Kapitel 13
Lunatics
Der folgende Tag begann zwar in einer Hinsicht beruhigend, entwickelte sich dann aber mehr und mehr zu einer endlosen Reihe von vergeblichen Bemühungen.
Als Ron und Harry – ausnahmsweise einmal halbwegs pünktlich – zum Frühstück in die Halle kamen, war Professor McGonagall gerade dabei, einige Ankündigungen zu machen.
"Nach ihrer letzten Prüfung werden uns heute die ehemaligen Siebtklässler wieder verlassen", sagte sie mit einem Lächeln in die blassen, überarbeiteten Gesichter hier und da an den Tischen. "Wir alle hoffen sehr, dass wir Ihre Abschlussfeier zu einem günstigeren Zeitpunkt nachholen können."
"Du siehst beschissen aus, Mann", sagte Ron, als er sich an den Tisch setzte und eine Schüssel Rührei auf seinen Teller leerte.
"Ich hab kaum geschlafen", sagte Harry. "Hab dauernd überlegt, wie ich der Harper heut aus dem Weg gehen kann. Mir fällt eigentlich nur die Krankenstation als Lösung ein. Hast du vielleicht noch was von dem Nasch- und Schwänz-Kram?"
"Glaubst du, das Zeug verwahr' ich? Wenn ich das aus Versehen selbst esse – nee, danke."
Mit Appetit schaufelte er Ei und Speck auf Toast in sich hinein.
"Du kannscht doch scho tun als ob, oder? Isch mein, aufsch Klo werden schie dir kaum folgen, oder?"
"Hm", brummte Harry zweifelnd.
Ihm war klar, dass die Krankenstation auch keine wirkliche und vor allem keine dauerhafte Lösung seines Problems darstellte.
"Und die Drittklässler haben heute eine Freistunde", sagte Professor McGonagall gerade. "Verteidigung gegen die Dunklen Künste muss ausfallen, der Unterricht wird dann nächste Woche nachgeholt. Professor Harper wurde unerwartet ins Ministerium gerufen und kommt frühestens heute Abend zurück."
Harry fiel beinahe das Saftglas aus der Hand. Ron grinste ihn an.
"Das wird dein Glückstag heute!"
"Jetzt müsste sie nur noch verkünden, dass heute die Quidditch-Saison wieder startet!", sagte Harry inbrünstig.
Als hätte die Direktorin ihn gehört, fuhr sie fort:
"Wenn ich Ihnen auch glücklicherweise mitteilen kann, dass unsere Schutzzauber wieder voll funktionstüchtig sind, so ist doch über die Wiederaufnahme des Quidditch-Trainings noch nicht entschieden."
"Na ja. Man kann nicht alles haben", sagte Harry und machte sich daran, nun doch noch zu frühstücken.
Es war zwar nur ein Aufschub, aber selbst dafür war er dankbar. Er musste heute unbedingt etwas über Hekate Harper in Erfahrung bringen. Wenn sich irgendwie feststellen ließ, dass sie auf der richtigen Seite stand, konnte sie ihm wahrscheinlich ein ganzes Stück weiterhelfen. Zum Beispiel auch mit dem verdammten Black-Buch, das sich nicht öffnen lassen wollte.
"Wo bleibt eigentlich Hermione?", fragte Ron und sah sich am spärlich besetzten Gryffindor-Tisch um.
"Schätze, die ist schon weg. Wir haben nicht verpennt, aber früh sind wir auch nicht gerade", sagte Harry.
Mit einem Auge las er in Verwandlung für Fortgeschrittene, Bd. 2, während er sich bemühte, seinen Toast in drei Bissen herunterzuwürgen.
Als sie die Halle Minuten später verließen – Ron kaute noch immer – wurden sie von Luna überholt
"Hi, Harry! Danke für den Tipp mit dem Kiemenkraut! Ich hab mir jetzt welches besorgt", sagte sie mit einem freundlichen Lächeln.
"Hast du dir den Quatsch immer noch nicht aus dem Kopf geschlagen?", fragte Harry roh. "Wenn du 'nen richtig guten Tipp willst, dann bitte: Lass das sein mit dem Bad im See! Der ist wirklich gefährlich, vor allem nachts."
Aber Luna war schon weitergegangen und winkte ihnen über die Schulter noch mal zu. Harry schüttelte den Kopf.
"Der ist doch echt nicht zu helfen. Du solltest ihr mal klarmachen, was für ein Blödsinn das ist."
"Wieso ich?", fragte Ron entrüstet. "Die macht sowieso nur das, was sie für richtig hält."
oooOOOooo
Von da an wurde der Tag ein echter Durchhänger.
Harry handelte sich ein entrüstetes Schnauben von Professor McGonagall ein, als er das Modellhaus, an dem sie Raumverwandlungen übten, in ein Aquarium verwandelte, anstatt das Badezimmer zu vergrößern. Beim Versuch, die Sache richtigzustellen, entstand ein Vogelkäfig, und eine erstaunliche Menge grünliches Wasser ergoss sich klatschend durch die Käfigstangen – und natürlich über Harry.
In der Mittagspause ging er in die Bibliothek und bat Madam Pince erneut, einen Blick in das Archiv werfen zu dürfen, aber umsonst.
"Ich habe in wenigen Minuten eine Besprechung mit einem wichtigen Buchhändler. Ich muss jetzt schließen", sagte sie spitz.
Auch Harrys Versprechungen, nichts aus ihrer Bibliothek zu entwenden und im Archiv sitzen zu bleiben, bis sie wiederkam, halfen nichts.
Danach verbrachte er wieder einmal eine vergebliche halbe Stunde mit dem Versuch, das Black-Buch zu öffnen – er entwickelte allmählich echte Aggressionen dagegen und konnte sich nur mit Mühe so weit zügeln, dass er die kleinen Spiralschlangen des Verschlusses nicht einfach auseinander bog.
Zumindest schien Hermione mit ihrem Latein voranzukommen. Nachmittags vor Zaubersprüche flüsterte sie ihnen zu, dass sie ihnen später einiges zu berichten hätte.
Aber zuvor mussten sie noch zwei ziemlich unerfreuliche Stunden im Gewächshaus damit zubringen, sämtliche Schluffer einzufangen – um festzustellen, dass sich inzwischen bei allen irgendwo ein Nistling festgesetzt hatte – und danach die Kröten zu sammeln, die sich als vollkommen resistent gegen den Nistling erwiesen hatten. Hagrid ließ sie im Wald wieder frei, während die Schluffer im Gewächshaus blieben, wo sie bereits eifrig Tunnelröhren gegraben hatten.
