Kapitel 17
Nocturne
Snape schlug an das schmale Tor in der Außenmauer und wurde nach einem kurzen Wortwechsel eingelassen. Er würdigte den Torwächter keines Blickes, sondern betrat ohne Zögern die schwankende Holzplanke, die als Brücke über dem Graben lag.
Auf ihrer Mitte hielt er inne und sah nach oben. Es war, als stünde er am Grunde eines tiefen Brunnens, eingesperrt zwischen diese gewaltigen schwarzen Mauern, die von nahem so gar nichts Goldenes mehr hatten. Wenn er den Kopf in den Nacken legte, sah er weit oben einen schmalen Ausschnitt blauen Himmels, über den hin und wieder eine eilige Wolke zog. Das erinnerte ihn an den frischen Seewind, den er eben erst hinter sich gelassen hatte, von dem hier zwischen Außen- und Innenmauer aber schon nichts mehr zu spüren war. Der Gestank des Grabens dazwischen war unerträglich, und nur mit Mühe bezwang er sich so weit, dass er sich nicht den Umhang vor Mund und Nase hielt.
Das innere Tor wurde von einem stumpf blickenden alten Mann geöffnet, dem rote Geschwüre das halbe Gesicht weggefressen hatten. Es war derselbe, der ihn Tage zuvor aus der Festung hinausgelassen hatte.
Schon als er durch den Torweg ging, spürte er, wie sich die Festung verändert hatte. Ein tiefer Ton, wie von einem endlich angesprungenen und langsam stärker werdenden Motor, schien von der ganzen Anlage auszugehen.
Als er dann den Hof betrat, blickte er zu seiner Überraschung auf eine ganze Zeltstadt, die sich in unüberschaubarer Weite anscheinend rund um die gesamten inneren Bauten der Festung erstreckte.
Im ersten Moment begriff er nicht, was er da sah, verwirrt durch den Anblick zerlumpter Kinder und müde und verwahrlost aussehender Frauen, kleiner Buden, in denen gekocht, und Stände, an denen verkauft wurde.
Dann sah er finster dreinblickende Gestalten verschiedenster Herkunft, mit zum Teil kurios anmutenden Waffen ausgestattet – so war er sicher, dass der schmächtige Mann, der gerade vor ihm an einem Stand ein paar Kartoffeln kaufte, ein Samurai-Schwert über der Schulter trug – und er erkannte, dass es sich nicht um einen Wochenmarkt handelte, sondern um das Heerlager des Lord Voldemort, das offenbar während seiner Abwesenheit hier einquartiert worden war.
Als er in das Gewimmel eintauchte, entdeckte er hier und da auch die gut gekleideten Gestalten der Todesser, die sich mit überheblichen Gesichtern ihren Weg durch das Volk bahnten.
Snape ging erstaunlich lange, bis er hinter den Buden und Zelten eine weitere, kleinere Mauer entdeckte, die die eigentlichen Festungsbauten umgab und die vor seiner Abreise noch nicht da gewesen war. In dieser Mauer öffnete sich nun ein Tor, und hinter einem Hauself, den Snape erkannte, trat Lord Voldemort hindurch, und aller Lärm in seiner Nähe, ja, alle Bewegung erstarb. Eingeschüchtert hielten die Leute inne, und Snape ging durch eine Gasse des Schweigens, als die Leute vor ihm zurückwichen.
"Du bist spät, Severus!", rief Voldemort ihm entgegen. "Sehr spät! Ich glaube, ich hatte dir eine Woche gegeben!"
"Verzeiht mir, mein Lord", erwiderte Snape und ging an einer Gruppe von zerlumpten Kindern vorbei, die erschreckt in ihrem Ballspiel erstarrt waren. "Verzeiht mir, aber ich hatte große Schwierigkeiten, Galgamoth-Sprossen zu finden! Es hat mich mehr als einen Tag gekostet, und die Suche blieb trotzdem vergeblich!"
"Dann komm jetzt, es ist höchste Zeit. Ich werde dich selbst zu deinem Laboratorium führen und mir ansehen, was du mitgebracht hast."
Snape folgte Voldemort durch die Zeltstadt, und überall trafen sie auf dasselbe ehrfürchtige Verstummen aller Stimmen, sobald Voldemort erkannt wurde.
