Kapitel 14
Der Wolf kommt frei
Harry saß an dem viel zu weißen Krankenbett und hielt den Blick unverwandt auf Lupin gerichtet. Sie hatten ihm das Blut abgewaschen und einen Verband um seinen Hals gelegt, aber sein Gesicht hatte eine gelbliche, wächserne Farbe angenommen, und die Nase sah zwischen den eingesunkenen Wangen und den dunkel umschatteten Augenhöhlen viel schärfer geschnitten aus als sonst.
Eine eisige Hand hielt Harrys Herz umkrallt und ließ ihn kaum atmen. In seinem Kopf hämmerte nur ein einziges Wort, seit Stunden, wie ihm schien: "Bitte, bitte, bitte!"
Sonst konnte er nichts denken, nur immer starren. Vage war ihm bewusst, dass Hermione neben ihm saß, genauso reglos wie er selbst, und das brachte irgendeine Saite in ihm zum Schwingen.
Sie hatten Ron geweckt, während Hagrid und McGonagall den Schwerverletzten zu Madam Pomfrey gebracht hatten. Harry hatte schnell irgendetwas Trockenes angezogen. Dann waren sie zu dritt ohne ein weiteres Wort in den Krankenflügel geeilt und dort geblieben. Niemand sagte etwas dagegen, obwohl es mittlerweile kurz nach drei Uhr nachts war.
Nur allmählich drangen die gedämpften Stimmen des Gesprächs zu Harry durch, das Professor McGonagall mit Madam Pomfrey, Hagrid und Professor Harper ein wenig von Lupins Bett entfernt führte.
"Haben wir irgendeinen Anhaltspunkt dafür, wie das geschehen ist?", fragte McGonagall gerade.
"Ich vermute einen Werwolfbiss – es ist ja noch nicht lange her, dass ich den letzten gesehen habe", erwiderte Madam Pomfrey. "Ich kann nichts mehr für ihn tun", fügte sie leise hinzu. "Die Blutung ist nicht zu stoppen."
Professor Harper nickte nur bestätigend.
"Wir haben Nymphadora Tonks und Alastor Moody eben verständigt", sagte McGonagall heiser. "Sie werden gleich hier sein."
"Er lag mitten im Wald", sagte Hagrid, der mit Macht gegen die Tränen ankämpfte. "Ohne den Kater hätt' ich ihn nie gefunden. Aber der hat mich so lang mit den Tatzen bearbeitet, bis ich kapiert hab, was er wollte. Bin ihm nach. Un' dann lag er plötzlich da. Hatt' ihn doch vorhin noch geseh'n!"
Hier konnte er nicht mehr weitersprechen.
McGonagall nickte.
"Er wollte Wache gehen. Wir hatten in den letzten Tagen so viele Hinweise auf fremde Wesen im Wald! Und der Wolfsbann-Trank machte es ihm möglich, auch in Wolfsgestalt die Kontrolle über sich zu behalten."
"War aber 'n Mensch, als ich plötzlich fast über ihn gestolpert bin!", sagte Hagrid. "Die Kehle aufgerissen – nass vom Blut – dacht', er wär' tot. Un' dann der schwarze Streuner dabei."
"Wer?", fragte Professor McGonagall.
"So 'n schwarzer Kater, der hier oft rumläuft. Kommt schon seit Jahren immer mal wieder hier im Wald vorbei."
"Ich dachte, der hätte Sie zu ihm geführt?", fragte Professor Harper nach.
"Nee, der doch nich'. Das war Krummbein, der Kater von Hermione hier. Der kam zu meiner Hütte un' kreischte un' hat sich aufgeführt wie toll."
"Haben Sie sonst irgendjemanden – oder etwas – gesehen, das ungewöhnlich war?"
Hagrid dachte gründlich nach, dann schüttelte er den Kopf. Die Tränen liefen über sein Gesicht in den wilden Bart.
"Hab Wolfsheulen gehört. Dachte aber, das wär' er. Ich hab ihn doch schon als Jungen gekannt!", brach es dann plötzlich aus ihm heraus, und er schlug die Hände vors Gesicht.
Die Tür wurde geöffnet, und Mad-Eye Moody kam mit Tonks herein.
Sie hatte die Augen weit aufgerissen, als seien sie vor Entsetzen erstarrt. Sie sah keinen an, sondern ging nur zu dem Bett hin und blieb neben Ron stehen, der verlegen von seinem Stuhl aufstand und ihn ihr anbot. Sie zog ihn ohne ein Wort dicht an das Bett und setzte sich.
Moody folgte ihr langsam. Sein Holzbein tockte schwer auf den Boden.
Harry sah, wie Tonks Lupins Hand ergriff und festhielt. Er warf einen scheuen Blick in ihr Gesicht und sah dort dieselbe furchtbare Angst, die sein eigenes Herz erfüllte. Auf einmal war ihm, als müsste er schreien, sich auf den Boden werfen und wie ein kleines Kind schreien. Nicht Lupin! brüllte es in ihm. Nicht er auch noch!!
Und dabei sah er, wie das Blut schon wieder den Verband verfärbte und das stille Gesicht immer eingesunkener aussah.
"Remus!", flüsterte Tonks mit zitternden Lippen und beugte sich über ihn. Auch sie hatte das verräterische Rot auf dem Verband gesehen. Sie strich ihm das Haar aus der Stirn, dann blieb ihre Hand an seiner Wange liegen, während sie selbst den Kopf auf das Bett sinken ließ.
Harry fühlte etwas um seinen Stuhl streichen und sah dann, wie Krummbein mit einem schiefen Sprung auf Hermiones Schoß landete. Sie legte mechanisch eine Hand in das dichte, rötliche Fell und bewegte sacht streichelnd die Finger. Er wandte den Blick ab, unfähig, jetzt den Schauer zu ertragen, den dieser Anblick ihm völlig unerwartet durch den Körper rieseln ließ.
Dann erst sah er, dass sich nach Krummbein auch der andere Kater durch die Tür des Krankenzimmers gedrängt hatte und nun mit einem eleganten Sprung die Fensterbank erklomm. Dort blieb er sitzen und schien mit seinen rätselhaften Katzenaugen die Szene wachsam zu beobachten.
Und dann tickte die Zeit unaufhaltsam dahin. Es war still in dem Zimmer geworden, Hagrid und Professor McGonagall hatten sich mit Moody auf den Flur verzogen, Madam Pomfrey kümmerte sich nebenan im Krankensaal um Luna, wie Harry erst später erfahren sollte. Er, Ron und Hermione blieben schweigend an Lupins Bett sitzen. Tonks rührte sich nicht von der Stelle, nur ihre Hand streichelte mit winzigen Bewegungen unaufhörlich das Gesicht des Sterbenden.
Inzwischen rasten Gedankenfetzen durch Harrys Kopf – Bluttransfusion – sollten in ein Muggel-Krankenhaus mit ihm – Intensivstation – die müssten ihm doch helfen können –
Aber er wusste selbst, dass er sich betrog. Bluttransfusionen gegen Werwolfbisse? Irgendwann füllte die Müdigkeit sein Hirn mit einem hellen Rauschen, das fast wie ein Schlaf mit offenen Augen war.