Danach sollten sie die noch nicht geplatzten Nistlingsbeutel pflücken, eine Aufgabe, die bei Lavender einen Anfall von akuter Übelkeit auslöste und die eigentlich nur Neville in stoischer Ruhe in Angriff nahm.
Professor Sprout schimpfte und spottete und erklärte zum wiederholten Mal, dass sie unter der Schutzkleidung sicher seien, aber den meisten Schülern genügte ein Blick auf Nevilles bläulich angelaufene Hamsterbacke, um sie in der Überzeugung zu bestärken, sich stattdessen lieber für die weitere Ernte der Nistlingsbeeren zu melden.
Als sie endlich erschöpft und verschwitzt aus dem Gewächshaus kamen, war es schon fast Zeit fürs Abendessen.
Harry war allmählich ganz verzweifelt, weil ihm immer noch keine Möglichkeit einfiel, sich über Harper zu informieren oder sich vor ihrer drohenden Befragung zu drücken. So eilte er, kurz bevor die Bibliothek geschlossen wurde, extra noch einmal hinüber in der Hoffnung, Madam Pince könnte ihre Meinung geändert haben oder angesichts des nahenden Feierabends in freundlicherer Stimmung sein – aber umsonst. Sie sah ihn nur grimmig an und erklärte, dass sie jetzt schließen würde.
Auf dem Rückweg kam Harry am Lehrerzimmer vorbei, dessen Tür offen stand. Er sah Professor Slughorn und Lupin zusammen an einem kleinen Tisch sitzen, offenbar in eine entspannte Unterhaltung vertieft. Als Lupin ihn sah, lächelte er.
"Bis morgen Nachmittag dann, Harry!", rief er ihm zu.
Harry überlegte flüchtig, ob er nicht Lupin morgen das Black-Buch vorlegen sollte. Er konnte es sicher öffnen. Aber er verwarf die Idee. Er hatte Angst, die Sache könnte ihm wieder einmal aus der Hand genommen werden, und er hatte inzwischen jede Art von Bevormundung gründlich satt, mochte sie noch so wohlmeinend sein.
Also grüßte er ebenfalls und ging dann eilig weiter. Der Wolfsbann-Trank schien jedenfalls gut zu wirken.
Beim Abendessen beschloss er, nachts unter dem Tarnumhang in die Bibliothek zu gehen und sich die entsprechenden Bücher selbst zu beschaffen. Es musste einfach irgendwas geben.
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Später saßen sie im Gemeinschaftsraum.
"Also, hört zu", sagte Hermione leise. "Ich weiß jetzt, was der Typ auf der Abbildung da in seinem Pokal hat. Es ist ein Zeug namens Zwietrank. Jedenfalls nennt Grindelwald es so. Er schreibt hier im Kommentar kurz und knapp, dass Salazar für den Zwietrank den Gespaltenen Feuerröhrling empfiehlt, während ältere Quellen den Hundsmorchel vorschlagen."
Ron und Harry sahen sie an und warteten auf mehr. Ungeduldig zog sie ihr zerlesenes Exemplar von Spores Tausend Zauberkräuter und -pilze aus dem Stapel hervor.
"Hier: Der Gespaltene Feuerröhrling – wächst nur auf Waldboden – blabla – hat starke euphorisierende Wirkung, wird für halluzinogene Tränke verwendet, gelegentlich in der Heilkunde empfohlen, vor allem aber in der schwarzen Magie beliebt. Beschleunigt den Puls und die Atemfrequenz, starkes Schwitzen und Übelkeit sind die gewöhnlichen Begleiterscheinungen bei Genuss." – Das passt doch gut, oder?"
"Aber wozu ist dieser Trank denn nun gut?", fragte Ron.
"Dazu hab ich bisher nur 'ne Theorie. Aber er kommt hier im Abschnitt mit der Überschrift Lösen vor, er ist sicher das Getränk, das der Mann da trinkt", sagte Hermione, enttäuscht über den Mangel an Begeisterung, und tippte auf die Abbildung, die sie sich gestern angesehen hatten: den Mann mit dem Pokal in der Hand.
"Meinst du, das ist der, der das Horcrux haben will – der Mörder also?", fragte Ron unbehaglich. "Und wer ist dann der andere, der im Mantel?"
"Ich vermute, so eine Art – Ritualmeister. Wenn dieser Trank – halluzinogen oder so wirkt, wäre es ja auch nur sinnvoll, wenn ein anderer das Ritual durchführt."
"Aber in Hagrids Geschichte von der Höhle kam kein Ritualmeister vor", sagte Harry.
"Er hat aber auch gesagt, dass Riddle was getrunken hat. Und das Mädchen musste das Tier töten, oder?"
"Das stimmt", bestätigte Harry.
"Und es war doch wohl sein erstes Horcrux. Er hatte ja noch keinen Club von Todessern um sich rum. Aber ich hab mir was zu diesem Zwietrank überlegt", sagte sie und sah sie triumphierend an. "Dieser Ritualschritt heißt ja offenbar 'Lösen'. Also, vielleicht braucht man den Trank, um dieses Seelenstück irgendwie aus der Person rauszulösen! Vielleicht heißt der deshalb auch Zwietrank, weil er sozusagen etwas spaltet, zu zweien macht, versteht ihr?"
"So sieht übrigens auch dieser Pilz aus", sagte Ron und gähnte kieferausrenkend. "Wie zwei Kartoffeln, die in der Mitte aneinander gewachsen sind. Oder die's nicht ganz geschafft haben, sich zu trennen. Oder so was."
Irgendwie war das in diesem Zusammenhang komisch, und sie kicherten.
"Der nächste Abschnitt heißt übrigens 'Übertragen'", fuhr Hermione dann fort. "Ich vermute jetzt einfach mal, dass da drin beschrieben wird, wie man das herausgelöste Seelenteil auf – auf irgendein Objekt überträgt. Ein Objekt, das dadurch zum Horcrux wird. Das ergibt doch einen Sinn, oder?"
"Ja, das klingt gut!", stimmte Harry zu.
Nur hilft es mir nicht, die speziellen Horcruxe zu finden oder zu vernichten, um die es hier geht, dachte er, aber er sagte es nicht. Hermione sah so begeistert aus.
