich mich recht erinnere, den Gespaltenen Feuerröhrling oder Teufelsfuß – einen Pilz, der nur frisch in einem Wald geerntet werden kann."
"Was immer du brauchst, hole es herbei, aber bald. Ich will diese Sache nun so schnell wie möglich durchführen."
"Ich werde aber mindestens eine Woche dafür brauchen, mein Herr. Der Pilz muss nachts während mehrerer Tage in einer bestimmten Mondphase geerntet werden."
"Du hast eine Woche, Severus", sagte Voldemort kalt. "Ich hoffe sehr, dass wir uns in der richtigen Mondphase befinden."
"In acht Tagen ist Vollmond", sagte Snape. "Die Zeit könnte also nicht besser sein."
"Wie schön. Dann brauchst du also nur noch einen passenden Wald, nicht wahr?"
"Natürlich kenne ich entsprechende Plätze im Wald um Hogwarts", sagte Snape langsam. "Allerdings weiß ich nicht, ob es klug wäre, dorthin zu gehen. Ich werde vermutlich dringend gesucht, und die Umgebung der Schule werden sie sicher besonders scharf bewachen."
"Oh, ich vertraue da völlig auf dein Talent, unterzutauchen und mit der Umgebung zu verschmelzen", sagte Voldemort. "Aber du solltest dich wirklich beeilen und keine Zeit verlieren. Ich will die Dementoren um Hogwarts in Stellung bringen."
Voldemort drehte sich um und öffnete eine Tür, die sich offenbar hinter ihm in der Wand befunden hatte, die Snape aber zuvor nicht aufgefallen war. Sie war so niedrig, dass er sich bücken musste, um hindurchzugehen.
"Folge mir."
Snape betrat mit gebeugtem Kopf eine hellere, kleine Kammer, die gegen den anderen Raum geradezu heiter wirkte. Auch hier gab es Glaskästen, aber nicht viele, und ihr Inhalt war vergleichsweise alltäglich. Snape sah ein paar Kinderspielzeuge, die ebenfalls auf schwarzen Samt gestreut waren, seltsam verloren in dieser Umgebung; dann ein paar Schmuckstücke, eine Brosche mit Granatrosen, ein Halsband mit einem Anhänger in Form eines Goldenen Schnatzes, mehrere schlichte Goldringe, und, besonders ausgefallen, ein Paar schwere Handschellen aus schwarz angelaufenem Metall.
Voldemort ging an diesen Vitrinen vorbei und blieb vor der letzten stehen, in der sich ein kleiner goldener Kelch befand. Er nahm ihn an einem seiner fein gearbeiteten Henkel heraus und hielt ihn vor Snapes Augen in die Höhe.
"Erkennst du das?"
Snape nahm den Kelch entgegen und drehte ihn vorsichtig in den Fingern. Auf einer Seite befand sich eine Gravur, die einen Dachs darstellte. Snape zog hörbar die Luft ein.
"Hufflepuff!", sagte er überrascht.
Voldemort lachte.
"Selbst der Name klingt wie das Stottern eines Kindes, nicht wahr? Armes Hufflepuff! Wer möchte schon wegen seines Fleißes berühmt sein! Aber es ist das originale Stück der werten Gründerin selbst. Es kam vor vielen Jahren in meinen Besitz."
Voldemort nahm den Kelch wieder an sich und stellte ihn zurück in sein gläsernes Gefängnis. Dann entnahm er der Vitrine mit den Schmuckstücken das Halsband mit dem Anhänger.
"Das hier ist das Objekt. Ich bin gespannt, ob du errätst, was es ist."
Snape betrachtete den kleinen Anhänger sorgfältig.
"Ein Goldener Schnatz, als Löwenkopf stilisiert – übrigens nicht übermäßig geschmackvoll, meiner Ansicht nach – nun, wenn der Dachs auf Hufflepuff hindeutet, dann ist der Löwe wohl ein Hinweis auf Gryffindor, nicht wahr?"
Wieder lachte Voldemort.