Als kaum wahrnehmbar das erste graue Dämmern des Morgens durch das Fenster drang, sah Harry, wie Lupins Hand erst zuckte, dann unsicher nach Tonks tastete. Sofort war er hellwach. Auch Tonks Kopf schnellte nach oben.
"Remus. Liebster –"
Seine Hand glitt kraftlos von ihrem Arm ab, aber er hatte die Augen geöffnet und sah sie an. Dann lächelte er.
Harry war sicher, dass er mit dieser Verletzung nicht mehr würde sprechen können, aber er versuchte es tatsächlich. Ganz schwach und mit röchelnden Atemzügen dazwischen sagte er schließlich:
"Greyback – hat's zu Ende gebracht –"
"Nicht reden!", sagte Tonks ängstlich. "Du musst deine Kräfte sparen!"
Er schüttelte kaum merklich den Kopf und wollte etwas sagen, aber es ging nicht. Er schloss die Augen, und sie warteten mit angehaltenem Atem und voller Angst.
"Harry – noch so viel – zu sagen –", kam es schließlich kaum hörbar.
Danach lag er lange still, und sie sahen, wie mühsam sich seine Brust hob und senkte. Der Verband um seinen Hals war jetzt völlig durchgeblutet. Tonks fing leise an zu weinen.
"Frei!", sagte er noch, aber das lasen sie mehr von seinen Lippen, als dass sie es hörten.
Dann konnten sie sehen, wie er davonglitt. Harry, der den Blick nicht von Lupins Gesicht abwandte, sah voller Überraschung, wie es einen Ausdruck der Erleichterung, des Friedens annahm.
Sie saßen noch wie versteinert da, als sich seine Brust längst nicht mehr bewegte.
oooOooo
Irgendwann kam dann Madam Pomfrey herein, gefolgt von allen, die anscheinend draußen im Flur gesessen hatten, Professor McGonagall, Hagrid, Moody. Es wurde sehr unruhig in dem stillen Zimmer, die Kater drängelten sich durch die Tür nach draußen, und auch Harry stand auf und ging einfach hinaus.
Wie im Schlaf suchte er sich seinen Weg hinaus in den sonnigen, windigen Tag, stolperte die große Eingangstreppe hinunter, die sie vor wenigen Stunden hinaufgegangen waren, ging mit blinden Augen an der Stelle vorbei, an der nachts Hagrid mit Lupin gestanden hatte. Ging und ging, bis er sich wieder einmal am Seeufer wieder fand.
Hier ging er weiter, ohne einen Blick für die wirbelnden bunten Blätter, die der Wind von den Bäumen schüttelte. Er ging, bis er nicht mehr weiterkonnte. Seine Seiten und seine Kehle schmerzten, als sei er gerannt, und seine Beine wollten ihn einfach nicht mehr weitertragen.
Er setzte sich ans Wasser und kauerte sich so klein zusammen wie er nur konnte. So blieb er lange sitzen, bis sein Körper von der Kälte des Windes völlig betäubt war.
Eigentlich wollten wir heute hier spazieren gehen und uns unterhalten, dachte er auf einmal und lachte. Der schrille, krächzende Klang erschreckte ihn selbst. Aber er konnte nicht weinen.
Jetzt sind sie alle tot, dachte er. Alle, die mir von meinen Eltern hätten erzählen können, alle, die ihre Freunde gewesen sind.
Er dachte an Lupins Gesichtsausdruck, als er starb, aber er wusste, dass es diesen Frieden für ihn selbst noch nicht geben konnte. Friede mochte sein, wenn der Tod kam. Aber er, Harry, lebte, und er war erfüllt von dem Wunsch nach Vergeltung, in dieser Stunde mehr als je zuvor.
Remus Lupin, dachte er. Er war der sanfteste Mensch, den ich kannte. Sein Mörder kommt nicht ungestraft davon!
Dann stand er auf, schüttelte das feuchte Laub von seiner Hose und ging mit schnellen Schritten zurück zum Schloss.
oooOooo
Es war Vormittag, und alle anderen Schüler waren in ihren Klassen. Deshalb sah er Ron und Hermione schon von weitem. Sie saßen auf einer Bank nicht weit von Dumbledores Grabmal. Er fühlte einen Stich in der Brust, als er die beiden zusammen sah, und wäre plötzlich lieber in die andere Richtung gegangen.
Als er sie erreichte, sah er, dass Ron seinen Arm um Hermione gelegt hatte.
"Hallo", sagte Harry und setzte sich neben Ron.
"Wir haben dich schon gesucht", sagte Ron kratzig, um nicht zu zeigen, wie erschüttert er tatsächlich war. "McGonagall hat uns für heute frei gegeben."
Harry hätte beinahe gelacht, und es hätte sicher genauso geklungen wie vorhin. Glaubte die tatsächlich, dass er heute einfach in den Unterricht gegangen wäre?
Hermione sah ihn über Rons Schulter hinweg an. Sie hatte geweint, und er sah noch immer Tränen in ihren Augen. Ihre Blicke begegneten sich über Ron hinweg und verschränkten sich, und da wusste er, dass der Kuss keineswegs vergessen war. Diese Erkenntnis traf ihn wie ein langsamer Schwinger genau in den Magen, aber er konnte den Blick nicht von ihren nussbraunen Augen abwenden.
Er vermied es, auf ihre Lippen zu sehen, versuchte es zumindest. Diesen Mund hatte er schon so viele schlaue Dinge und Klugscheißereien und Überheblichkeiten sagen hören, aber es war ihm nie aufgefallen, dass er – wenn sie nicht sprach – sanft und weich war und schön geschwungen.
"Sie wollen es geheim halten", sagte Ron. "Damit es keine Panik gibt. Die meisten kannten ihn ja auch gar nicht."
"Ich kann es immer noch nicht glauben", sagte Hermione mit zitternder Stimme. "Wieso musste das passieren? Warum gerade Lupin? Er war doch so –"
Sie brach ab und fing wieder an zu weinen. Ron streichelte ein wenig ungelenk ihr Haar, und jetzt musste Harry doch den Blick abwenden. Er starrte auf seine Schuhe, scharrte damit in den Blättern herum und konnte nicht fassen, dass er keine zwei Stunden nach Lupins Tod hier saß und Eifersucht auf seinen besten Freund empfand.
"Was ist mit Luna?", fragte er schließlich, mehr um etwas zu sagen, als weil es ihn im Moment besonders interessiert hätte.
"Liegt auf der Krankenstation. Schläft, soweit ich weiß. Madam Pomfrey wollte sie zur Beobachtung dabehalten, weil die Harper ihr gesagt hat, man müsste ein Auge auf ihre Schnittwunde haben", sagte Ron.
"Und die Harper? Wo ist die jetzt?"