"Was kommt denn noch da rein, hast du da schon was rausgekriegt?", fragte er stattdessen etwas lahm.
"Äh – wenn ich das richtig verstanden habe, unter anderem Haar und vielleicht auch abgeschnittene Fingernägel. Anscheinend werden sie vorher verbrannt", sagte sie und verzog das Gesicht. "Aber das kommt in der schwarzen Magie oft vor. Solche Sachen gelten als Teil der Person, für – oder gegen – die das Ritual gemacht wird. Meistens wird –"
"Blut genommen", ergänzte Ron und gähnte wieder.
"Genau", sagte Hermione überrascht.
"Das hat doch die Harper gestern in Verteidigung gesagt. Wetten, dass wir für die Herstellung unserer Waffen auch Haare oder Fingernägel brauchen?"
"Das erinnert mich daran, dass ich jetzt unbedingt noch Hausaufgaben machen muss", sagte Hermione mit einem nervösen Blick auf die Uhr.
"Wir auch", sagte Harry, und Ron nickte. "Aber du bist wirklich weitergekommen. Gute Ideen!"
Hermione lächelte erfreut, während sie sich zu ihr um den Tisch setzten und ihre Bücher und Pergamentrollen hervorkramten.
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An diesem Abend war es glücklicherweise sehr viel ruhiger im Gemeinschaftsraum. Harry hatte trotzdem Schwierigkeiten, sich auf den Aufsatz für Professor McGonagall zu konzentrieren. Zu allem anderen geisterte heute auch noch der Gedanke an Ginny drängend durch sein Hirn. Er musste ihr endlich antworten – kaum zu glauben, dass er das überhaupt bis jetzt vor sich her geschoben hatte!
Aber als er nun endlich vor der leeren Pergamentrolle saß, wollte und wollte ihm nichts Passendes einfallen.
"Wisst ihr, ob die Eulen eigentlich bis Frankreich durchkommen?", fragte er schließlich.
"Wenn du lang genug wartest. Du kannst aber auch den Express-Service nehmen, dann fliegt Hedwig bis zur nächsten Station, dort kriegt eine andere Eule deinen Brief und fliegt weiter – und so weiter", antwortete Hermione und sah von ihrem Buch auf. "Schreibst du endlich an Ginny?"
"Also hör mal, wir sind noch nicht mal 'ne Woche hier!", verteidigte sich Harry mit schlechtem Gewissen. "Und es war 'ne Menge los!"
"Ich mein' ja nur", sagte Hermione. "Ich wette, Ginny wartet schon die ganze Zeit."
"Ich wette, die hat schon längst was mit diesem Etienne angefangen", warf Ron düster ein. "Tschuldige, Harry. Aber ich fand's schon seltsam, wie sie sich erst so geweigert hat, nach Beauxbatons zu gehen, und dann, kaum dass sie diesen Typ gesehen hatte, konnte sie gar nicht schnell genug nach Frankreich."
"Ich würde ja sagen, dass das wieder mal ein Problem deiner Sichtweise ist", sagte Hermione spitz. "Ich glaub kaum, dass Ginny Harry schon vergessen hat!"
Harry hörte ihrem Geplänkel nur mit einem Ohr zu. Er war selbst überrascht über sein Verhalten. Als er Ginnys Brief erhalten hatte, hatte er eigentlich sofort zurückschreiben wollen. Und jetzt konnte er sich nicht einmal erinnern, was er ihr da hatte sagen wollen.
Er saß da, starrte auf die Pergamentrolle und versuchte sich daran zu erinnern, wie es mit Ginny gewesen war – damals. Vor einer Ewigkeit.
Eine Weile war es still.
"Ron? Ist alles in Ordnung?", sagte Hermione auf einmal alarmiert.
Harry sah auf. Ron saß da, den Kopf in die Hände gestützt, und starrte mit glasigen Augen vor sich hin.
"Oh nein! Glaubst du, er kriegt wieder so einen – so einen Anfall?"
"Anfall? Wer kriegt 'nen Anfall?", fragte Dean, der eben an ihnen vorbeigehen wollte.
"Ron! Kannst du uns hören? Mann, er reagiert nicht mehr!"
"Wir müssen seine Tropfen finden. Hoffentlich sind die in seinem Koffer!", sagte Harry und rannte los in den Schlafsaal.
Im Gemeinschaftsraum bildete sich derweil ein ganzer Kreis um Ron und Hermione, die immer noch versuchte, ihn zu wecken. Lavender stand jammernd neben ihr und warf ihr böse Blicke zu, während sie Rons Hand tätschelte. Aber Ron verpasste diesen erhebenden Augenblick, in dem er endlich einmal unangefochten im Mittelpunkt des Interesses stand, und starrte nur weiter vor sich hin.
"Das ist doch ein Scherz!", rief Seamus. "Der tut doch nur so!"
"Nein! Er hatte in den Ferien so 'ne Art – magischen Unfall. Und wir hatten schon gehofft, dass es nicht mehr wiederkommt!"
"Sollten wir nicht Madam Pomfrey rufen?", fragte Neville besorgt, dessen Aussprache inzwischen ein wenig undeutlich wurde.
"Er hat Tropfen dagegen verschrieben bekommen", erwiderte Hermione. "Wir warten erst mal ab, ob die helfen."
Da kam Harry auch schon zurück. Er hatte Rons chaotischen Koffer kurzerhand auf den Boden ausgeleert und tatsächlich die Flasche mit den Tropfen gefunden, nachdem sie aus einem Schuh gerollt war.
Sie flößten ihm fünfzehn Tropfen ein, die Höchstdosis, die die Heilerin Melanie Raeburn ihm verordnet hatte. Dann warteten sie gespannt. Nach einer Weile schien Ron sich zu entspannen, der glasige Ausdruck verschwand aus seinen Augen – er gähnte.
Hermione atmete auf. Lavender küsste ihn zur allgemeinen Begeisterung auf die Stirn. Das brachte ihn kurzfristig zu sich.
"Soll 'n das?", nuschelte er. "Schgehschlafen."
Und ohne sich um das Gekicher um ihn herum zu kümmern, ging er wie ein Schlafwandler zum Jungenschlafsaal hinüber.
"Ob alles klar ist mit ihm?", fragte Harry.
"Ich hau mich jetzt auch hin", sagte Neville. "Dann hab ich 'n Auge auf ihn."