"Mein lieber Severus, ein wenig mehr Achtung vor altehrwürdigen Erbstücken solltest du schon an den Tag legen! Aber du hast Recht mit deiner Vermutung. Dieser kleine Löwenkopf – er wurde übrigens erst sekundär zum Schnatz gemacht, wie ich herausfinden konnte, die Flügelchen stammen erst aus dem 15. Jahrhundert – dieser Löwenkopf-Anhänger gehörte Godric Gryffindor. Ich konnte das in mühsamer Kleinarbeit nachweisen. Ich habe als Schüler sogar einen viel beachteten Artikel dazu veröffentlicht in Goldschmiedkunst und Kunsthandwerk. Gryffindor schenkte ihn seiner Frau, Julianna selbstverständlich, der Frau, die ihm Nachkommen gebar. Nicht Selena."
"Und jetzt ist er hier –"
"Ja, mein Freund, jetzt ist er hier. Nachdem ich mich so gründlich mit ihm befasst hatte, beschloss ich, dass er mir eher zustand als den Erben, die ihn einander nur von Generation zu Generation weitergegeben hatten."
Snape reichte Voldemort das Halsband zurück in dem sicheren Gefühl, dass auch für diesen Gegenstand jemand sein Leben hatte lassen müssen.
Voldemort legte das Schmuckstück zurück in sein samtenes Nest.
"Hier gäbe es noch so manche Kostbarkeit zu betrachten, obwohl ich einige Stücke erst noch wieder zusammentragen muss von den Plätzen, an denen ich sie geborgen hatte. Ich werde sie dir ein andermal zeigen, wenn meine Sammlung wieder vollständig ist. Heute fehlt uns auch die Zeit dazu, denn ich möchte, dass du dir noch einmal die Räumlichkeiten ansiehst, in der die Zeremonie stattfinden wird."
"Die Höhle?", fragte Snape und fühlte, wie sein Herz schneller schlug.
"Nicht doch, Snape! Ich habe gehört, dass ihr sie damals den ‚Tempel der Todesser' genannt habt. Aber diese Zeiten sind doch jetzt vorbei. Nein, jetzt gibt es die Goldene Festung, und hier habe ich Räume, die sehr viel angemessener sind als jene Höhle. Du hast das Schlangenbecken doch schon gesehen."
Snape folgte Voldemort, der mit weit ausgreifenden Schritten die beiden Ausstellungsräume durchmaß und dann die Treppen hinunterlief.
Treppen, Treppen, dachte Snape zusammenhanglos. Ständig geht es treppauf, treppab.
Der Saal mit den Spiegelwänden sah ohne das gleißende Licht des Kronleuchters, nur im gedämpft durch die grauen, bleigefassten Glasfenster der großen Kuppel hereinfallenden Tageslicht, ganz anders aus als während der Nacht, in der Draco Malfoy seine Hand verloren hatte. Der große, dämmrige Raum hatte etwas Lauerndes.
Das Schlangenbecken, das sich aus dem schwarzen Stein des Fußbodens hervorgestülpt hatte, stand immer noch in der Mitte des Kreises. Voldemort eilte mit hallenden Schritten auf das Becken zu und blieb dann dort stehen. Snape folgte langsamer, zögernd.
Dieses Becken, dachte er, immer wieder endet mein Weg vor diesem schwarzen Altar.
"Wir werden diesen Raum noch um einiges erweitern müssen, fürchte ich", sagte Voldemort, der sich mit einem kritischen Blick umsah. "Schau dich um, Severus, und sag du mir, wie wir ihn würdig gestalten können. Du als Zeremonienmeister sollst das letzte Wort haben."
"Noch etwas, Herr. Für den Lösezauber schlägt der Ritualtext, soweit ich es im Kopf habe, einen schwarzen Hahn oder ein Lamm vor. Was soll ich beschaffen?"
Voldemort maß ihn mit einem nachdenklichen Blick, dann lächelte er.
"Ich denke, wir werden auf ein Exemplar derselben Art wie bei den beiden letzten Malen zurückgreifen, Severus. Du kannst das mir überlassen."
"Ja, mein Lord", sagte Snape leise.
"Und bevor du zu deiner Reise aufbrichst, denk daran, eine ausreichende Menge des Inferi-Trankes zu brauen. Lass ihn einfach im Laboratorium stehen, ich werde ihn schon finden."
Snape legte seine Hände um den weich geschwungenen, irgendwie widerlich glatten Rand des Beckens, der warm war, als sei er lebendig.