"Keine Ahnung. Im Unterricht vermutlich, oder?", sagte Ron erschöpft.
Harry war siedend heiß eingefallen, dass sie ihn heute sicher noch würde sprechen wollen. Im ersten Moment war ihm nicht einmal mehr bewusst, worum es eigentlich gegangen war. Lupins Tod und – er musste es sich eingestehen – der Kuss hatten alles andere aus seinen Gedanken verdrängt.
Hermione hatte sich von Ron losgemacht und putzte sich nun die Nase.
"Ich bin furchtbar müde", sagte sie dann. "Ich glaube, ich gehe jetzt einfach rein und lege mich eine Weile hin."
"Ihr müsst mir nachher unbedingt erzählen, was heute Nacht eigentlich los war", sagte Ron unschuldig, und Harry hörte in sich ein verrücktes Kichern.
Klar, dachte er, das erzählen wir dir in allen Einzelheiten, mein bester Freund! Luna nimmt ein Mitternachtsbad im See, um etwas zu finden, womit sie dein Herz gewinnen kann, wir versuchen, sie zu retten und küssen uns stattdessen, und dann kommen noch Harper und Krummbein und McGonagall und Filch und Mrs Norris und – und – Hagrid. Oh Lupin! Ich will, dass du lebst!
"Ich geh auch rauf!", sagte er grob. "Ich brauch' ein bisschen Schlaf."
Und er stapfte schnell davon, um nicht zu sehen, wie die beiden möglicherweise Hand in Hand hinterherkamen.
oooOooo
Als Ron Harry ein paar Stunden später wachrüttelte, riss er ihn aus einem wirren, dunklen Traum, in dem er auf einer kleinen Insel mitten auf dem See gestanden hatte und darüber entscheiden musste, welcher von seinen Freunden als Nächster sterben sollte. Die dunkle, von unheimlicher Heiterkeit erfüllte Präsenz neben ihm hatte zwar keine Gestalt, aber ihre Stimme kannte er.
"Harry! Mann, jetzt wach endlich auf!"
"Ja, ja! Du musst gerade reden!", murrte Harry und setzte sich auf. Erst da fiel es ihm wieder ein, fiel wie ein schwerer, schwarzer Block aus Stein in sein Bewusstsein: Lupin war tot.
"Madam Pomfrey und McGonagall wollen dich sprechen, jetzt sofort!"
Er sprang aus dem Bett und in seine Schuhe. Seine Sachen fühlten sich klamm und verschwitzt an, aber er verschwendete keinen Gedanken ans Umziehen. Er hob das zusammengeknüllte Pergamentfetzchen auf, das aus seinem Umhang gefallen war, und stopfte es blicklos in seine Hosentasche. Atemlos fragte er sich, was nun wohl wieder los war.
Es war kurz nach Mittag, und überall wuselten Schüler durch die Gänge, unterhielten sich, lachten, eilten zu ihren nächsten Unterrichtsstunden.
Harry fühlte sich, als sei er von einen fremden Planeten hierhin abgestürzt.
Ron lenkte ihn auf die Krankenstation, und da wollte er eigentlich überhaupt nicht hin.
"Worum geht's denn?", fragte er endlich.
"Es ist was mit Luna. Ihr geht's nicht so gut."
"Aber sie hatte doch nur einen kleinen Schnitt am Arm!"
"Ich weiß es doch auch nicht! Komm jetzt endlich!"
Vor dem Büro von Madam Pomfrey trafen sie auf Hermione, die mit ihnen zusammen eintrat. Drinnen wartete vor Madam Pomfreys Schreibtisch auch Professor McGonagall, die ihnen ernst entgegensah.
"Miss Granger, Mr Potter, wir brauchen unbedingt die Waffe, mit der Miss Lovegood verletzt wurde", sagte sie, kaum dass sie die Tür hinter sich geschlossen hatten.
"Die hat Professor Harper eingesteckt. Sie wollte sie untersuchen."
"Sie dachte, sie könnte mit irgendwas präpariert gewesen sein", fügte Hermione hinzu.
"Das scheint auch tatsächlich der Fall gewesen sein", sagte Madam Pomfrey. "Miss Lovegood hat hohes Fieber und bekommt anscheinend eine heftige Infektion. Die Mittel, die ich ihr gegeben habe, schlagen nicht an. Ich hoffe sehr, dass Professor Harper inzwischen herausgefunden hat, was mit der Waffe los war."
McGonagall war ein wenig blasser geworden.
"Ich fürchte, Professor Harper ist gar nicht im Hause. Sie wurde heute Morgen noch einmal ins Ministerium gerufen!"
Harry und Hermione sahen sich voller Schrecken an.
"Vielleicht hat sie das Messer irgendwo in ihrem Büro liegen lassen?", schlug sie verzagt vor.
Aber in Harrys Kopf hatte das Rauschen wieder eingesetzt. Weg! Sie ist weg! Und ich wette, die ist nicht im Ministerium! Wieder sah er ihr Gesicht mit diesem unbegreiflichen Triumph in den Augen vor sich.
"Also gut", sagte Professor McGonagall entschlossen. "Dann werde ich in ihrem Büro danach suchen. Sie hat es ja sicher nicht mit sich genommen. Haben Sie das Messer gestern gesehen? Würden Sie es wieder erkennen?", wandte sie sich an Harry und Hermione. Sie nickten.
"Es war ein kleines Silbermesser. Es hatte einen irgendwie verzierten Griff."
"Es war ein Vogelkopf", sagte Hermione. "Ich konnte es nicht ganz genau sehen, aber ich bin ziemlich sicher, dass es wie ein lang gezogener Vogelkopf aussah."
McGonagall starrte sie an.
"In Ordnung", sagte sie dann. "Sie beide begleiten mich."
Ein Vogelkopf? ging es durch Harrys Kopf, während sie wieder durch die Flure eilten. Das ist doch – das habe ich doch letztens schon mal –
"Da sind wir", sagte Professor McGonagall energisch, als sie vor Harpers verschlossenem Büro neben dem Klassenraum für Verteidigung standen. Sie zog einen großen Schlüsselbund aus der Tasche und schloss mit grimmigem Gesichtsausdruck die Tür auf.
"So, Sie bleiben da stehen. Wenn schon das Zimmer einer Lehrkraft durchsucht werden muss, dann werde ich das selbst tun – und so diskret wie möglich."
Harry und Hermione blieben in der Tür stehen und sahen zu, wie die Direktorin mit sichtlichem Unbehagen in Schubladen und Schränke sah. Harry nahm die verlassene Atmosphäre dieses Zimmers in sich auf. Sie hatte etwas Endgültiges, und zugleich machte es auf ihn den Eindruck, als habe seine Bewohnerin diesen Raum in ungeplanter Eile verlassen. An einem Haken hinter dem Schreibtisch hing noch ein schwarzer Umhang, unordentlich, als sei er hastig darüber geworfen worden – dann wurde ihm klar, dass darunter der Spiegel sein musste.
