Kapitel 16
In jenen dunklen Tagen ...
Teil 2: Tage des Bluts
Als Hermione gegangen war, kehrte Harry zu dem Ohrensessel zurück. Er nahm das aufgeschlagene Buch und starrte auf die penible Schrift, in der der Bruder seines Paten so akribisch über seine Todesser-Zeit berichtete. Mit Mühe widerstand er der Versuchung, einfach weiterzulesen. Er blätterte nicht einmal vor, um zu sehen, wie viele der folgenden Seiten noch beschrieben waren. Nach seiner Erinnerung musste Regulus Black noch in demselben Jahr, in dem er dies geschrieben hatte, ermordet worden sein. Also konnte er unmöglich noch das ganze dicke Buch voll geschrieben haben. Er fragte sich, was wohl noch kommen mochte.
Hermione hätte Harry nicht auf die Bedeutung dieses Tagebuches aufmerksam machen müssen. Während er das Buch vorsichtig aus dem schweren schwarzen Ledereinband löste, wirbelten ihm die Dinge durch den Kopf, die er eben erfahren hatte. Während des Lesens war ihm mit zunehmender Aufregung klar geworden, dass er hier die Aufzeichnungen des bislang geheimnisvollen R.A.B. in den Händen hielt und dass dieses Buch die Geschichte des Medaillon-Horcruxes enthalten konnte. Und dann war da Hekate Harper und ihre Rolle in der Angelegenheit – ein Rätsel, das immer rätselhafter wurde.
Aber etwas anderes berührte ihn noch viel persönlicher. Die Aufgabe, die Voldemort Regulus gestellt hatte – zweifellos der Grund, warum dieser überhaupt bei den Todessern aufgenommen worden war – hatte seine und Nevilles Eltern betroffen. Die beiden Paare, auf die die Prophezeiung in zweierlei Hinsicht zutraf: Sie waren Voldemort dreimal begegnet, und sie hatten Ende Juli jenes Jahres einen Sohn bekommen. Es sah so aus, als habe Voldemort versucht, mehr über diese beiden Familien und ihre Herkunft in Erfahrung zu bringen, um so zu einer Entscheidung zu kommen, welches der beiden Kinder die Prophezeiung gemeint haben könnte. Regulus Black mit seinem Interesse an der Genealogie und seinen Beziehungen war ihm da gerade recht gekommen. Er konnte für ihn Unterlagen einsehen, die ihm selbst nicht so leicht zugänglich gewesen wären.
Harry fröstelte. Wie unheimlich es gewesen war, die Namen seiner Eltern in diesen Aufzeichnungen zu lesen!
Er hielt den ungewöhnlich dicken und schweren Einband des Buches in der Hand und betrachtete ihn. Von den Spiralschlangen des Verschlusses war nichts mehr zu sehen als winzige Löcher rund um die offenen Deckel. Löcher wie Schlangenbisse ...
Er vermutete, dass der Zauber, der das Buch verschlossen hatte, in diesem Einband gesteckt hatte und nun gebrochen war. Aber er wollte kein Risiko eingehen, deshalb hatte er das Tagebuch herausgenommen. Ob er wagen konnte, es zu schließen? Er wollte nicht mit dem offenen Buch durch die Gänge laufen. Er kramte in seinen Taschen nach etwas, das er als Lesezeichen verwenden konnte. Dabei fiel ihm ausgerechnet einer der beiden zusammengeknüllten Zettel mit der anonymen Botschaft in die Hände. Mit einem spöttischen Grinsen strich er ihn glatt und sah noch einmal "Was tust du in Hogwarts, Potter? Du bist SEIN Auserwählter!" aufleuchten. Dann legte er ihn einfach auf die aufgeschlagene Seite und schloss das Buch. Hektisch schlug er es wieder auf, aber es ging ohne Probleme.
Dann nahm er den Ledereinband in die andere Hand und verließ den Raum der Wünsche.
Draußen auf den Gängen und Treppen holte ihn die Gegenwart wieder ein. Es musste beinahe Abendessenszeit sein, und er wollte Ron unbedingt vorher noch von den neuen Erkenntnissen berichten. Halt, wollte er das wirklich unbedingt? Ja, ein Teil von ihm, der Rons treuer Freund war und mit ihm selbstverständlich solche wichtigen Dinge teilen wollte, dieser Teil platzte beinahe vor Mitteilungsbedürfnis. Und an alles andere wollte er jetzt nicht denken.
Er beschloss, direkt im Krankenflügel nachzusehen; selbst wenn Ron nicht mehr dort war, konnte er doch erfahren, wie es Luna ging.
oooOOOooo
Im Krankenflügel war es dämmrig und still. Harry sah Licht durch die halbgeöffnete Tür von Madam Pomfreys Büro fallen, und schlich schnell vorbei. Im Krankensaal lagen außer Luna noch zwei andere Patienten, aber im Moment schienen alle zu schlafen oder zu dösen. Harry wollte die Tür gerade wieder schließen, als ihn Madam Pomfreys scharfe Stimme herumfahren ließ.
"Mr Potter! Die Besuchszeit ist vorbei! Ist Ihnen klar, dass meine Patienten krank sind und ihre Ruhe brauchen?"
"Entschuldigen Sie, Madam Pomfrey. Ich – ich wollte nur kurz sehen, wie es Luna geht. Und ich dachte, Ron wäre vielleicht –"
"Mr Weasley habe ich vor einer Viertelstunde hinausgeworfen! Auch ihm ist offenbar nicht bewusst, dass dies hier eine Krankenstation ist! Kommt hier mit all diesen Büchern an!"
Von drinnen näherten sich schnelle Schritte der Tür. Dann wurde Harry die Klinke aus der Hand gerissen, und Luna stand da, im langen, froschgrünen Nachthemd, das von einer wilden Haarmähne umgebene Gesicht blass, aber mit leuchtenden Augen.
"Hi, Harry!", sagte sie aufgeregt. "Ich wollte dich sowieso unbedingt sprechen!"
"Miss Lovegood! Sofort zurück ins Bett! Sie hatten gestern noch hohes Fieber und haben die halbe Nacht im Schlaf geredet! Ich kann das nicht dulden –"
"Bitte, Madam Pomfrey! Es geht mir schon viel besser! Und ich kann sowieso nie schlafen. Lassen Sie mich kurz mit Harry reden."
"Dann ziehen Sie sich zumindest was über und gehen in den Besucherraum! Dann stören Sie wenigstens die anderen nicht", schnaubte Madam Pomfrey resigniert. "Zehn Minuten, keine Sekunde länger."
Und so saß Luna ihm in dem ziemlich schäbigen Besucherzimmer gegenüber, einen mit grellorangen, grinsenden Kürbissen verzierten Morgenmantel über das grüne Nachthemd gezogen, auf dem sich, wie Harry mit einem zweiten Blick feststellte, tatsächlich Frösche tummelten.
"Geht's dir besser?", fragte er.
"Ist schon okay. Ich hab bloß blöde Träume. Vermutlich war Grindeloh-Spucke auf dem Messer oder so was. Das sieht ein bisschen komisch aus an meinem Arm – hier!"
Und sie krempelte den Ärmel hoch und hielt Harry ihren Arm entgegen. Sie trug nur noch ein großes Pflaster auf dem Schnitt, und voller Schrecken sah Harry darum herum schwärzlich verfärbte, seltsam ausgetrocknet aussehende Haut.
"Was denn für Träume?", fragte er alarmiert.
"Ist doch jetzt egal. Ich werd' ermordet und so. Von so 'nem Typen mit Kapuze und Maske. Ist ja im Moment kein Wunder, wenn man so was träumt, oder?"
"Ich weiß nicht – was kommt denn noch vor in deinem Traum?"
"Ist doch nicht so wichtig jetzt. Werd' ich alles später mit meinem Traumbuch abgleichen. Jetzt hör mal lieber, was wir rausgefunden haben! Ron und ich haben doch in den alten Jahrbüchern und Zeitungen rumgewühlt. Also, Artemis Pepperleaf, deine Großmutter, war eine Nachfahrin von Godric Gryffindor! Du bist so was wie ein Erbe des Gründers! Ist das nicht toll?"
