Kapitel 11
Nistlinge und Grabende Schluffer
Es war ein Gefühl des Fallens – und dann krachten Harry und Hermione hart auf den Boden. An ihren Fingern, mit denen sie die Portschlüssel-Feder berührt hatten, spürten sie ein Brennen. Die Feder selbst war nicht mehr da.
Um sie herum war es dunkel, und einen schrecklichen Moment lang fragten sie sich beide, wo sie wohl gelandet waren. Harry fühlte ihr Haar auf seinem Arm, es fühlte sich weich und verletzlich an, wie ein kleines Tier, und Harry grinste ins Dunkel über diesen Gedanken. Inzwischen war Hermione längst aufgestanden.
"Wir sind am Grimmauldplatz. Vor deinem Schreibtisch! Glück gehabt", flüsterte sie.
Auch Harrys Augen hatten sich jetzt an die Dunkelheit gewöhnt, und er erkannte die Umrisse seines neuen Salons.
"Komm schon, wir sollten schnell machen! Ich will auf keinen Fall entdeckt werden!"
Hermione zerrte ihn auf die Füße, dann schlichen sie sich die Treppe hinauf in Mrs Blacks ehemaliges Zimmer. Im Haus war nichts zu hören, aber sie vermuteten, dass zumindest die Küche im Untergeschoss besetzt war.
Das dunkle Zimmer mit den noch dunkleren Schatten in den Ecken hatte etwas sehr Unheimliches. Harry und Hermione standen einen Moment lang zögernd auf der Schwelle, dachten beide daran, wie sie Ron hier auf dem Fußboden vorgefunden hatten, mit der bösartigen kleinen Spieldose daneben.
"Lumos!", sagte Hermione entschlossen.
Das Licht ihres Zauberstabs drängte die Schatten zurück. Sie ging zu dem Vitrinenschrank und öffnete ihn vorsichtig.
"Du passt auf! Wenn diese Spieldose rausfällt oder nur den kleinsten Ton von sich gibt, dann schlag drauf!"
Mit diesen Worten reckte sie sich auf die Zehenspitzen und betrachtete die fünf oder sechs Bücher, die im Fach über ihrem Kopf standen.
"Da ist es!"
Mit so etwas wie Ehrfurcht griff Hermione nach einem in dunkelblauen Brokatstoff eingeschlagenen Buch. Der Titel Nachtwelten war in silbernen Buchstaben auf Rücken und Deckel geprägt.
Harry hatte die Spieldose noch im Auge, aber sie gab keinen Ton von sich.
"Lass uns von hier verschwinden", sagte er.
Ihm konnte das Buch eines schwarzen Magiers keinerlei Ehrfurcht abringen.
Sie reichte Harry das Buch und schloss die Schranktür sorgfältig. Dann gingen sie die Treppe leise wieder hinunter.
"Ich möchte zu gern wissen, wer unten ist. Und ob sie uns bemerken. Angeblich bewachen sie die Bude doch so gut", sagte Harry.
"Ich weiß nicht. Willst du wirklich Ärger riskieren? Die werden doch wissen wollen, warum wir hier sind."
"Ich hab den Tarnumhang mit. Komm schon!"
So zogen sie sich den Tarnumhang über die Köpfe. Zu zweit war es jetzt wirklich eng darunter. Vorsichtig schlichen sie sich die Treppen bis zum Untergeschoss hinunter. Vor der Küchentür blieben sie stehen und lauschten auf das Stimmengemurmel, das durch die Tür drang.
"Verdammt, die Langziehohren hab ich oben gelassen! Die wären jetzt perfekt", flüsterte Harry.
"Wenn wir direkt an der Tür lauschen, geht's auch so", sagte Hermione und legte ein Ohr an die Tür. Sie hatte Recht. Als Harry ihrem Beispiel folgte, war es zu seiner Überraschung Lupins Stimme, die er sprechen hörte.
"... auch gleich beide – weg sein müssen, Dumbledore und Snape! Sie waren maßgeblich an der Erhaltung der Schirmzauber beteiligt. Minerva weiß nicht, wie lange sie sie noch aufrechterhalten können!"
"Was macht der denn hier, ich dachte, der ist in Hogsmeade?", fragte Hermione.
"Shh!", zischte Harry.
"Was ist denn mit Slughorn? Und diese Harper, die muss doch auch einiges drauf haben, nach dem, was man so hört."
Das war Moodys Stimme.
"Oh nein!", flüsterte Hermione und wollte zurückweichen. "Der kann uns doch auch durch die Tür sehen!"
Harry hielt sie am Arm fest.
"Lass uns das riskieren", flüsterte er zurück. "Ich will das jetzt hören!"
"Slughorn arbeitet schon hart daran", antwortete Lupin gerade. "Aber anscheinend sind da eigene Erfindungen im Spiel, sagt er. Snape hat ja gern experimentiert, schon als Schüler. Slughorn kriegt es nicht raus. Und was Harper angeht – ich glaube, Minerva will sie erst etwas besser kennen lernen, bevor sie sie an solche Sachen ranlässt."
Hinter der Tür dehnte sich das Schweigen. Dann sagte eine weitere Stimme, die sie kannten: "Was ist mit dem Totengräber-Gift? Hat Hagrid schon was zusammenbekommen?"
"Das ist Fred!", flüsterte Hermione überrascht.
"Wir sind nämlich so weit, die Patronen sind fertig."
"Und George", ergänzte Harry.
"Hagrid hat etwa einen Viertelliter zusammen, sagt er. Das reicht für etwa zwanzig Liter des zubereiteten Trankes aus", erwiderte Lupin. "Wie funktionieren eure Patronen denn?"
"Man schießt oder wirft sie ins Getümmel. Sie lösen sich auf und erledigen die Inferi innerhalb kürzester Zeit. Zumindest, wenn das stimmt, was ihr über dieses Gift rausgefunden habt."
"Mir persönlich kommt das ziemlich widerlich vor", sagte Fred.
"Ein Inferius ist tot, Fred. Nichts weiter als ein durch schwarze Magie belebter Körper. Das Gift neutralisiert nur den Trank, mit dem er überhaupt erst in Gang gebracht wurde", erläuterte Lupin.
"Ist dann besser dran, Junge", sagte Moody. "Und wenn du sie erst mal in Aktion erlebt hast, vergisst du solche Empfindlichkeiten. Die fressen dir bei lebendigem Leib das Fleisch von den Knochen."
Unter dem Tarnumhang erschauerte Hermione unwillkürlich. Wieder streifte ihr Haar Harry.
"Sind denn wieder welche gesichtet worden?", fragte Tonks zögernd.
