Kapitel 12
Die Höhle der Schlange
Harry hatte wieder verschlafen. Gähnend eilte er die Treppen hinunter, um noch rechtzeitig zum Tränkeunterricht zu kommen. Unten sah er eben Hermione um die Ecke biegen.
"Hermione! Warte auf mich!"
Den Rest der Treppe sprang er hinunter.
"Wo ist Ron?", fragte sie, als er neben ihr ging.
"Dir auch einen guten Morgen", sagte er, plötzlich verstimmt.
Sie sah ihn an und lachte.
"So war's nicht gemeint! Ich hab mich nur gewundert, wo ihr bleibt!"
"Wir haben beide verpennt. Aber er wollte unbedingt noch 'n Toast verdrücken."
"Da wird er aber kein Glück haben! Die Große Halle ist schon geräumt worden – heute finden die Abschlussprüfungen der Siebtklässler vom letzten Schuljahr statt."
"Das hatte ich total vergessen", sagte Harry und überlegte, ob er Cho eigentlich noch einmal gesehen hatte in den letzten Tagen.
Sie stiegen langsam die Treppe zu Snapes Kerker hinab, wo nun Slughorn unterrichtete.
"Gib mir nachher den Grindelwald. Ich will nachprüfen, ob das, wovon Hagrid dir gestern erzählt hat, wirklich ein Horcrux-Ritual war."
"Wo willst du denn damit arbeiten?", fragte Harry zögernd. "Wenn dich jemand damit erwischt, gibt es Riesenärger, und das Buch wird auch noch einkassiert!"
"He, wirst du doch noch mal vorsichtig? Ich glaube, es ist am unauffälligsten, wenn ich ganz normal im Gemeinschaftsraum und in der Bibliothek damit arbeite. Du hast ihm doch einen neutralen Umschlag angehext, oder?"
Harry nickte.
"Geschichte der Zauberei steht jetzt drauf. Schätze, da guckt keiner freiwillig rein."
"Für alle Fälle hab ich noch 'nen Verwirrzauber. Wenn dann einer rein sieht, sind alle Zeilen so durcheinander, dass er es nicht mehr lesen kann."
Sie verzog auf einmal das Gesicht, und auch Harry schnüffelte.
"Riechst du das auch?"
"Komisch, oder?"
Sie betraten den düsteren Kerker mit seinen Regalen voller Gläser mit überwiegend unangenehmen Inhalten. Die meisten Plätze waren schon besetzt. An einem Arbeitstisch im Hintergrund stand zu ihrer Überraschung Hagrid neben Professor Slughorn. Sie waren mit der Inspektion eines großen Kessels beschäftigt. Anscheinend war er die Quelle des seltsamen Geruchs.
"Da ist ja Padma wieder! Hallo!", rief Hermione zu einem Tisch am anderen Ende des Raumes hinüber. Da saß tatsächlich Padma Patil wieder bei den anderen drei Ravenclaws, als sei sie nie fort gewesen.
"Meine Eltern meinten, hier wären wir noch am sichersten", erklärte sie. "Parvati und ich sind erst heute früh angekommen."
Hagrid kam an Harrys Platz vorbei. Er trug eine riesige Schürze und Schutzhandschuhe, die bis zu den Oberarmen hinaufreichten. Durch sein Gesicht zog sich eine Strieme aus feinen, feuerroten Punkten.
"Totengräber!", flüsterte er Harry mit einem vielsagenden Blick zu. In der Tür stieß Ron mit ihm zusammen, der eben in die Klasse stürmte.
"Sind wir jetzt vollzählig?", sagte Professor Slughorn, der sich nun der Klasse zuwandte.
Ron setzte sich hastig neben Harry.
"Schön. Dann lassen Sie uns anfangen. Zuvor aber noch ein Wort zu dem Duft, der zweifellos die Nasen der Empfindlicheren unter uns reizen wird! Er entsteigt dem Kessel dort, und ich möchte Ihnen allen dringend raten, diesem nicht zu nahe zu kommen. Er enthält ein sehr unbekömmliches Gemisch. Leider hatte ich noch keine Gelegenheit, ihn an einem geeigneteren Ort unterzubringen."
"Hagrid muss die Quallen gemolken haben!", sagte Ron leise zu Harry. "Hast du die Strieme in seinem Gesicht gesehen?"
Harry nickte ein wenig abwesend, denn er hatte noch eine unangenehme Aufgabe vor sich. Er beschloss, es direkt hinter sich zu bringen, und meldete sich.
"Ja, Harry, was gibt es noch?"
"Haben Sie vielleicht noch ein Exemplar von Zaubertränke für Fortgeschrittene für mich? Ich – äh – habe meins – zu Hause gelassen."
Harry spürte, wie Hermione ihn von der Seite ansah. Slughorn zog die Augenbrauen hoch.
"Hm, wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich lässt, Harry, habe ich Ihnen bereits zu Beginn des letzten Schuljahrs mit einem alten Exemplar aus dem Schulbestand ausgeholfen! Aber Sie haben es ja zurückgegeben, nicht wahr? Ein ziemlich zerlesenes Stück, wenn ich mich recht erinnere – aber wer weiß, vielleicht hat der eifrige Vorbesitzer ja auch das ein oder andere Nützliche hineingeschrieben!"
Mit diesen Worten ging er zum Materialschrank und suchte dort in dem kleinen Stapel alter Bücher herum.
"Na also, da haben wir ihn ja! Libatius Borage!", sagte er zufrieden und hielt ein Buch hoch. "Wie es aussieht, ist es das Exemplar vom letzten Jahr."
Harry nahm das – wie er wusste – funkelnagelneue Buch im eselsohrigen und ziemlich schmierigen Einband von Snapes altem Tränkebuch entgegen und nickte ergeben.
"Du willst wirklich auf den Prinz verzichten?", fragte Hermione flüsternd.
"Für den absoluten Notfall habe ich ihn ja noch oben in meinem Koffer", erwiderte Harry finster.
"Wie Sie ja gestern schon von Professor Sprout gehört haben, werden wir uns zunächst mit der Aufbereitung und Verwendung von Nistlingsbeeren befassen. Da wird Ihnen der gute alte Borage keine Hilfe sein, denn wir wagen uns damit auf experimentelles Neuland. Ich bin sehr gespannt, zu welchen Ergebnissen wir miteinander kommen werden, und bedauere es nur, dass nicht mehr Schüler an diesem Unterricht teilnehmen. Wir werden zuerst einen einfachen kleinen Trank ausprobieren, dessen Rezept Ursula Ulcus im Zuge ihrer Forschungen auf dem Gebiet erarbeitet hat. Sie können den Trank wie einen Tee trinken und zum Beispiel – nun, schwierigen Gästen servieren. Wie ich höre, erfreut er sich im Zaubereiministerium schon einer beträchtlichen Beliebtheit. Er bewirkt Entspannung und hat insgesamt eine harmonisierende Wirkung."