Die Erinnerung an jene andere Nacht, die nun knapp siebzehn Jahre zurücklag, überrollte ihn mit solcher Macht, dass er kaum mitbekam, wie Voldemort aus dem Saal ging und ihn allein zurückließ.
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Damals war Snape schon seit mehr als anderthalb Jahren dabei gewesen. Im Mai hatte er seinem Herrn einen wichtigen Dienst erwiesen und damit den Makel des Versagens gelöscht, als den er es empfunden hatte, dass Dumbledore ihn nicht als Lehrer hatte einstellen wollen. Voldemort hätte Snape zu gern in Hogwarts gehabt. Aber was Snape ihm stattdessen brachte, hatte die Schande mehr als wettgemacht.
Und nun, in einer der letzten Novembernächte, stand er mit den anderen Todessern in einem weiten Kreis um das dunkle Wasser der Höhle, in dessen Zentrum sich eine kleine Insel befand, die hell erleuchtet war wie eine Bühne. Durch einen Zauber konnten die Todesser trotz der Entfernung, in der sie sich befanden, das Geschehen auf dieser Insel genau verfolgen. Dort hatte das Schlangenbecken damals gestanden.
Tiefe Stille herrschte in der Höhle, in der sich doch um die dreihundert Menschen aufhielten, wie Snape schätzte. Ringsum blickte er in maskierte Gesichter, denen der flackernde Schein der Fackeln eine seltsame Wildheit verlieh. Die Kapuzen taten ein Übriges, die Personen unkenntlich zu machen, aber Snape erkannte doch die fanatischen dunklen Augen von Bellatrix Lestrange, die neben ihrem Mann Rodolphus stand, und neben den beiden sah er Lucius Malfoy. Auch die alten Todesser, die Anhänger Voldemorts aus den frühesten Tagen, konnte er hier und da erahnen: Nott, Mulciber, Dolohov, Macnair.
Neben ihm selbst stand Regulus Black, gerade achtzehn Jahre alt und erst seit Halloween ein Mitglied der Todesser, aber es war schwer zu sagen, was unerträglicher war: sein zur Schau getragener Eifer oder seine Selbstverliebtheit. Selbst unter der Kapuze konnte Snape das sorgfältig frisierte Haar erahnen, und der Duft des teuren Rasierwassers, der ihn umgab, hatte in dieser Umgebung etwas außerordentlich Absurdes. Dass Black, der ihn noch von Hogwarts her kannte, ihm nicht mehr als einen stirnrunzelnden Blick zugeworfen hatte, kümmerte Snape nicht im Mindesten.
Er war zum zweiten Mal hier an diesem Ort, den die Todesser im Flüsterton den Tempel nannten, wenn sie, selten genug, überhaupt darüber sprachen. Beim ersten Mal hatte er das Dunkle Mal erhalten. Was sie heute erwartete, wusste er nicht genau, aber er konnte die ungeheure Spannung fühlen, die in der Luft lag, die mühsam unterdrückte Unruhe der älteren Todesser, die verstohlenen Seitenblicke, die sie einander zuwarfen. Er hatte die Worte "das Große Ritual" aufgeschnappt, wusste aber damit nichts Rechtes anzufangen, obwohl er glaubte, diese Bezeichnung einmal im Zusammenhang mit einer schwarzmagischen Praktik gehört zu haben, die mit der Herstellung eines Horcruxes zu tun hatte. Aber das konnte hier ja wohl nicht gemeint sein, denn soweit er wusste, waren Horcruxe seit dem Mittelalter nicht mehr hergestellt worden.
Endlich erschien Voldemort auf der Insel. Er blieb neben dem schwarzen Becken stehen, aber allen in der Runde kam es so vor, als schwebe sein merkwürdig deformiertes Gesicht mit den rötlich glimmenden Augen direkt vor ihnen.
"Meine Todesser! Willkommen!", füllte seine Stimme die Höhle. "Ich habe euch zusammengerufen, damit ihr Zeugen seid bei dem Großen Ritual, das meine Macht noch verstärken und euren Herrn schließlich unangreifbar machen wird."
Seine Worte hallten von den felsigen Wänden wieder, die sich über der schweigenden Menge zu einer Kuppel wölbten, deren oberer Teil im Dunkel lag.
"Diese Zeugenschaft wird auch euch stärken und eure Gemeinschaft festigen! Zuvor aber möchte ich euch unseren besonderen Gast vorstellen, der uns heute Abend mit seiner Anwesenheit beehrt und den viele von euch bereits kennen."