"Was ist das denn?", fragte McGonagall, als ihr aus einer Schreibtischschublade ein kugeliges Büschel dunkler, getrockneter Pflanzen entgegen quoll.
"Kiemenkraut", antwortete Harry mechanisch.
"So eine Menge? Was hat sie denn damit vor?" fragte McGonagall erstaunt, während sie die widerspenstige Kugel zurückzustopfen versuchte.
Harry und Hermione tauschten wieder einen Blick.
"So, das war's. Keine Spur von einem Messer. Sie muss es versehentlich mitgenommen haben", seufzte Professor McGonagall dann.
Ihr Blick fiel auf den Umhang, und automatisch griff sie danach, um ihn ordentlich aufzuhängen.
"Oh, was haben wir denn hier?", murmelte sie, als sie den Spiegel dahinter entdeckte.
Harry und Hermione beugten sich vor, als sie den Umhang vom Haken nahm und den ovalen, goldgerahmten Spiegel dahinter ganz freilegte. Alle drei sahen in die bronzene Tiefe dieses Spiegels, die wie die innere Wölbung einer Kugel war. Man sah nichts als sein eigenes Gesicht, verschwommen und in diesem tiefen Bronzeton zurückgeworfen.
McGonagall klopfte vorsichtig mit dem Finger an die Fläche. Nichts.
"Seltsam", murmelte sie. "Frage mich, was das wohl ist."
Dann hängte sie den Umhang zurück, ohne den Spiegel wieder ganz zu verdecken.
"Wir müssen Madam Pomfrey leider mitteilen, dass wir das Messer nicht haben", sagte sie besorgt. "Ich werde versuchen, Professor Harper irgendwie zu erreichen, aber –"
Sie sprach nicht zu Ende. Ihr sorgenvoller Blick fiel auf Harry und Hermione, die sie aus blassen Gesichtern ansahen. Sie versuchte ein Lächeln.
"Gehen Sie hinaus, an die Luft. Gehen Sie ein bisschen spazieren und versuchen Sie, sich zu entspannen", sagte sie freundlich. "Ich bin ganz sicher, dass wir Miss Lovegood auch so helfen können."
Als sie sich zum Gehen wandten, sagte McGonagall noch:
"Und sprechen Sie möglichst mit niemandem über – über den armen Remus. Die Mitglieder des Phönix-Ordens sind verständigt, und wir werden ihn übermorgen hier – bestatten. Aber es ist nicht nötig, die ganze Schule zu beunruhigen. Moody verfolgt zur Zeit die Fährte von diesem Greyback."
Harry sah die Tränen in Professor McGonagalls Augen und musste den Blick ganz schnell abwenden. Er kämpfte noch gegen seine zugeschnürte Kehle, als Hermione und er schon fast wieder im Krankenflügel waren. Sie hatten diesen Weg ganz selbstverständlich eingeschlagen.
"Denkst du, dass Professor Harper wirklich ins Ministerium ist?", fragte Hermione schließlich.
Harry schüttelte den Kopf.
"Ich auch nicht", sagte sie leise. "Wie genau hast du übrigens gestern das Messer wirklich gesehen?"
Er sah sie fragend an.
"Es hatte einen Adlerkopf als Griff", sagte sie.
"Warum hast du eben – oh Mann, einen Adlerkopf?" Da war die Erinnerung wieder, aber diesmal deutlich. "Sie hatte so einen Anhänger! Auch mit einem Adlerkopf!"
"Genau, das hast du uns erzählt, und eben ist mir wieder eingefallen, warum mir das bekannt vorkam. Dieser Anhänger – das ist eine Auszeichnung für besondere Leistungen. Verliehen an Ravenclaw-Schüler."
Harry blieb stehen.
"Etwas von Ravenclaw!", sagte er leise, und ein Schauer überlief ihn. "Er sagte, es würde etwas von Ravenclaw oder Gryffindor sein!"
"Eben", sagte Hermione.
Er stand da wie gelähmt. Ron kam auf sie zu, aber er bemerkte ihn nicht. Konnte das wahr sein? War ein Horcrux direkt vor seinen Augen und in Reichweite gewesen – und wieder verschwunden? Ein entsetzliches Gefühl sagte ihm, dass es so war.
"Sie muss es gewusst haben, Harry, ist dir das klar?"
Er nickte.
"Das Kiemenkraut", sagte er schwach. "Sie wollte es selbst suchen! Sie wusste sogar, wo es versteckt war –"
Es war einfach zu viel. Er hätte schreien können vor Wut und Frustration.
"Die große Frage ist doch, wohin ist sie jetzt gegangen?", sagte Hermione leise.
Er sah auf, in ihr Gesicht. Ihre Ruhe war so tröstlich. Er hätte gern ihre Hand genommen. Aber da kam Ron bei ihnen an, und gleichzeitig überholte sie Professor McGonagall auf ihrem Weg zur Krankenstation.
"Und, habt ihr es gefunden?", fragte er hoffnungsvoll.
"Nein. Es ist weg", sagte Harry.
Dann erklärte Hermione ihm in knappen Worten, was geschehen war. Rons Gesicht wurde immer besorgter.
"Denkt ihr, sie ist auf dem Weg zu – ihm, zu Voldemort?", fragte er, als Hermione fertig war.
Sie schwiegen.
"Ich hätte ihr das nie zugetraut", sagte Ron langsam. "Wer ist sie denn bloß?"
"Du hättest letzte Nacht ihr Gesicht sehen sollen, als Luna ihr das Messer gab", sagte Harry dumpf. "Sie sah aus, als wollte sie vor Freude losbrüllen. Ich hab bloß nicht kapiert, wieso."
"Wir müssen sofort mit Professor Slughorn sprechen", meldete sich Hermione wieder zu Wort.
"Mit Slug? Wieso das denn?", fragte Ron misstrauisch.
"Er weiß doch über Horcruxe Bescheid. Er kann vielleicht irgendeinen Trank für Luna herstellen, der gegen so eine Verletzung hilft."
"Das wollte ich euch gerade sagen. Luna geht's gar nicht gut. Sie redet wildes Zeug, und Madam Pomfrey kann sie kaum beruhigen."
"Ich gehe zu Slughorn", sagte Hermione.
"Wir sollten auch zu Professor Flitwick gehen", sagte Harry langsam. "Er ist Hauslehrer von Ravenclaw. Er wird wissen, ob irgendwas von Ravenclaws Gründerstücken verschwunden ist."
"Gute Idee", sagte Ron. "Ich komme mit dir. Hoffentlich hat er gerade keinen Unterricht."
Harry merkte mit einer Art von Entsetzen, dass es ihm schwer fiel, ohne Hermione loszuziehen.
"Dann lass uns gehen", sagte Ron und zog ihn mit sich.
oooOooo
Sie hatten Glück: Professor Flitwick saß in seinem Büro und korrigierte Aufsätze, als Ron und Harry auf sein piepsendes "Herein!" hin eintraten.