"Wie gefällt dir mein Heer?"
"Es ist sehr – vielfältig. Ihr scheint Anhänger in vielen Ländern zu haben, mein Lord", antwortete Snape, dessen Blick schon mehrfach auf Gruppen gefallen war, die mehr nach Flüchtlingen aus fernen Ländern aussahen als nach dem Bodensatz der britischen Gesellschaft, den er hier in noch größerem Umfang erwartet hatte, als er ihn tatsächlich auch vorfand.
"Es gibt viele Menschen auf dieser Welt, die dringend eine Verbesserung ihres Lebens ersehnen", sagte Voldemort.
"Ihr meint, hier sind auch Muggel?"
"Aber natürlich, Snape! Hier sind eine Menge Muggel. Eine Menge Muggel und andere, die gar nicht wissen, worum es geht, die nur wissen, dass sie hier ein Stück Brot bekommen und vielleicht ein Zeltdach über ihrem Kopf. Dafür sind sie dankbar und dafür werden sie auch kämpfen."
"Aber Frauen und Kinder?"
"Oh, du kennst doch die Menschen, Severus. Gerade für die werden sie kämpfen, meinst du nicht?"
Sie kamen an einer finsteren Gruppe von groben, schmutzigen Gestalten vorbei, in denen er auch dann Werwölfe vermutet hätte, wenn sie sich nicht um Fenrir Greyback gesammelt hätten, der ihn mit einem bösen, aber auch eingeschüchterten Blick verfolgte.
"Ich erwarte noch eine Gruppe von Riesen in den nächsten Tagen", erklärte Voldemort, als sie zu einer abgesperrten und noch völlig leeren Sektion kamen. "Lass uns hier hindurch in die Festung gehen."
Er öffnete ein Tor in der Innenmauer, und sie betraten den Innenhof um die Festung, den Snape kannte. Es war sehr still und leer hier.
"Ein großes Heer, das ich ausschicken werde, um Verwirrung und Chaos zu stiften, kaum mehr", sagte Voldemort nachlässig. "Der wahre Kampf findet anderswo statt, wie du und ich sehr gut wissen."
Er bewegte sich energisch und elegant, stellte Snape fest, aber ihm waren auch das schon wieder ausdünnende dunkle Haar und die pergamentene Beschaffenheit seiner Haut aufgefallen. Lord Voldemort, der sich mit großer Kunst sein früheres gut aussehendes Gesicht – zumindest als dünne Hülle – zurückerobert hatte, schien bereits wieder zu altern.
"In diesem wahren Kampf gibt es jetzt noch einen wichtigen Gegner", fuhr Voldemort fort. "Und es ist an der Zeit, dass wir endlich über ihn sprechen. Also. Zu Harry Potter, mein Freund. Erzähle mir von ihm. Du hast ihn so viele Jahre ganz aus der Nähe kennen gelernt! Was, denkst du, fürchtet er am meisten, unser jugendlicher Gegner?"
Snape dachte eine Weile nach. Dann antwortete er, und ein böses, kleines Lächeln verzerrte seinen schmalen Mund.
"Am allermeisten fürchtet er wohl, wieder ein gewöhnlicher Mensch zu sein, zurück in die Muggelwelt zu müssen, in der er ein Nichts wäre, ein kleiner Niemand, dem auch das mindeste Rüstzeug fehlt, in dieser Welt zu bestehen. Seine Freunde, seine Gönner, all den Ruhm, der ihn in der magischen Welt auf Schritt und Tritt getragen hat, hinter sich lassen zu müssen."
Voldemort lachte.
"Das wäre in der Tat schrecklich, auch für andere unter uns, nicht wahr, Severus? Und ich denke, du könntest Recht haben. Gewöhnlichkeit also."
"Amüsant bei einem Menschen, der vor allem eines ist: mittelmäßig", erwiderte Snape säuerlich. "Und zugleich ist eben diese Mittelmäßigkeit seine stärkste Waffe. Denn es ist nicht die Macht, die Potter an all diesem Aufhebens schätzt, das man um ihn gemacht hat. Er hat nicht einmal erkannt, dass er Macht besitzt! Nein, es ist die Bequemlichkeit, die es ihm bietet. Das warme Nest, in das er schlüpfen und sein kleines, angenehmes Leben leben kann."