Er holte ein großes Glasgefäß, das in einem mit Eis gefüllten Becken gestanden hatte.
"Hier sind die Beeren, die Sie gestern, zweifellos im Schweiße Ihres Angesichts, abgelesen haben. Jeder erhält nun eine kleine Menge, und dann wollen wir mal sehen, was Sie noch über die weiteren unabdingbaren Zutaten harmonisierender Tränke wissen. Ja, Miss Granger?"
Der Unterricht nahm seinen Lauf. Harry empfand kein besonderes Interesse für Nistlingsbeeren, obwohl ihm ein entspannender Trank eigentlich ganz gelegen gekommen wäre. Als er seine Gerätekiste geöffnet hatte, um eine Waage und einige Messlöffel herauszuholen, war ihm ein kleiner Pergamentfetzen entgegengesegelt. Als er ihn glättete, erschien darauf in feuerroter Schrift die wenig freundliche Zeile "Potter hau ab!"
Er sah sich um, ob ihn jemand beobachtet hatte, aber alle waren mit Auspacken und Abwiegen beschäftigt. Er knüllte den Zettel zusammen und steckte ihn ein.
Als sie am Ende der Stunde ihre Kessel spülten und die Utensilien wieder einpackten, klopfte es an der Tür, und Lupin trat ein. Er lächelte Harry, Ron und Hermione zu und ging dann zu Slughorn, der wieder vor dem stinkenden Kessel stand.
"Habt ihr gesehen, wie schlecht der aussieht?", fragte Ron ganz entsetzt.
"Es geht auf Vollmond zu", erklärte Hermione.
"Wartet nicht auf mich, ich muss noch mit ihm reden!", sagte Harry kurz entschlossen.
"Beeil dich aber! Sonst kommst du zu spät zu Verteidigung!"
Ron und Hermione verließen mit den anderen den Kerker, während Harry an seinem Tisch herumkramte und darauf wartete, dass Lupin und Slughorn ihr Gespräch beendeten. Als Slughorn in seinem kleinen Büro neben dem Kerker verschwand, nutzte Harry die Gelegenheit.
"Bist du länger hier in der Schule?"
"Ich hole mir gerade eine neue Portion vom Wolfsbann-Trank ab. Heute Nacht ist Vollmond. Die nächsten zwei bis drei Tage werde ich wohl überwiegend hier in einem Gästezimmer verbringen. Geht es dir gut?"
"Ich würde gern mit dir reden. Über eine ganze Menge Sachen, glaube ich. Aber vor allem über meine Eltern."
Lupins Lächeln verblasste. Ein sorgenvoller Ausdruck glitt über sein bleiches, übernächtigtes Gesicht.
"Was hältst du davon, wenn wir übermorgen einen Spaziergang um den See machen? Bis dahin bin ich wieder einigermaßen in Ordnung, und wir können uns in Ruhe unterhalten."
Harry nickte. Auf zwei Tage mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an.
"Ist sonst alles in Ordnung?", fragte Lupin noch.
"Klar", antwortete Harry und nahm seine Bücher. Angesichts Lupins fiebriger Augen hätte eigentlich er diese Frage stellen sollen.
Als Professor Slughorn mit einem dampfenden Becher wieder aus dem Büro kam, wandte Harry sich zum Gehen. Vor der Tür des Kerkers hörte er noch, wie Slughorn sagte: "Erstaunlich, das mit den Schirmzaubern, nicht wahr? Ich habe nicht die geringste Ahnung, wieso es nun auf einmal klappt, aber sie scheinen sich wieder zu verstärken. Wir müssen wohl doch endlich den richtigen Zauber gefunden haben."
"Es wäre allerdings beruhigender, wenn wir wüssten, welcher es war, der schließlich funktioniert hat", erwiderte Lupin.
Der erste Gedanke, der Harry auf seinem hastigen Weg zur Klassenraum für Verteidigung durch den Kopf ging, war: "Quidditch! Jetzt können wir wieder trainieren!"
oooOOOooo
Während die Schüler hereinkamen, sich setzten, in ihren Sachen kramten und Unterhaltungen zu Ende führten, saß Professor Harper hinter ihrem Pult und las. Sie trug einen dunkelroten, abgetragenen Wollpullover über dem schwarzen Rock und hielt einen großen dampfenden Becher in einer Hand. Mit der anderen brach sie hin und wieder ein Stück von einem ganzen Block Schokolade und biss ungeniert davon ab. Vor ihr stand eine verbeulte Kanne, aus der es heftig dampfte.
Harry setzte sich und wollte gerade Ron gegenüber die Vermutung äußern, dass auch Professor Harper möglicherweise einen Wolfsbann-Trank zu sich nahm, da stand sie auf, fegte die Schokoladenkrümel vom Tisch und setzte sich auf dessen Kante.
"Guten Morgen zusammen. Also, wer gibt mir eine kurze Zusammenfassung der letzten Stunde? Mr Longbottom?"
Neville, dessen Gesicht ein wenig verzerrt wirkte, weil seine linke Wange angeschwollen war, errötete wie immer, wenn er sprechen musste.
"Magische Waffen – es ging um Magische Waffen – wir werden in diesem Kurs lernen, eine zum persönlichen Gebrauch herzustellen. Es gibt Angriffs- und Verteidigungswaffen, aber wir werden nur eine Verteidigungswaffe herstellen."
"Etwas kurz, Mr Longbottom, aber korrekt. Macht Ihnen das Sprechen heute Schwierigkeiten?"
"Ein bisschen", murmelte Neville.
Ein leises Kichern ging durch die Reihen.
Harrys Blick war die ganze Zeit von Professor Harpers schweren, schwarzen Stiefeln gefesselt gewesen, die unter ihrem langen Rock hervorsahen. Sie sahen aus, als seien sie selbst recht geeignete Waffen. Als er jetzt ihr Gesicht sah, fiel ihm auf, wie bleich auch sie war. Noch ein Werwolf? fragte er sich wieder, allerdings nicht ganz im Ernst. Dann fiel sein Blick wieder auf die Schokolade, und die ließ ihn immer gleich an Dementoren denken.