"Der Muggel-Premier hat Scrimgeour von Vorfällen berichtet, die ziemlich sicher auf Inferi hindeuten", antwortete Moody. "Ist ziemlich fertig, der gute Rufus. In der Aurorenzentrale kommen sie anscheinend auch keinen Schritt weiter, und er hat gewettert, das hätte unter seiner Leitung ganz anders ausgesehen.
Na ja. Jedenfalls nach wie vor keine Spur von Snape oder den Malfoys. Alle Versuche, sich Azkaban zu nähern, sind auch gescheitert. Alles, was sie sehen, wenn sie in die Nähe kommen, ist goldener Dunst. Sobald sie mit Schiffen oder Besen da rein kommen, irren sie nur noch im Kreis herum. Inzwischen sind sie ziemlich sicher, dass Voldemort sich in Azkaban aufhält."
"Und wir kommen auch nicht weiter", seufzte Arthur Weasley. "Keine Spur. Das Haus, das gestern abgebrannt ist, da oben im Norden, das scheint wirklich Snape gehört zu haben. Da ist nur noch Schutt und Asche übrig."
Harry und Hermione sahen sich an.
"Das Schlimmste kommt erst noch", begann Lupin zögernd. "Minerva und Slughorn befürchten, dass er sich an Wetterzaubern versuchen könnte."
"Wetterzauber? Wie kommen sie denn da drauf?", fragte Fred ungläubig.
"All diese kalten Nächte im August – und oben im Norden ist seit Wochen kein Regen mehr gefallen. Das ist schon ein bisschen verdächtig."
"Aber Wetterzauber – ich dachte, das ist so ein Muggelmärchen! Ich meine, mal ein bisschen Schnee in den Garten zaubern, für die Kinder zu Weihnachten, das ist in Ordnung. Aber in größerem Stil – hab noch nie gehört, dass das jemand kann." Auch Arthur klang zweifelnd.
"Minerva sagte, Dumbledore hätte so was angedeutet. Er hat anscheinend damit gerechnet, dass Voldemort es damit versuchen wird", sagte Lupin langsam.
Drinnen wurden Stühle gerückt, Schritte erklangen.
"Machen wir, dass wir wegkommen!", zischte Harry.
Sie hasteten die Treppen hinauf so schnell sie konnten, und erreichten Harrys Salon keine Sekunde zu früh, denn unten wurde die Tür geöffnet.
"Oh Mann, das war höchste Zeit!", sagte Hermione. "Ich frag mich, warum Moody uns nicht bemerkt hat. Mit seinem Auge hätte er uns auch durch die Tür und den Tarnumhang sehen müssen!"
"Und wenn schon!", murmelte Harry abgelenkt. Er suchte auf seinem Schreibtisch nach der anderen Portschlüssel-Feder. "Ich bin rechtmäßig hier, hast du das vergessen?"
"Und hätte sie nicht irgendwas warnen müssen, dass jemand im Haus ist?", grübelte Hermione weiter.
"Hier ist sie. Jetzt komm schon, fass mit an", sagte Harry.
"Hast du das Buch auch fest in der Hand?"
"Klar. Los jetzt. Die haben uns vielleicht doch bemerkt, und ich hab jetzt keine Lust auf Erklärungen!"
Sie standen am Schreibtisch und berührten beide die Schreibfeder, die der andere Teil des Doppel-Ports war.
"Zurück!", sagte Harry.
Mit einem Ruck wurden sie nach vorn in den nun schon vertrauten Sog gerissen und zischten durch etwas hindurch, das Lupin als Gang bezeichnet hatte.
Der Sog spuckte sie am anderen Ende wieder aus, und als sie auf den Fußboden des Gemeinschaftsraums in Hogwarts polterten, war es zu spät, um darüber nachzudenken, ob vielleicht noch andere ihre ungewöhnliche Ankunft bemerken würden.
Harry hatte beide Arme um das Buch geklammert und war unsanft auf den Knien aufgeprallt. Hermione rieb sich den Arm, auf dem sie gelandet war. Ein schneller Blick in die Runde zeigte ihnen, dass niemand sie gesehen hatte. Der Gemeinschaftsraum war verlassen.
"Ron!"
"Da ist er. Er schläft", sagte Hermione und zeigte auf den Sessel vor dem Kamin.
Auch Ron hatte ihre Ankunft verpasst. Aber auf der Armlehne des Sessels lag die Schreibfeder, der sie ihre zielgerechte Rückkehr verdankten.
"Kapierst du eigentlich, wie das mit den Portschlüsseln funktioniert?", fragte Harry leise, als er die Feder wieder einsteckte.
"Es gibt die offiziellen, wie damals den, mit dem wir zur Quidditch-Weltmeisterschaft gekommen sind. Und dann gibt es auch welche zum privaten Gebrauch, so wie dein Doppel-Port hier. Da ist ein Ende des Weges festgelegt, mit dem Gegenstück kannst du von überallher immer an diesen bestimmten Ort kommen. Und der Portschlüssel nimmt dich nicht mit auf die Reise, sondern er öffnet dir nur den Gang zu deinem Zielort. Deshalb kannst du auch problemlos wieder zurückkehren", erklärte Hermione, während sie aufstand.
"Woher weißt du das alles?", fragte Harry mit einem Anflug von Ehrfurcht.
"Nachgelesen", antwortete sie kurz. "Mir kam das ziemlich komisch vor mit deinen Federn, vor allem, weil das Haus am Grimmauldplatz ja nur für Eingeweihte zugänglich sein sollte. Lupin hat den wohl selbst gemacht. Aber auch diese speziellen Portschlüssel müssen genehmigt werden, und das werden sie nur, wenn du nachweisen kannst, dass du dich an dem festgelegten Ort berechtigt aufhalten darfst."
Hermione klang ein wenig abwesend. Sie betrachtete den schlafenden Ron, dessen rotes Haar ihm völlig verwuschelt in die Stirn hing. Er sah sehr jung und unschuldig aus, wie er da so vor sich hinschnarchte. Zum ersten Mal bemerkte Harry eine Ähnlichkeit mit Ginny, die über die Haarfarbe hinausging: der großzügige Mund, die lang gezogenen, feinen Augenbrauen. Ein trauriges Gefühl des Verlustes breitete sich in ihm aus.
Schließlich begegnete er Hermiones Blick. Sie mussten beide lächeln, vielleicht, weil beide wussten, woran der andere gedacht hatte. Es war ein seltsamer Moment.
Dann griff sich Hermione entschlossen das Buch aus Harrys Armen.
Harry stupste indessen Ron an, um ihn zu wecken. Das stellte sich als ebenso schwierig heraus, wie er erwartet hatte. Am Ende rüttelte er ihn gnadenlos. Rons tiefer Schlaf machte ihm jetzt immer ein wenig Angst.
"Binjaschonwach!", nuschelte der Geschüttelte.