Aus dem Nichts heraus erschien auf der Insel eine seltsame und erschreckende Dreiergruppe: zwei riesige, grauschwarze Doggen, die eine schmächtige Frau flankierten, die nicht wenige von ihnen überrascht als Benson, Voldemorts langjährige Haushälterin, erkannten. Kaum hatten sie den Boden berührt, sprangen die beiden Hunde auf und legten ihre Vorderpfoten auf die Schultern der Frau, die unter dem plötzlichen Gewicht taumelte. Ihr Gesicht war eine Maske des Entsetzens, aber Voldemort schien das nicht zu bemerken, als er sich in feierlichem Ton an sie wandte.
"Hier in dieser Höhle haben sich vor vielen Jahren unsere Leben miteinander verknüpft. Damals waren wir beide noch nicht mehr als zwei Waisenkinder aus demselben Waisenhaus", sagte er. "Hier wurdest du meine erste Dienerin, und du bist meine treueste geblieben. Du hast mich mit der Fürsorge einer – ja, ich will es so sagen: einer Mutter umgeben und all die vielen Kleinigkeiten für mich getan, die getan werden müssen, damit man ein geordnetes und behagliches Leben führen kann.
Und nun stehst du am Ende deines Lebens wieder hier, Amy Benson – bereit, deinem Herrn einen letzten, großen Dienst zu erweisen. Aber bevor du das tun kannst, muss erst noch etwas anderes geschehen.
Viele Jahre hindurch hast du etwas für mich aufbewahrt, und es gab keinen Ort, an dem es sicherer oder passender aufgehoben gewesen wäre. Du, meine Schatzhüterin, hättest es nicht preisgeben können, selbst, wenn du es gewollt hättest."
Snape begriff bei diesen Worten, dass Voldemort es tatsächlich gewagt hatte, den Hortus-Conclusus-Zauber auf Amy Benson anzuwenden. Er hatte sich schon lange gefragt, wieso Benson, eine Muggelfrau, ihm derart treu ergeben war. Mit einem Frösteln sah er auf die magere, früh gealterte Frau, die zitternd zwischen den beiden Hunden stand. Er ahnte, was nun kommen musste, denn um den Hortus Conclusus – den "Verschlossenen Garten" – zu öffnen, gab es nur eine einzige Methode.
Voldemort gab seiner Miene den Anschein von Bedauern, aber seine Augen blieben kalt und bekamen nur einen gierigen Glanz, als er nun weiter sprach.
"Leider ist es selbst für mich, den eigentlichen Besitzer deines Schatzes, nicht ganz einfach, wieder an ihn heranzukommen. Sag mir, Amy, hier am Ende deines Lebens, sag mir, was deine tiefste Angst ist. Sag es mir in aller Ehrlichkeit, dann wird es leichter sein."
Aber Benson konnte nicht sprechen. Snape sah, wie sie es versuchte, aber keinen Laut herausbrachte. Die beiden Hunde hatten immer noch die Vorderpfoten auf ihre Schultern gelegt, und aus ihren Kehlen drang ein leises, drohendes Knurren, nur allzu dicht an Bensons Hals. Ihr Atem musste das Gesicht der Frau streifen, und unter dem grauschwarzen, glatten Fell konnte man die mühsam bezwungenen Muskeln zucken sehen – die Tiere waren bereit, sich beim ersten Zeichen der Erlaubnis auf ihr Opfer zu stürzen.
Voldemort wartete auf ihre Antwort, wohl wissend, dass sie nicht kommen würde. Schließlich sagte er im Ton eines enttäuschten Lehrers: "Schade, dass du nicht antwortest, Amy. Aber ich vermute, dass das Wort, das du nicht über die Lippen bringst, Hekate lautet. Der Name deiner Tochter. Sie ist es, der deine größte Angst gilt. Dass ihr nichts zustößt, ist deine tiefste Sorge. Denkst du."
Er ging die wenigen Schritte, bis er vor ihr stand, und sah ihr direkt in die Augen. Einer der Hunde bellte auf, und sie sank fast zu Boden.
In der Höhle war sonst kein Laut zu hören, die Todesser verfolgten die Szene wie versteinert.