"Verteidigungswaffen!", rief Professor Harper, stieß sich vom Tisch ab und begann, langsam vor ihnen und auf dem Gang zwischen den Bänken auf– und abzugehen, während sie sprach. Ihre Stiefel klangen, als seien die Sohlen mit Metall beschlagen. "Selbstverständlich stellen wir keine Angriffswaffen her. Und darüber sollten Sie froh sein, denn deren Herstellung erfordert Blut – Ihr Blut. Ich sagte ja, eine überwiegend Dunkle Kunst. Und wie in vielen Bereichen, die der schwarzen Magie angehören oder ihr doch nahe stehen, ist Blut ein wesentlicher Bestandteil des Zaubers. Unter anderem deshalb werden wir uns hier nur mit Verteidigungswaffen befassen. Ja, Miss Granger?"
"Wieso unser Blut? Ich dachte, in solchen Zaubern würde vor allem Tierblut verwendet?"
"Ja, in vielen Fällen wird auch Blut von Tieren – in erster Linie das von schwarzen Jungtieren – verwendet. Aber sehen Sie, eine Magische Waffe – und ganz besonders die, die zum Angriff gedacht ist – ist etwas Persönliches, ein Objekt, das sozusagen auf Sie persönlich geeicht sein soll. Ihre Kräfte sollen sich darin bündeln und zu voller Stärke kommen. Und wenn Sie ein Stück Ihrer Persönlichkeit auf ein Objekt übertragen wollen, ist die simpelste und zugleich profundeste Methode, das mit Ihrem Blut zu tun. Es ist nichts, was man leichtfertig tun sollte. Es bedeutet immer ein Risiko, wenn man etwas von sich selbst an ein Objekt weitergibt!"
Hermione sah Ron und Harry vielsagend an.
"Wie ist das mit den Zauberstäben? In denen sollen sich doch auch äh – unsere Kräfte bündeln und so. Aber da –"
"Der Zauberstab, Mr Thomas, wählt Sie – nicht umgekehrt! Ist Ihnen das nie bewusst geworden? Er wird angefertigt und ruht, bis zu dem Tag, an dem derjenige ihn berührt, zu dem er gehören will. Ein Zauberstab ist auf ganz andere Weise persönlich als eine Magische Waffe. Ich kann Ihnen zu diesem Thema ein Buch empfehlen, Zauberstab und Magische Waffe von Wanda Armiger, das übrigens auch Teil der prüfungsrelevanten Literatur ist ... Es ist recht erhellend!"
Sie war gerade wieder bei ihrem Pult angekommen und nutzte die Gelegenheit, ihren Becher nachzufüllen. Dann nahm sie das Gehen wieder auf.
"Aber nun zurück zum Thema. Verteidigungswaffen. Nun, wie die Angriffswaffe ist auch die, die der bloßen Verteidigung dienen soll, in einem gewissen Ausmaß persönlich auf Sie geeicht. Kurz gesagt, Sie wählen zur Herstellung ein Objekt aus, das alltäglich, möglichst unauffällig ist und das Sie stets bei sich tragen können. Wenn Sie eine gefühlsmäßige Bindung dazu haben oder etwas wählen, das in irgendeiner Weise einen vorrangigen Zug Ihrer Persönlichkeit ausdrückt, wäre das ziemlich hilfreich. Sie zum Beispiel – Mr Weasley, richtig? – was für ein Objekt würden Sie wählen?"
"Einen Springer. Eine Schachfigur", antwortete Ron prompt.
Professor Harper sah ihn erfreut und auch ein wenig überrascht an.
"Das klingt nach einer guten Idee. Demnach spielen Sie gern Schach?"
"Mhm!", nickte Ron, der über das Lob geradezu errötete.
Als Harper weiterging, tastete Harry in seiner Tasche nach dem Medaillon und nahm es heraus. Es war unauffällig, er trug es immer bei sich, und er hatte allerdings eine gefühlsmäßige Bindung dazu. Aber es schien ihm trotzdem nicht passend. Es gehörte nicht ihm, und es hatte eine böse Bedeutung. Und er wusste zu wenig darüber –
Zu spät bemerkte er, dass sich Professor Harper über ihn gebeugt hatte. Als er aufsah, erkannte er einen Moment lang echtes Entsetzen in ihrem Blick.
"Ich möchte Sie nach der Stunde in meinem Büro sprechen, Mr Potter", sagte sie ernst.
Er steckte das Medaillon rasch ein und reagierte nicht auf die fragenden Blicke von Ron und Hermione.
Der Rest der Stunde rauschte mehr oder weniger an ihm vorbei. So sehr er sich bemühte, er konnte sich nicht mehr konzentrieren. Ihm war klar, dass Professor Harper das Medaillon in seiner Hand gesehen hatte – und dass es für sie irgendetwas bedeuten musste. Das war umso rätselhafter, als er selbst an diesem Medaillon nichts Besonderes feststellen konnte.
Er hörte mit einem Ohr, wie es im Folgenden um Übertragungszauber und spezielle Tränke dafür ging, die ohne Blut auskamen; er sah Professor Harper mit einer gewissen Bewunderung dabei zu, wie sie in aller Ruhe ihren Unterricht fortsetzte, ihren Tee – oder was es auch sein mochte – trank und ihre Runden ging. Dabei hatte er sich nicht getäuscht, sie war eindeutig entsetzt gewesen, dieses Medaillon in seiner Hand zu sehen.
"Was will sie denn von dir?", fragte Ron leise, als sie am Ende der Stunde ihre Sachen zusammen packten.
"Keine Ahnung", sagte Harry ergeben. "Sie hat das Medaillon gesehen", fügte er flüsternd hinzu.
Hermione sah ihn besorgt an.
"Wir sehen uns später im Gemeinschaftsraum. Mach's gut, Harry", sagte sie, als sie neben Ron das Klassenzimmer verließ.
Professor Harper stand vor ihrem Pult und beobachtete ihn wachsam. Als alle hinausgegangen waren, griff sie nach Kanne und Becher und ging in ihr Büro.
Beklommen machte sich Harry auf, ihr zu folgen. Sie ging mit energischen Schritten voran und warf dann hinter Harry die Tür krachend ins Schloss. Sie winkte ihn lässig zu dem Stuhl, der vor ihrem Schreibtisch stand, ein unbequem aussehender alter Holzstuhl, der ganz offensichtlich für Besucher gedacht war. An der Wand hinter ihrem Schreibtisch, an dem Professor Harper jetzt selbst Platz nahm, sah Harry, wovon Hermione gesprochen hatte: einen länglichen Gegenstand, der dicht mit einem schwarzen Tuch verhängt war.
"Und jetzt, Mr Potter, erklären Sie mir bitte, woher Sie dieses Medaillon haben!", sagte sie, verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn erwartungsvoll und – wie Harry fand – auch ein wenig Unheil verkündend an.