Sie hatten inzwischen die äußeren Höfe hinter sich gelassen und den kleinen tropischen Garten betreten, dessen falsche Schwüle Snape noch immer beklemmend fand.
"Du wirst ja richtig gesprächig, Severus!", amüsierte sich Voldemort, während sie am Becken des Springbrunnens stehen blieben. "Offenbar ist Harry Potter ein Thema, über das du viel nachgedacht hast. Das trifft sich sehr gut. Aber was meinst du damit, dass diese bequeme Mittelmäßigkeit seine stärkste Waffe ist?"
"Es dürfte schwer sein, ihn zu korrumpieren, mein Lord. Er will nicht hoch hinaus. Er hat keine Leidenschaften."
"Warum sollte ich ihn korrumpieren wollen?"
"Ich bin sicher, dass Ihr – machtvoll und unangreifbar, wie Ihr spätestens morgen Nacht sein werdet – Potter nicht mehr einfach umbringen wollt. Das könnte inzwischen vermutlich jeder Eurer Handlanger tun."
"Also, mein kluger Freund, was will ich denn stattdessen?", fragte Voldemort lauernd.
"Vielleicht wollt Ihr ein Spiel mit ihm spielen. Ihn die Macht schmecken lassen, ihn zum Dunkel verführen! Das wäre erst der wahre Sieg über Dumbledore – wenn Harry Potter selbst Eure Überlegenheit anerkennen und ehren würde!"
Voldemort fixierte Snape mit seinen glimmenden, unmenschlichen Augen.
"Snape – du bist wirklich ein kluger Mann", sagte er schließlich langsam. "Manchmal, fürchte ich, klüger als gut für dich ist. Und du hast Recht. Es sind diese Dinge, die mir durch den Kopf gegangen sind. Und doch denke ich, dass es eine Stelle gibt, an der auch Harry Potter zu packen ist! Weißt du, wovon ich spreche?"
"Von seinem Hass", antwortete Snape, ohne zu zögern. "Sein Hass auf die, die seine Eltern, seinen Paten, seinen Mentor getötet haben, macht ihn angreifbar. Das einzige seiner Gefühle, das einer Leidenschaft nahe kommt, dürfte sein Hass sein!"
"Gut, Severus, sehr gut! Und ich darf deine Aufzählung um einen weiteren Mentor ergänzen: Greyback hat den letzten nahen Freund seines Vaters tödlich verwundet, wie er mir erzählt hat. Potter steht nun ganz allein da, ohne jede väterliche Unterstützung, und sein Inneres brodelt vor Hass! Übrigens nicht zuletzt vor Hass auf dich, mein Freund."
Snape nickte schweigend und sah in das Wasser, das der Springbrunnen unablässig in das Becken zurückfallen ließ.
"Und da wir gerade wieder auf diese Sache zu sprechen kommen, Snape – es ist wirklich bedauerlich, dass du so voreilig warst. Auch mit Dumbledore hatte ich noch einiges vor. Ich hatte ihm eine Falle gestellt, eine simple, aber sehr wirksame Falle, in die er mit Sicherheit hineingegangen wäre – vorausgesetzt, du hast ihn wirklich mit den Informationen gefüttert, die ich dir gegeben habe!"
"Das habe ich, mein Lord. Nachdem Ihr mich von dem Schweigezauber befreit hattet, habe ich ihm von der Höhle erzählt. Und Ihr hattet Recht, er war tatsächlich schon seit einiger Zeit mit Eurer Vergangenheit beschäftigt und Euren – Euren Objekten auf der Spur."
"Natürlich hatte ich Recht", sagte Voldemort kalt und schüttelte die Hand, mit der er spielerisch das Wasser des Brunnenbeckens berührt hatte. "Und er hätte leicht hingefunden, wenn du ihm nur noch etwas Zeit gelassen hättest."
Er wandte sich vom Brunnen ab und ging zur Treppe. Snape folgte ihm.