Seine linke Backe zeigte nun eine deutliche Schwellung in bläulicher Färbung. Harry konnte kaum hinsehen. Wenn er an das Gezappel in den Nistlingsbeuteln im Gewächshaus dachte, überkam ihn der Ekel.
"Danke, Neville! Ich muss nämlich eigentlich noch 'ne Menge Hausaufgaben erledigen."
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Es wurde spät, und irgendwann saßen nur noch Harry, Hermione und ein einsamer Fünftklässler im Gemeinschaftsraum.
"Prüfungspanik", flüsterte Hermione mit einem vielsagenden Blick auf den gebeugten Rücken.
"Das Schuljahr hat doch gerade erst angefangen!"
"Glaub mir, ich kenne die Anzeichen! Das ist die Krankheit des ZAG–Jahres", sagte sie düster.
"Quatsch, der ist eingeschlafen!", sagte Harry. Und dann hörten sie beide ein lautes Aufschnarchen und grinsten sich an.
Dann seufzte Harry und beschloss, Hermione in seine Pläne einzuweihen.
"Ich muss heute unbedingt noch was über die Harper rauskriegen. Ich kriege ganz sicher keinen weiteren Tag Aufschub – morgen ist sie wieder da, und ich wette, das Erste, was sie tut, ist, mich in ihr Büro zu bestellen. Und ich muss einfach wissen, was ich von ihr halten soll."
"Was hast du denn vor? Und wieso hast du's nicht mal in der Bibliothek versucht – ehrlich, die ist total nützlich!"
"Glaub ich ja. Aber Madam Pince hat mich gefressen, spätestens seit sie mich beim Schokolade-Essen in ihren heiligen Hallen erwischt hat – echt nachtragend, die Frau. Jedenfalls schaltet sie jedes Mal auf stur, wenn sie mich sieht. Sie hat mir erklärt, es seien bereits zu viele Jahrbücher ausgeliehen – wohl an Luna, vermute ich, und sie könnte nicht mehr auf einmal aus dem Archiv holen."
Er schnaubte frustriert. Es war unglaublich, woran wirklich wichtige Dinge manchmal scheitern konnten.
"Ich werde mich heut Nacht da mal mit Tarnumhang umsehen. Ist ja nicht das erste Mal."
"Ich komme mit", sagte sie entschlossen. "Ich find' die Bücher bestimmt schneller als du."
Harry wusste nicht, ob er sich freuen oder genervt sein sollte.
"Wir passen kaum beide unter den Tarnumhang."
"Wenn wir erst mal in der Bibliothek sind, brauchen wir den doch nicht mehr."
"Vielleicht – vielleicht sollten wir auch gleich einen Besuch in Harpers Büro machen", überlegte Harry. "Unter dieses Tuch sehen, zum Beispiel."
"Erst in die Bibliothek! Ich weiß nicht – in ein Lehrerbüro – wenn sie uns da erwischen –!"
"Also komm, dann zuerst in die Bibliothek. Lass uns gehen!"
Harry wollte wenigstens einmal an diesem Tag einen Erfolg verbuchen. "Hoffentlich schläft Filch tief und fest. Oh, ich seh' noch mal nach Ron!", fiel ihm dabei ein, und er hastete in seinen Schlafsaal.
Dort lagen Neville, Ron, Dean und Seamus und schliefen. Ron war wie üblich in ein Chaos aus Decken und Kissen verwickelt und atmete tief und ruhig, und Harry war beruhigt. Als er zurück in den Gemeinschaftsraum kam, stand Hermione am Fenster und sah hinaus.
"Hast du gesehen? Es ist völlig klar draußen – und total hell! Der Mond steht genau über dem Schloss."
Einen Moment lang sahen sie beide wie gebannt in die Nacht hinaus. Die tiefe Stille und das bläuliche Mondlicht über allem – Harry kam es so vor, als könnte er sogar von hier aus jedes einzelne Blatt drüben am Waldrand sehen.
"Da! Ist das Krummbein?", fragte er dann.
"Bestimmt! Ja, ich bin ziemlich sicher. Er ist in diesen hellen Nächten immer draußen", sagte Hermione, immer noch ganz in den Anblick der mit Mondlicht übergossenen Landschaft versunken.
Harry beobachtete, wie der große Kater ziemlich elegant über einen Dachfirst des Ravenclaw-Hauses ging.
"Jetzt komm schon, wenn du mit willst", sagte er dann wenig charmant und zerrte den Tarnumhang aus seiner Tasche. Die Angewohnheit, ihn ständig bei sich zu tragen, hatte er noch nicht aufgegeben.
Hermione wandte sich vom Fenster ab, verpasste ihm einen kleinen Boxhieb in die Rippen und zog sich dann eine Ecke des Tarnumhangs über den Kopf.
"Ob man da nicht mal was dran nähen kann?", fragte sie, als sie versuchte, so viel wie möglich von sich darunter zu verstecken.
"Wenn man das könnte, Hermione", erwiderte Harry mit unbezwinglicher Logik, "dann könntest du dir gleich einen eigenen nähen! Und stopf deine Haare in deinen Kragen oder was, ich krieg sie ständig ins Gesicht!"
Einen Moment lang glaubte er, einen Ausdruck der Verletztheit über ihr Gesicht gehen zu sehen, als sie sich unter dem Umhang ansahen. Aber dann wandte sie sich ab, und sie gingen los.
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Es war sehr still im Haus. Aus den Gemälden neben den Treppen und in den Gängen hörte man allenfalls leise Schlafgeräusche. Nur in einem Bild, das ein mit Büchern voll gestopftes Studierzimmer zeigte, hatte sich um den Schreibtisch eine Runde älterer Zauberer und Hexen niedergelassen und spielte unter ziemlich angetrunkenem Gelächter und lautem Gejohle ein Kartenspiel. Die Pergamentrollen, die zweifellos auf dem Tisch gelegen hatten, waren achtlos auf dem Fußboden verstreut. Die beiden Bewohner der benachbarten Porträts sahen dem Treiben mit indigniertem Schweigen zu.
Sie kamen ohne Schwierigkeiten in die Bibliothek, wo sie sich nach einem prüfenden Blick in alle Gänge und Ecken mit einem Seufzer der Erleichterung den Umhang von den Köpfen rissen. Im schwachen Licht ihrer Zauberstäbe gingen sie weiter.