"Professor Dumbledore hat es mir – äh, gegeben", antwortete Harry, der so wenig wie möglich über seine Unternehmungen mit Dumbledore preisgeben wollte. Harper sah ihn durchdringend an, dann lächelte sie überraschend.
"Da haben wir also eine richtige Patt–Situation. Aber da Sie Harry Potter sind, werde ich den Anfang machen, denke ich. Vielleicht hätte ich das schon früher tun sollen."
Harper machte eine Pause und schien zu überlegen, wie sie fortfahren sollte. Dann blickte sie Harry an.
"Ich habe dieses Medaillon selbst vor vielen Jahren gekauft", sagte sie schließlich zu Harrys größter Überraschung.
"Woher – ich meine, es sieht doch nicht außergewöhnlich aus – woran wollen Sie das also erkennen?"
"Sagen wir einfach, ich sehe es", war die düstere Antwort. "War – war etwas darin?"
Harry schwieg. Als die Stille lastend wurde, fragte sie mit einem Seufzer der Ungeduld: "Also gut, war ein Zettel darin – ein Brief?"
Sie konnte an Harrys fassungslosem Blick die Antwort wohl ablesen.
"Es war ein Brief an – an Lord Voldemort, richtig?"
"Wie können Sie das wissen? Oder lesen Sie meine Gedanken?"
"Nein, Mr Potter. Ich weiß es, weil ich denjenigen kannte, der diesen Brief geschrieben hat. Das weitaus größere Rätsel ist, wie ich finde, die Tatsache, dass Sie dieses Medaillon mitsamt dem Brief in den Händen halten. Soweit ich informiert bin, war es – nun sagen wir, eher unzugänglich aufbewahrt."
"Sie kannten ihn?"
Professor Harper gab plötzlich ein hilfloses Lachen von sich.
"In Ordnung, Mr Potter. So kommen wir nicht weiter. Ich werde Ihnen etwas zeigen, das uns vielleicht weiterbringen wird."
Sie zog eine dünne Kette aus ihrem Umhang hervor, an der ein winziger Adler aus Gold hing, dessen Augen mit Onyx eingelegt waren. Sie berührte ihn leicht mit ihrem Zauberstab. Ein blasser Nebel stieg daraus hervor und erfüllte den Raum um Harry und Professor Harper.
Als sich der Nebel langsam legte, schien sich der Raum um sie geweitet haben: Sie blickten auf eine felsige, unwirtliche Küste, die Harry sofort und mit einem tiefen Schaudern wieder erkannte. Hinter ihnen ragte die Steilwand unzugänglich in den hellen Morgenhimmel empor.
Vor ihnen kraxelten zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen von sechs, sieben Jahren über den schmalen Streifen aus heruntergebrochenen Felsbrocken, der die Klippen vom Meer trennte. Harry fragte sich flüchtig, wie die beiden die Steilwand heruntergekommen sein mochten.
"Jetzt kommt doch endlich!", rief eine Stimme von weiter vor ihnen, und ein schwarzer Haarschopf wurde über einem großen grauen Stein sichtbar. Harry erkannte sofort das gut geschnittene Gesicht von Tom Riddle, obwohl dieser hier höchstens zehn Jahre alt war. Er grinste.
"Hier vorne ist es schon!"
Als die Kinder ihn erreicht hatten, konnte auch Harry den dunklen Spalt in der Felswand sehen, durch den er schon einmal geschwommen war. Bei Flut war er, wie er wusste, bis weit über die Hälfte mit Wasser gefüllt, jetzt, bei Ebbe, schien man aber einigermaßen trockenen Fußes hineingelangen zu können.
"Ich find es unheimlich hier, Tom!", sagte das kleine Mädchen.
Der Junge sagte nichts, aber sein Blick war zweifelnd.
"Nun komm schon, Raggedy-Amy!", drängte Tom Riddle, nicht ohne einen verächtlichen Unterton. "Sei kein Feigling. So was seht ihr nie wieder!"
Zögernd folgten Amy und Dennis ihm in den schmalen Gang. Es war düster hier, aber Tom ging schnellen Schrittes voran.
"Hast du das gehört?", flüsterte Amy auf einmal und blieb stehen.
Atemlos lauschten die beiden Kinder. Das Rauschen der Brandung – da, da war es wieder! Eindeutig ein Stöhnen, dann ein kraftloser Aufschrei.
"He, ihr beiden! Es ist nicht mehr weit!"
Tom wandte sich zu ihnen um. In der Hand hielt er auf einmal eine brennende Fackel. Amy und Dennis stürzten hinter ihm her, um nur nicht allein zu sein. Als sie neben Tom stehen blieben, sahen sie im Licht der Fackel etwas, das zuerst wie ein Bündel Kleider aussah. Dann stöhnte das Bündel wieder. Mit schreckgeweiteten Augen sahen die Kinder Tom an.
"Er muss von den Felsen abgestürzt sein. Nur ein alter Landstreicher", sagte dieser. "Hat sich hier reingeschleppt, um vor der Flut sicher zu sein."
Jetzt erst sahen sie die dunkle Lache, die sich um den Körper gebildet hatte. Amy glaubte, das Blut riechen zu können. Und einen schärferen Geruch – Alkohol? Tom kicherte.
"Er hatte zwei Flaschen Rum in der Tasche. Leider auch kaputt. Aber ihr riecht es noch, oder?"
"Tom, wir müssen das unbedingt Mrs Cole sagen. Und der Polizei! Wir müssen ihn rausholen! Die Flut könnte ihn –"
"Natürlich wird ihn die Flut erreichen. Die Flut wird ihn da erreichen – in genau – siebenundvierzig Minuten. Ich habe es nachgemessen und berechnet."
"Dann müssen wir uns beeilen!"
"Du bist ein Idiot, Dennis! Der ist hinüber, glaub mir. Dem kann keiner mehr helfen. Aber wir –", Tom unterbrach sich und sah die beiden mit einem wilden, verschwörerischen Blick an, "wir können ihm Gesellschaft leisten. Wir können ihm zusehen, wie er stirbt! Vielleicht sehen wir, was passiert, wenn man stirbt!"
Die beiden starrten ihn entsetzt an.
"Was glotzt ihr denn so? Er ist nur irgendein alter Penner, und er kratzt sowieso ab! Wollt ihr etwa abhauen? Ich dachte, ihr seid nicht solche Pfeifen wie die anderen!"
"Aber wir können – können doch nicht einfach hier sitzen und –"
Die kleine Amy verstummte. Sie war ein wildes Kind, das in seinen sechs Lebensjahren schon einiges gesehen hatte. Sie bewunderte Tom, weil er vor nichts und niemandem Angst zu haben schien und immer nur das tat, was er wollte. Aber das hier – das hier war etwas anderes.