Sie sah ihn so begeistert an, dass er mühsam nach einer entsprechend begeisterten Antwort suchte. Aber die brauchte Luna offenbar gar nicht.
"Ich hab sogar einen Hinweis auf einen Artikel in 'ner Fachzeitschrift gefunden, der sich mit diesem Nachweis befasst", fuhr sie voller Eifer fort und zog ein Blatt aus der Tasche ihres Morgenrocks. "Da steht es, Der Goldene Löwenschnatz der Julianna Gryffindor, von Thomas Screen. In einer Zeitschrift, die Goldschmiedekunst und Kunsthandwerk heißt. Werd' ich nachlesen, sobald ich hier raus bin."
Löwenschnatz? Das erinnerte Harry an etwas. Aber im Moment war sein Kopf einfach zu voll.
"Jedenfalls war dieser Schnatz – der muss wohl ein Schmuckstück sein, kein richtiger – im Besitz von Gawain Pepperleaf, und der war dein Urgroßvater!", schloss Luna triumphierend.
Harry hatte ganz allmählich die Nase voll von all den Urgroßvätern und -müttern, die da in letzter Zeit aus der Versenkung auftauchten. Aber das konnte er natürlich nicht zu Luna sagen.
"Wirklich toll", sagte er darum schwach. "Das find ich klasse."
Zu seiner Erleichterung wurde in dem Moment die Tür geöffnet.
"He, hier bist du!", rief Ron. "Ich hab dich überall gesucht, dann sagte Hermione mir, dass du mich suchst, und zwar vermutlich hier."
Er setzte sich zu ihnen und sah dann Luna erwartungsvoll an.
"Hast du's ihm erzählt?"
"Klar, hat sie. Aber das wusste ich schon, Leute. Na ja, ich hab's gerüchtweise gehört und nicht so genau, wie Luna es jetzt sagte. Aber ehrlich, na wenn schon!", sagte Harry nun doch, und der Gedanke an den anderen Gründer, von dem er offenbar auch abstammte, ging ihm durch den Kopf. "Was ist so toll daran, dass vor soundsoviel Generationen ein Gründer meinen Stammbaum gestreift hat?"
Ron sah ihn perplex an, dann begann er zu kichern.
"Äh, nee, doch nicht das, Mann! Wir haben noch was rausgefunden. Erzähl's ihm, Luna!"
Verwirrt sah Harry, dass auch Luna nun kicherte, und hoffte sehr, dass sie jetzt keinen ihrer berüchtigten Lachanfälle kriegen würde.
"Also, wir haben festgestellt, warum deine Eltern so reich waren – waren sie doch, oder? Ron sagte das."
Harry nickte ungeduldig. Ron gackerte immer noch.
"Wenn Fred und George das hören –"
"Nun sag schon endlich, Mann! Hatten sie 'nen Scherzartikel-Laden oder was?"
"Nee. Aber dein Großvater – wie hieß er noch –"
"Alexander Potter!", warf Luna hilfreich ein.
"Genau. Der hat was erfunden, was ihn wahnsinnig reich gemacht hat", prustete Ron.
"Und zwar?", fragte Harry zunehmend genervt.
"Er war der Erfinder von Potters Praktischen Pastillen", sagte Luna. "Nachdem er sich selbständig gemacht hat. Vielleicht weißt du gar nicht, was das ist, also Potters Praktische Pastillen sind –"
"Klar weiß ich das!", knurrte Harry und sah den johlenden Ron an. "Wahnsinnig komisch."
Ihm wurde auf einmal klar, warum Professor Slughorn damals auf der Party Theodorus Mortar so hastig unterbrochen hatte, als dieser ihm gerade von seiner Zusammenarbeit mit seinem Großvater hatte erzählen wollen.
"He Mann, das ist es doch auch, oder? Sich vorzustellen, dass die vielen Stapel in deinem Gringotts-Verlies das sind, was die ganzen alten Knacker bezahlt haben, um wieder –"
"Ende der Besuchszeit!", schnitt da Madam Pomfreys Stimme Rons Ausführungen scharf ab. Sie stand in der Tür und sah sie drohend an.
"Ins Bett, Miss Lovegood! Und Sie beide, Sie sollten sich jetzt beeilen, sonst kriegen Sie kein Abendessen mehr!"
"Wir werden das nicht erwähnen, Harry. Im Jahrbuch, meine ich", sagte Luna noch beschwichtigend, als sie sie verließ.
Ron und Harry zogen ebenfalls los, und Harry hatte einige Mühe, Ron wieder so weit zu bringen, dass er ihm von dem Tagebuch erzählen konnte.
oooOOOooo
Später standen sie vor dem Porträt der Fetten Dame, und Harry sagte gedankenlos "Furunkelquetsche" und wandte sich dann wieder an Ron.
"Du kannst es ja dann später von Anfang an lesen. Nachher sollten wir alle drei erst mal den Rest lesen. Ich muss einfach wissen –"
"He, er hat doch schon Furunkelquetsche gesagt!", murrte Ron die Fette Dame an, die gerade Besuch von ihrer Freundin Violet hatte.
"Oh ja. Aber das ist nicht mehr aktuell. Und ein höflicherer Ton wäre auch angebracht!", war die grimmige Antwort.
Die beiden seufzten.
"Also gut, Entschuldigung. Aber wir kennen das neue Wort nicht", sagte Ron genervt.
"Entschuldigung angenommen", funkelte die Dame zurück. "Und weil Sie es sind, Mr Weasley, werde ich Ihnen helfen! Das neue Passwort lautet Verräter!"
Harry zuckte zusammen und hielt mit Mühe dem bedeutungsschweren Blick stand, den ihm die Fette Dame und Violet zuwarfen. Konnte es sein, dass –? Wer weiß, was diese Porträts alles mitbekamen. Man übersah sie einfach zu leicht, sie hingen da an den Wänden, und man rechnete nicht immer damit, dass sie einen beobachteten und sich genüsslich an allem Tratsch beteiligten.
"Verräter!", sagte Ron derweil. "Ich frage mich, warum sie die Körperpflege so schnell aufgegeben hat. Es fing doch gerade erst an, interessant zu werden."
Noch immer durcheinander folgte Harry ihm durch das Porträtloch in den Gemeinschaftsraum.
Ja, da hinten saß sie, an ihrem Tisch beim Fenster. Die Hände in das buschige Haar vergraben, das nur noch kinnlang war und nun in alle Richtungen abzustehen schien. So starrte sie in ihr Buch und sah so sehr nach der Hermione aus, die Harry seit Jahren kannte, dass er einfach nicht verstehen konnte, warum schon ihr Anblick sein Herz zum Jagen brachte.
"Ich kapier' nicht, wie sie jetzt dasitzen und Hausaufgaben machen kann", sagte Ron neben ihm. "Aber so ist sie eben, oder?"
Und während sie sich selbst auf ihre Stammplätze auf dem Sofa fallen ließen, begriff Harry, dass Ron seine Gefühle für Hermione zwar vielleicht nicht so gut zeigen konnte, dass er aber durchaus welche hatte.
Dann versuchte er sich auf sein Buch zu konzentrieren, um morgen nicht wieder in Zaubersprüche zu versagen. Aber da wirbelten so viele Gedanken und Gefühle durch seinen Kopf, dass das unmöglich war. Schließlich wartete er nur noch darauf, dass Hermione mit ihrem Kram fertig war und sie alle zusammen weiterlesen konnten. Er fragte sich, ob sie sich dafür wieder in den Raum der Wünsche zurückziehen sollten.
"Hi, Harry!", sagte Neville da lässig, als er sich neben die beiden aufs Sofa fallen ließ. "Das war 'ne gute Show heut Nachmittag, was?"
Harry bemühte sich um ein Grinsen, was ihm noch erschwert wurde durch den allzu nahen Ausblick auf Nevilles Gesicht.
"Du warst klasse, Neville. Ich wette, du kriegst das Ding auch ohne die Harper hin", sagte er dann.
In diesem Moment stand Hermione auf. Sie sah angespannt aus.
"Ich kann heut keinen klaren Gedanken mehr fassen", sagte sie, während sie ebenfalls zum Sofa kam. "Lasst uns weiterlesen."