Der kleine Professor für Zaubersprüche lächelte ihnen unbeschwert entgegen, und den beiden war sofort klar, dass er noch nichts von Lupins Tod gehört haben konnte. Harry wunderte sich flüchtig darüber, wie streng Professor McGonagall die Geheimhaltung offenbar nahm.
"Mr Potter – Mr – äh – Whimsey –"
"Weasley."
"Richtig, Mr Weasley – also, was kann ich für Sie tun?"
"Wir haben eine Frage zu den Objekten von Rowena Ravenclaw, die hier in Hogwarts aufbewahrt werden."
Professor Flitwick sah interessiert aus.
"Nun, wenn Sie sie ansehen wollen, dann müssten Sie mir schon in das Pokalzimmer folgen. Die Stücke der Gründerin sind schon vor vielen Jahren nach dort verlagert worden, weil mein kleines Büro nicht über die angemessenen Einrichtungen für so etwas verfügt."
Damit meinte er wohl, dass ein Schreibtisch und zwei alte hölzerne Bücherschränke nicht der geeignete Platz für Wertgegenstände waren.
Er kletterte von seinem Stuhl und kramte in einer Schreibtischschublade, bis er eine umfangreiche Pergamentrolle herauszog.
Harry und Ron waren überrascht, aber sehr erleichtert, dass Professor Flitwick keinerlei Begründungen für ihr plötzliches Interesse hören wollte.
"Dann kommen Sie", sagte er freundlich. "Wir müssen eine Menge Treppen hinter uns bringen."
Das Pokalzimmer war im sechsten Stock untergebracht, und weil Professor Flitwick extrem klein war, dauerte es seine Zeit, bis sie oben waren.
"Von Rowena haben wir allerdings nur noch zwei der ursprünglichen drei Objekte hier: die Pergamentrolle, auf der sie ihre Pläne und Vorstellungen für die Schule niedergelegt hat, und die Schreibfeder, mit der sie sie angeblich geschrieben hat."
Das Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel, brach sich in den kristallenen Vitrinentüren, tanzte auf den goldenen Flächen von Pokalen und Tellern und ließ Bahnen von wirbelnden Staubpartikeln auffunkeln. Flitwick führte sie zu einer Vitrine, in der ein eng beschriebenes Pergament lag und daneben eine altmodische, längst vergilbte Feder.
"Und was war –"
"Das dritte Stück – von seinem Materialwert ganz sicher das wertvollste – war ein silbernes Messer. Wenn Sie das sehen wollen, muss ich Sie leider enttäuschen. Es ist bedauerlicherweise schon vor Jahren verschwunden. Aber ich kann Ihnen eine Abbildung im Katalog zeigen!", sagte er und schwenkte triumphierend die schwere Rolle, die er mit hinaufgebracht hatte. Er rollte sie auf einer Glasvitrine aus und suchte ein Weilchen zwischen zahlreichen kleinen Bildern von Pokalen, Wandtellern, Waffen und Schmuckstücken.
"Ah, hier ist es!", rief er schließlich. "Da, das Messer der Rowena Ravenclaw. Sehen Sie."
Ron und Harry beugten sich über die Stelle, auf die Professor Flitwicks gelblicher Zeigefinger zeigte. Ein eher kleines, aber schön gearbeitetes Silbermesser mit scharfer Klinge, der Griff, ganz so wie Hermione es gesagt hatte, wie ein Adlerkopf geformt.
Die Waffe des Verstandes stand in fließenden Buchstaben daneben, und darunter ein Spruch, den Professor Flitwick nun in leicht pathetischem Ton vorlas:
"Eine scharfe Klinge sei der Verstand:
Sie kappe das Überflüssige,
lege das Einfachste frei
als die wahrscheinlichste Antwort!"
"Das ist auch auf der Klinge eingraviert", sagte er dann. "Es ist zu schade, dass ich Ihnen das Original nicht zeigen kann. Ich habe es selbst noch gesehen."
"Was ist denn damit passiert?", fragte Harry, bemüht, sein Interesse an diesem speziellen Punkt nicht allzu deutlich zu zeigen.
Und richtig, Flitwicks Gesicht verschloss sich, und er runzelte die Stirn. Schließlich sagte er:
"Es wurde vor Jahren gestohlen, vermutlich von einem diebischen Hauself. Bei ihm fand man eine Menge anderer wertvoller Gegenstände. Er hatte ein regelrechtes Lager davon angesammelt. Das ist jetzt – lassen Sie mich nachrechnen – das ist über zwanzig Jahre her!"
"Und das Messer tauchte nicht wieder auf?", fragte Harry.
"Nein. Wir vermuteten damals, dass es bereits verkauft worden war. Sie ahnen nicht, welche Preise skrupellose Kunsthändler für ein solches Stück zu zahlen bereit sind!"
Professor Flitwick strich sich den Bart und sah so unbehaglich drein, dass Harry gar nicht anders konnte, als weiter zu fragen.
"Aber da war noch etwas mit diesem Messer, nicht wahr?"
Flitwick rollte umständlich seinen Katalog wieder zusammen. Als Harry seine Frage gerade wiederholen wollte, sagte er widerwillig:
"Nun ja. Zunächst wurde eine – ein Schüler des Diebstahls verdächtigt. Der Betreffende hatte zuvor im Pokalzimmer geputzt, verstehen Sie. Sonst wäre er nie beschuldigt worden. Und zum Glück fand man dann bald das Diebesgut dieses Elfen, und der Verdacht wurde fallen gelassen. Der Schüler wurde rehabilitiert – und machte eine große Karriere."
"Heil der Meisterdiebin!", murmelte Harry. aber so leise, dass Flitwick ihn nicht verstehen konnte.
"Vielen Dank, Professor Flitwick", sagte er dann laut. "Sie haben uns sehr weitergeholfen."
"Oh ich freue mich immer, wenn Schüler Interesse an der Geschichte Hogwarts' und besonders an seinen Gründern zeigen! Ich vermute, Sie müssen einen entsprechenden Aufsatz schreiben, nicht wahr? Mir ist durchaus bewusst, dass dieses Interesse selten aus eigenem Antrieb kommt", schloss er seufzend.
"Oh nein", murmelte Ron. "Da irren Sie sich aber. Wir haben ein rein privates Interesse. Es geht um – äh – einen Artikel für unser Jahrbuch."
"Wie schön", sagte Flitwick. "Dann will ich mal zu meinen Aufsätzen zurückkehren. Freut mich, dass ich Ihnen weiterhelfen konnte."
Und damit machte er sich an den langen Abstieg. Ron und Harry folgten ihm.
"Hör mal, wenn das erst vor zwanzig Jahren war, dann kann es aber nicht Tom Riddle gewesen sein!", sagte Ron ein wenig enttäuscht.
"Der war es auch nicht", erwiderte Harry grimmig. "Das war die Harper."
"Was? Wie kommst du denn darauf? Ich meine – ich dachte, du hältst das Ding für eins von Voldemorts Horcruxen!"