"Könnt ihr nicht? Was wollt ihr denn tun? Bis ihr die Cole erreicht, ist die Flut längst hier."
"Können wir ihn nicht rausziehen? Auf die Felsen draußen?", schlug Dennis vor.
"Ich laufe los!", sagte Amy entschlossen. "Ihr wisst, wie schnell ich rennen kann. Vielleicht treffe ich unterwegs –"
"Ich glaube nicht, dass du loslaufen wirst, Raggedy-Amy", sagte Tom ganz ruhig und sah sie an. Ein Schauer überlief sie.
"Was meinst du –"
"Sieh mal da!", sagte Tom und zeigte auf ihren rechten Fuß.
Amy sah hinunter und erstarrte. Eine kleine grüne Schlange mit einem schwarzen Muster auf dem Rücken schlängelte eben an ihrem Schuh hinauf. Sie kreischte.
"Sei lieber still, Amy! Ich kann ihr sagen, dass sie dich in Ruhe lassen soll."
"Mach sie weg!!"
"Bleib einfach stehen!"
"Nein! Tom! Hilf mir!"
Die Schlange glitt um ihren Fußknöchel. Die Berührung war offenbar zu viel für Amy. Sie trat nach der Schlange – und diese biss zu. Amys Schrei gellte in der Höhle wider. Sie fiel zu Boden, mit beiden Händen ihr Fußgelenk umklammernd. Als die Schlange wieder zubeißen wollte, ertönte ein lautes Zischen. Das Tier hielt mitten in der Bewegung inne und blickte mit hin- und herschwankendem Kopf in Toms Richtung. Tom gab noch einige zischende Laute von sich. Die Schlange glitt auf ihn zu, er hielt ihr seine Hand entgegen, und das Tier schlang sich um seinen Unterarm wie eine Katze, die gestreichelt werden will.
Dennis war an die Wand zurückgewichen. Tom hob seinen lächelnden Blick zu den beiden.
"Sie wird jetzt wieder verschwinden, nicht wahr?", sagte er, und gehorsam glitt die Schlange von seiner Hand zu Boden, schlängelte durch die Höhle und verschwand im Dunkeln. Dennis keuchte vor Entsetzen.
Amy saß zitternd auf dem feinen weißen Sand, der den Boden der Höhle bedeckte. Schweiß stand in großen Tropfen auf ihrer Stirn.
"Es tut so weh!", krächzte sie.
"Du wirst nicht sterben, Amy. Ich helfe dir", sagte Tom. "Aber vorher sehen wir dem Alten hier beim Sterben zu. Setzt euch zu mir, hierhin. Du auch, Dennis."
Das Wasser war in der Zwischenzeit unbemerkt fast bis zu ihnen herangekrochen.
Tom Riddle eilte leichtfüßig die Stufen hinauf, die zu einem höher gelegenen Teil der Höhle führten, wohin Harry mit Dumbledore hinaufgestiegen war. Damals waren sie von Wasser bedeckt gewesen.
Die drei Kinder kauerten sich auf der obersten Stufe nieder, direkt oberhalb der zerschlagenen Gestalt.
"Warum?", wagte Amy zu fragen. "Warum willst du das sehen, Tom?"
"Sag ich doch. Ich will wissen, was passiert, wenn man stirbt."
"Aber das war nicht alles", sagte Hekate Harper, die mit einer Handbewegung den blassen Nebel wieder über der Szene ausbreitete, "das begriff Amy trotz ihrer sechs Jahre und dem Schlangenbiss, der jetzt glühende Wellen des Schmerzes durch ihren Körper sandte."
Sie und Harry schienen jetzt irgendwo im Nichts zu stehen. Professor Harper, die ihm offenbar den Anblick der folgenden Szene ersparen wollte, redete langsam weiter, mit einer Stimme, als erzähle sie ein Märchen.
"Das Grausen der folgenden zwanzig Minuten, in denen das Wasser den Schwerverletzten erreichte und langsam bedeckte, ohne dass er fliehen konnte, konnten weder Amy noch Dennis je in ihrem Leben wieder vergessen, noch war es ihnen möglich, darüber zu sprechen. Das eisige Wasser brachte den Sterbenden so weit zu Bewusstsein, dass er sie bemerkte. Als er begriff, was geschah, versuchte er, sie um Hilfe zu bitten. Er konnte nicht begreifen, dass sie reglos dasaßen, kaum einen Meter über ihm, und ihm nicht einmal antworteten. Es gab keinen langen Todeskampf, nur ein paar krampfhafte rudernde Armbewegungen. Das Letzte, was Amy von ihm sah, war das verständnislose Entsetzen in seinen blutunterlaufenen Augen. Dann spülte das Wasser endgültig über ihn hinweg."
"Und jetzt, Raggedy-Amy, werden wir dich verarzten!", hörte Harry wieder Tom Riddles Stimme, in der ein schreckliches Vergnügen mitschwang.
Dann konnte Harry ihn auch wieder sehen.
Riddle beugte sich über Amys angeschwollenen Fuß, schob den schweren Schuh und den Wollstrumpf herunter und berührte die beiden winzigen dunklen Punkte in der roten Schwellung mit seinen Fingern. Dann beugte er sich darüber und saugte die Wunde aus. Als er ihren Fuß wieder losließ und mit dunkel glühenden Augen lächelnd zu ihr heraufsah, sagte er: "Ab jetzt seid ihr meine Diener und müsst immer tun, was ich euch sage!"
"Und obwohl das ein kindischer Befehl zu sein schien", mischte sich Professor Harper wieder ein, "fühlte Amy doch damals schon, dass viel mehr dahinter steckte."
Der Nebel hob sich, und sie standen wieder in Professor Harpers Büro.
"Woher wissen Sie das alles? Woher haben Sie diese – was war das überhaupt? Eine Erinnerung?", platzte Harry heraus.
"Es war eine Erinnerung, die letzte bedeutsame Erinnerung der betreffenden Person, die man – einsehen konnte. Alle weiteren Erinnerungen waren in ihrem Geist sozusagen verdeckt – von dem Bild eben dieses Medaillons! Die Erinnerung gehörte meiner Mutter", sagte Professor Harper leise. "Meiner Mutter Amy Benson."
"Raggedy-Amy Benson", sagte Harry wie in Trance. "R.A.B!"
"R.A.B.?", fragte Professor Harper. "War so der Brief unterzeichnet? Was für ein seltsamer Zufall."
Harry sah sie fragend an, begierig auf weitere Erklärungen.