Sie vermied es sorgfältig, Ron anzusehen, fiel Harry auf. Aber im Augenblick war er einfach nur erleichtert, dass sie endlich fertig war und es weitergehen konnte.
"Hier?", fragte er nur.
"Ich dachte – wir gehen am besten noch mal – dahin."
"Okay, Leute, ich versteh' schon, ich bin überflüssig. Also dann, schönen Abend noch!", sagte Neville würdevoll und stand auf.
"Geht ihr schon vor", sagte Harry. "Ich hol eben das Buch und komme dann nach. Und lasst bloß die Tür auf!"
oooOOOooo
Zehn Minuten später traf Harry atemlos im Raum der Wünsche ein. Der Flur war schon dunkel und völlig still, aber durch den Türspalt fiel ein Streifen goldenes Licht hinaus. Aufatmend schloss er die Tür und sah sich um. Ein großes gemütliches Sofa, ein Tisch mit Butterbierflaschen, einer dampfenden Teekanne und mehreren Schüsseln Salzgebäck, ein knisterndes Kaminfeuer ...
"Ich habe gedacht, dass wir einen Ort brauchen, wo man so richtig gemütlich und in Ruhe lesen kann!", erklärte Ron.
"Lasst uns endlich anfangen", sagte Hermione und trank einen Schluck Tee.
Harry setzte sich auf den Platz, den die beiden zwischen sich freigelassen hatten, und schlug das Tagebuch auf.
Das Tagebuch
15. November 1980, abends
Das Essen mit Hekate war recht gelungen. Im letzten Moment hatte ich angefangen, mir Gedanken zu machen – wenn sie nun in dem Outfit auftauchte, das ich von unseren Schultagen her kenne (ihre Wollpullover waren das Gespött aller Mädchen)! Im Speisesaal der Genealogischen Gesellschaft achtet man sehr auf das angemessene Auftreten der Mitglieder, und ich wollte mich auf keinen Fall blamieren. Ich hatte also schon Blut und Wasser geschwitzt, aber sie war ganz passabel angezogen, nichts besonders Tolles, aber immerhin keine ausgefransten Säume und so. Und es ist wirklich ein Vergnügen, sich mit ihr zu unterhalten. Sie bringt einen zum Lachen und ist ziemlich geistreich. (Und leider ist das mehr, als man von Lydia behaupten kann.)
Wir bekamen sogar einen Tisch am großen Panoramafenster, von wo aus man diesen schönen Blick auf den Park und den Teich hat.
Hekate war ja auch im Slug-Club – Slughorn hat immer darauf geachtet, die wirklichen Talente um sich zu sammeln und dabei nicht in erster Linie auf die Herkunft zu sehen – und so haben wir eine Weile über Slug geredet und die Leute des Clubs und was sie jetzt so machen. Dabei habe ich erfahren, dass Hekate das Stipendium bekommen hat, für das Slug sie empfohlen hat. Sie geht im Dezember nach Padua an die Akademie und wird dort vor allem Verteidigung gegen die Dunklen Künste studieren – bei Slinkhard persönlich, obwohl der ja inzwischen schon reichlich alt ist. Aber seine Theorie der magischen Verteidigung ist immer noch DAS Standardwerk, und ich denke, mit ihm haben sie in Padua wirklich einen guten Griff getan.
Ich war verflucht neugierig auf Hekates auffällige Beziehung zu Lord Voldemort und überlegte die ganze Zeit, wie ich das Gespräch darauf bringen könnte, ohne direkt nachzufragen. Dann fing sie selbst irgendwann davon an.
"Er war es, der mich als Hexe entdeckt hat", sagte sie mit einem seltsamen Lächeln. "Da war ich so um die vier Jahre alt und lebte sozusagen in seinem Haushalt. Er war damals viel auf Reisen, und Mutter begleitete ihn stets. Sie durfte mich mitnehmen – ich glaube, ich habe Lord Voldemort in meiner Kindheit häufiger gesehen als meinen eigenen Vater."
Meine Neugier steigerte sich ins Unermessliche. Jemand, der den Dunklen Lord so lange aus dieser großen Nähe her kennt!
"Nun, jedenfalls erwartete niemand von einem Kind, dessen Eltern eine Muggel und ein Squib waren, besondere magische Talente. Aber eines Tages, als wir uns gerade in Marokko aufhielten, muss ich wohl gezaubert haben. Keine Ahnung, woher ich das konnte. Ich weiß nur noch, dass meine Mutter sich ganz furchtbar aufregte, weil Lord Voldemort einige wichtige Leute zu einem Dinner erwartete – und sie das Essen noch nicht fertig hatte. Sie tat sich sowieso schwer mit dem Kochen, und dann noch diese fremden Mahlzeiten –
Und dann schnitt das Messer plötzlich die Gemüse von selbst, das Fleisch wurde richtig gewürzt, dieser seltsame Tee kochte sich genauso, wie er sein sollte – und er hat's gesehen. Er stand in der Tür und schien ziemlich verblüfft.
Und von dem Tag an hatte ich seine volle Aufmerksamkeit. Er fand es wohl unterhaltsam, einem kleinen Mädchen Tricks beizubringen und zu sehen, ob sie sie kapierte und anwenden konnte. Ich konnte es. Er führte mich auf den Gesellschaften, die er hin und wieder gab, manchmal so richtig vor. Ich fand das einfach toll. Ich war ein ziemlich geltungssüchtiges Kind!", sagte sie lachend. "Meine arme Mutter! Ich fürchte, ich war damals eine ziemliche Plage. Lord Voldemort bestand darauf, dass sie mich immer wie eine Puppe herausputzte. Er verwendete mich oft als eine Art Eisbrecher, wenn er wichtige Gäste hatte."
Ich hatte völlig fasziniert zugehört, ich hatte die Bilder, die sie beschrieb, geradezu vor Augen.
"Er war es auch, der dafür gesorgt hat, dass ich nach Hogwarts kam und dass mich niemand mit ihm in Verbindung brachte. Seitdem heiße ich übrigens Harper wie mein Vater, obwohl meine Eltern nicht verheiratet waren. Voldemort war immer sehr interessiert an meinen Fortschritten und Hogwarts und allem, was da so vor sich ging", fuhr sie fort, während sie nachdenklich in ihr Weinglas sah.
Ich hätte zu gern weitergefragt – zum Beispiel, wie sie jetzt zu ihrem Gönner steht, ob sie auch bei Todessertreffen dabei gewesen ist – ob sie vielleicht sogar dazu gehört, obwohl ich sie nicht gesehen habe, als ich aufgenommen wurde. (Aber das heißt nicht viel, das ist mir klar. Auch Snape fiel mir ja erst später auf.) Ich bin allerdings ziemlich sicher, dass sie kein Dunkles Mal trägt.
Aber sie lenkte dann das Gespräch wieder auf meine Arbeit, und wer mich kennt, weiß, dass ich darüber dann alles andere vergessen kann.
Eines aber hat mich diese Verabredung erkennen lassen: Es ist durchaus nützlich, Hekate Harper zu kennen und auch, diesen Kontakt zu pflegen, selbst wenn sie nicht reinblütig ist. Ehrlich gesagt, pflege ich diesen Kontakt sogar recht gerne. Wir werden nächste Woche zusammen zu einer Ausstellung von Daria Wunderbild gehen. Ich kann nur hoffen, dass Lydia nicht misstrauisch wird.
17. November 1980
Heute war ich bei Flourish and Blotts, um nachzufragen, ob die Bücher, die ich bestellt habe, schon da sind. Waren sie nicht. Als ich aus dem Laden rauskam, sah ich zu meiner großen Überraschung auf der anderen Straßenseite Lily Potter stehen, und zwar ausgerechnet mit Snape! Ob der auch irgendeinen Auftrag im Zusammenhang mit ihr hat? Dieser Gedanke machte mich geradezu etwas eifersüchtig! Vielleicht vergibt Lord Voldemort all seine Aufträge doppelt, um ganz sicher zu gehen? Aber würde Snape dann mit ihr selbst sprechen? Auf diese Idee bin ICH noch gar nicht gekommen. Wozu gibt es denn Bücher! Die sind für mich immer der erste (und meistens auch der letzte) Weg!