"Pst, nicht so laut!", zischte Harry und sah vielsagend auf die Schülergrüppchen, die ihnen entgegen die Treppe heraufkamen. "Das tue ich auch! Ich hab keine Ahnung, wie das alles zusammenhängt. Aber die Harper wusste, wo das Ding war, und sie wusste, was es war, so viel ist mir klar!"
Sie sprangen noch ein paar Stufen weiter.
"Mann, das war's auch, warum die so blass und fröstelig aussah, letztens im Unterricht! Die ist nachts im See rumgeschwommen und hat danach gesucht!"
Irgendwie war es dieses letzte Detail, das Harry endgültig von der Richtigkeit seiner Theorie überzeugte.
"Und jetzt ist sie damit verschwunden", sagte er leise. "Vor unserer Nase hat sie es eingesackt und ist damit garantiert direkt zu ihrem Herrn und Meister abgehauen."
"Aber warum sollte sie das tun? Und überhaupt – warum sollte sie auf Voldemorts Seite stehen? Denkst du jetzt doch, dass Luna mit ihrer Geschichte Recht hatte?"
"Keine Ahnung. Ich weiß es einfach nicht. Und noch was wundert mich. Warum hat Dumbledore die Sache mit dem Messer nicht erwähnt? Ich meine, wenn er schon vermutet hat, dass Voldemort eins der Gründerstücke von Ravenclaw zum Horcrux gemacht haben könnte, dann hätte er doch als Erstes an das verschwundene Messer denken müssen, oder?"
"Vielleicht hat er das ja. Vielleicht hat er das Ding ja gerade gesucht und wollte dir nicht mehr sagen, bevor er es gefunden hat?"
Harry seufzte. Wie viele wichtige Dinge mochte es geben, die Dumbledore ihm nicht mehr hatte mitteilen können?
Als sie in die Nachmittagssonne hinaustraten, spürte er, wie erschöpft er war. Ihm war schwindelig vor Müdigkeit, und er konnte nicht mehr richtig denken. Und als er diesen blauen Himmel sah, fiel ihm wieder Lupin ein, der irgendwo unter diesen Dächern kalt und tot dalag und Sonne und Himmelsblau nie wieder sehen würde.
Was sollte er, Harry, gegen einen Feind ausrichten, der solche Waffen besaß und Verbündete wie den Werwolf Fenrir Greyback oder eine Hekate Harper?
oooOooo
Hermione hatte ebenfalls Glück. Der Kerker war verlassen bis auf Slughorn, der gerade mit dem großen Kessel beschäftigt war, den Hagrid ihm gebracht hatte. Er rührte mit finsterer Miene in der dünnen schwärzlichen Flüssigkeit, von der jetzt ein betäubender Geruch ausging, der vage an angebrannte Milch erinnerte. In der einen Hand hielt er eine Pipette, aus der er gelegentlich einen dunklen Tropfen in das Gebräu fallen ließ. Nicht eben erfreut über die Störung sah er auf, als Hermione hereinkam, lächelte ihr dann aber entgegen, als er sie erkannte.
"Miss Granger – kommen Sie doch herein – setzen Sie sich einfach, ich bin hier gleich fertig."
Etwas in seiner Stimme zeigte ihr an, dass er über Lupins Tod informiert war. Hermione aber hatte jetzt keine Zeit und keine Geduld mehr, um sich auf ein mühsames Hin und Her von Höflichkeiten einzulassen.
"Gibt es etwas, das einem helfen kann, wenn man von einem – Horcrux verletzt worden ist?", fragte sie geradeheraus.
Slughorn zuckte zusammen. Er stellte vorsichtig die Pipette in einem Halter ab. Dann streifte er seine Schutzhandschuhe ab, zog ein Taschentuch aus der Westentasche und wischte sich über die Stirn.
"Aber – meine Liebe! Ich bitte Sie, meine liebe Miss Granger – wovon reden Sie denn da? Ein Horcrux – von so etwas sollten Sie nicht einmal sprechen –"
Er nahm seine Brille ab, wischte daran herum und setzte sie wieder auf.
"Professor Slughorn, es ist wirklich dringend. Luna Lovegood liegt mit einer schweren Infektion auf der Krankenstation. Sie hat hohes Fieber. Madam Pomfrey weiß nicht mehr weiter. Aber wir sind ziemlich sicher, dass sie – nun ja, dass sie mit einem Messer verletzt wurde, das ein Horcrux ist."
Slughorn sah sie bestürzt an. Wieder wischte er sich mit dem Taschentuch über die Stirn.
"Miss Granger – also wirklich – ich weiß ja nicht –"
Dann endlich hielt er inne und schien einen Entschluss zu fassen.
"Mir ist natürlich bewusst, dass Mr Potter und offenbar auch seine Freunde sich mit diesen Dingen befassen. Ich will auch gar nicht weiter darauf bestehen, dass Sie mir erklären, aus welchen Gründen Sie das tun." Er erschauerte ein wenig, und es war klar, dass er lieber so wenig wie möglich davon wissen wollte. "Aber die Wahrheit ist, dass ein solches Problem meine Kenntnisse übersteigt. Um ehrlich zu sein", fügte er besorgt hinzu, "gehe ich davon aus, dass eine solche Verletzung – nun, nicht zu heilen ist."
Das war zuviel für Hermione. Sie senkte den Kopf und stand auf. Als sie sich wortlos in Richtung Tür bewegte, versuchte Professor Slughorn, sie zu beschwichtigen.
"Nicht doch, meine Liebe – ich wollte nicht andeuten – aber Sie sind sich doch gar nicht sicher, ob die Verletzung wirklich von – nun, von einem – äh – Horcrux herrührt – nicht wahr –"
Aber sie schüttelte nur abwehrend den Kopf. Und dann, als sie gerade hinauseilen wollte, fiel ihr etwas ein.
"Und wenn Sie nun – wenn Sie nun Grindelwalds Nachtwelten zur Verfügung hätten?", fragte sie atemlos und wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht. "Könnten Sie damit vielleicht etwas anfangen?"
"Die Nachtwelten? Von Grindelwald? Aber liebes Kind, an dieses Buch kommen Sie nicht so leicht heran! Sicher, es mag sein, dass er etwas zu diesem Thema geschrieben hat – ich glaube sogar gelesen zu haben, dass er sich mit dem mittelalterlichen Horcrux recht gründlich auseinander gesetzt hat – aber, wie gesagt –"
"Entschuldigen Sie mich. Ich bin in zehn Minuten zurück!", unterbrach ihn Hermione und ließ ihn stehen. Er sah ihr mit völlig perplexer Miene hinterher.
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"Bist du verrückt?", schimpfte Ron wenige Minuten später, als sie die beiden im Gang gefunden hatte. "Was, wenn er es einkassiert und uns verpfeift? Außerdem ist es Harrys Buch!"
Harry, der immer noch ein wenig betäubt in das Sonnenlicht draußen starrte, schwieg.
"Ich denke, wir müssen das riskieren. Vielleicht ist das Lunas einzige Chance. Und wer weiß, vielleicht ist es gar nicht so schlecht, wenn er das Buch in die Hände kriegt. Vielleicht kann er uns sogar helfen", verteidigte sich Hermione.