"Lumpen-Amy, so wurde sie von den Kindern im Waisenhaus genannt. Gut möglich, dass der Name sogar von ihm stammte. Ich habe jedenfalls noch selbst gehört, wie er sie so anredete."
Harry sah wie elektrisiert auf. "Sie haben – Sie sind ihm begegnet? Ihm, Vold-, Tom Riddle?"
Harper betrachtete ihn ein wenig spöttisch.
"Das kann man so sagen, ja. Aber bevor ich weiterrede, möchte ich erst ein paar Dinge von Ihnen wissen, Mr Potter. Allem voran: Wie kommen Sie an das Medaillon? Und wollten Sie das etwa zu Ihrer Magischen Waffe machen?"
"Ich hab's ohnehin die ganze Zeit bei mir. Es ist so etwas wie eine Mahnung an mich selbst", sagte Harry ausweichend.
"Jedenfalls ist es ein magischer Gegenstand. Sehen Sie her."
Sie wischte mit dem Zauberstab über das Schmuckstück, das auf Harrys Handfläche lag. Und auf einmal schien es deutlich größer und schwerer zu sein und – Harry schrie auf. Das war doch unmöglich! Da war das schlangengleiche S der Slytherin auf der zuvor glatten goldenen Oberfläche.
"Nein", flüsterte Harry. "Dann war es doch nicht umsonst! Dann ist es doch das richtige –"
Er brach ab, die Gedanken wirbelten durch seinen Kopf wie ein Gewitter.
"Horcrux?", beendete Professor Harper seinen Satz leise. "Nein, Mr Potter. Unglücklicherweise ist es das nicht. Aber jetzt sind Sie mir noch einige Erklärungen mehr schuldig!"
Harry sah verwirrt von dem Medaillon auf, das so unerwartet genau das Aussehen angenommen hatte, das er damals in Dumbledores Denkarium gesehen hatte. Das Aussehen des Medaillons, das er um Merope Gaunts Hals hatte hängen sehen und später dann in Voldemorts eigener Hand, in dem überfüllten Zimmer jener unseligen Hepzibah Smith.
Einen Moment lang hatte er gehofft, Dumbledores letzter Ausflug hätte doch noch seinen Zweck erfüllt.
"Aber –"
Es klopfte an die Bürotür. Auf Harpers "Herein!" hin steckte eine Erstklässlerin den Kopf schüchtern durch den Türspalt.
"Direktor McGonagall möchte Sie sprechen, Professor Harper. Sie sagt, es ist dringend!"
Harper erhob sich widerwillig. Sie zögerte einen Moment, dann sagte sie: "In Ordnung, ich komme sofort. Mr Potter, wir werden dieses Gespräch so bald wie möglich fortsetzen! Inzwischen verwahren Sie dieses Medaillon sicher und sprechen Sie mit niemandem darüber!"
Als die Tür geöffnet worden war, hatte die Zugluft das Tuch um das Ding an der Wand leise bewegt und für einen Moment eine kleine Ecke davon freigelegt. Harry konnte einen Goldrahmen erkennen und ein Stück von einer Oberfläche, die in einem tiefen Bronzeton schimmerte. Es war ziemlich sicher ein Spiegel.
"Und hinaus mit Ihnen!", sagte Harper, die an der Tür stand.
Harry verließ langsam ihr Büro. Als er das Medaillon wieder in seine Tasche steckte, war er nicht einmal mehr besonders überrascht, als er sah, dass es wieder seine vorherige, unauffällige Gestalt angenommen hatte.
oooOOOooo
"R.A.B.?", fragte Ron mit weit aufgerissenen Augen eine halbe Stunde später im Gemeinschaftsraum. "Heißt das, das war ihre Mutter – diese Amy – wie hieß sie doch gleich?"
„Ja – ich weiß nicht", sagte Harry, der immer noch ganz durcheinander war. "Sie sagte so was wie – dass das ein seltsamer Zufall wäre oder so. Keine Ahnung, was sie meinte."
"Und sie sagte wirklich, sie hat das Medaillon selbst gekauft?", fragte Hermione. Sie saß an zwei zusammengeschobenen Tischen, vor sich einen Wust von beschriebenen Pergamentrollen, links und rechts davon je einen Bücherstapel. Auf dem Pergament, an dem sie eben geschrieben hatte, thronte ein gläserner Frosch, wie Harry feststellte. Ron hing in einem Sessel neben ihr und versuchte offensichtlich noch, Harrys Bericht zu verdauen.
"Das findest du das Bemerkenswerteste an der ganzen Geschichte?", fragte Harry. "Was hältst du denn von der Tatsache, dass unsere neue Lehrkraft für Verteidigung Voldemort persönlich kennt? Schlimmer noch, dass ihre Mutter so was wie seine allererste Dienerin gewesen ist?"
"Ob der Quibbler diesmal doch Recht hatte?", warf Ron ein und fing sich prompt einen bösen Blick von Hermione ein, die an ihrer Schreibfeder herumzupfte und nachdachte.
"Wenn sie das gefälschte Medaillon gekauft und anscheinend auch verzaubert hat, dann hat sie jedenfalls mit dem Verschwinden des echten Horcrux zu tun."
"Wer sagt uns, auf welcher Seite sie steht?" Harry musste diese Frage einfach stellen. "Sie hat mit Voldemort zu tun gehabt und lebt, gesund und munter! Und sie ist wieder mal eine vom Fach Verteidigung! Wie viele von denen hatten wir jetzt, für die die Dunklen Künste eindeutig interessanter waren als die Verteidigung dagegen?"
"Ich weiß, was du meinst, aber ist das nicht paranoid? Sie hat einen hervorragenden, internationalen Ruf, –"
"Genau, sie hat seit Jahren im Ausland gearbeitet und nie Interesse an Hogwarts gehabt – bis jetzt! Findet ihr das nicht verdächtig? Was will sie auf einmal hier?"
"– sogar das Ministerium vertraut ihr – McGonagall hat sie selbst eingestellt!", ließ sich Hermione nicht unterbrechen.
"Und Dumbledore hat Snape eingestellt! Und der Orden hat Snape auch aufgenommen! Wie naiv seid ihr denn eigentlich?"
Harry warf sich aufs Sofa.
"Nicht so laut!", sagte Hermione warnend.
In einer anderen Ecke des Raumes saß eine Gruppe von Viertklässlern, die Harry aufmerksam betrachteten. Einen Moment lang erwog Harry, seinen Freunden von dem anonymen Zettel zu erzählen, den er heute gefunden hatte. Dann erschien es ihm einfach zu läppisch. Was war schließlich schon neu daran, dass einige ihn lieber nicht hier gesehen hätten?