Also, verdächtig war das schon, denn soweit ich weiß, sind die Potters und Snape nicht gerade befreundet! Sie sah auch gar nicht so glücklich aus. Und Snape – na ja, wir kennen ja Snape! Ich konnte sie nicht weiter beobachten, ohne aufzufallen, sah nur noch, wie sie zusammen weitergingen.
Ich hoffe, die Bücher kommen bald. Wappen und Wappentiere von Paulina Beasting ist gerade erst herausgekommen, und ich bin sicher, dass es mir nützliche Details oder Verweise bringt.
18. November 1980
Eben kam eine Eule mit einem ganzen Packen am Bein. Muggel-Dokumente in Kopien, so nannte die McIntyre vom Museum das in ihrem Begleitbrief. (Mechanische Abschriften, durch eine Maschine erstellt, hab so ein Gerät auch schon gesehen.) Das waren Geburts-, Eheschließungs- und Sterbeurkunden, Stammblätter, bestimmt an die hundert Seiten, ich frage mich, wie sie da so schnell drangekommen ist. Sie hofft, sie habe mir weitergeholfen, schreibt sie.
Ich habe sofort alles durchgesucht, wusste selbst nicht so genau, was ich eigentlich zu finden hoffte. Da waren Edward und Persephone Evans, und aus irgendeinem Grund beschloss ich, erst einmal ganz stur die Linie der Frauen zu verfolgen. Also sah ich mir zuerst die Dokumente an, die Persephone betrafen. Sie war das einzige Kind von Tiberius Williams und Penelope, geb. Scott. Schön, noch ein griechischer Name! Das bestärkte mich in meiner Suchrichtung. Penelope Scott hatte ebenfalls keine Geschwister.
Und dann sah ich es. Auf einer Eheschließungsurkunde aus dem Jahr 1910, ausgestellt in London. Leonard Scott hatte die Ehe geschlossen mit "Dora Smith, Eltern unbekannt." Dora Smith, ohne Herkunft. Sie war die Mutter von Penelope und die Urgroßmutter von Lily.
Und meines Erachtens ist sie identisch mit Pandora Gaunt, der Tochter von Lawrence Gaunt – dem letzten rechtmäßigen Besitzer dieser verräterischen Ohrringe!
Pandora muss ihre Familie verlassen (von ihr ist ja, wie auch von ihrer Tochter Merope, kein Todesdatum bekannt!) und in der Muggelwelt einen Neuanfang gemacht haben.
Ich werde das natürlich noch genau überprüfen, ebenso wie die Dokumente der Vaterlinie von Lily. Aber ich FÜHLE, dass es richtig ist!
Unglaublich! Wie es aussieht, ist Lily Evans also – eine Slytherin-Nachfahrin! Ich frage mich, ob sie das selbst weiß. Oder Potter und mein lieber Bruder, der ja ihr Trauzeuge gewesen ist vor zwei Jahren. Allerdings gilt es noch einige Fakten zu überprüfen, bislang ist das mehr eine Theorie, obwohl ich keine großen Zweifel habe, dass sie sich als richtig herausstellen wird.
Ob das der Grund ist, warum der Herr sich für die beiden interessiert? Aber diese Frage steht auch mir sicher nicht zu. Ich bin nur ein demütiger Diener. Ich werde weiter graben, glaube aber, etwas Überraschenderes als die Peverell-Herkunft dieses vermeintlichen Schlammblutes werde ich kaum finden!
Was mich übrigens auch interessiert, ist die Frage, was denn eigentlich aus Merope Gaunt geworden ist. Sie ist ja nun der letzte ungeklärte Punkt in der Slytherin-Nachfolge, ich werde der Frage also nachgehen.
22. November 1980
Seit ein paar Tagen warte ich jetzt auf einen Ruf zu Lord Voldemort. Aber es kommt nichts. Ich vermute, er ist auf einer seiner vielen Reisen.
Heute Nachmittag treffe ich mich mit Hekate, und wir werden zusammen zu der Ausstellung von Daria Wunderbild gehen. Der Kontakt zu Hekate ist mir ziemlich wichtig, denn es gibt keinen, der dem Dunklen Lord näher steht als sie. Dafür nehme ich auch in Kauf, dass Lydia stinksauer auf mich ist, so wie heute. Abgesehen davon ist Hekate sehr unterhaltsam. Ja, sie ist nicht reinblütig, aber ich habe ja auch nicht vor, etwas mit ihr anzufangen. Und wenn der Herr selbst darüber hinwegsehen kann –
Ich halte es überhaupt für sehr weise von IHM, dass ER sich die verschiedenen Begabungen und Talente stets zunutze macht und sich dabei auch von gemischtblütiger Herkunft nicht hindern lässt. So ist es zum Beispiel ein offenes Geheimnis, dass Severus Snape Muggelblut hat. Aber er scheint außerdem auch einen recht hellen Kopf zu haben und geradezu ein Naturtalent in den Dunklen Künsten zu sein.
Dass er leider eine ganz und gar unmögliche Kinderstube hat, habe ich bereits angedeutet. Ich hatte ja genug Gelegenheit, ihn in der Schule zu beobachten, und muss sagen, dass er für alle Nachteile des gemischten Blutes ein bedauerlich deutliches Beispiel ist – keine Manieren, keinerlei Sinn für ein angemessenes Auftreten und Äußeres – lässt sich dieser Mann gehen!
All das führt dazu, dass er in einem Bund wie dem unseren zwar geduldet ist – weil der Herr eben nicht blind für seine Nützlichkeit ist – aber doch für immer auf die hintersten Ränge verbannt bleibt. Ich bezweifle allerdings, dass ihm die Gründe dafür bekannt sind, und ebenso, dass er je imstande sein wird, sie zu erkennen ...
29. November 1980
Heute Abend ist mit einem Todesser-Treffen zu rechnen, ich sollte mich also bereithalten. Ich bin schon sehr gespannt. In den Tempel der Todesser kann man nur hineinapparieren, wenn ER uns ruft. Es funktioniert auch über das Dunkle Mal, denke ich. (Es schmerzt übrigens immer noch – ob das jetzt für immer so bleibt?)
Ich muss gestehen, dass ich ein bisschen besorgt bin. Je mehr ich über meinen letzten Einsatz nachdenke, desto größer ist meine Erleichterung, dass mich niemand auf dieser Hochzeitsfeier erkannt hat. Natürlich will ich meinen Ruf nicht ruinieren oder mir sonst wie meine Zukunft verbauen. Und da ist noch etwas, das mir keine Ruhe lässt. Was, wenn er das nächste Mal von mir verlangt, jemanden – zu töten? Ich weiß ja nicht, aber kann das nicht durchaus sein? Und ich frage mich wirklich, ob ich dazu in der Lage bin–
Ich war also recht erleichtert, dass ich in den vergangenen zwei Wochen keine weiteren Aufträge erhalten habe.
2. Dezember
Den gestrigen Tag habe ich krank im Bett zugebracht. Mutter machte eine Menge Aufhebens, dabei wollte ich eigentlich nur meine Ruhe haben. So kriegte ich Hühnerbrühe, einen Erdbeerkuchen (im Dezember!) und eine Menge Gerede und Gejammer um mein Bett.
Ich bin noch immer kaum in der Lage, von der Nacht im Tempel zu schreiben. Gleichzeitig muss es auch heraus, wie ein Gift, das ich loswerden muss. Und sprechen kann ich darüber mit niemandem.
Diese Frau – hingeschlachtet wie ein Stück Vieh! Sie mag nur eine Muggel gewesen sein, aber sie war jahrzehntelang eine treue Dienerin des Dunklen Lords. Mir wird immer noch schwach vor Entsetzen, wenn ich an die Szene zurückdenke. Ich meine, wir sind Magier, keine Schlächter! Brauchen wir solche Rituale wirklich? Und hätte es nicht auch ein Tier getan, wenn denn unbedingt Blut fließen musste?
Was wird Hekate wohl je über den Tod ihrer Mutter erfahren?