"Amy, Amy! Du irrst dich. Aber zum Glück kenne ich deine größte Furcht besser als du."
Und mit einem wilden Lächeln beugte er sich zu ihr und sagte fröhlich, als sei dies ein Kinderspiel: "Es sind die Hunde, nicht wahr? Die Hunde! Und das ist gut so, denn so können wir die kleine Hekate aus dem Spiel lassen! Ich hätte ihr nur ungern ein Haar gekrümmt!"
Er richtete sich wieder auf und wandte sich an den weiten, stummen Kreis der Maskierten.
"Denn der Zauber, der Amy Benson zur besten aller Schatzhüterinnen machte, kann nur gelöst werden, wenn sie sich ihrer größten Angst stellt. Und am meisten hat Raggedy-Amy, das kleine Waisenkind aus London, große Hunde gefürchtet. Sie hatte Alpträume davon, aus denen sie regelmäßig schreiend erwachte! Und daran hat sich, wie ich weiß, bis heute nichts geändert."
Mit einem Schwung wandte er sich wieder der inzwischen am Boden zusammengesunkenen Frau zu, über der die Hunde standen, mit angelegten Ohren und gefletschten Zähnen.
"Steh auf, Amy."
Sie gehorchte zitternd, aber es kostete sie ihre letzten Kräfte. Snape sah, wie der Angstschweiß ihre Schläfen hinabfloss und die Beine unter ihr einknicken wollten. Und dann machte Voldemort eine winzige Bewegung mit der Hand, kaum ein Winken mit den Fingern, und die Hunde brachen los.
Snape wandte nicht den Blick ab, und so sah er Minuten später, wie sich Voldemort über sein noch lebendes Opfer beugte und mit einer geschäftsmäßigen Bewegung das goldene Ding, das plötzlich an Bensons Hals erschienen war, herunterriss und einsteckte.
Es muss etwas ungeheuer Wichtiges für ihn sein, dachte er, wenn er es auf diese Weise verborgen hat.
Neben ihm sackte auf einmal Regulus Black zusammen. Er lag auf dem Boden und schlotterte am ganzen Körper, sein Gesicht war verzerrt, die Augen quollen hervor, und aus seinem Mund kamen kaum hörbare Wimmerlaute. Snape packte ihn am Arm und riss ihn auf die Füße.
"Reiß dich zusammen", zischte er grob. "Du musst schon noch ein Weilchen durchhalten, Todesser!"
Der Duft des Rasierwassers hatte sich mit dem Gestank der Angst vermischt, und Snape ließ ihn angewidert los.
Nachdem der Hortus Conclusus aufgehoben worden war, begann das eigentliche Ritual erst. Amy Bensons letzter Dienst für ihren Herrn bestand darin, dass sie ihr Blut für das Horcrux gab, das Voldemort in dieser Nacht erschuf. Flüchtig hatte Snape einmal etwas über dieses Ritual gelesen, und da war die Rede vom Blut eines schwarzen Jungtieres, Hahn oder Lamm, gewesen. Voldemort aber ließ das Stück seiner Seele, das er wegzuschließen wünschte, mit dem Blut seiner ältesten Dienerin herauslösen.
Snape sah, wie das Blut schließlich in die silberne Klinge des Messers einzuschmelzen schien, eines Messers, dessen Griff wie der Kopf eines Adlers geformt war und das er Jahre zuvor im Pokalzimmer von Hogwarts gesehen hatte.
Zu dem Zeitpunkt, als Voldemort die Zeremonie endlich beendete, war Regulus noch mehrere Male zur Seite weggesunken, jedes Mal böse von seinen Nachbarn angezischt, bis Snape ihn schließlich grob am Arm gepackt hielt.
Regulus Black lebte nach dieser Nacht noch vierzehn Tage.
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Snape kam schaudernd in die Gegenwart zurück. Seine Hände lagen noch immer auf dem schwarzen Rand des Beckens. In seinen Ohren hallten die Worte Voldemorts: "Töte Regulus Black!"
Aber diese Worte waren erst in der dritten Nacht gesprochen worden, die er in dieser Höhle verbracht hatte – und der Erinnerung daran konnte er sich heute nicht auch noch stellen.
Er verließ mit eiligen Schritten den Saal und hoffte, er werde draußen einem Hauself begegnen, der ihn zu seinem Laboratorium führen würde. Diese Hoffnung wurde nicht enttäuscht.