"Ich hätte mir von Fred und George eine Dose mit diesen Weckbohnen mitgeben lassen sollen!"
"Oh nein!", stöhnte plötzlich Hermione auf.
"Was ist denn?"
"Hier, seht euch das an! Mann, Ron, und das ist dir nicht aufgefallen? Ich dachte, du hast in diesem Buch sogar gelesen!"
Die beiden beugten die Köpfe über die Seiten, die Hermione ihnen hinhielt.
"Das ist ja Latein!", rief Harry entsetzt.
"Genau. Und was die Sache noch schlimmer macht, ich glaube, es ist mittelalterliches Gelehrtenlatein. Hab ich keine Ahnung von."
"Ron, du Knallkopf! Hast du das echt nicht bemerkt?"
Ron war rot geworden und sah jetzt ziemlich wütend aus.
"Ich hab nur drin geblättert! Zum Lesen bin ich doch gar nicht gekommen! Das einzige Wort, das ich gesehen habe, war Horcruxe!"
"Horcruces! Hier, da steht es! Allerdings – dazwischen sind auch immer englische Abschnitte. Offenbar ist nur der Originaltext von Slytherin in Latein, Grindelwalds Kommentar ist auf Englisch."
„Na also", knurrte Ron.
Hermione starrte angestrengt auf die Seiten.
"In der Bibliothek gibt es Wörterbücher und Grammatiken. Ich werd' mich da einarbeiten", sagte sie entschlossen. "Aber wir müssen dieses Buch versteckt halten. Es ist in Hogwarts streng verboten."
"Und du willst es trotzdem lesen?"
"Ich finde, hier rechtfertigt der Zweck die Mittel."
"Ich nehm' das Buch mit und verwahre es in meinem Koffer. Da ist schon das Black-Buch drin und einige andere Sachen, die keiner sehen soll. Ich hab ihn mit einem Passwort verschlossen", sagte Harry.
"Ich hoffe, es ist nicht so was wie 'Ginny' oder – äh – 'Voldemort'!", sagte Ron, als er aufstand und sich streckte. "Das würde ich nämlich als Erstes probieren."
"Genau, Blödmann. Und deshalb heißt es auch anders. So, ich geh schlafen! Wir erzählen dir beim Frühstück, wie es eben gelaufen ist."
Auch Hermione gähnte und verschwand in Richtung Mädchenschlafsaal.
oooOOOooo
Als sie am nächsten Morgen zu Kräuterkunde zu den Gewächshäusern hinübergingen, lag der Nebel dick und kalt über den Wiesen. Weil sie verschlafen hatten und die Zeit fürs Frühstück nicht mehr gereicht hatte, erzählten sie Ron gerade flüsternd, was sie am vergangenen Abend beim Treffen des Phönixordens mit angehört hatten.
"Denkt ihr, Snape hat was an diesen Schirmzaubern gedreht?", fragte Ron. "Damit sie zusammenbrechen?"
"Würde mich gar nicht wundern", sagte Harry grimmig.
Er versuchte, nicht an die Inferi zu denken, die angeblich gesichtet worden waren. Sein Erlebnis in der Höhle, auf dem unterirdischen See, in dem es von diesen Körpern gewimmelt hatte, war noch zu frisch. Und dass der Phönixorden offenbar mit Quallengift gegen sie vorgehen wollte, fand er auch nicht eben tröstlich.
"Mit dem Wetterzauber, das glaub ich auch nicht", sagte Hermione und zog fröstelnd ihren Umhang um sich. "Ich hab gelesen, dass man dafür zuerst so einen Schirm über dem Gebiet errichten muss, in dem man das Wetter ändern will, so 'ne Art Käseglocke, wisst ihr. Und einer allein kann das gar nicht, da müssen mehrere zusammenarbeiten."
"Todesser gibt es wohl inzwischen genug, oder?", gab Ron zu bedenken, der den Nebel misstrauisch beäugte.
"Leise jetzt, da ist Professor Sprout. Treffen wir uns doch heute Mittag am See, dann können wir über alles reden", sagte Harry.
Professor Sprout stand an der Tür zum Gewächshaus und sah mit grimmigem Blick in den Nebel hinaus, der sich nun langsam zu heben begann.
Vor Harry stolperte Neville gähnend fast über die Schwelle. Drinnen war es kühl und feucht und duftete nach Wald. Professor Sprout winkte sie alle zu einem abgetrennten, großen Bereich, wo auf einer dicken Schicht von Erde, Blättern und Nadeln zu ihrer Überraschung einige große Waldbäume eingepflanzt waren.
"Ich begrüße Sie alle zu unserem Jahresprojekt. Wie immer in der Abschlussklasse wird das ein Gemeinschaftsprojekt sein, diesmal sind Professor Slughorn und Hagrid mitbeteiligt."
Harry sah in die Krone einer jungen Buche hinauf, in deren Zweigen, wie er jetzt bemerkte, einige Büschel eines anderen Gewächses hingen. Sie trugen Trauben von winzigen grünen Beeren, aber auch unangenehm aussehende schwärzliche Beutel dazwischen, in denen wimmelnde Bewegung zu herrschen schien. Harry stieß Ron an, aber der hatte die geschwulstartigen Auswüchse schon gesehen und beobachtete unbehaglich, wie sie sich mal hier, mal da vorwölbten.
"Hat jemand eine Idee, worum es geht?", fragte Professor Sprout, der die neugierigen Blicke nicht entgangen waren.
Neville und Hermione meldeten sich.
"Ja, Mr Longbottom, erleuchten Sie uns!"
"Das sieht nach dem Nistling aus –"
"Dem Waldnistling!", fiel Hermione ein.
"Genau, der Waldnistling. Nicht zu verwechseln mit dem Wiesen-, Hecken- oder Sumpfnistling, die alle drei –"
"Sehr schön, sehr schön, Mr Longbottom. Aber langsam. Sie haben Recht, was Sie hier oben in den Zweigen sehen, ist der Gemeine Waldnistling. Diese Pflanze, ihre Vermehrung und schließlich die Nutzung ihrer Beeren stellen das Projekt Ihres Abschlussjahres dar. Der Nistling –", begann Professor Sprout, während sie mit einem prüfenden Blick nach oben ein Stück von dem abgetrennten Bereich zurücktrat, "der Nistling galt lange Zeit nur als Schädling. Er wuchert in den Kronen von Waldbäumen, und nicht selten erstickt er nach ein paar Jahren die Wirtspflanze. Die besondere Problematik beim Nistling aber ist seine Art, sich zu vermehren.