Snape wirkte ehrlich gesagt auch ein wenig angeschlagen. Aber es ist ja bekannt, dass diese Mischblüter kein Rückgrat zeigen, wenn es wirklich drauf ankommt, so dass ich bei ihm eher eine gewöhnliche psychische Schwäche vermute – vielleicht kann er kein Blut sehen! – als ein moralisches Zurückscheuen vor dem, was da geschah. Er war zwar schweigsam und mürrisch wie immer, ich muss ihm aber zugestehen, dass er mich nach Hause gebracht hat, ohne ein abfälliges Wort zu verlieren. Mein Schwächeanfall war mir dann im Nachhinein doch ein wenig peinlich.
3. Dezember 1980
Die Sache mit Amy Benson lässt mir keine Ruhe. Ich weiß gar nicht, wie ich Hekate jemals wieder gegenübertreten soll. Ich habe noch gar nichts von ihr gehört und habe Hemmungen, mich bei ihr zu melden. Wie auch nicht, bei Merlins Bart!
Und doch, ich muss darüber nachdenken. Leider hatte ich eine Art Schwächeanfall, als –
Nein, ich muss das jetzt in nüchternen Worten von Anfang an aufschreiben. Ich kann es einfach nicht in einem Nebensatz abhandeln.
Lord Voldemort hat sie von seinen Hunden anfallen lassen. Sie haben ihr die Kehle durchgebissen. Das Blut hat er in einer Schale aufgefangen und es für ein seltsames Ritual verwendet. So viel in knappen Worten.
Das war die eine Sache, auf die ich noch ausführlicher eingehen werde. Aber mir ist da noch was aufgefallen, obwohl mir elend schlecht war.
Er hat die Benson vorher in einer Art Rede angesprochen und sie als seine erste Dienerin und treue Schatzhüterin bezeichnet. Anscheinend hat er sie schon als Kind in einem Waisenhaus kennen gelernt (ich wusste nicht, dass er Waise ist und offenbar bei den Muggeln aufgewachsen, sehr interessant, vielleicht kommt seine Abneigung gegen die Muggelwelt daher!).
Er nannte sie also seine Schatzhüterin, die etwas für ihn aufbewahrt hat. Das ließ irgendwas in meinem Hirn klingeln. Es ging wohl um einen besonderen Zauber, der nur dadurch wieder aufgehoben werden kann, dass der Hüter größte Angst erleidet – deshalb übrigens diese barbarische Sache mit den Hunden.
Kurz bevor ich umkippte – es muss auch an der schlechten Luft da drin gelegen haben – kurz vorher also sah ich noch, wie er etwas von ihrem Hals riss. Ich bin nicht ganz sicher, aber ich glaube, es war ein goldenes Medaillon. Er steckte es so schnell ein, dass es niemand so richtig sehen konnte, denke ich. Die Szene war so grauenvoll, dass dieses Detail vermutlich ohnehin kaum jemanden interessiert haben dürfte.
Aber mich hat die ganze Sache an irgendwas erinnert, und als ich mich hier von meinem Entsetzen etwas erholt hatte, kam ich auch drauf.
Ich habe im Zusammenhang mit meiner genealogischen Forschung mal eine Anekdote gelesen über einen sehr reichen und sehr geizigen Zauberer, der starb, ohne dass er seinen Besitz irgendwem vermacht hätte – und niemand wusste, wo das Zeug überhaupt war. Seine Frau lebte also mit den drei Kindern in bitterer Armut. Eines Tages brannte das Haus, und nachdem die Frau in größter Panik ihr jüngstes Kind sozusagen den Flammen entrissen hatte, brach sie zusammen. Sie wäre beinahe erstickt, bis jemand darauf kam, in ihren Mund zu sehen. Darin lag ein kleiner goldener Schlüssel – zu einem Verlies bei Gringotts, in dem das komplette Vermögen ihres Mannes lagerte, wie sich dann herausstellte. Der Mann hatte diesen Schlüssel mit einem besonderen Zauber in seiner Frau geborgen, und sie wusste es nicht einmal selbst.
Ich habe heute verzweifelt nach dem Buch gesucht, in dem ich die Geschichte gelesen habe – und oh Wunder, ich hab es gefunden. Die Bezeichnung dieses Zaubers lautet Hortus Conclusus: ‚der verschlossene Garten', und ich habe dann mal in die Nachtwelten gesehen, wo er tatsächlich ausführlich geschildert ist. Er hatte im frühen Mittelalter eine Blütezeit und geriet dann, nachdem man ihn wegen moralischer Verwerflichkeit ächtete, ziemlich in Vergessenheit.
Aber dieser Zauber erklärt die ansonsten unerklärliche Bindung dieser Muggelfrau an Lord Voldemort. Er hat sie aus irgendwelchen Gründen zu seinem lebenden Tresor gemacht, um dieses Medaillon zu verwahren.
Was mag das übrigens für ihre Tochter bedeuten? Ist es möglich, dass Hekate davon weiß oder es ahnt? Ob sie weiß, was das für ein Medaillon ist?
Ich muss einfach mit ihr sprechen.
nachts
Ich konnte nicht schlafen. Dieses Ritual ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Blut, mit dem ein Silbermesser gewaschen wird, Blut, das schließlich spurlos in dieses Messer zu versinken scheint – ich kriegte das nicht zusammen. Habe eben noch mal gründlich bei Grindelwald nachgeschlagen. (Diese Nachtwelten sind wirklich ein extrem nützliches Werk, insbesondere, wenn einem der Zugang zu Weltennacht verwehrt ist!) Jetzt bin ich mir sicher: Das war ein Horcrux-Ritual!
Das hat mein Entsetzen zu blankem Abscheu werden lassen. Ich kann heute nicht mehr dazu schreiben. Ich muss das erst mal verdauen. Meine Welt ist ins Wanken geraten ...
4. Dezember 1980
Lord Voldemort hat eben einen Boten geschickt mit der Nachricht, dass ich mich morgen Vormittag bei ihm einfinden soll. Das Warten hat also ein Ende –
Werde ihm noch die fertig gestellte Untersuchung überreichen und dann darum bitten, von meinen weiteren Pflichten entbunden zu werden. Selbstverständlich werde ich ihm mein Wort als Ehrenmann geben, dass nichts über die Angelegenheiten des Bundes an fremde Ohren dringen wird. Auch in der Erneuerungsbewegung will ich mich gerne weiter engagieren.
Aber den Todessern kann ich nicht länger angehören. Das geht mir doch ein bisschen zu weit.
Ich sehe mich als den Spross eines alten und edlen Hauses und als zukünftigen Familienmann; ich möchte ordentliche, saubere Kinder mit einer guten Frau aufziehen – und irgendwie kann ich diese Vorstellung nicht mit der Teilnahme an solchen Blutritualen vereinbaren. Ich meine, so etwas mag für die Blutserneuerung unserer Gesellschaft nötig sein, aber ich bin nur ein Mann des Buches. Das sehe ich jetzt endlich ein.
ooOoo
Aber ich muss dazu noch etwas loswerden – dieses blutige Ritual wurde ja keineswegs zum Nutzen der Gesellschaft durchgeführt. Im Mittelalter haben die schwärzesten Magier sich ein Horcrux hergestellt, um darin ein Stück ihrer Seele aufzubewahren und so in einem gewissen Umfang unsterblich zu werden. Denn mittels ihres Horcruxes konnten sie jederzeit wieder ins Leben zurückgerufen werden – vorausgesetzt, sie hatten einen getreuen Diener, der ihnen dabei half.
Es mag nun sein, dass das Leben des Dunklen Lords für die Durchsetzung unserer Ziele so wichtig ist, dass es gerechtfertigt erscheint, ein Horcrux für ihn zu erschaffen. Aber wenn jemand ein Horcrux herstellen will, muss er dafür zunächst einen Mord begehen. Nur das – einem anderen Menschen das Leben zu nehmen – spaltet die Seele so tief, dass man ein Stück von ihr herauslösen kann ...
Mittels Blut – und Grindelwald nennt eigentlich Tierblut – wird dieses Seelenteil auf ein bestimmtes Objekt übertragen. Es ist finsterste schwarzmagische Praktik, und wenn ich es nicht selbst gesehen hätte, hätte ich nicht geglaubt, dass so etwas heute tatsächlich noch gemacht wird.
ooOoo
Ich habe es endlich über mich gebracht und Hekate eine Eule geschickt, um mich mit ihr zu verabreden. Eben kam die Eule mit ihrer Zustimmung zurück. Wir werden uns heute Nachmittag in einem Muggelcafé nicht weit vom Grimmauldplatz treffen.
abends
Ein Muggelcafé ist ein guter Ort, wenn man sich ungestört unterhalten will.