"Du kannst nicht jedem misstrauen! Professor Harper hat dir immerhin alles Mögliche erzählt – und nicht versucht, etwas aus dir rauszuholen", fuhr Hermione fort.
"Nur deshalb nicht, weil sie unterbrochen wurde!"
"Wenn du ihr misstraust, solltest du versuchen, Genaueres über sie herauszufinden! Sie war hier Schülerin, also gibt es Aufzeichnungen. Und Leute, die sie gekannt haben müssen, und so weiter. Streng dich doch mal selbst an und such in so langweiligen Sachen wie Zeitungsstapeln und alten Jahrbüchern – in der Bibliothek und auf dem Dachboden gibt es ganze Tonnen davon!"
Hermione klang auf einmal richtig wütend. Und Harry musste ihr Recht geben: Bisher hatte diese langweiligeren Aspekte immer sie selbst übernommen.
"Entschuldige, Hermione!", sagte er reumütig. "Du hast Recht. Du hattest übrigens auch Recht mit dem Spiegel an Professor Harpers Wand", setzte er leise hinzu. "Ich hab's eben gesehen, als der Wind das Tuch ein bisschen bewegt hat."
Er verschränkte die Arme unter dem Kopf und starrte an die Decke.
"Was soll ich bloß machen, wenn sie mich wieder sprechen will? Ich kann ihr auf keinen Fall erzählen, wie ich an das Medaillon gekommen bin!"
"Tja, das wird dann wohl dein erster Versuch in angewandter Okklumentik", sagte Ron.
"Hör mal, die ist ein hoch qualifizierter Legilimens –"
" – der nur gegen Bezahlung arbeitet, vergiss das nicht!"
"Was weiß ich, wer die bezahlt!"
"Ich glaube eher, dass sie ein persönliches Interesse an dem Ding hat, sie war doch anscheinend selbst beteiligt –", warf Hermione ein.
"Wenn es stimmt, was sie sagt! Du hast doch selbst gesagt, sie hätt' 'ne Leiche im Keller."
"Doch wohl kaum die ihrer Mutter", sagte Hermione nachdenklich. "Ist euch übrigens klar, dass ihre Geschichte von der Höhle –"
"Das war keine Geschichte, Hermione! Es war – wie im Denkarium. Ich war dabei!"
" – also diese Erinnerung, dass die Hagrids Geschichte von gestern stützt? Offenbar ist Voldemort immer wieder in diese Höhle gekommen, wenn er was Besonderes, etwas Rituelles machen wollte. Vielleicht war das, was die Harper dir da eben gezeigt hat, sozusagen das auslösende Erlebnis."
"Spielst du wieder Profiler?", fragte Harry grinsend, aber eigentlich bewunderte er Hermione dafür, dass sie immer auf den entscheidenden Punkt kam. "Du meinst, der hat die Horcruxe immer in der Höhle hergestellt?"
"Das wäre doch möglich! Ich bin übrigens ziemlich sicher, dass in Nachtwelten ein Ritual zur Horcrux-Herstellung beschrieben ist."
"Heißt das, du bist weitergekommen mit dem Latein?"
"Nicht so wahnsinnig weit", antwortete Hermione düster. "Sanguis, also 'Blut', ist so ziemlich das einzige Wort, das ich bisher in diesem Horcrux-Kapitel verstanden habe. Kommt auch oft genug vor! Aber seht euch das mal an."
Sie nahm den großen Band, auf dessen grauem Einband die Aufschrift Geschichte der Zauberei prangte, und blätterte von hinten nach vorne zurück. "Hier – wo ist es denn – ah, Hostia – Hortus – da ist es, Horcrux! Da!"
Sie beugten sich alle drei über die eng beschriebene Seite. Den breiten Rand zierten viele altertümlich gezeichnete Abbildungen. Hermiones Finger tippte auf ein Bild, das eine Gruppe von nackten Menschen zeigte, die in einem Kreis um einen Altar standen. Am Altar stand ein Mann, der in der erhobenen Hand ein Beil hielt. Mit der anderen Hand presste er einen Hahn auf den Altarstein. Diese Figur war als Einzige in dieser Gruppe bekleidet und trug einen bodenlangen, mit kryptischen Zeichen gemusterten Umhang und eine kronenartige Kopfbedeckung. Ihm gegenüber war ein anderer Mann mit einem Pokal in der Hand zu sehen.
"Kapiert ihr, was ich meine?"
Die beiden nickten. Da waren tatsächlich Parallelen zu Hagrids Bericht erkennbar. Der lange Textabschnitt neben dieser Abbildung trug die Überschrift Solvere.
"Das heißt einfach nur 'lösen'. Das kann ja alles Mögliche bedeuten", sagte Hermione.
"Steht denn kein Kommentar dabei? Ich dachte, Grindelwald hat den alten Text kommentiert", fragte Harry.
"Da steht nur, dass Slytherin sich hier offensichtlich auf noch ältere Textquellen aus dem Orient bezieht. Und so ein gelehrtes Blabla eben; Grindelwald geht offensichtlich davon aus, dass jeder Leser diesen Lateinkram versteht, und diskutiert in seinen Anmerkungen fast immer nur, woher Slytherin seine Texte haben könnte und was andere Texte sagen und so weiter."
"Dass ich von dir mal die Worte 'gelehrtes Blabla' hören würde, hätte ich nie gedacht", sagte Ron genussvoll.
"Ich finde, dass uns das hier aber schon weiterhilft", sagte Harry, der merkte, wie frustriert Hermione war. "Denkst du, da steht auch irgendwas darüber, wie man ein Horcrux vernichtet?"
Sie zuckte die Schultern.
"Gib mir noch ein paar Tage Zeit, Harry. Oder versuch's selbst mal mit dem Wörterbuch."
Plötzlich sah sie auf ihre Uhr und sprang auf.
"So spät schon! Tut mir leid, Leute! Ich muss zu Slughorn und meinen Aufsatz für die Stipendienkommission mit ihm besprechen", sagte sie, während sie mit hastigen Bewegungen ihre Rollen ordnete und zusammenraffte. Zum Schluss schlug sie Nachtwelten zu und schob es unter die anderen Bücher.
"Seh' ich dich nachher noch?", fragte Ron.
Sie streifte ihn mit einem verlegenen Blick.
"Ich muss heute unbedingt noch Zauberstab und Magische Waffe durchlesen. Ich weiß nicht, ob ich noch Zeit habe, Ron!"
"Seit Slughorn dich für dieses blöde Stipendium vorgeschlagen hat, hast du für nichts anderes mehr Zeit, merkst du das eigentlich?", sagte Ron so gereizt, dass Harry klar war, dass dieses Thema nicht zum ersten Mal diskutiert wurde.