"Du hast ihn in Hogwarts getötet, sagte man mir. Ich bin ehrlich überrascht, dass dir das mit dem Avada Kedavra gelungen ist, Severus."
"Weshalb, mein Lord?"
"Ich hatte dir nicht so viel Hass auf ihn zugetraut."
"Ich habe ihm viele Jahre gehorchen müssen, mein Lord."
"Und dennoch. Ich war mir deiner nie wirklich vollständig sicher, mein Prinz. Es gab da immer – nun ja, ein Quentchen des Zweifels." Snape hörte das Lächeln in seiner Stimme. "Das macht aber unsere – Freundschaft auch so spannend, nicht wahr?"
Sie hatten nun den Eingang in die verwirrende Vielfalt der Treppenhäuser im Inneren gefunden. Auch hier machte sich eine Veränderung bemerkbar, aber es dauerte eine Weile, bis Snape darauf kam, was es war. Erst, als er eine Armee von kleinen schwarzen Käfern sah, die emsig ihren Weg die Wand hinauf krabbelten, wurde ihm bewusst, dass es nach Verfall roch, nach Schmutz und modrigen Stoffen.
Voldemort schien es nicht zu bemerken. Er ging mit energischen Schritten weiter, Treppenstufen hinauf und Flure entlang, und nahm keinerlei Notiz von den Ratten, die in einer dunklen Ecke unter der Treppe nisteten, von den Spinnen, die in großen Netzen an der Decke saßen, und von den ausfransenden Teppichrändern in den Fluren.
"Übrigens ist Harry Potter nicht ganz so mittelmäßig, wie du denkst", fuhr Voldemort fort, als sie in einen weiteren düsteren Korridor einbogen. "Er ist – von seiner Mutter her – ein direkter Nachfahre von Salazar Slytherin."
Wenn Snape überrascht war, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.
"Das dürfte er aber kaum wissen, mein Lord."
"Das vermute ich auch, und wenn, so ist es etwas, das er lieber geheim halten wird. Das hat auch seine Mutter getan."
"Sie hat es gewusst?", fragte Snape, und nun war seiner Stimme ein Hauch von Überraschung anzumerken. Voldemort hörte es und lächelte.
"Ja, Severus. Lily Evans hat es gewusst, längst bevor sie Lily Potter wurde. Durch eine Verkettung seltsamer Zufälle wusste sie es sogar, bevor ich selbst auf sie aufmerksam wurde. Aber dieses Wissen erklärt ihre Angst vor der – nennen wir es wie sie: vor der dunklen Seite, nicht wahr? Es erklärt, warum sie so häufig die falschen Entscheidungen traf."
Snape schwieg.
"Wie dem auch sei", sprach Voldemort weiter, "als ich dieses interessante Detail über die Abstammung Harry Potters erfuhr, wurde mir klar, dass die Prophezeiung nur diesen Jungen gemeint haben konnte. Diesen Jungen, in dem sich wiedervereinte, was über tausend Jahre getrennt gewesen war: Gryffindor und Slytherin. Mischblütig, in der Tat, das ist er!"
Voldemort öffnete eine Tür, die Snape bekannt vorkam, trotz der Spinnweben, die wie ein grauer Vorhang ihren oberen Teil bedeckten. Und richtig, dahinter lag sein Laboratorium. Er folgte Voldemort hinein und sah, dass zumindest auf den ersten Blick alles unverändert war und das Ungeziefer jedenfalls vor dem kostbaren Buch Slytherins Halt gemacht hatte.
"Diese Hohlköpfe, die sich da etwas vom Adel der Reinblütigkeit zusammenfaseln!", lachte Voldemort. "Wir beide wissen, wie entscheidend der Tropfen fremdes Blut in unseren Adern sein kann – was er bewirken, was er in unseren Seelen erklingen lassen kann! Diese Brüche, diese Risse in uns, sie sind es, in denen sich die Leidenschaft entzündet, unser Verlangen nach Veränderung, unser Wille zur Macht!"
Snape hatte seine Tasche auf dem Arbeitstisch abgestellt und stand nun da, reglos, mit herabhängenden Armen, und seine schwarzen Augen folgten stumm den beschwingten Gesten seines Gegenübers.