Hekate hat sich den Bericht, den ich ihr vom Tod ihrer Mutter gab, in steinerner Ruhe angehört. Sie war sehr blass und hat danach so lange geschwiegen, dass ich eine unerklärliche Angst bekam. Was, wenn sie –
"Er hat mir gesagt, dass sie von einem Muggel mit einem Auto angefahren worden und in ein Krankenhaus gebracht worden sei. Als er's erfahren hätte, sei's schon zu spät gewesen. Sie wäre schon tot gewesen, als er in das Krankenhaus kam. Morgen Nachmittag wird sie beerdigt", sagte sie leise.
Dann stellte sie eine völlig unerwartete Frage: Ob ich sicher sei, dass in dem Ritual ein Messer verwendet worden sei?
Ich erklärte ihr, dass wir dank eines Nahsicht-Zaubers das Geschehen auf der Insel ziemlich genau verfolgen konnten. Ich bin sogar sicher, einen vogelartigen Griff an diesem Messer gesehen zu haben.
Das ließ Hekate zusammenzucken.
Wir tranken einen starken Irish Coffee, während ich darauf wartete, dass sie sich entschloss, mir zu vertrauen. Vertraute ich ihr eigentlich? Schließlich ist sie Lord Voldemorts Vorzeigepüppchen gewesen und jetzt so etwas wie seine Adoptivtochter, oder? Was gab mir das Gefühl, dass ich ihr vertrauen könnte? Dass es ihre Mutter war, um die es ging?
Ich glaube, von meiner allgemeinen Gutgläubigkeit und – ja, geben wir es ruhig mal zu – Naivität abgesehen war es vor allem der Anblick ihrer Augen. Sie hatte geweint, viel geweint, und das konnte man sehen. Und sie hatte dunkle Schatten um die Augen und dieses kränkliche Aussehen, das man nach schlaflosen Nächten und Hungern bekommt.
Und endlich, endlich fing sie dann leise an zu reden.
"Das ist alles meine Schuld. Ich habe ihm das Messer gebracht, hab's damals aus dem Pokalzimmer geklaut. Das hielten wir für einen guten Scherz. Er hat mich drauf angesetzt. Meinte, ihm fehle noch ein Stück für seine Sammlung, von allen anderen Schulgründern hätte er jetzt was, nur nicht von Rowena Ravenclaw. Ich hab damals zum Spaß geklaut wie eine Elster, weißt du noch? Hatte einen richtigen Ruf darin. Ich hab zwar immer alles zurückgegeben –"
"Außer Professor Cassanders Kugel", warf ich ein.
Sie sah mich an, und plötzlich lachte sie, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen.
"Stimmt! Cassanders Kugel! Hätte sie die nicht sehen müssen? Mit dem Inneren Auge, meine ich?"
Ich glaube, wir haben ein seltsames Bild geboten in dem Moment, kichernd wie zwei Verrückte, sie mit Tränen im Gesicht. Aber es half uns. Die Anspannung der letzten Tage, die kaum noch zu ertragen gewesen war, löste sich ein bisschen. Und irgendwann konnten wir dann vernünftig weiterreden.
"Du warst das also doch? Du hast für ihn Rowenas Messer gestohlen?"
"Ja. Wie gesagt, wir hielten das für einen gelungenen Scherz. Ich war damals dreizehn und hielt mich für die Größte! All diese braven Schüler – und wenn ich dann an mein Leben zu Hause dachte, wo ich die Leute mit der wirklichen Macht sah, die Leute, die keine Skrupel kannten – ich kann das nicht mal wirklich erklären. Nicht besser jedenfalls als mit der Antwort: Ich war eben dreizehn Jahre alt!"
Was habe ich getan, als ich dreizehn war? Meinen Vater verfolgt, als der wieder mal zu einer Geliebten ging – einer Muggel übrigens – und ihr am nächsten Tag einen Ausschlag angehext, den sie heute noch haben dürfte. Und als ich ihren Mann ausfindig gemacht hatte, habe ich ihm einen anonymen Brief geschrieben ...
Und Hekate hat eben für den Dunklen Lord ein Gründerstück aus der Schule gestohlen.
Endlich wagte ich meine Vermutung anzusprechen, die ich bisher noch für mich behalten hatte.
"Weißt du, wozu dieses ganze Ritual diente?"
Wir sahen uns über den kleinen Plastikrosenstrauß auf unserem Tisch hinweg in die Augen.
Dann nickte sie. Mich überlief ein Schauer. Hier saß Hekate Harper aus Ravenclaw, achtzehn Jahre alt, und wusste Bescheid.
"Woher –?"
"Er hat eine sehr umfassende Bibliothek. Ich habe darin gelesen, seit ich lesen konnte. Er hat mich immer ermutigt."
Dann schwiegen wir wieder. Ich wusste nicht, wie ich noch mal auf ihre Mutter zu sprechen kommen könnte. Aber das tat sie dann selbst.
"Meine Mutter – hat geahnt, dass ihr so etwas bevorstand", sagte sie irgendwann zögernd. "Sie hat mir in letzter Zeit einige Dinge erzählt. Ich habe – kennst du das Denkarium-Verfahren zur Erinnerungsschau?", unterbrach sie sich.
Ich habe davon gehört, aber noch nie selbst in eins gesehen. Das sagte ich ihr.
"Also, dafür musst du jedenfalls Gedanken extrahieren. Über den meisten ihrer Erinnerungen lag allerdings so etwas wie – wie ein Siegel. Aber zwei bedeutsame Gedankenfäden konnte ich von ihr doch bekommen."
Jetzt war ich wirklich beeindruckt.
"Du kannst das? Also, Schulwissen ist das doch nicht, oder habe ich irgendwo geschlafen?"
"Nein, das ist kein Schulwissen. Aber auch das kann man lernen, mit den richtigen Büchern."
Und der richtigen Begabung, dachte ich.
"Ich habe sie sicher verwahrt", sagte sie. "Sie erklären einiges, wenn man weiß, worauf man achten muss. Du hast mir ja erzählt, dass er sie als Schatzhüterin bezeichnet hat."
"Ja. Und darüber wollte ich gerade mit dir sprechen. Ich habe nachgelesen. Es geht um einen Hortus-Conclusus-Zauber, oder?"
Jetzt sah sie mich mit Überraschung an, was mir richtig gut tat.
"Genau. Anscheinend liest du auch die richtigen Bücher! Ich hatte jedenfalls auch die Vermutung, dass er sie mit diesem Zauber belegt hat. Aber sicher bin ich erst, seit du mir das eben erzählt hast. Ein Medaillon also."
Nachdenklich rührte sie im schwarzen Bodensatz ihres Glases.
"Was denkst du, warum dieses Ding so wichtig für ihn ist?", fragte ich.
Sie sah mich scharf an, und in diesem Moment begriff ich.
"Du meinst – dieses Medaillon – ist auch eins?", fragte ich atemlos. "Noch ein Horcrux?"
Sie brauchte nicht zu antworten, ihr Blick sagte genug. Zwei Horcruxe! Grindelwald erwähnt solche Fälle nicht. Natürlich, wenn man es bedenkt, warum sollte jemand nicht mehr als eines herstellen, vor allem, wenn kein Mangel an begangenen Morden besteht.
"Ich denke, wir sollten jetzt gehen", sagte Hekate auf einmal. "Ich weiß nicht, ob dir klar ist, dass wir uns mit diesem Gespräch in Gefahr gebracht haben. Wir sollten jetzt sehr vorsichtig sein."
Ich konnte nur nicken. Natürlich hat sie Recht!
"Hör zu, ich weiß nicht, was du vorhast, aber du musst aufpassen. Lass dir nichts anmerken. Du kannst nur noch mitmachen."
Das fiel wie ein Felsbrocken auf mein Herz.
"Lass uns eine Verabredung für übermorgen ausmachen!", bat ich ganz hemmungslos. "Ich muss mit dir sprechen. Gründlich nachdenken und dann mit dir reden. Verstehst du?"