Sie sehen die Samenbeutel da oben? Wenn sie aufplatzen – und das wird ziemlich bald der Fall sein, wenn ich die Zeichen richtig deute! – dann lassen sich aus jedem Beutel an die tausend kleine Sämlinge zu Boden segeln. Dort machen sie sich auf die Suche nach den von ihnen bevorzugten Nistplätzen – und das sind vor allem die Felle von Tieren oder Haut und Haar von Menschen. Und diese Sämlinge können sich mit Flimmerhärchen bewegen, wie winzige Käfer. Sie klammern sich fest, wo immer sie Wärme und – tja, Blut vermuten. Dann graben sie sich in die Haut und reifen dort zu mehreren flugfähigen Sprossen heran."
"In der Haut?", fragte Lavender angewidert.
"Ganz recht. Wenn Sie nicht aufpassen und zur falschen Zeit unter dem falschen Baum spazieren gehen, können Sie sich ein paar hübsche Furunkel einfangen", antwortete Professor Sprout lakonisch. "Das ist nicht wirklich gefährlich, nur ziemlich unangenehm. Bis zur Reife dauert es etwa vier bis acht Wochen. Dann platzen die Furunkel von selbst, und die Sprossen fliegen heraus."
Die halbe Klasse gab Stöhnen und Würgelaute von sich. Sprouts Mundwinkel zuckten.
"Deshalb werden Sie alle auch nur in Schutzkleidung arbeiten", sagte sie und wies auf einen Stapel von Kitteln und einen Korb mit großen Schutzbrillen daneben.
"Und worin liegt der Nutzen des Nistlings?", fragte Hermione.
"Aus seinen Beeren kann man harmonisierende und sogar schmerzlindernde Aufgüsse herstellen. Das ist erst seit zwei Jahren bekannt, seit der Arbeit von Ursula Ulcus. Übrigens möglicherweise eine bahnbrechende Entdeckung, denn es sieht so aus, als könnten die Wirkstoffe der Beeren nach entsprechender Aufbereitung das viel teurere Drüsensekret des Rotäugigen Zirbelbeutlers ersetzen."
Die Klasse interessierte das nicht so brennend, abgesehen vielleicht von Neville und Hermione. Alle waren jetzt von dem nachgebildeten Stück Wald abgerückt und beobachteten das Gezappel in den Samenbeuteln wachsam.
"Wo sollen die Samen denn jetzt hier nisten?", fragte Dean Thomas. "Hier sind doch keine Tiere!"
Professor Sprout war wieder zur Tür des Gewächshauses gegangen und sah hinaus. Der Nebel hatte sich inzwischen aufgelöst.
"Hagrid sollte eigentlich schon hier sein. Ich erwarte ihn jede Minute", sagte sie.
Ron stöhnte auf.
"Nein! Nicht Hagrid! Ganz sicher hat er Viecher, die noch viel schlimmer sind als die Aussicht auf ein paar Furunkel!"
"Nur die Ruhe, Mr Weasley. Oder haben Sie Angst vor Maulwürfen?"
Die anderen kicherten.
"Wenn sie von Hagrid kommen, haben sie auf jeden Fall 'ne Menge Zähne oder Krallen oder Giftstachel", erwiderte Ron.
"Da kommt er endlich!", sagte Professor Sprout in diesem Augenblick und öffnete die Tür weit.
Die anderen drängten sich hinter ihr und konnten so Hagrid sehen, der über die Wiesen herankam. Er trug einen schweren Käfig in den Armen, aus dem ihm offenbar in eben diesem Moment etwas entwischt war, denn er setzte ihn fluchend ab und schlug ein Türchen zu.
"Na toll!", sagte Ron. "Fängt doch gleich gut an."
Hagrid versuchte, ein Etwas zu fangen, das Haken schlagend durch das Gras huschte, so schnell wie ein Kaninchen. Und dann jagten fauchend von verschiedenen Seiten zwei Katzen herbei, die das kleine Wesen kreischend verfolgten.
"Oh nein, das ist Krummbein!", rief Hermione und sauste ebenfalls los.
Der große rötliche Kater und ein schwarzer Kollege von ihm rasten wie wild über die Wiese.
Hagrid kam keuchend mit dem inzwischen wieder geschlossenen Käfig heran.
"Hoffe, die Biester fangen ihn nich'!"
Hermione schaffte es, Krummbein einzufangen. Er wehrte sich heftig, aber sie hielt ihn unerbittlich fest.
"Der da wird ihn auch nich' kriegen, schätze ich!", sagte Hagrid, der den noch immer jagenden schwarzen Kater beobachtete. "Buddelt sich wahrscheinlich gleich ein, der Schluffer. Und der Kater guckt in die Röhre! Schnelligkeit is' eben nich' alles."
"Schluffer?", fragte Harry und riskierte einen Blick in den Käfig.
"Grabende Schluffer. Hier drin sin' zwanzig Stück. Die Kröten bring ich noch."
Das Schauspiel auf der Wiese fand das von Hagrid vorhergesagte Ende: Der Kater erreichte den Schluffer endlich, aber dieser hatte sich in Windeseile in den weichen Boden gegraben. So sehr der Kater auch mit der Pfote nach ihm schlug, er erreichte ihn nicht mehr. Schließlich ließ er beleidigt von dem Häufchen Erde ab und begann indigniert, sich zu putzen. Es gelang ihm, dabei eine hochmütige Miene aufzusetzen, als sei ihm die Aufregung, zu der er sich hatte hinreißen lassen, peinlich und als wolle er sie möglichst schnell in Vergessenheit geraten lassen.
"Kann ich Krummbein loslassen?", rief Hermione, die immer noch den Pfoten ihres Haustiers auszuweichen versuchte.
"Klar", rief Hagrid. "Der Schluffer is' eingebuddelt."
Erleichtert ließ Hermione den roten Kater los, der sofort davonlief.
"Also", begann Hagrid in etwas gelangweiltem Ton, "das is' der Grabende Schluffer! 'ne Art Maulwurf, sehr friedlich, kann einem aber die Gemüsebeete übel verwüsten. Katzen jagen ihn verdammt gern, wie ihr gesehen habt. Können nich' widersteh'n, wenn sie einen sehen."
"Die Schluffer werden wir jetzt im Gewächshaus aussetzen", sagte Professor Sprout. "Sie sind als Wirte für den Wald- und auch den Wiesennistling hervorragend geeignet. Als experimentelle Alternative werden wir nachher außerdem auch eine Reihe von Waldkröten in das Gehege hier bringen. Mal sehen, ob das auch funktioniert."
Neville hatte die kleinen, graubraunen Tiere im Käfig genau inspiziert. Sie waren Maulwürfen wirklich sehr ähnlich mit ihren grabschaufelartigen Vorderpfoten, aber sie waren offenbar sehr viel flinker und wendiger. Neugierig stellten sie sich auf die Hinterpfoten und betrachteten die Schüler, die wiederum sie anstarrten.