"Lasst uns noch mal rauf in den Krankenflügel gehen", sagte Harry schließlich. "Mal sehen, was Madam Pomfrey sagt. Vielleicht geht es Luna ja auch schon besser."
Widerstrebend schloss sich Hermione den beiden an, und sie gingen wieder zur Krankenstation – zum soundsovielten Mal an diesem Tag, wie es ihnen vorkam.
Es war still hier oben, und das erschien ihnen als gutes Zeichen. Sie sahen Madam Pomfrey, die in ihrem Büro saß und etwas in eine große Liste eintrug. Sie blickte auf, als die drei zögernd näher kamen.
"Wir wollten uns erkundigen, wie es Luna Lovegood geht", sagte Hermione.
"Nun ja. Jetzt schläft sie. Sie hat noch immer ordentlich Fieber. Aber die Schwellung an ihrem Arm geht zurück." Sie schüttelte den Kopf. "Ich habe so etwas selten gesehen. Es war ja nur ein winziger Schnitt! Aber wer weiß, was das für ein Messer war. Nun, ich hoffe sehr, dass es Miss Lovegood morgen besser geht."
Die drei bedankten sich für die Auskunft und verließen schweigend den Krankenflügel.
"Gut, dass wir nachgefragt haben", sagte Ron. "Du hättest Slug sonst völlig umsonst das Buch ausgeliefert."
"Ja, ja", murrte Hermione. "Ich finde immer noch, er könnte uns vielleicht helfen."
"Ich trau dem Typ nicht", sagte Ron angriffslustig.
"Oh Ron, du bist doch nur sauer, weil er zu dir so arrogant ist!", sagte Hermione. "Das versteh' ich ja auch – aber bitte, vertrauenswürdig ist der ganz sicher."
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Der nächste Tag war ein Samstag und verging sehr still.
Harry fühlte sich seltsam gelähmt. Er mied jede Gesellschaft und verbrachte den Tag überwiegend damit, durchs Gelände zu streifen. Seine Gedanken rasten im Kreis und endeten doch immer wieder bei dem toten Freund seiner Eltern, dem Mann, der auch für ihn zu einem Freund geworden war. Auch er hatte ihn beschützen wollen, und auch er war dabei umgekommen. Wie seine Eltern. Wie Sirius. Und Dumbledore.
Harry quälte sich mit dem Gedanken, verflucht zu sein. Nicht weit von Hagrids Hütte entfernt stand er lange an einen großen Stein gelehnt und starrte nachdenklich zum Waldrand hinüber. Wenn er einfach ginge?
Konnte er einfach gehen? Seine Hand umschloss das Medaillon in seiner Hosentasche. Die Antworten, die er suchte, waren hier, in Hogwarts. Das fühlte er deutlich. In Gedanken versunken zog er das zusammengeknüllte Zettelchen aus der Tasche, das er gestern achtlos aufgehoben und eingesteckt hatte. Er glättete es und war nicht sonderlich überrascht, als er darauf in leuchtend roten Buchstaben las: "Was tust du in Hogwarts, Potter? Du bist SEIN Auserwählter!"
Harry knüllte das Fetzchen zusammen und wollte es schon mit seinem Zauberstab anzünden, als er es sich anders überlegte und es wieder zurück in die Tasche schob.
Am Spätnachmittag fand ihn ein Erstklässler, der ihm ausrichtete, dass Professor McGonagall ihn, Hermione und Ron in ihrem Büro sprechen wollte. Nicht allzu verwundert eilte er hinauf ins Schloss, wo Ron und Hermione bereits in Professor McGonagalls Büro – ihrem eigenen alten – warteten.
"Morgen früh werden wir Remus Lupin in aller Stille beisetzen", sagte sie etwas brüsk, als die drei vor ihrem Schreibtisch standen. "Sie sind natürlich eingeladen, daran teilzunehmen. Ich möchte Sie aber bitten, weiterhin Stillschweigen darüber zu wahren. Dabei geht es nicht darum, einen Besorgnis erregenden Vorfall zu vertuschen", fuhr sie mit einem strengen Blick fort, "sondern darum, die Schüler dieser Schule nicht noch mehr als nötig zu beunruhigen. Ich hoffe, Sie haben für diese Entscheidung Verständnis."
Dann zögerte sie, und Harry konnte sehen, wie sie sich schließlich geradezu einen Ruck gab, um weiter zu sprechen.
"Ich vermute, es ist Ihnen aufgefallen, dass Professor Harper noch nicht wieder zurück ist. Nun, es ist Wochenende, und vielleicht hat sie es vorgezogen, dieses aus irgendwelchen Gründen in London zu verbringen. Aber –", hier räusperte sie sich und fuhr nun mit sichtlichem Widerwillen fort, "ich konnte sie im Ministerium nicht erreichen. Es – äh – es sieht beinahe so aus, als habe sie dort überhaupt keinen Termin gehabt."
Sie sah sie aufmerksam an und wartete einen Moment.
"Gibt es irgendetwas, das Sie mir dazu mitteilen wollen?", fragte sie dann scharf.
Als immer noch keiner antwortete, sagte sie resignierend:
"Ich bitte Sie also, vorerst auch über diese Angelegenheit Stillschweigen zu wahren. Sollte Professor Harper bis Montagmorgen nicht zurück sein, werde ich mich ohnehin dazu äußern müssen. Ich hoffe sehr, dass Sie Ihre Eigenmächtigkeit nicht bereuen müssen", schloss sie mit einem Anflug von Bitterkeit.
Damit waren sie entlassen. Im Gang berichtete Hermione, dass Lunas Zustand unverändert sei.
"Sie schläft fast die ganze Zeit", sagte sie.
Harry sagte nichts. Er dachte angestrengt über Professor Harper nach.
Im Gemeinschaftsraum herrschte der übliche abendliche Geräuschpegel. Es war ziemlich voll, und Harry empfand sich, Ron und Hermione wie eine stumme Insel im Getöse. Während Ron und Harry sich auf dem Sofa herumflegelten und vorgaben, in einem Buch zu lesen, tat Hermione das an ihrem gewohnten Tisch tatsächlich. Als Harry den Einband mit der Aufschrift Geschichte der Zauberei sah, stand er auf und ging zu ihr hinüber.
"Lass das doch jetzt mit dem Zwietrank und dem Ritual", sagte er leise. "Das nützt uns ja doch nichts. Wir brauchen etwas, um Horcruxe zu vernichten. Am besten auch was, womit man sie aufspüren kann."
Hermione sah blass und hilflos zu ihm auf.
"Genau danach such' ich auch. Und nach etwas, das gegen Horcrux-Verletzungen hilft. Falls es so was gibt."
Harry ging zurück zum Sofa und las zum dritten Mal dieselbe Seite in Räume in Verwandlung.