Als plötzlich ein Sonnenstrahl durch einen Riss im schiefergrauen Gewölk draußen brach, schien der ganze Raum aufzuleuchten, und Voldemort, der mit dem Rücken zum Fenster stand, war ein langer, schwarzer Schatten in einer Korona aus Licht.
"Du siehst müde aus, Severus", sagte der Schatten. "Und schlecht genährt. Hast du nichts zu essen bekommen, dort im Wald?"
"Das Futter der Streuner eben, mein Lord", erwiderte Snape und verzog ein wenig das Gesicht. Voldemort lächelte.
"Heute Abend erwartet dich ein festliches Mahl im Kreise alter Freunde. Und es wird ein Wiedersehen mit jemandem geben, den du möglicherweise schon vermisst hast. Aber zuvor will ich die Ausbeute deiner Sammeltätigkeit sehen. Pack deine Tasche aus."
Snape griff nach seiner Tasche und entnahm ihr verschiedene kleine Behälter.
"Ah, die Pilze! Ich gestehe, ich hätte nicht mehr gewusst, wo ich sie finden sollte", sagte Voldemort, als er den Deckel einer Glasflasche abnahm. Darin lagen zwei kleine, braune knollige Pilze, eingebettet in grobe weiße Kristalle, die wie Salz aussahen.
"Das sind die beiden aus der Vollmondnacht. Sie sollten voll ausgereift und reich an dem speziellen Wirkstoff sein, der für den Zwietrank erforderlich ist. Und hier sind die anderen vier: geerntet in den vier Nächten vor Vollmond. Sie werden die Wirkung abrunden."
Er schob vier kleinere Glasflaschen zu Voldemort hinüber, der aber nur seinen Blick darüber schweifen ließ.
"Weiter", sagte er.
Snape nahm zwei weitere Glasgefäße und ein Stoffbeutelchen aus der Tasche.
"Was ist in diesem Gefäß?", fragte Voldemort und zeigte auf das größte Glas, das bis zum Rand mit kleinen grünen Beeren gefüllt war.
"Die Beeren des Waldnistlings, Herr", antwortete Snape. "Man kann sie anstelle von Galgamoth-Sprossen verwenden, die extrem selten zu finden sind, vor allem in dieser Jahreszeit. In der Wirkung sind sie vergleichbar."
Voldemort runzelte die Stirn.
"Das gefällt mir nicht, Severus. Es ist wichtig, dass der Zwietrank vollkommen ist. Ohne ihn gelingt die Herauslösung nicht."
"Ich weiß, mein Lord. Aber seid unbesorgt, die Nistlingsbeere erfüllt denselben Zweck. Und sie hilft zugleich ein wenig gegen die unangenehmen Nebenwirkungen der Pilze. Ihr werdet Euch wohler fühlen als – als bei den früheren Gelegenheiten."
"Ah ja! Das Große Ritual! Kaum zu glauben, dass dies morgen das letzte Mal sein wird – du wirst doch bis morgen fertig mit dem Trank?"
"Selbstverständlich, mein Lord. Je frischer er getrunken wird, desto besser."
"Diesmal werden wir wieder viele Gäste dabei haben – ganz anders als beim letzten Mal, als mir nur ein einziger getreuer Knecht beistand – ja, nicht einmal dich wollte ich dabeihaben! Aber morgen – all der ahnungslose Pöbel wird zusehen und zittern und hinterher umso zügelloser feiern. Ich denke nicht, dass irgendjemand außer dir und Lucius je begriffen hat, was da eigentlich wirklich geschieht!"
Snape, der soeben fünf verschiedene Gläser mit der Flüssigkeit aus einer Karaffe füllte, nickte.
"Und vielleicht der kleine Black damals – erinnerst du dich an ihn?", fragte Voldemort mit einem maliziösen Unterton. "Natürlich erinnerst du dich. Nun, er ist ja kurz nach diesem Erlebnis vom Glauben abgefallen, nicht wahr? Ich glaube, die Blacks besaßen Grindelwalds unschätzbare Volksausgabe der Schwarzen Magie. Gut möglich, dass unser Bücherwurm also mehr als nur genealogische Werke gelesen hatte."
Snape hatte in seinen Bewegungen innegehalten.