"Ich kann nicht glauben, dass Hagrid uns so was Harmloses vorsetzt!", sagte Ron leise zu Harry. "Die sehen ja beinahe niedlich aus!"
"Ist das nicht gemein, die Schluffer absichtlich mit den Nistlingen zu infizieren?", fragte Neville.
Professor Sprout verdrehte die Augen.
"Mr Longbottom, wollen Sie nun Forschung betreiben oder einen Streichelzoo betreuen?"
Neville schwieg.
"Da!", schrie Lavender plötzlich auf. "Eins ist geplatzt!"
Alle stürzten zu dem Waldbereich, hielten sich allerdings in sicherer Entfernung von den Bäumen. Tatsächlich, einer der schwärzlichen Beutel in der Buche war aufgerissen. Fasziniert sahen sie zu, wie eine Wolke von winzigen, bläulichen Objekten herausstäubte und flirrend zu Boden sank.
"Sie haben ein Flügelchen auf dem Rücken, damit können sie kreiselnd vom Baum segeln", erklärte Professor Sprout. "Dann fällt der Flügel ab, und sie bewegen sich krabbelnd weiter."
Sie griff in den Käfig und setzte einen der Schluffer auf den aufgehäuften Waldboden. Er sauste sofort los. Hagrid ließ auch die anderen frei.
"Neville! Nicht, komm da weg!", rief Hermione da auf einmal.
Aber Neville ließ sich nicht stören. Er war über die absperrende Glaswand gestiegen und ging nun entschlossen zu der Stelle, wo die Nistlinge eben gelandet waren. Die Klasse sah mit fasziniertem Ekel zu, wie er die Hand auf die Erde legte und wartete, bis einer der winzigen Krabbler auf seinem Arm angekommen war.
Professor Sprout sah mit hochgezogenen Augenbrauen zu.
"Ich werde es genau studieren", sagte Neville mit einem Anflug von Trotz. "Und einen Bericht dazu schreiben."
"Sehr gut, Mr Longbottom. Ihr Einsatz ist bewundernswert. Ich hoffe nur, Sie bereuen ihn nicht. Aber ich werde Ihren Bericht mit großem Interesse lesen!"
Als Neville wieder zurückkletterte, wichen die anderen ein wenig vor ihm zurück.
"Das ist ja so widerlich!", stöhnte Lavender.
"Ey Mann, du schläfst in unserem Schlafsaal!", sagte Dean. "Du hättest das vorher mit uns absprechen sollen!"
"Wenn der Nistling sich einmal festgesetzt hat, besteht für andere keine Gefahr mehr", sagte Professor Sprout. "Und nun fangen Sie an. Da hinten habe ich einen Korb mit Beerenbüscheln, die müssen abgeerntet werden. Sie werden sie in Professor Slughorns Unterricht verarbeiten. Seien Sie vorsichtig, die Büschel haben zahlreiche feine Stacheln."
"Können wir Handschuhe tragen?", fragte Lavender.
"Dann können Sie die kleinen Beeren nicht mehr pflücken. Beißen Sie die Zähne zusammen und los!", war die resolute Antwort.
oooOOOooo
Endlich Mittagszeit. Sie hatten gegessen, dann war Hermione wieder einmal in ein Büro gehetzt – diesmal in das von Professor Harper – und Ron und Harry vertraten sich unten am See die Beine. Seit sich der Nebel aufgelöst hatte, herrschte wieder schönster Sonnenschein, und überall waren Schüler unterwegs.
"Die Phönixleute vermuten, dass Voldemort in Azkaban ist?", fragte Ron.
"Ja. Irgendwie passend, oder? Aber wusstest du, dass Fred und George jetzt richtig dabei sind?"
"Nö. Aber ich schätze, man kann auch damit richtig Geld machen."
"Meinst du, die sind nur aufs Geld aus?", fragte Harry überrascht.
"Nein, das nicht. Aber sie sind verdammt gut darin, Geld zu machen – ich glaube, die riechen jede Gelegenheit dafür."
Da musste Harry ihm allerdings Recht geben.
"Und Snapes Haus ist also abgebrannt – ich find's komisch, dass er überhaupt eins hatte. Hab irgendwie nie drüber nachgedacht, wo der wohl wohnt, wenn er nicht in Hogwarts ist", sagte Ron.
"Na ja, sein Vater war doch ein Muggel. Vielleicht war das sein Haus." Harry ertappte sich bei dem Gedanken, Snape möge irgendwo unter den rauchenden Trümmern dieses Hauses liegen. Unwillig schüttelte er sich, als könne er die Vorstellung so loswerden. Dieser Wunsch ging entschieden über normalen Hass hinaus. Aber was genau war normaler Hass? Er musste nur an Snapes Blick denken, mit dem er sich damals über Dumbledore gebeugt hatte – dann fühlte er etwas in seinem Innern ausrasten.
Er warf einem Erstklässler eine neonorange Frisbeescheibe zurück, der er gerade noch hatte ausweichen können.
"Irgendwie bescheuert, wieder in die Schule zu gehen, als wäre nichts passiert, oder?", fragte Ron. "Und die ganze Zeit versuche ich, nicht auf dieses Grabmal da zu gucken."
Harry war es genauso gegangen, aber jetzt blickten sie beide hinüber ans andere Seeufer, wo der weiße Stein von Dumbledores Grabmal in der hellen Sonne leuchtete. Danach gingen sie eine ganze Weile schweigend weiter den Seeweg entlang, und zum ersten Mal empfand Harry so etwas wie Frieden bei dem Gedanken an Dumbledore.
Schließlich hörten sie schnelle Schritte hinter sich.
"Wartet doch!", sagte Hermione, als sie sich umdrehten. Als sie neben ihnen ging, war es mit der Stille vorbei.
"Ich komm gerade aus Harpers Büro. Sie hat ja auch in Padua gearbeitet, deshalb konnte sie mir einiges über die Akademie und das Stipendium sagen."
"Und, wie war's?"
"Ich weiß nicht. Das Gespräch war ganz in Ordnung. Die kommt mir ganz witzig und ziemlich cool vor. Aber in ihrem Büro hat sie was an der Wand, das mit einem schwarzen Tuch abgedeckt ist."
"Vielleicht ein Porträt von diesem Dementor, den sie interviewt hat?", schlug Ron vor, der ein paar noch grüne Eicheln über den Weg kickte. "Ich meine, was erwartest du, die gibt Verteidigung gegen die Dunklen Künste."
"Irgendwie war mir das Ding nicht geheuer", sagte Hermione nachdenklich. "Ich glaube, es war ein Spiegel. Warum hängt sie ihn auf, wenn sie ihn dann so gründlich abdeckt?"
"Vielleicht mag sie einfach ihr Spiegelbild nicht?"
"Ich sag euch, die hat auch eine Leiche im Keller", sagte Hermione. "Ich werd' mal sehen, was ich über sie rauskriegen kann.