"Das Archiv ist hier hinten. Zumindest das kleine, und darin sind die Jahrbücher der letzten vierzig Jahre, glaube ich", sagte Hermione leise und ging voran durch die stummen Reihen mit Bücherregalen, vorbei an dem Bereich mit den verbotenen Büchern. Sie öffneten eine Tür und betraten einen dunklen, fensterlosen Raum, dessen Wände allesamt vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen voll gestellt waren. Zusätzlich stand im hinteren Bereich eine Reihe von Kisten, die ebenfalls mit Büchern gefüllt waren. In der Regalreihe, zu der Hermione jetzt zielstrebig ging, klafften große Lücken.
"Mann, Luna hat sich ja wirklich 'ne Menge ausgeliehen! Was hat die vor? Will die unsere kompletten Stammbäume anhand der Jahrbücher rekonstruieren?"
Ihre Augen glitten über die nach Jahren sortierten Bücher.
"Was glaubst du, wann die Harper hier ihren Abschluss gemacht hat?"
"Das weiß ich sogar. 1980. Im Herbst ist sie dann nach Padua gegangen."
"Na super. Dann brauchen wir ja nur noch das Buch von 1980."
"Und hier ist es! 1980 bis '84!", triumphierte Hermione.
"Ist das von 1978 auch da?", fragte Harry, dem plötzlich der Gedanke kam, dass er seine Eltern auch gleich nachschlagen könnte.
"Nein. Tut mir leid."
Sie gab ihm den Band mit Jahrbüchern, und er setzte sich, um im Licht seines Zauberstabs den Eintrag über Hekate Harper zu suchen.
Einige kurze Zeilen gaben für jeden Schüler Geburtsdatum, Haus und Namen der Eltern an, darunter folgte eine mehr oder weniger geschmackvolle persönliche Würdigung durch die Mitschüler. Harrys Augen huschten über die Seiten, bis sie endlich bei dem gesuchten Namen hängen blieben.
"Hier, ich hab's!", zischte er Hermione zu. Sie las über seine Schulter mit.
"Hekate Harper, geboren 24. März 1962, Ravenclaw. Eltern: Amy und Jeremiah Harper (verstorben)." lasen sie, und darunter:
"Heil Hekate – unserer Meisterdiebin!
Wir wissen, dass du diese Bezeichnung als Ehrentitel ansehen wirst, und so ist er auch gemeint, sonst würden wir ihn hier nicht erwähnen!
Quidditch war zwar nicht dein Ding, aber du hast seine Bedeutung erkannt und den Goldenen Schnatz geklaut, als Ravenclaws Sucher Anthony Gregorian vor dem entscheidenden Spiel die Magen-Darm-Grippe kriegte! Und nachdem Ravenclaw über Slytherin gesiegt hatte, hast du die Umhänge der Slytherin-Mannschaft an den Astronomie-Turm gebunden. Unbestätigten Gerüchten zufolge ist dir im dritten Jahr auch Professor Cassanders Wahrsagekugel zum Opfer gefallen – sie hat sie nie wieder gefunden ... Die Liste ließe sich noch eine Weile fortsetzen, aber wir wollen es hierbei mal bewenden lassen.
Du hast uns oft zum Lachen gebracht und mit ausgerissenen Umhangsäumen und knielangen Wollpullovern einige neue Modetrends kreiert.
Es ist dir außerdem gelungen, über deine Eltern und dein Zuhause so viele widersprüchliche, um nicht zu sagen fantastische Gerüchte in die Welt zu setzen, dass niemand weiß, ob du nun die Tochter ausländischer Auroren, britischer Gewohnheitsdiebe oder schlicht von Muggeln aus Übersee bist. Wir können nur vermuten, dass die Wahrheit irgendwo dazwischen liegt.
Aber wir wollen dich angemessen würdigen und deshalb noch ausdrücklich deine überragenden Leistungen in Verteidigung und Zaubertränke erwähnen. Professor Slughorn hat dich für ein Stipendium im Ausland empfohlen, und wir prophezeien dir eine große Zukunft – vor allem, wenn du dein Hobby zum Beruf machen solltest!"
"Na toll", sagte Harry. "Meisterdiebin! Das ist wirklich Vertrauen erweckend."
"Ob die in Jahrbüchern immer so einen Blödsinn über einen schreiben?" Hermione rümpfte die Nase. "Dann will ich gar nicht wissen, was Luna über uns verzapft."
"Gebracht hat uns das jetzt aber gar nichts."
"Was hast du erwartet? Schloss sich nach der Schule den Todessern an – oder so?"
"Sie ist kein Todesser. Ich habe ihre Arme gesehen. Kein Dunkles Mal."
"Gib noch mal her", sagte Hermione und nahm ihm das Buch weg.
"Stehen eigentlich ihre eigenen Bücher – diese Sache mit dem Dementor und so – auch hier?"
"Klar. Da musst du aber drüben in der Bibliothek suchen", murmelte sie, während sie blätterte.
Harry ging in die Bibliothek zurück. Hier erhellte der Mond die Gänge zwischen den Regalen am Fenster wenigstens ein bisschen. Er ging zum Fenster und überlegte, wo er wohl am sinnvollsten mit der Suche beginnen sollte. Da stand Hermione schon wieder in der Tür.
"Guck mal hier, die Harper war mit Regulus Black in einer Klasse! Das war doch der Bruder von Sirius, oder?"
"Ja! Zeig mal her!"
Sie wollten sich gerade auf die Fensterbank setzen und das Mondlicht zum Lesen nutzen, als Hermione mitten in der Bewegung innehielt.
"Harry, sieh mal da! Da ist doch jemand im See –!"
Er sah ebenfalls hinaus. Der See lag glänzend im Licht des Mondes, und so war die Bewegung auf der ansonsten spiegelglatten Fläche auch von hier aus deutlich erkennbar.
"Luna!", sprach er aus, was sie beide dachten. "Oh Mann, ich dachte, sie hätte sich den Quatsch aus dem Kopf geschlagen! Außerdem war doch gestern Vollmond, oder?"
"Dachte ich auch. Vielleicht war es letzte Nacht zu bewölkt?"
"Los komm, wir müssen sie unbedingt da raus holen! Oder wenigstens da sein, wenn sie Hilfe braucht. Und die braucht sie bestimmt bald!"