Sie sah mich mit einem Lächeln an, das halb ironisch und halb traurig war.
Wir werden uns morgen Abend wieder treffen, diesmal in einem kleinen Restaurant, auch in der Muggelgegend.
Ihre Mutter wird morgen beerdigt, auf einem Muggelfriedhof. Lord Voldemort hat das alles so geregelt, dass da niemandem was auffallen wird.
5. Dezember 1980
Oh gütiger Merlin! Ich komme eben von Lord Voldemort. Er war recht angetan von meiner Arbeit und trug mir auf, einem bestimmten Detail noch etwas genauer nachzugehen (da gibt es eine kleine Unsicherheit in Bezug auf Frank Longbottom). Morgen soll ich noch mal bei ihm erscheinen.
Aber all das war nicht das Wesentliche, nicht das, weswegen ich jetzt hier an meinem Schreibtisch sitze und zittere.
Als ich da in seinem Arbeitszimmer saß, während er sich meine Pergamente durchlas, ließ ich meinen Blick durchs Zimmer wandern. Er hat dort eine kleine Vitrine, in der er Objekte aus aller Welt aufbewahrt, wohl von seinen Reisen. Es sind wunderschöne Dinge dabei, aber auch ganz Alltägliches, wie eine Mundharmonika und ein paar Kinderspielzeuge. Heute entdeckte ich darin etwas, das mir zuvor noch nicht aufgefallen war – weil es bis vor kurzem auch nicht darin gewesen ist. Es war ein massives, goldenes Medaillon, auf dessen Deckel das schlangenartige "S" der Slytherin eingraviert war!
Ich dachte, er müsste mein Herz schlagen hören, so laut kam es mir vor. Ich konnte kaum noch still sitzen bleiben. Da war es, ganz in meiner Nähe: das Horcrux, für das Amy Benson und irgendein anderer sein Leben hatte lassen müssen (denn die Benson diente nur als die Blutspenderin, da bin ich sicher!). Für einen Moment ging mir sogar der wüste Gedanke durch den Kopf, dass alle diese Gegenstände in der Vitrine Horcruxe sein mochten ... Ich hielt nach dem Silbermesser Ausschau, aber es war nirgends zu sehen.
Ich war so aufgeregt, dass ich gar nicht mehr daran dachte, ihm meinen Austrittswunsch vorzulegen. Aber das kann ich auch morgen noch tun!
Im Moment rasen wilde Gedanken durch mein Hirn. Ich muss jetzt ganz ruhig bleiben Und nachdenken. Sehr gründlich nachdenken.
nachts
Ich muss sehr leise sein. Mutter ist in Sorge um mich und macht immer wieder mal Kontrollgänge an meinem Zimmer vorbei, auch Kreacher hat sie darauf angesetzt. Es ist jetzt halb zwei nachts, aber ich muss noch aufschreiben, was Hekate und ich vorhin besprochen haben.
Wir trafen uns im Black Pidgeon, eigentlich mehr eine Kneipe als ein richtiges Restaurant. Es war voll und laut, und das war uns ganz recht. Da waren so viele junge Leute, dass wir überhaupt nicht auffielen.
Ich berichtete ihr von dem Medaillon – und dem Plan, den ich heute Nachmittag gemacht habe: dass ich morgen irgendwie versuchen werde, dieses Medaillon aus der Vitrine zu stehlen. Und dann zu vernichten.
Sie lächelte schief und sagte dann, ich sei zu leicht zu durchschauen.
"Lass mich das machen. Ich kann auch viel unauffälliger zu ihm ins Arbeitszimmer und ihn ablenken. Und außerdem bin ich die Diebin, nicht wahr?"
Sie kam mir so schön vor in dieser qualmigen Kneipe, und ich war ihr so dankbar, dass sie meine Komplizin sein wollte! Natürlich kann sie das besser, daran zweifle ich nicht.
"Und wir sollten eine verdammt gute Fälschung in diese Vitrine legen", sagte sie dann.
"Aber wir können nicht länger warten! Wer weiß, wohin er das Medaillon bringen will – das Messer war auch nicht in der Vitrine! Und wo soll ich so schnell eine Fälschung herkriegen, noch dazu eine gute?"
Da saßen wir dann und schwiegen uns an. Das Muggelbier hatten wir noch nicht angerührt. Schließlich sagte sie:
"Ich habe zu Hause ein altes Medaillon, auch aus Gold. Es hat einen Kratzer auf der Rückseite, ansonsten ist nichts daran oder darauf."
Ich fragte mich, was uns das nützen sollte.
"Kannst du mir aufzeichnen, wie sein Medaillon aussieht? Das Slytherin-S, hast du gesagt – noch was?"
Ich nahm mir einen Bierdeckel und zeichnete ihr mit der Feder, die ich immer bei mir trage, die Gravur so genau wie möglich auf.
Sie sah mir aufmerksam zu.
"Das ist gut. Nicht so kompliziert. Jetzt hör zu. Ich kann mein Medaillon so verzaubern, dass es diese Gravur hier zeigen wird. Mit etwas Glück wird ihn das täuschen. Ich werde das Original wegnehmen und durch die Fälschung ersetzen. Und später gebe ich dir das echte Medaillon."
"Warum?", platzte es aus mir heraus. "Warum willst du das für mich tun? Du bist doch seit Jahren sein Günstling oder wie immer man das nennen soll –"
"Ich tu das nicht für dich", sagte sie leise. "Ich tu's für meine Mutter. Und ich würde es selbst vernichten – wenn ich eine Ahnung hätte, wie. Aber ich kenne kein Buch, in dem etwas darüber steht, wie man ein Horcrux vernichtet."
Dann hatte ich noch etwas wie eine Eingebung.
"Hast du ein Pergament dabei? Ein Zettelchen reicht schon."
Sie kramte in ihrer Handtasche und förderte schließlich einen von einem Pergamentbogen abgerissenen Zettel zutage, den sie mir hinhielt.
Ich grübelte eine Weile und schrieb dann –
Verdammt! Ich höre Mutter und muss aufhören. Wenn nur morgen alles gut geht!
6. Dezember 1980
Meine Welt scheint sich verändert zu haben seit heute Morgen. Nein, eigentlich schon seit gestern Abend. Seit ich dieses Briefchen an den Dunklen Lord geschrieben habe.
Und dann heute diese Besprechung mit ihm! Ich hatte nichts Besonderes mehr herausgefunden, und das lag natürlich daran, dass mir gestern kaum etwas ferner war als Frank Longbottom und sein Stammbaum.
So saß ich ihm denn gegenüber in dem Wissen, dass es das letzte Mal sein würde. Von meinem Platz aus konnte ich das Medaillon in der Vitrine sehen und fragte mich, ob Hekate es tatsächlich getan hatte. Ich konnte keinen Unterschied zu gestern erkennen.
Dann betrachtete ich den Dunklen Lord.
Wie konnte ich mich nur so irren! Dieser Mann ist ein Wahnsinniger! Niemals wird er die Gesellschaft erneuern – alles, wonach er strebt, ist sie zu beherrschen und seine eigenen kranken Träume dabei auszuleben! Dieses unaussprechliche Ritual diente allein der Verewigung seines eigenen Lebens, und er hat es nicht zum ersten Mal ausgeführt.
Ich hatte Angst, ja Angst, Angst sogar, meinen Rücktritt zu erklären. Aber ich habe es getan und ihn gebeten, mich aus den Reihen der Todesser zu entlassen.
Und er? Er hat mich einfach ausgelacht!
"Du wirst schon wiederkommen, Regulus, wenn ich dich rufe!", sagte er mit diesem bösen Lachen.
Zum ersten Mal wurde mir klar, dass aus dem Blick dieser Augen kein normaler Mensch mit einem gesunden Geist mehr spricht. Natürlich traut er keinem Ehrenwort. Und vielleicht kränkt es auch seinen Stolz, wenn man seinen Bund verlassen will. Jedenfalls hat er mich mit einem Lachen entlassen.
Mir ist nur zu bewusst, dass jetzt mein Leben in Gefahr ist.
Noch ein Nachtrag.