"Du glaubst doch wohl nicht den Quatsch, den Luna erzählt hat, oder? Von wegen Voldemorts Tochter?", fragte Harry.
"Blödsinn. Aber irgendwas ist da faul. Da kommt Luna übrigens gerade."
Tatsächlich. Luna schlenderte den Seeweg entlang, einen Apfel in der einen Hand, in den sie von Zeit zu Zeit genüsslich hineinbiss, den Blick unverwandt auf das im Sonnenlicht glitzernde Wasser gerichtet. Sie schien sie erst zu bemerken, als sie fast gegen Ron geprallt wäre. Dann sah sie sie mit mildem Erstaunen an.
"Hallo! Hab euch gar nicht kommen sehen."
"Das haben wir gemerkt", sagte Ron und lächelte sie an.
"Ich hab mir den See angesehen. Sieht der nicht toll aus, so in der Sonne?"
"Finde ich auch", sagte Ron, der aber eigentlich nur Luna ansah.
Sie hatte ihr langes Haar zu einem geflochtenen Knoten aufgesteckt und trug einige Nadeln mit großen, schimmernden Perlen darin.
Harry und Hermione vermieden es bewusst, einen Blick zu tauschen.
"Was meint ihr, ist das Wasser schon zu kalt, um darin zu schwimmen?", überlegte Luna.
"Ich würd' da nie freiwillig reingehen", sagte Hermione schaudernd. "Mir hat's damals beim Trimagischen Turnier vollauf gereicht, besten Dank!"
"Und dann gibt's doch auch den Riesenkraken. Und die Wassermenschen wären auch nicht mein Geschmack", sagte Ron.
"Von Grindelohs und Ähnlichem ganz zu schweigen", ergänzte Harry, dem sein Bad im See anlässlich des Trimagischen Turniers auch noch gut in Erinnerung war.
"Im Quibbler steht, wenn man bei Vollmond durch einen See schwimmt und genau in die Bahn des Mondlichts taucht, kann man etwas finden, womit man denjenigen, den man liebt, für sich gewinnen kann", erklärte Luna ganz sachlich. Riesenkraken, Wassermenschen und Grindelohs ließen sie offenbar unbeeindruckt.
"Hat der Quibbler jetzt auch eine Rubrik mit Lebensberatung oder was?", fragte Hermione, die Luna mit einem forschenden und etwas verzweifelten Blick musterte.
"Die hatte er schon immer. Madam Merrymaids Mutmacher auf Seite acht", antwortete Luna friedlich.
"Nimm dir bloß ein Büschel Kiemenkraut mit, wenn du tauchen willst", sagte Harry.
"Werd' ich mir merken, danke, Harry. Wir sehen uns heute Abend, Ron!"
Damit ging sie weiter.
"Ihr seht euch heute Abend?", fragte Hermione mit einer leisen Schärfe.
"Das Jahrbuch-Projekt. Wir wollen uns alte Jahrbücher ansehen. Anregungen suchen. Bisschen Hintergrundmaterial sammeln", erklärte Ron, der ihren Blicken auswich.
"Red ihr bloß den Kram mit dem Tauchen aus", sagte Harry.
"Ja, sag ihr doch einfach gleich, womit sie dein Herz gewinnen kann", sagte Hermione bissig.
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Hermione war in der Bibliothek und arbeitete an ihrer Bewerbung für dieses Stipendium. Ron war abgezogen, um sich mit Luna wegen des Jahrbuchs zu treffen. Er hatte versucht, so cool wie möglich auszusehen, als er ging, aber seine Ohren waren ziemlich rot gewesen. Jetzt war Harry allein und hatte sich, um ungestört zu sein, in den leeren Schlafsaal zurückgezogen.
Er saß auf dem Fensterbrett und verbrachte eine düstere Stunde mit Nachdenken. Von hier aus hatte er eben Lupin unten durch die Wiesen gehen sehen, und neben ihm war Hekate Harper gegangen. Ihr weißes Haar war immer leicht zu erkennen. Er fragte sich, ob sie sich jetzt mit den Schirmzaubern befassten, die Snape so undurchschaubar zurückgelassen hatte. Oder gingen sie zu Hagrid, um das geheimnisvolle Gift der Quallen abzuholen?
Irgendwie war es beruhigend, Lupin in der Nähe zu wissen. Von allen Freunden seines Vaters war er allein übrig geblieben. Er nahm sich vor, Lupin das nächste Mal, wenn er ihm begegnete, gründlich über seine Eltern auszufragen. Das hätte er schon längst tun sollen.
Er fragte sich, ob er es über sich bringen würde, über das zu sprechen, was er über die Abstammung seiner Mutter herausgefunden hatte. War es möglich, dass Lupin davon wusste? Denn dass Lily von ihrer Slytherin-Herkunft gewusst hatte, dessen war Harry sich seit seinem Gespräch mit Slughorn auf der Party ganz sicher. Aber irgendwie bezweifelte er, dass sie darüber gesprochen hatte. Vielleicht hatte sie es sogar seinem Vater verschwiegen. Harry bekam auf einmal ein ganz anderes Bild von seinen Eltern als das, das man ihm immer gezeigt hatte: Seine Eltern als ein rundherum glückliches, einträchtiges Paar, das sich schon in der Schule kennen und lieben gelernt und dann schnell geheiratet hatte und noch heute glücklich leben würde, wenn nicht Voldemort gewesen wäre.
Was mochte es für seine Mutter bedeutet haben? Was bedeutete es für ihn selbst? Er wollte kein Slytherin sein, so einfach war das. Da konnte Slughorn noch so viel über Genie und Adel reden, die sich in diesem Stammbaum vereinigt haben mochten. Für Harry war die Sache klar: Slytherin zu sein hieß, zu nah an der dunklen Seite zu sein. Es war schlimm genug, von Voldemort aufgrund einer Prophezeiung verfolgt zu werden. Er musste nicht noch mit ihm verwandt sein. Es war, als hätte er an sich selbst eine Seite entdeckt, die er noch nicht gekannt hatte, die ihm völlig fremd und zuwider war, die er aber nicht loswerden konnte.
Heute schien es nur düstere Gedanken zu geben. Wenn er so in seinen Koffer blickte – das Passwort lautete übrigens "Pandora" – sahen ihm nur unangenehme Dinge entgegen: Das Schmuckkästchen mit den Ohrringen, die er am liebsten vergessen hätte, die Nachtwelten, denen er heute erst mal einen harmlosen Umschlag verpasst hatte, Snapes Kopie von Zaubertränke für Fortgeschrittene, Noblesse der Natur und natürlich das geheimnisvolle, fest verschlossene Buch mit dem Black-Wappen.