"Ja, das ist wahrscheinlich", sagte er nun.
"Wir wollen dem Pöbel morgen etwas bieten, mein Freund! Sieh zu, dass dein Auftritt perfekt und würdevoll ist. Ich will da keinen ausgemergelten Zauberer im schwarzen Kittel sehen, sondern einen wirklichen Ritualmeister, verstehst du? Ein Hauself wird dir entsprechende Gewänder bringen. Und ich möchte, dass du den Ritualtext auch auf Englisch sprichst, nicht nur in Latein. Die Idioten sollen wenigstens einmal etwas davon verstehen. Was ist übrigens noch da drin?", fragte er und zeigte auf Snapes Tasche.
"Nichts, Herr."
"Und was ist das? Severus?", fragte er mit einem bösen Grinsen, richtete den Zauberstab auf die Tasche und fing die kleine Glasflasche auf, die ihm entgegenflog.
"Das sind nur Magentabletten. Ich habe sie meistens dabei", antwortete Snape säuerlich.
"Immer noch so empfindlich?", lachte Voldemort und stellte die Flasche mit den rotgrünen Kapseln auf den Tisch. "Wirklich, Snape, das ist würdelos!"
Er ging mit wehendem Umhang zur Tür.
"Also gut dann, wir sehen uns später zum Essen. Ich vertraue ganz auf deine Fähigkeiten, was diesen Trank angeht!"
Und Voldemort ließ ihn allein.
Snape stand sekundenlang ganz still.
Als Voldemort den nur schwach erleuchteten, fensterlosen Raum viele Stockwerke unter Snapes Laboratorium betrat, fuhr der kleine Mann, der sich am Arbeitstisch zu schaffen gemacht hatte, herum und hätte beinahe die gläserne Phiole fallen gelassen, die er in der Hand hielt.
"Mein Herr!", rief er, und ein nervöses Zucken ging über sein blasses, schweißfeuchtes Gesicht, aus dem die Augen wässrig und unstet blickten.
"Ja, Wurmschwanz, dein Herr ist hier! Dein Herr ist müde und hungrig und hat auf deine Rückkehr gewartet", sagte Voldemort und ging zu einem großen, hochlehnigen Sessel, der beinahe wie ein Thron aussah mit den samtenen Kissen und den goldenen Beschlägen an den Seiten. Jedenfalls wirkte er in diesem düsteren, modrigen Gewölbe völlig fehl am Platz. Voldemort aber ließ sich hineinsinken, und es hatte ganz den Anschein, dass es sich dabei um eine liebgewordene Gewohnheit handelte.
"Mein Herr!", rief Wurmschwanz noch einmal aus. "Ich bin sofort zurückgekehrt, als Snape –"
"Das weiß ich schon, also beruhige dich. Alles, was ich jetzt wünsche, ist ein ausgiebiges Mahl. Also gib dir Mühe, es zu bereiten."
"Ja – jawohl, mein Herr."
Mit fahrigen Bewegungen schoss der kleine Mann hierhin und dahin und schien sich endlich so weit zu beruhigen, dass er ein Glasgefäß in seinen zitternden Händen halten konnte. Mit diesem ging er in den hinteren, dunkelsten Teil des Raumes.
"Lumos!", befahl er mit unsicherer Stimme, und einige dicke Kerzen, die in Haltern an den Wänden steckten, flammten auf. Sie beleuchteten ein groteskes Bild. Der Raum endete in einer Rundung, als befände er sich in einem Turm oder habe einen fensterlosen Erker. In dieser Rundung hing aufgespannt und von starken Ketten gehalten etwas wie ein Tierfell, eine Haut aus schimmernden Schuppen, gut vier Meter lang und nahezu einen halben breit. Wurmschwanz näherte sich dem einen Ende dieses Gebildes zögernd, und erst aus der Nähe wurde erkennbar, dass es sich tatsächlich um eine Tierhaut handelte, eine Schlange – und dass diese noch lebte. Ihr großer Kopf stieß vor, die Kiefer öffneten sich und zeigten zwei lange, nadelspitze Giftzähne.
"Ruhig, ruhig, meine Schöne!", murmelte Wurmschwanz. "Sei ganz ruhig!"