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Der Hauself brachte ihm außerdem unaufgefordert eine Kanne Tee und einige Sandwiches. Für den japanischen Tee war Snape immer dankbar, während er den Broten keinen zweiten Blick schenkte. Er war froh, dass sein Auftrag es ihm erlaubte, die Festung für ein paar Tage zu verlassen – auch wenn ihm klar war, dass er sicher nicht unbeobachtet bleiben würde. Aber bevor er sich auf den Weg machen konnte, musste er noch einiges erledigen.
Da war zunächst der Trank, den Voldemort für seine schlafende Armee brauchte. Einen Wochenvorrat zu brauen, kostete schon einige Zeit. Das Laboratorium schwamm in schweren Dämpfen, als die beiden großen Kupferkessel endlich gefüllt waren. Der Geruch dieses Trankes war nicht einmal unangenehm, machte einem Lebenden aber das Atmen schwer.
Snape öffnete noch einmal das Fenster und blieb mit der Hand am Fenstergriff stehen, die Stirn gegen seinen Unterarm gelehnt. Draußen hatte sich eine stille Dämmerung über die Festung gelegt. Er schloss die Augen. Der Ärmel seines Umhangs war zurückgeglitten und gab die fast fingerbreite rote Narbe frei, die wie ein Armband um sein rechtes Handgelenk verlief.
Nach einer Weile ging er zu seinem Arbeitstisch zurück und schlug vorsichtig ein paar Seiten des kostbaren Buches um, bis er den Text mit der Zubereitung des Zwietranks gefunden hatte. Er machte sich in seiner winzigen Schrift einige Notizen auf einem Stückchen Pergament. Zu guter Letzt galt es noch einige private Vorbereitungen zu treffen.
Er zögerte einen Moment, machte sich dann aber klar, dass es keine Möglichkeit gab, sich vor eventuellen Beobachtern zu schützen. Also führte er seinen Zauberstab wie zufällig an die Schläfe und zog geschwind ein, zwei schimmernde Gedankenfäden hervor und ließ sie in ein Gefäß gleiten, dessen Boden mit einem feinen weißen Pulver bedeckt war. Als die Gedankenfäden sie berührten, rollten sie sich blitzschnell zu winzigen Kugeln zusammen.
Snape kniff die kleine Tüte, der er das Pulver entnommen hatte, fest zusammen und lächelte säuerlich. Es war sehr befriedigend zu sehen, wie genau sein Rezept wieder einmal aufging. Aber irgendwie war es auch ermüdend.
Er angelte die kleine Glasflasche mit den rotgrünen Kapseln vom Regalbord neben dem Fenster, öffnete sie und schüttelte noch einmal einige Kapseln heraus. Die rotgrünen warf er zurück in die Flasche, bis schließlich nur noch drei Kapseln auf seiner Handfläche lagen. Diese waren einfarbig, zwei rot, eine grün. Mit einer geschickten Bewegung knackte er zwei davon auf, so dass er je zwei Hälften erhielt, nahm dann mit einer Pinzette die schimmernden Kügelchen aus dem Pulver und steckte sie eins nach dem anderen vorsichtig in die Kapselhälften. Dann setzte er die Kapseln wieder zusammen und ließ sie in die Glasflasche gleiten. In der Menge der rotgrünen Kapseln fielen die wenigen einfarbigen nicht auf, und das war ja auch beabsichtigt gewesen. Er hatte nicht vor, Kristallflakons mit Erinnerungen in einem Laboratorium stehen zu lassen, das Voldemort jederzeit durchsuchen konnte. Und in seinem Kopf wollte er sie auch nicht mit sich nehmen.
Er wollte die kleine Flasche in die Tasche seines Umhangs stecken, hielt aber inne und zögerte.
Da gab es noch eine Erinnerung, die er vielleicht auch wegschließen sollte. Er dachte nicht oft daran, wie er seinen Gedanken überhaupt selten erlaubte, sich in die Vergangenheit zu bewegen. Jetzt aber holte er diese Erinnerung hervor, wie um sie zu prüfen. Während er mit langsamen Bewegungen ein paar Dinge aufräumte, ging er in Gedanken zurück zu jenem Winternachmittag und ließ die Szene vor seinem geistigen Auge ablaufen, als sei er ein unbeteiligter Beobachter.