Hermione stellte widerwillig das Buch zurück, schloss die Archivtür und dann rannten sie los, wieder unter dem Tarnumhang versteckt.
oooOOOooo
Als sie vor das Tor traten und vorsichtig die Schlosstreppe hinuntergingen, betraten sie eine fremde Welt aus schwarzen Schatten und bläulichem Licht, das wie eine leuchtende Flüssigkeit über allem lag. Die Helligkeit war wie ein seltsamer Tag mitten in der Nacht oder wie das Tageslicht auf einem fremden, sonnenfernen Planeten.
Der Verstand, mit dem er Minuten zuvor noch Bücher gelesen hatte, war ausgeschaltet oder doch zumindest überlagert von einer Auffassungsgabe, die viel tiefer, viel umfassender zu sein schien. Dies war keine verwunschene, romantische Mondnacht, sondern etwas Urtümliches, Unheimliches, etwas Fremdes, und das hatte nichts mit Zauberei zu tun.
Auch Hermione schwieg,
Er fühlte sich zugleich beklommen und aufgeregt, alle seine Nerven waren hellwach und angespannt, seine Haut schien zu prickeln. Der Duft des Waldbodens und der welkenden Blätter, der irgendwie grünliche Geruch des ruhenden Sees – all das hatte er tagsüber nie so intensiv erlebt. Flüchtig fragte er sich, ob die Tiere, die nachts jagten – und gejagt wurden – auch so empfanden.
Als sie vom Wald her ein lang gezogenes Heulen hörten, stellten sich seine Nackenhaare auf. Lupin, dachte er und war sicher, dass Hermione auch an ihn dachte, aber sie sprachen es nicht aus.
Als sie das Seeufer erreichten, konnten sie die Gestalt des Schwimmers deutlich sehen. Aus irgendeinem Grund scheuten sie davor zurück, sie zu rufen, aber sie waren sich ganz sicher, dass es tatsächlich Luna war.
Der schmale Pfad ganz dicht am Wasser war glitschig und stellenweise von dichtem Gestrüpp und heimtückischen Wurzeln überwuchert. Immer noch schweigend, verfolgten sie Lunas Schwimmbahn vom Ufer aus. Es war hier unter den Bäumen trotz des Vollmondes, den sie auf der spiegelnden Fläche des Sees sehen konnten, ziemlich dunkel.
Hermione kletterte eben über eine knorrige Baumwurzel und blieb prompt im Geflecht der dünneren Wurzeln hängen. Sie zappelte einen Moment hilflos und fiel dann hin.
"Au, verflucht!"
Harry drehte sich um.
"Hast du dir was verstaucht?", fragte er leise, als sie ihr Knie rieb.
Er hielt ihr die Hand entgegen und half ihr beim Aufstehen.
Dann geschah etwas Merkwürdiges. Anstatt ihre Hand loszulassen, zog er Hermione an sich. Er hörte sie erschreckt aufatmen, dann küsste er sie. Er hatte das nicht geplant, es war einfach geschehen. Und nun standen sie hier und küssten sich.
"Entschuldige", sagte er, als er sich schließlich völlig verwirrt von ihr löste. Sofort war ihm klar, dass er kaum etwas Idiotischeres hätte sagen können.
"Ich wollte das auch", sagte sie mit einer seltsamen, zittrigen Stimme. "Wollte wissen, wie das ist."
"Und – wie war es?"
"Ich – weiß nicht", sagte sie, immer noch mit dieser seltsamen Stimme.
Auch Harry wusste es nicht. Er wusste nur, dass sein Herz wie wild schlug und sein Gesicht glühte. Ron, dachte er zusammenhanglos. Das ist das Ende unserer Freundschaft.
"Aber es geht nicht, oder?", sagte sie dann.
Er schüttelte den Kopf. Eigentlich wollte er nichts lieber, als sie jetzt noch einmal küssen.
"Wir sollten das besser vergessen", sagte er stattdessen mit zugeschnürter Kehle.
Wie ist das nur passiert, fragte er sich, als sie ungelenk nebeneinander weitergingen, bemüht, Abstand vom anderen zu halten.
Hermione zu küssen war etwa so, wie von einem hohen Turm zu springen: Man fragte sich manchmal, wie es wohl sein mochte, aber solange man bei klarem Verstand war, tat man es nicht. Aber jetzt hatte er es getan und konnte nicht einmal sagen, warum. Er wusste nur, dass er immer noch fiel.
Er hielt den Blick mechanisch auf den See gerichtet, aber er sah überhaupt nichts. Er versuchte immer noch, wieder ruhig zu atmen.
Das war Verrat, dachte er. Verrat. Verrat. Verrat.
Das Wort schien im Rhythmus seiner Schritte in seinem Kopf aufzuleuchten. Aber mochte es auch Verrat sein, es war dennoch lebendiger und verlockender als alles, was er je gefühlt hatte. Das machte ihm Angst, und die Angst verstärkte diesen dunklen Jubel in ihm noch.
"Siehst du Luna noch?", fragte Hermione schließlich.
Ihre Stimme klang so wackelig, wie sich Harrys Beine anfühlten, und sie drang kaum durch das Rauschen in seinen Ohren hindurch.
"Was?"
"Luna! Ob du sie noch sehen kannst!"
Er riss sich zusammen und konzentrierte seinen Blick auf das Wasser. Aber die schimmernde Bahn des Mondes lag völlig ruhig da.
"Nein", sagte er.
Sie blieben stehen und starrten wie gebannt auf die Fläche des Sees.
"Sieh mal, da drüben!", sagte Hermione plötzlich alarmiert.
Er folgte ihrem Blick. Da war jemand auf der anderen Seite des Sees. Es war ziemlich weit entfernt, aber der Mond schien hell, und beide konnten das weiße Haar der Person sehen.
"Harper!", sagte Harry. "Das hat uns noch gefehlt! Was macht die hier?"
"Sie kommt wahrscheinlich gerade zurück! Ins Schlossgelände kann sie doch nicht apparieren."
"Aber sie steht am Seeufer! Und – es sieht so aus – als hätte sie –"
"Da! Hast du das auch gesehen?"
"Ja! Das muss Luna sein! Verdammt!"
Jetzt konnten sie dünne Schreie hören, so winzig, so verschwindend in der mondhellen verlassenen Weite ringsum. Sie sahen die Gestalt in der Mitte des Sees mit den Armen um sich schlagen, sie konnten sogar die Wasserschleier, die sie aufwirbelte, im Mondlicht glitzern sehen. Ihr Kopf tauchte unter und wieder auf. Diesmal gellte ihr Schrei deutlich über das Wasser. Sie schrie um Hilfe.