Das Buch, für das Kreacher gestorben war ... Harry konnte das nicht vergessen. Er hatte schon viele Minuten mit Grübeln darüber verbracht, wie man es öffnen könnte, aber er hatte keine Idee mehr, wie er es noch versuchen könnte. Allmählich neigte er dazu, sich Rons Vorschlag anzuschließen und es mit Gewalt zu versuchen. Nur die Erinnerung an Kreacher hielt ihn davon ab. Er fragte sich auch, was es wohl enthalten mochte, dass es Kreacher so wichtig gewesen war, es nicht in seine Hände geraten zu lassen. Etwas Unheimliches ging von diesem Buch aus, und das nicht nur wegen Kreachers schrecklichem Tod. Harry konnte es fühlen.
Und dann war da der immer in seinem Hinterkopf schwelende Gedanke an die Horcruxe. Wieder einmal zog er das flache, schmucklose Goldmedaillon aus seiner Tasche und betrachtete es. Auch für dieses Ding waren mindestens zwei Menschen gestorben: Der geheimnisvolle Briefschreiber, der mit R.A.B. unterzeichnet hatte, und natürlich Dumbledore. Wieso hatte er nicht vorher gewusst oder zumindest dann erkannt, dass dieses Medaillon eine Fälschung und nicht das originale Horcrux war? Darüber hatte Harry schon viel nachgedacht. Es schien ihm ein Fehler zu sein, den er Dumbledore einfach nicht zutrauen wollte. Und es blieb immer noch die Frage, wo das echte Medaillon sich befand. War es R.A.B. gelungen, es zu vernichten?
Das Buch von Grindelwald würde ihnen vielleicht helfen, etwas über die Erschaffung und hoffentlich auch über die Vernichtung von Horcruxen herauszufinden – immer vorausgesetzt, Hermione kam mit dem Latein zurecht – aber es würde keine Hilfe bei der Suche nach Voldemorts speziellen Horcruxen sein. Das Tagebuch und der Ring von Voldemorts Großvater, Marvolo, waren vernichtet. Verbleib und Zustand des Medaillons – unklar. Blieben, wenn Dumbledores Vermutungen zutrafen, noch der Pokal von Helga Hufflepuff, und möglicherweise Voldemorts Schoßtier, die Schlange Nagini. Und schließlich etwas von den anderen Hogwarts-Gründern, von Ravenclaw oder Gryffindor.
Aber wieso sollte er nicht ein weiteres Horcrux erschaffen haben, um das Tom-Riddle-Tagebuch – von dessen Vernichtung er doch wusste – zu ersetzen und so die Siebenzahl seiner Seelenteile wieder voll zu machen?
Und wer sagte, dass Voldemort die Vernichtung des Rings tatsächlich nicht entdeckt hatte?
Die Grübeleien über die Horcruxe waren ein Fass ohne Boden. Harry schwirrte jedes Mal der Kopf, wenn er sich eine Weile damit befasst hatte. Er beschloss, hinauszugehen und Hagrid zu besuchen. Er wollte ihn ohnehin über Tom Riddle befragen, mit dem er doch immerhin zeitgleich zur Schule gegangen war.
oooOOOooo
Harry sah Hagrid schon von weitem. Er kam gerade mit zwei leeren Körben am Arm und einer großen Kiepe auf dem Rücken vom Waldpfad in Richtung auf sein Haus zu. Als er Harry sah, winkte er ihm zu.
"War eben bei Grawp", sagte er, als Harry ihm entgegengekommen war. "Hab ihm 'ne Ladung Brot un' Kekse un' Tee gebracht. Der hat wirklich 'ne Menge gelernt. Kann jetzt selbst Tee kochen!"
"Mmh", sagte Harry.
"Aber er war irgendwie durcheinander. Scheint, als wären so 'n paar Kreaturen unterwegs in den Bergen und reden Unsinn über Du-weißt-schon-wen un' so. Ham ihm total den Kopf verdreht. Alle Riesen würden sich Du-weißt-schon-wem anschließen, un' er sollte das auch, un' wenn nich', würdense ihn fertig machen. Hatte wirklich Mühe, ihn zu beruhigen."
Sie gingen schweigend den Weg zwischen Hagrids Gemüsebeeten und Kartoffelacker entlang zu seiner Hütte.
"Willst du auf 'n Tee mit reinkommen?", fragte Hagrid.
"Ja. Eigentlich will ich dich sogar was fragen."
Hagrid, der gerade seine Kiepe abbuckelte, hielt in der Bewegung inne und warf ihm einen Blick zu, den Harry nicht direkt deuten konnte. Misstrauisch? Wachsam? Ängstlich? Von allem war etwas darin. Sein Unbehagen bei dieser Ankündigung war jedenfalls nicht zu übersehen, und Harry wunderte sich darüber.
"Ich koch erst mal 'n Tee", sagte Hagrid schließlich und verstaute Kiepe und Körbe in seinem Schrank. Dann füllte er den Kessel und kramte umständlich nach Teebüchse und Zucker. "Worum geht's denn, Harry?"
"Du kanntest doch Tom Riddle in seiner Schulzeit", begann Harry.
Hagrid hörte auf zu kramen und tauchte mit überraschter und, wie es Harry schien, erleichterter Miene aus seinem Vorratsschrank auf.
"Klar. Hat schließlich dafür gesorgt, dass ich aus der Schule geschmissen wurde. Der Mistkerl."
"Erzähl mir was von ihm. Wie er so war. Mit wem er zusammen war."
"Tom Riddle", sagte Hagrid leise und ließ sich auf einen ächzenden Stuhl fallen. Er drehte die Teebüchse in seinen großen Händen und dachte nach. Harry wartete geduldig.
"Weißt du, da gibt's so 'ne Sache, die ich immer für mich behalten hab. Aber vielleicht solltest du's doch wissen."
Aber offenbar tat er sich trotzdem schwer damit. Er stand wieder auf, und Harry sah ihm zu, wie er den Tee aufbrühte, Milch in das abgestoßene Kännchen goss, die Zuckerschale auf den Tisch stellte.
"Damals, in den Sommerferien, nachdem ich von der Schule geflogen war – da hab ich ihn verfolgt. Ich hab mich an seine Fersen geklemmt, kann ich gut, würd'st du nich' denken, weil ich so groß bin, aber das kann ich trotzdem gut. Glaub nich', dass er mich je bemerkt hat", sagte er zufrieden. "Erst nach London, in dieses Waisenhaus, in dem er wohnte. Dann sin' die alle in die Sommerfrische gefahren – kannst du dir vorstellen, der hat hier für all den Aufruhr gesorgt un' is' dann einfach in Urlaub gefahr'n! Ich war ganz erledigt. Ich glaub, ich wollt' ihn zur Rede stellen. Vielleicht wollt' ich ihn auch nur verprügeln."