Es ist Winter, genau gesagt der letzte Tag vor den Weihnachtsferien. In diesem Jahr haben sie Glück: Es hat so stark gefroren, dass der See mit einer dicken Eisschicht überzogen ist. So tummeln sich heute Nachmittag zahlreiche Schüler mit Schlittschuhen auf dem Eis. Unter dem tief hängenden, schneeschweren Himmel ist die Luft voller schnatternder, fröhlicher Stimmen.
Über den Köpfen der Schlittschuhläufer tanzen Funken, farbige Schlangen und Nicht-Platzende-Seifenblasen – die übermütigen Erzeugnisse ferienfroher Jungzauberer. Einer von ihnen, ein Viertklässler, hat die Schlittschuhe tatsächlich unter seine Hände geschnallt und fährt im Handstand, bis er in eine Gruppe hineinkracht und einen großen Tumult verursacht.
Das Seeufer mit seinen dunklen, entlaubten Bäumen steht dagegen starr und dunkel um die Eisfläche, und nur wenige Spaziergänger hält es hier auf dem schneeverkrusteten Weg.
Da ist ein Junge mit viel zu langem, strähnigem schwarzem Haar, der missmutig den Weg entlang schlurft. Er ist etwa vierzehn Jahre alt und hasst Schlittschuhlaufen, vor allem deshalb, weil er selbst es nicht kann. Er tut also so, als höre er die vergnügten Stimmen – und die gelegentlichen Spottrufe – seiner Mitschüler nicht, und darin ist er gut. Auch den Schneeball, der von irgendwoher geflogen kommt und ihn hart am Kopf trifft, beachtet er nicht weiter.
In Wirklichkeit beobachtet er die Schlittschuhläufer ganz genau, und in erster Linie ein Mädchen mit einer grauen Strickmütze auf dem Haar, das so rot ist, dass es durch die trübe Luft zu leuchten scheint. Zumindest kommt es dem Jungen so vor. Er sieht sie überall sofort in der Menge, er glaubt, ihr Lachen, ihre Stimme bis hierhin aus all den anderen Stimmen heraushören zu können. Er hat in den vergangenen drei Jahren eine Menge Übung darin gewonnen, sie zu beobachten. Lily Evans läuft mit zwei anderen Mädchen wieder und wieder rund um die Eisfläche, und die dunklen Augen des Jungen folgen ihr und verlieren sie jedes Mal, wenn sie hinter einer Biegung des Sees verschwindet.
Ziemlich genau in der Mitte der Eisfläche laufen die üblichen Angeber, Potter natürlich und Black, die sich in eleganten Drehungen und weit ausholenden Rückwärtsschwüngen zu überbieten suchen, vor allem dann, wenn Mädchen in der Nähe sind.
Snape, der Junge, kräuselt verächtlich die Lippen. Schließlich bleibt er unter den Bäumen stehen, die Hände tief in den Taschen seines schmuddeligen und eigentlich zu dünnen schwarzen Umhangs vergraben, mit einem düsteren, brütenden Ausdruck im Gesicht. Er steht in einer kleinen Bucht, wo allerlei festgefrorene Wasserpflanzen aus dem See herausragen. Kein guter Platz zum Schlittschuhlaufen. Und Snape schreckt aus seinen Gedanken auf, als plötzlich einer der Eisläufer in diese Bucht hineinschießt.
Es ist das Mädchen mit der Strickmütze, das er die ganze Zeit beobachtet hat. Sie saust in vollem Schwung auf ihn zu, und er rechnet damit, dass sie auf dem dünnen Eis um die Stengel am Rand einbrechen wird. Aber das tut sie nicht. Stattdessen springt sie mit einer raschen Bewegung ans Ufer und bleibt vor ihm stehen. Sie ist ein wenig größer als er, aber das weiß er längst. Schließlich sehen sie sich täglich im Klassenzimmer. Sie ist außer Atem vom Laufen, und ihre Nase und Wangen sind von der Kälte gerötet. Der breite, stets zum Lachen bereite Mund lächelt auch jetzt.
"Hallo, Severus", sagt sie, und dann beugt sie sich zu ihm herüber.