"Bitte, Ron", stöhnte sie genervt. "Du weißt doch, wie wichtig das für mich ist. Lass uns jetzt nicht wieder davon anfangen!"
Und damit rauschte sie ab. Ron trat gegen den Stuhl, auf dem sie eben noch gesessen hatte.
"Sie geht mir aus dem Weg, Mann. Und das ist nicht nur wegen diesem Stipendium."
Er sah wütend und frustriert aus, und Harry hätte sich am liebsten verdrückt. Er musterte Ron verstohlen. Was war das nun wieder?
"Vielleicht liegt das daran, dass du – äh – auf ihren Gefühlen rumtrampelst?", wagte Harry zu sagen.
"Hä?"
"Ich sag nur Luna! Ehrlich, ich dachte, du willst – na ja, irgendwas mit ihr anfangen!"
"Das ist doch nur – okay, ich find sie – richtig nett – aber –"
"Ist ja auch egal. Geht mich nichts an", sagte Harry, dem das Gespräch peinlich wurde und der merkte, dass er selbst jetzt ziemlich gereizt war.
"Da hast du zwar verdammt Recht –", begann Ron. "Aber wo du schon mal dabei bist, kann ich dir ja auch was dazu sagen!"
"Nein, Mann, musst du nicht! Das ist eure Sache!"
"Du machst aber schon immer mal solche Andeutungen, dass du mich für einen unsensiblen Trottel hältst, oder? Also, die Wahrheit ist, dass Hermione mich abblitzen lässt. Seit Wochen. Du hast die ganze Spöttelei doch mitgekriegt. Ich sag dir, ich versteh das Hin und Her nicht und ich find's auch bescheuert. Aber ich seh' nicht ein, wieso ich immer der Idiot sein soll!"
Harry wand sich innerlich. Er wollte das einfach nicht hören.
"In Ordnung. Tut mir leid, wenn ich was Blödes gesagt hab. Ich geh jetzt Mittag essen – kommst du mit?"
oooOOOooo
Den ganzen Tag über wartete Harry darauf, dass Professor Harper ihn wieder zu sich bestellte. Aber nichts geschah. Am Nachmittag hatten sie noch Verwandlung bei Professor McGonagall, und danach verbrachte er eine Stunde in der Bibliothek und suchte ergebnislos nach einem Zauberspruch, mit dem man verschlossene Bücher öffnen konnte. Dann beschloss er, ein wenig über Hekate Harpers Schulvergangenheit nachzuforschen und fragte Madam Pince nach alten Jahrbüchern und Schulzeitungen. Sie sah ihn nur vernichtend an und erklärte, dass sie heute keine Zeit mehr habe, schon wieder im Archiv herumzuwühlen.
Abends hatte er alles gründlich satt und sehnte sich wieder heftig nach einem wilden Quidditch-Training. Er hatte halb und halb gehofft, dass McGonagall die Aufhebung des Quidditch-Verbotes verkünden würde, nachdem doch nun die Schirmzauber wieder funktionierten. Aber auch da kam nichts.
Als er mit Ron vom Abendessen zurückging, fragte er sich wieder einmal, was er eigentlich hier machte. In düstere Gedanken versunken folgte er Ron zum Gemeinschaftsraum der Gryffindors.
Als sie vor dem Porträt standen, fragte die Fette Dame geschäftsmäßig: "Wollen Sie auch wetten?"
Harry und Ron sahen, dass die Wand, vor der die Dame in ihrem Gemälde stand, neuerdings dicht beschrieben war. Daten und Namen, und Zahlen dazu.
"Wetten? Worauf denn?", fragte Harry verwirrt.
"Wann das Furunkel des jungen Neville platzen wird. Ich habe schon über vierzig Einsätze hier."
"Spinnen die eigentlich?", fragte Harry Ron. "Gibt's irgendwas, wovor die nicht zurückschrecken?"
"Äh – keine Ahnung."
"Oh, mit Ihrer Einschätzung – ja, genau, zehnter Oktober war das, nicht? – stehen Sie übrigens noch ganz allein da, Mr Weasley", sagte die Fette Dame. Harry schüttelte den Kopf.
"Ich wette da jedenfalls nicht drauf", sagte er.
"Auch gut", sagte die Dame zuckersüß. "Also, Passwort?"
"Nasenhaartrimmer", sagte Harry genervt.
"M–m!", lächelte die Dame und schüttelte den lockigen Kopf.
"Furunkelquetsche", murmelte Ron.
Das Porträt schwang auf, und die beiden stiegen ein.
"Er hat es doch selbst so gewollt, Harry! Der macht 'ne Forschungsarbeit draus. Warum sollen wir nicht ein bisschen Spaß dabei haben? Und gerade wir, im gleichen Schlafsaal mit ihm. Was, wenn das Ding nachts platzt, wenn er schläft? Vermutlich wachsen uns dann morgens schon allen die Blätter aus dem Gesicht!"
"Professor Sprout hat gesagt, es ist ungefährlich, wenn die Dinger einmal nisten!"
"Und woher will sie das so genau wissen?"
Drinnen war es voll und laut. Einige Zweitklässlerinnen übten zu dröhnender Radiomusik und unter endlosem Gekicher einen Tanz. In einer Ecke saß Hermione wieder an ihren Büchern und sah sehr genervt aus. Und auf der Fensterbank kauerte Neville und starrte in die zunehmende Dunkelheit hinaus. Harry ging zu ihm hinüber.
"Was macht die Backe?", fragte er.
"Schon okay. Es tut nicht weh."
"Wir dachten, das Biest wär' nur auf deinem Arm gelandet."
"Dachte ich auch. Hat sich aber anscheinend letzte Nacht anders entschieden. Inzwischen hat es übrigens vier Schluffer erwischt. Aber keine einzige Kröte. Der Nistling steht anscheinend nur auf Warmblüter."
Harry empfand eine gewisse Bewunderung für Nevilles Forschereifer.
"Trotzdem hält sich Trevor jetzt eindeutig fern von mir. Er haut jedes Mal ab, wenn ich ins Zimmer komme."
War das jemals anders? fragte sich Harry, der Nevilles Kröte Trevor nie anders als auf der Flucht erlebt hatte.
Dann sah er draußen den Mond über dem Verbotenen Wald aufgehen, riesig und hell und völlig rund. Lange tintenschwarze Wolkenbänder schwammen im dunkelnden Blau des Abendhimmels und schoben sich bald über die silberne Kugel.
Als der Lärm des Radios einmal aussetzte, glaubte Harry, vom Verbotenen Wald her das Heulen eines Wolfs zu hören. Es klang schaurig, nach Trauer und Einsamkeit.