"Was sollen wir bloß tun!", jammerte Hermione verzweifelt. "Wieso haben wir keinen Besen mitgenommen!"
"Ich werde hinschwimmen!", sagte Harry entschlossen und watete ins Wasser hinein, bevor Hermione etwas sagen konnte. Es war eisig und betäubte seine Beine wie ein Schock. Er konnte nicht verstehen, wie Luna so lange da drin hatte schwimmen können.
"Harry, das ist doch Wahnsinn! Bleib hier! Uns fällt was anderes ein! Ich ruf einen Besen!"
Das tat sie. Indessen ließ sich Harry keuchend ins Wasser gleiten. Die Kälte lähmte ihn beinahe, er versuchte, auf die immer noch kämpfende Gestalt zuzuhalten, die ihm endlos weit entfernt schien. Er zwang sich, nicht an die Wesen zu denken, die diese eisige, dunkle Tiefe bewohnten.
"Harry! Sieh doch!", rief Hermione.
Harper – wenn sie es denn war – hatte ihren Besen offenbar nicht vergessen. Sie stob über das Wasser und packte das um sich schlagende Mädchen.
"Beruhigen Sie sich!", konnten sie Professor Harpers Stimme nun klar und deutlich vernehmen. "Hören Sie auf, sich zu wehren! Sie sind in Sicherheit!"
Sie zerrte die tropfende Luna auf ihren Besen und flog langsam ans Ufer, ein ganzes Stück von Harry und Hermione entfernt.
Als Harry zitternd aus dem Wasser kam, krachte etwas durch das Geäst der Bäume über ihnen und fiel vor ihren Füßen auf den Uferrand. Es war einer der Schulbesen.
"Hättest du nur den Moment noch gewartet!", sagte sie und zog Harry die kleine Uferböschung hinauf.
Er ließ sich erst mal auf den Boden sinken und schlotterte vor Kälte. Hermione stand hilflos daneben.
Was vorhin geschehen war, war während dieses dramatischen Zwischenfalls in den Hintergrund gerückt. Aber jetzt, als sie für den Moment sicher waren, dass Luna gerettet war, kam es zurück und lähmte Hermione. Sie war so durcheinander, dass all ihre sonstige Energie und Entschlossenheit wie weggeblasen waren. Endlich zerrte sie ihren Umhang von den Schultern und legte ihn Harry um.
"Du musst sofort rein. Nimm den Besen und flieg los!"
"Nein", sagte Harry mit klappernden Zähnen. "Ich will erst sehen, was mit Luna ist. Und – was die Harper macht!"
Und dann schoss noch etwas wie eine Kanonenkugel durch das Unterholz – und sprang Hermione in die Arme.
"Krummbein! Was –"
Sie kam nicht weiter, denn er sprang wieder herunter, sauste ein paar Schritte voran, kam zurück und hieb mit den Tatzen an ihre Beine.
"Was soll das denn – ich kann jetzt nicht, Krummbein – he, lass das – lass das doch!"
Mit einem wütenden Fauchen schoss er wieder davon, und Hermione blieb kopfschüttelnd zurück.
"Der spinnt wohl! So was hat er noch nie gemacht!"
Harry war aufgestanden. Ohne ein weiteres Wort gingen sie los und eilten den Uferweg entlang bis zu der Stelle, an der sie Harper und Luna stehen sahen.
Luna hielt sich den Arm und stöhnte.
"Sie müssen auf die Krankenstation", hörten sie Harpers entschlossene Stimme sagen. "Mit solchen Sachen ist nicht zu spaßen."
Überrascht sahen sich die beiden um, als Harry und Hermione heranstolperten. Professor Harper bedachte sie mit einem ernsten Blick.
"Sie auch noch? Was machen Sie denn alle hier draußen, um diese Zeit? Soweit ich weiß, sind die Bestimmungen doch ganz eindeutig! Strengstes Ausgehverbot nach Einbruch der Dunkelheit!"
Harry und Luna sahen sich an, beide tropfnass und zitternd vor Kälte.
"W–w–wie konntest du nur so b–b–blöd sein!", klapperte Harry.
"Ich wollte doch nur –", begann Luna und verstummte, als sie Hermione ansah.
Die machte eine abwehrende Handbewegung. Sie war ganz bleich und fröstelte ohne ihren Umhang.
"Was ist denn eigentlich passiert?", fragte sie.
"Ich bin getaucht. Dann kam so ein – ein – kleines grünes Biest. Ein Grindeloh, glaube ich. Er packte mein Haar und zerrte mich mit sich." Luna schluchzte. "Ich hab um mich geschlagen, aber er ließ einfach nicht los. Es war schrecklich! Und plötzlich hatte er ein Messer in der Hand und versuchte – ich weiß gar nicht, was er wollte. Stieß einfach blind damit herum. Ich hab's ihm aus der Hand gerissen – und dann ist er weggetaucht!"
"Sehr mutig von Ihnen! Zumal er Sie ja am Arm erwischt hat. Aber dass Sie ihm das Messer abgenommen haben – alle Achtung!", sagte Harper.
Sie hielt die Waffe in der Hand. Das Mondlicht fiel auf ein kleines Silbermesser mit verziertem Griff, das nicht nach dem Eigentum eines Grindeloh oder irgendeines anderen Seebewohners aussah. Harper wischte es mit ihrem Umhang trocken und steckte es ein.
"Ich werde das untersuchen. Wer weiß, woher dieser Grindeloh die Waffe hatte. Und Sie müssen jetzt ohne weiteren Aufschub auf die Krankenstation. Es ist nur eine kleine Wunde, aber wir wissen nicht, ob dieses Messer in irgendeiner Form präpariert war."
Dann wandte sie sich Harry zu. Einen Moment lang fiel das Mondlicht voll auf ihr Gesicht, und da sah er einen Ausdruck so wilden Triumphes in ihren Augen aufflammen, dass er regelrecht zusammenzuckte.
"Und Sie, Mr Potter, sollten sich ihr anschließen. Wenn Sie sich keine Lungenentzündung zuziehen wollen!"
Lag da ein Lächeln um ihre Mundwinkel?