Er sieht die zahllosen blassen Sommersprossen auf ihrem Gesicht, die die milchweiße Haut zu etwas Exotischem, Exquisitem machen. Sie küsst ihn, ohne ihn mit mehr als ihren Lippen zu berühren. Er steht da wie versteinert, fühlt die weiche Kühle ihres Mundes, unfähig, sich zu bewegen, bis sie sich schließlich von ihm löst. Sie ist rot geworden und lächelt nicht mehr.
"Du hast Schnee auf dem Kopf", sagt sie leise und streicht ganz zaghaft über sein Haar. Er sieht die Flocken herunterstäuben. Dann nimmt sie unerwartet eine seiner sinnlos herabhängenden Hände, drückt sie, dreht sich um und eilt mit großen Schritten aufs Eis zurück. Sie wendet sich noch einmal zu ihm um, bevor sie wieder in das Getümmel auf dem See eintaucht.
Schließlich kann er sich so weit bewegen, dass er nachsehen kann, was sie ihm da in die Hand gedrückt hat. Er muss es sich genauer ansehen, um zu erkennen, was es ist. Ein Stückchen Holz? Dann erkennt er es: Es ist die eine Hälfte einer Frucht des Amulettbaumes. Seine Finger gleiten über die scharfen Zacken am einen Rand. Er schließt die Hand über dem Amulett. Dann macht er sich wieder auf den Weg um den See.
Wenig später beginnt es zu schneien. Während sich der See allmählich leert, die Schüler zum Abendessen hineingehen und zu den verschiedenen Weihnachtspartys aufbrechen – Lily geht zu Slughorns Party, wie er weiß – geht er die halbe Nacht wie in Trance durch die schneedurchwirbelte Dunkelheit.
Snape, der erwachsene Snape, stellte den Kessel, den er eben gereinigt hatte, behutsam in den Schrank, dann entnahm er mit einer beiläufigen Bewegung des Zauberstabs seinem Kopf noch einen Gedankenfaden und machte sich daran, diese Erinnerung auf dieselbe Weise in die verbliebene einfarbige Kapsel zu füllen.
Seine Bewegungen waren eckiger als sonst, er war nicht ganz bei der Sache. Ihn hielt die Erinnerung an die Zeit nach jenem Wintertag gefangen, die Tage, in denen er auf ein Wort, eine Geste Lilys gewartet hatte, die an diesen Nachmittag anschloss – Tage, die zu Wochen und schließlich zu Monaten wurden.
Am darauf folgenden Tag hatten die Weihnachtsferien begonnen, und Lily war nach Hause abgereist, bevor er ihr noch einmal begegnen konnte. Aus diesen Ferien war sie verändert zurückgekehrt. Sie saß immer noch neben ihm im Tränkeunterricht, und sie lächelte ihm auch hin und wieder noch zu, aber sie machte keinerlei Anstalten, in irgendeiner Form an jenen Nachmittag anzuknüpfen. Im Gegenteil, sie hielt sich auf unauffällige Weise von ihm fern, und das kränkte ihn zutiefst. Sie hätte ihm ihren Sinneswandel wenigstens erklären können, fand er. Ein paar Mal streifte ihn sogar der Gedanke, bei dem Kuss könnte es sich um eine blöde Wette unter den Mädchen gehandelt haben.
Aber da war das Amulett, das er – nach den ersten Wochen, in denen er es ständig bei sich getragen hatte – in die tiefste Ecke seines Koffers verbannt hatte. Als es Sommer wurde, beschloss er verbittert, sie nicht mehr zu beachten und stürzte sich umso mehr in seine Schularbeit und seine eigenen Projekte.
Mit Lily Evans sprach er danach nur noch ein einziges Mal unter vier Augen – und selbst da waren sie nicht wirklich allein.
Snape steckte die fest verschlossene Flasche sowie einige kleine Behälter in eine Tasche, schloss vorsichtig das große Buch und verwahrte es in einem Glasschrank. Dann warf er seinen Reiseumhang um und ging hinaus.
Er schloss die Tür des Laboratoriums hinter sich und ließ sich von dem Hauselfen, den er auf dem Flur antraf, aus der Festung hinausführen.
Hoch oben in einem anderen Zimmer sah Voldemort das Licht im Laboratorium verlöschen und wandte sich an den kleinen Mann, der sich ängstlich an die Wand presste.
"Er geht! Folge ihm!", sagte er mit eisiger Stimme.