Als er Hermione kurz darauf hinausgehen sah, konnte er einfach nicht länger widerstehen. Er wartete ein paar Minuten – vielleicht waren es auch nur anderthalb – verließ dann den Gemeinschaftsraum und rannte los. Ron sah ihm mit gerunzelter Stirn hinterher.
Harry hatte Glück: Er sah Hermione noch den Korridor entlanggehen, und der Korridor war verlassen. Mit wild schlagendem Herz rannte er hinter ihr her, bis er sie erreicht hatte. Er musste auch nichts weiter erklären oder Ausreden erfinden: Sie wandte sich zu ihm um, und dann hielten sie sich auch schon in den Armen.
"Weißt du, dass ich so eine Art Neffe von Voldemort bin?", fragte er in ihr Haar hinein mit einer Stimme, die sich zwischen Kichern und Schluchzen nicht recht entscheiden konnte.
"Eine Art Großneffe – ja, klar", antwortete sie mit demselben Schwanken.
"Du weißt das?! Seit wann?"
"Denkst du, ich bin blöd? Schon, seit du so komisch von deiner Tante zurückkamst. Oh Mann, das ist doch auch völlig egal, jetzt, meine ich."
Küss mich lieber, sagte ihr Blick, und das tat er dann auch.
"Und was ist mit Ron?", fragte er schließlich.
"Und was ist mit Ginny?", fragte sie leise zurück.
Sie sahen sich an, aber sie fanden beide keine Antwort.
Und das Schlimme war, es war auch nicht so wichtig. Wichtig war nur, dass sie hier zusammenstanden und einander nahe sein konnten. Der erste wirkliche Trost seit Lupins Tod. Eigentlich sogar seit Dumbledores Tod.
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Es war früh am Sonntagmorgen, und der überwiegende Teil der Schülerschaft lag noch schlafend in den Betten. Der Nebel stand wieder dick und weiß über dem Gelände, und es war sehr kalt hier draußen, wo sich ein ziemlich kleines Grüppchen über die taunassen Wiesen hinunter zum See bewegte.
Harry ging zwischen Ron und Hermione langsam in Richtung Dumbledores Grabmal. McGonagall hatte in Übereinstimmung mit den Hausvorständen und den Ordensmitgliedern – der einzigen Familie, die Lupin noch gehabt hatte – beschlossen, ihn neben Dumbledore zu bestatten. Bill war gekommen und noch ein paar Leute, die Harry zwar schon einmal am Grimmauldplatz gesehen hatte, die er aber nicht näher kannte. Aber selbst vom Orden hatten nicht viele kommen können.
Und so gingen sie nun in einer kleinen schweigenden Gruppe hinter Hagrid her, der wieder einmal einen Toten trug. Harry konnte die in dunkle Tücher gehüllte Gestalt nicht ansehen, die er auf den Armen hielt.
Wie anders war diese stille, beinahe verstohlene kleine Prozession hier im Vergleich zu Dumbledores Bestattung! Bei dieser Erinnerung stand ihm seltsamerweise plötzlich Ginny deutlich vor Augen, und er stellte überrascht fest, wie unkompliziert ihm damals wenigstens seine eigene Welt erschienen war – und wie dunkel und verstrickt er sich jetzt fühlte.
Hinter ihnen gingen Moody und die seltsam klein wirkende Tonks. Ihr Haar war völlig farblos und lag wie tot um ihr spitzes Gesicht. Moody führte sie am Arm, als die beiden jetzt an Harry, Ron und Hermione vorbeigingen. Dann drehte Tonks sich zu ihnen um und schüttelte Moodys Hand ab.
"Ist dir klar, dass er deinetwegen hier war?", sagte sie bitter zu Harry. "Kannst du nicht endlich losgehen und diesen Scheißkerl finden und erledigen? Bevor wir noch alle dafür draufgehen!"
Harry prallte zurück, als hätte sie ihn geschlagen. Unwillkürlich blieb er stehen, aber er konnte nichts erwidern.
Moody warf Harry einen entschuldigenden Blick zu und zog Tonks sanft mit sich.
"Nun komm schon, Kleines", murmelte er so tröstend, wie seine bärbeißige Stimme es nur zuließ. Seine andere Hand zuckte in alter Gewohnheit zu seiner Umhangtasche, in der sich normalerweise der Flachmann befand, sank dann aber unverrichteter Dinge zurück.
Ron sah Moody und Tonks erschreckt und bekümmert hinterher. Harry stand immer noch wie angewurzelt da und überlegte, wie er nun weitergehen sollte. Da berührte Hermiones Hand die seine und drückte sie.
Endlich stand die kleine Gruppe fröstelnd vor dem Steinblock neben Dumbledores Grabmal, auf den Hagrid den Toten gelegt hatte. Die Nässe des Nebels hing ihnen in winzigen Tropfen in Haar und Umhängen. Aber während sie schweigend dastanden, begann sich die weiße Decke über dem See zu lichten und ließ erste Sonnenstrahlen hindurch.
Harry schauderte wieder. Er hatte das Gefühl, heute kein Sonnenlicht mehr ertragen zu können. Und er wünschte sich, Hermione würde seine Hand noch in der ihren halten.
Professor McGonagall hielt eine kurze Ansprache, die an seinen Ohren vorbeirauschte.
Stattdessen hörte er Hermione neben sich auf einmal scharf einatmen,
"Sieh mal da!", flüsterte sie, und als er ihrem Blick folgte, konnte auch er zwischen den Bäumen jenseits des Seeufers große, sich weich wie unter Wasser bewegende Gestalten ausmachen.
"Was ist das?", hauchte Hermione, und Rons Blick ging entsetzt in dieselbe Richtung.
Die Gestalten sahen ein bisschen aus wie schwarze Dinosaurier, die sich in träumerischer Stille durch das Morgenlicht bewegten.
"Das sind Thestrale", flüsterte Harry beklommen. "Jetzt könnt ihr sie auch sehen."
Sie konnten den Blick von diesen Tieren nicht mehr abwenden, während sie McGonagalls Stimme lauschten. Sie sehen zu können, bedeutete, dem Tod begegnet zu sein …
Und schließlich ergriff Alastor Moody das Wort.
"Verabschieden wir uns nun von unserem Freund Remus Lupin", begann er rauh. "Sein Leben ist schon früh verletzt worden, und wie es aussieht, konnte derjenige, der das getan hat, sein Werk nun doch noch vollenden. Er wird dafür bezahlen. Das verspreche ich.
Remus Lupin war ein tapferer Mann, der im Kampf gegen das Dunkel nie ermüdet ist. Er war ein – sanfter Mann, der schwer an seinem Schicksal, ein Wolf zu sein, getragen hat. Denn vor allem war er ein Mensch, einer der menschlichsten, die ich kennen gelernt habe. Er hat so viele seiner Freunde vor sich sterben sehen. Ich glaube, dass er manchmal gern an ihrer Stelle gegangen wäre. Aber er hat sich selbst nie aufgegeben.
Und nun hat er es geschafft", schloss Moody leise. "Der Wolf ist endlich freigekommen."