Harry war so durch den Wind, dass er es nicht sagen konnte.
oooOooo
Sie stiegen zusammen auf den Besen, den Hermione herbeigerufen hatte, und flogen los. Ihr Haar flatterte wieder in sein Gesicht, aber diesmal beschwerte er sich nicht. Er schloss die Augen und überließ sich der Empfindung – weich wie der innere Flaum einer Eulenschwinge – ich werd's nie mehr so fühlen –
Sie hörten das Kreischen schon von weitem, aber erst, als sie über die Wiese vor dem Hauptportal flogen, sahen sie die Verursacher, die in einen verzweifelten Kampf verwickelt waren.
"Das ist Krummbein – und Mrs Norris! Ich muss da runter, Harry!"
Sie landeten, dicht gefolgt von Professor Harper und Luna.
Hermione eilte auf die ineinander verbissenen Katzen zu und versuchte, sie zu trennen. Harry sah derweil mit endgültig sinkendem Mut Mr Filch, den ewig übel gelaunten Hausmeister, mit eiligen Schritten die Schlosstreppe hinunterkommen.
"Was ist hier los?", zerschnitt Professor McGonagalls wütende Stimme unheildrohend die Nacht.
Die Direktorin folgte Filch mit energischen Schritten. Sie hatte offenbar in aller Eile den Umhang über ihr Nachthemd geworfen, was ihre Würde und Autorität aber nicht im Mindesten schmälerte. Sogar die Katzen hielten inne, und Hermione nutzte die Chance, Krummbein aus dem Getümmel herauszuzerren und festzuhalten.
Filch legte los.
"Mrs Norris lief mir davon, sie hatte anscheinend etwas Ungewöhnliches gesehen! Und das stimmte ja auch, nicht wahr? Sehen Sie doch selbst, all diese Schüler, mitten in der Nacht auf dem Außengelände!"
"Danke, Mr Filch, das sehe ich selbst! Miss Granger – Miss Lovegood – Mr Potter – was in Merlins Namen tun Sie hier mitten in der Nacht – und auch noch tropfnass?!"
"Ich wollte –", begann Luna.
"Wir hatten –", sagte Hermione.
"Professor Harper, vielleicht können Sie mir das ja schneller erklären!", schnitt ihnen McGonagall das Wort ab. "Und Miss Granger, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diesen Kater irgendwie beruhigen könnten! Das ist ja unglaublich!", schnaubte sie.
Hermione kämpfte selbst verbissen mit Krummbein. Er schlug unter wildem Kreischen mit den Pfoten nach ihr, bis sie schließlich ein Hieb auf die Nase traf, der so schmerzhaft war, dass sie ihn mit einem Aufschrei fallen ließ. Er schoss davon.
"Was ist nur los mit ihm?", fragte sie hilflos, wischte sich über die Nase und sah überrascht das Blut auf ihrer Hand.
"Ohhh! Sehen Sie, da – da kommt Hagrid! Krummbein rennt zu ihm!", rief Luna in diesem Moment.
Sie sahen alle in die Richtung, in die sie zeigte. Da kam tatsächlich Hagrid vom Wald her auf sie zu. Seine riesenhafte Gestalt war auch aus der Entfernung unverkennbar. Krummbein machte in seinem wilden Lauf Halt bei ihm und schloss sich ihm dann an.
"Er trägt etwas", sagte Luna.
Professor Harper sagte langsam: "Ja, das stimmt. Das ist – ein Mensch."
Keiner bewegte sich, wie gebannt standen sie da und sahen ihm entgegen. Hagrid stapfte leicht schwankend heran und stieß eine Art keuchendes Schluchzen aus. Trotz der Last auf seinen Armen erreichte er sie schnell.
Als er schließlich in ihre Mitte trat, hatten sie alle den blutüberströmten, leblos in seinen Armen hängenden Körper erkannt.
Harry kam es so vor, als sei plötzlich der Ton abgeschaltet worden. Er sah alles, konnte Hermione schreien sehen und wie McGonagall mühsam beherrscht ihre Fragen stellte, aber er hörte nichts. Er sah das stille, unter all dem Blut kaum erkennbare Gesicht Lupins, die geschlossenen Augen, seine schlaff herunterhängenden Arme. Sah die grauenhafte Wunde, wo einmal seine Kehle gewesen war. Hagrids weinendes Gesicht, als er sich um einen Bericht bemühte. Professor Harper, die vergeblich versuchte, die Wunde zu schließen. Das Entsetzen in allen Augen.
Aber alles, was er hören konnte, war ein Rauschen in seinem Kopf und die Worte Deine Schuld!.
Es war eine böse Stimme, und sie sagte es nicht anklagend, sondern eher mit einem Lächeln.
Der Anblick von Hagrid mit dem verletzten Lupin auf den Armen erschreckte ihn zutiefst, aber zugleich war ihm, als habe er es geahnt, als hätten ihm seine Sinne dies schon die ganze Zeit zugetragen – als sei es dieses Ereignis, das er noch hatte sehen müssen, bevor er ins Schloss hineingehen konnte. Es fühlte sich an wie ein Weltuntergang, aber es war ein Klang, der sich in die chaotische, alles mit sich reißende Musik dieser Nacht passend einfügte.
Er schüttelte sich mühsam, wie unter Wasser, und endlich kamen die Geräusche der Welt zurück.
"... im Wald!", klagte Hagrid gerade. "Verdammtes Biest hat mich hingeführt, hat mir fast die Augen ausgekratzt, bis ich endlich mitgegangen bin! Hab doch nich' kapiert, was er wollte! Oh nein, nein, nein!"
"Ist er – tot?", krächzte Harry.
"Atmet noch. Ganz schwach. All das Blut –"
Hagrid weinte, und seine Tränen fielen auf Lupins blutverklebte Kleidung.
"Wir müssen sofort hinein", sagte Professor McGonagall mit rauher Stimme. "Krankenstation!"
Sie konnten mit dem Schwerverletzten nicht fliegen, also gingen sie alle zu Fuß. Eine klägliche Prozession kam da zustande, vorneweg Krummbein neben Hagrid, denen Hermione und McGonagall folgten. Luna stolperte hinterher. Am Schluss fanden sich Harry und Professor Harper nebeneinander wieder. Als er sich umwandte, hatte sich ihnen noch jemand angeschlossen: Der schwarze Kater, der mit Krummbein den Schluffer gejagt hatte, war von irgendwoher aufgetaucht und kam nun eilig hinterher.
Harper schüttelte kaum merklich den Kopf.
"Zu spät", hörte Harry sie murmeln. "Da ist nichts mehr zu machen."