Als ich heute Morgen bei Lord Voldemort zur Tür ging – von einem sehr schweigsamen Hauself geleitet – kam schon der nächste Besucher. Ich sah ihn nur kurz, aber ich bin sicher, die kümmerliche Figur von Peter Pettigrew erkannt zu haben. Da er in der Schule ein enger Freund von Sirius war – oder vielleicht eher eine Klette, die er nicht so recht abschütteln konnte – hätte es mich gewundert, ihm dort zu begegnen, wenn ich heute Morgen noch in der Verfassung gewesen wäre, mich über irgendwas zu wundern.
Gleich treffe ich mich mit Hekate, noch einmal in einem dieser kleinen Muggelcafés. Ich habe solche Angst, dass sie nicht erscheinen könnte!
abends
Das Treffen mit Hekate war das letzte, wie sich herausstellte. Morgen Abend reist sie nach Padua ab. Und davor –
Aber ich will von vorne anfangen.
Das Café war vorweihnachtlich geschmückt, und wir bestellten einen (grauenhaft süßen und klebrigen) Glühwein. Sie war blass bis in die Lippen, als sie mir ein kleines Päckchen überreichte.
Ich nahm es und steckte es ein. Seltsamerweise war ich nicht beruhigt, obwohl alles nach Plan verlaufen war.
"Ich hoffe, du findest einen Weg, es zu vernichten", sagte sie leise.
Und dann gab es irgendwie nicht mehr viel zu sagen. Uns war beiden so deutlich bewusst, wie ungeheuerlich das war, was wir da getan hatten. Dass es einem Todesurteil gleich kam.
"Morgen werde ich mit ihm nach Hogwarts reisen", sagte sie schließlich, als sei es das Normalste der Welt. "Er fragte mich, ob ich Lust hätte, ihn noch einmal zu meiner alten Schule zu begleiten, bevor ich das Land verlasse."
Da erst fiel mir siedend heiß wieder ein, dass sie ja noch vor Weihnachten nach Padua abreisen wollte! Ich hatte es völlig vergessen.
"Was will er denn in Hogwarts?", fragte ich schwach.
"Ich habe eine ziemlich gute Vorstellung davon", antwortete sie grimmig, aber sie erklärte es nicht weiter. "Ich werde jetzt gehen, Regulus. Vermutlich werden wir uns nicht wieder sehen. Das tut mir leid, aber ich glaube auch, dass es besser so ist."
Sie stand auf, und ich begleitete sie hinaus in den kalten Schneeregen.
"Pass auf dich auf!", sagte sie und küsste mich flüchtig auf den Mund. "Ich hoffe, du hast Erfolg!"
Und jetzt liegt es hier vor mir. Lord Voldemorts Horcrux. Ich habe großen Widerwillen, es zu berühren. Und keine Ahnung, wie ich es vernichten kann.
Und ich fühle, wie sich die Bedrohung um mich zusammenzieht. Ich kann es wirklich fühlen. Seit Hekate weg ist, bin ich schutzlos.
8. Dezember 1980
Ich lebe in der ständigen Erwartung, dass ER mich zu sich bestellt – oder dass mir im nächsten Hauseingang eine Gestalt in einem Kapuzenmantel auflauert. Ich kriege kaum mehr einen Bissen runter, und Mutter macht mir die Hölle heiß mit Rathbone und Lieblingsgerichten und ihrem besorgten Gesicht. Ich sollte hier verschwinden, um sie nicht alle in Gefahr zu bringen. Aber ich brauche meine Bücher – ich habe es noch nicht aufgegeben, etwas zu finden, das mir hilft, dieses ekelhafte Ding zu vernichten ...
Bis dahin verberge ich es im Geheimfach dieses Buchumschlags.
Oh Merlin! Es ist so schwer, nach außen hin ein halbwegs normales Leben zu führen. Ich weiß, dass ich verloren bin. Ich weiß es, seit ich in dieser Kneipe das Briefchen geschrieben habe, das Hekate dann später in das falsche Medaillon gesteckt hat.
Als ich, wie ich es üblicherweise mache, meine Initialen darunter gesetzt hatte, sprang es mir auf einmal ins Auge, und da WUSSTE ich, dass ich sterben werde. Es ist wie ein böses Omen, dass sie und ich dieselben Initialen haben – wenn man ihren Spottnamen dazusetzt, so wie ER es getan hat. Zugleich wurde mir klar, dass ich so den Brief auch in ihrem Namen schreibe. Und das fühlt sich irgendwie auch ganz richtig an.
Er kennt meine Art zu unterschreiben, da ich so auch meine Studien und Essays zu unterzeichnen pflege – übrigens schon seit Schulzeiten. So wird er wenigstens wissen, wer ihm diesen Strich durch seine Rechnung gemacht hat.
10. Dezember 1980
Ich weiß jetzt, dass ich verfolgt werde. Ich wage mich kaum noch vor die Tür; das Gefühl, ständig belauert zu werden, ist einfach zu schrecklich. Aber hin und wieder überkommt mich der Trotz und der Stolz. Ich kann mich ja nicht für immer verstecken. Und manchmal halte ich es hier auch einfach nicht mehr aus.
Ich bin mir inzwischen ziemlich sicher, dass ich das Horcrux nicht vernichten kann. Wenigstens dürfte es in diesem Buch erst mal gut verborgen sein. Ich frage mich, ob ich Hekate schreiben sollte, wo ich es versteckt habe. Aber das ist mir dann auch zu unsicher. Eulen kann man abfangen.
Ich schlafe kaum noch. Ich fühle, wie mir die Zeit ausgeht.
oooOOOooo
Harry blickte auf. Hermione war schon seit einiger Zeit mit dem Lesen der letzten Seite fertig. Hier brach das Tagebuch ab. Die übrigen Seiten des Buches waren leer.
Sie sahen sich an.
"Wo hast du den Buchumschlag hingetan?", fragte sie leise.
"In meinen Koffer", antwortete er schaudernd.
Dann war auch Ron mit Lesen fertig.
"Die haben das Messer zusammen hier in den See geschmissen!", sagte er. "Deshalb wusste die Harper Bescheid."
"Glaub ich auch."
"Ist doch idiotisch", sagte Ron und streckte sich. "Ich meine, wozu das? Direkt vor Dumbledores Nase!"
"Ich könnt' mir denken, dass das genau der Grund war", sagte Hermione leise. "Und er konnte sicher sein, dass es da niemand finden würde."
"Ich frage mich nur, warum er das Medaillon nicht auch da untergebracht hat", murmelte Harry. "Hat er gemerkt, dass es eine Fälschung war? Aber wenn, warum hat er es dann mit diesem Trank gesichert? Und in der Höhle, auf der Insel, mitten in einem See voller Inferi!"
"Gute Frage", sagte Hermione. "Vielleicht hat er es nicht gemerkt und für dieses spezielle Horcrux eben ganz besondere Vorkehrungen getroffen. Ich meine, er hat es ja auch vorher anders behandelt als die anderen. Dieser Hortus-Conclusus-Zauber, also –"
"Sagt mal, hört ihr das auch?", unterbrach Ron sie.
Harry wurde bewusst, dass auch er schon seit einer Weile Geräusche von draußen hörte, die er bisher ausgeblendet hatte. Als sie jetzt alle angestrengt lauschten, hörten sie ferne Rufe.
"Was zum –", begann Harry. "Wir sind im siebten Stock! Und es ist nach elf!"
Sie eilten zur Tür, Harry hielt das Buch fest in der Hand, Ron kaute noch an einer letzten Ladung Chips.
Als sie in den Flur hinaustraten, spürten sie sofort die Unruhe im Haus. Gerenne auf den Treppen, Türen, die aufgerissen und zugeschlagen wurden, Rufe und Schreie und das Getuschel in den Porträts.
Hier auf dem Flur begegnete ihnen niemand. Als sie den sechsten Stock erreichten, sahen sie Schüler an den Fenstern hängen und nach draußen starren. Stimmenlärm erfüllte das ganze Treppenhaus.
Sie drängten sich an ein Fenster und sahen hinaus in die Nacht.
In der Helle des abnehmenden, aber noch ziemlich vollen Mondes konnten sie deutlich die flatternden Schatten vor den Wolken sehen, hoch oben über den Türmen von Hogwarts und den Bäumen des Verbotenen Waldes.