Harry war aufs Äußerste gespannt. Weil Hagrid ihn ansah, nickte er.
"Du rätst nie, wohin die gefahren sin', Harry."
"Doch. Nach Godric's Hollow", sagte Harry lakonisch. "Wo meine Eltern ermordet wurden."
Hagrid starrte ihn an.
"Du weißt das? Woher?"
"Ich war da, mit Lupin. Ich erklär's dir später. Jetzt erzähl du erst mal, bitte."
"Also, ich kannte den Ort damals ja noch nich'. Hab ihn aber wieder erkannt, als ich dich als Baby da raus geholt hab. Jedenfalls fuhr das ganze Waisenhaus da hin, um 'n bisschen Seeluft zu schnuppern. Un' das war's auch, was Riddle machte."
Hagrid erschauerte unwillkürlich. Als er weitersprach, senkte er die Stimme.
"Er war viel allein unterwegs, unten am Strand, in den Klippen, ziemlich halsbrecherische Wanderungen. Aber einmal war er nich' allein. Da hatte er 'n Mädchen dabei, paar Jahre jünger als er. Die sah nich' so glücklich aus, aber sie sin' zusammen in die Klippen gegangen. Dann war'n sie plötzlich weg, un' ich dacht schon, ich hätt' sie verloren, aber dann hab ich den Spalt in der Felswand geseh'n. Da war 'ne Höhle, un' sie sin' rein, ich hinterher. Hier war's verdammt schwierig. Musste mich gut verstecken und ziemlich weit von ihnen weg bleiben. In der Höhle, da hat er plötzlich was aus seiner Tasche gezogen, war 'n Karnickel oder so was. Hat's dem Mädchen gegeben, zusammen mit 'nem Messer. Sie musste dem armen Ding die Kehle durchschneiden. Konnt' sehen, wie sie zitterte, und als das ganze Blut da rumspritzte, hat er sie so eisig angezischt. Hat das Blut dann in 'ner Schüssel aufgefangen. "
"Und dann?", fragte Harry atemlos, als Hagrid eine Pause machte.
"Er hat – ich glaub, er hat irgendwas aus 'nem Becher getrunken un' dann seine Hände in der Schüssel gewaschen. Kannste dir das vorstellen? Mit Blut gewaschen!"
"Hatte er noch was dabei? Was ist dann passiert?"
Hagrid sah ihn überrascht an.
"Ja, er hatte so 'n kleines Buch dabei. Keine Ahnung, was für eins. Hat er mit dem Blut aus der Schüssel übergossen. Dann hat er irgendeinen Zauber gesprochen un' das blutige Buch mit dem Zauberstab berührt. Un' ich hab gesehen, wie das ganze Blut da rein – reingeschmolzen is' oder so. Is' drin versunken. Das Buch sah wieder wie neu aus. Dann bin ich abgehau'n, weil's so aussah, als würden sie bald aufbrechen. Danach wollt' ich mich schon gar nich' mehr von ihm entdecken lassen!"
"Klar", sagte Harry mechanisch.
Er war sich beinahe sicher, dass Hagrid, ohne es zu wissen, Zeuge geworden war, wie Voldemort sein erstes Horcrux geschaffen hatte. Das Tagebuch. Er war sich außerdem ziemlich sicher, dass das Mädchen jene Amy Benson gewesen war, von der damals in Dumbledores Denkarium die Leiterin des Waisenhauses gesprochen hatte. Tom Riddle hatte sie ja schon als Kind in eine Höhle verschleppt – ganz sicher in dieselbe, die anscheinend irgendeine besondere Bedeutung für ihn hatte.
"Sag mir noch mal, wie alt war Riddle da genau?"
"Das war im Sommer nach seinem fünften Jahr in Hogwarts. Also so um die sechzehn, denk ich."
"Und du bist ihm wirklich den ganzen Sommer gefolgt?"
"Danach nich' mehr", murmelte Hagrid und senkte den Blick. "Kann's nich' erklären, aber die Sache in der Höhle, die war – die hat mir wirklich Angst eingejagt. All das Blut –"
"Und davor?"
"Hab ihn einmal aus den Augen verlor'n", antwortete Hagrid, immer noch etwas beschämt. "War nur ein Tag. Da war er wie vom Erdboden verschluckt."
Zeit genug, um seinen Vater und seine Großeltern zu töten, dachte Harry und erinnerte sich an die Szene, die Dumbledore ihm gezeigt hatte.
Drei Morde, aber nur ein Horcrux. Das musste ihn erst auf die Idee gebracht haben, mehrere Horcruxe herzustellen. Er hatte sozusagen zwei Morde überzählig gehabt. Und im Herbst des Jahres, zurück in Hogwarts, hatte er Professor Slughorn dann über Horcruxe ausgefragt, und zwar speziell über die Möglichkeit, mehr als eines zu erschaffen.
Harry schwirrte der Kopf. Hagrids Erzählung schien außerdem tatsächlich auf eine Art Ritual hinzuweisen.
"Hast du Dumbledore denn nie davon erzählt?", fragte er schließlich.
"Bis vor ein paar Jahren wusste ich doch nich' mal, dass Tom Riddle – äh – Du-weißt-schon-wer ist. Un' wer hätt' mir denn geglaubt? Ich war erst dreizehn un' gerade von der Schule geflogen, un' er war dafür verantwortlich! Er war Vertrauensschüler, beste Noten, Auszeichnungen un' all das! Direktor Dippet war immer sehr angetan von ihm. Hab versucht, es zu vergessen."
"Und dann? Als die Kammer des Schreckens wieder geöffnet wurde, vor fünf Jahren?"
Hagrid schüttelte den Kopf.
"Fühlte mich so schuldig, damals, weißt du. Un' dann is' ja auch alles gut ausgegangen. Was hätt' es da noch genutzt?"
Ja, was? Es hätte Dumbledore vielleicht eine lange Suche nach der Höhle erspart. Aber sonst?
"Hab ich was Schlimmes angerichtet?", fragte Hagrid leise und ängstlich. "Ich mein', hätt' ich Dumbledores Tod – verhindern –"
"Nein, nein", beruhigte Harry ihn. "Ganz bestimmt nicht. Ich glaub, das meiste wusste er sowieso schon."
Er musste jetzt an die Luft und nachdenken und dann Ron und Hermione so schnell wie möglich alles erzählen. So fiel sein Abschied etwas überstürzt aus.
Als er vor Hagrids Hütte trat, sah er den schwarzen Kater, der am Morgen den Schluffer gejagt hatte, in Richtung Waldrand davonspazieren.
Der Nebel hing wieder dick über den Wiesen. Oben im dämmerblauen Abendhimmel rundete sich hinter einem dünnen Schleier der Mond.