Voldemort in seinem Sessel kicherte träge.
"Du leidest mit ihr, Wurmschwanz, nicht wahr? Du bist immer noch nicht einverstanden damit, sie so zu halten! Ist dir klar, dass sie dich, ohne einen Augenblick zu zögern, töten würde – wenn sie nur könnte?"
"Ja, mein Herr. Und doch, sie war ein so schönes, stolzes Tier – und jetzt–"
"Ich habe offenbar den richtigen Mann zu meinem Schlangenwärter gemacht. Du hattest ja immer eine Neigung, dich von den Stolzen und Mächtigen knechten zu lassen, mein Wurmschwänzchen. Und du bist recht gut damit gefahren, hab ich nicht Recht?", sagte Voldemort und fügte dann ein paar scharfe, zischende Laute hinzu.
Der Schlangenkopf zuckte in seine Richtung und schien in ähnlich zischenden Lauten zu antworten.
"Leider erwidert Nagini deine Zuneigung nicht", sagte Voldemort und lehnte sich mit geschlossenen Augen in seinem Sessel zurück. "Sie findet, dass du ein erbärmlicher, stinkender Wicht bist, aber sie wird deine Anwesenheit ertragen, um mir zu dienen. Und jetzt los!"
Wurmschwanz packte den Schlangenkopf mit seiner linken Hand und wich geschickt den zuschnellenden Zähnen aus. Dann hielt er das Glasgefäß mit seiner rechten, silbern glänzenden Hand gegen die Giftzähne, bis eine klare Flüssigkeit aus ihnen hervorträufelte.
"War es nicht weise von mir, dir diese metallene Hand zu schenken, mein Knecht?", fragte Voldemort in beinahe schläfrigem Ton. "Selbst wenn dich ihre Zähne bei dieser Arbeit nun einmal erwischen sollten, werden sie nur abgleiten."
"D–d–das war sehr weise und gütig, mein Herr", stammelte Wurmschwanz, der seine ganze Kraft darauf verwenden musste, den widerstrebenden Schlangenkopf ruhig zu halten.
"Das geht elend langsam bei dir! Versuche es einmal so: Crucio!"
"Oh nein, Herr, nein!", rief Wurmschwanz, und wurde fast zu Boden geschleudert, als sich der grausam gefesselte Schlangenleib aufzubäumen versuchte. Dann warf sich der Kopf mit einem Fauchen, das fast wie ein menschlicher Schrei klang, nach hinten und erstarrte dort in krampfhaftem Zittern.
So konnte der Mann die Schlange wieder in den Griff bekommen und das Glasgefäß erneut an ihre Zähne pressen, aus denen das Gift nun als ein stetes, dünnes Rinnsal floss.
"Genug jetzt! Das reicht", sagte Voldemort schließlich, ohne seine Augen zu öffnen. "Bereite es nun zu wie gewohnt."
Der kleine Mann wich schnell vor der Schlange zurück und ließ sie in ihrer schauderhaften Befestigung hängen. Als könne er es nicht ertragen, sie dort zu sehen, löschte er die Kerzen wieder und eilte zurück zu seinem Arbeitstisch am anderen Ende des Raumes. Er fuhr wieder zusammen, als sein Herr zu sprechen begann.
"Ja, mein Knecht, du hast mir treu gedient. Du hast mich gefunden in meiner Hilflosigkeit und mich aufgepäppelt wie eine fürsorgliche Mutter ihr Kind. Du hast mir meinen Körper zurückgegeben – und meinen Zauberstab. Du hast mehr für mich getan als irgendeiner meiner Diener, und der Zeitpunkt ist nahe, an dem du deinen Lohn erhalten wirst. Auch wenn du das nicht alles ganz freiwillig getan hast."
Hier setzte sich Voldemort plötzlich wieder auf und sah den erschreckten Wurmschwanz mit seinen rot schimmernden Augen an.
"Sicher erinnerst du dich an den speziellen Trank, den du nach meinen Anweisungen für mich zubereitet hast, vor zwei Jahren?"
"D–den Inferi-Trank?"
"Wenn du ihn so nennen willst – ganz recht. Nun, diese besondere Falle ist nicht zugeschnappt, dank unseres übereifrigen Freundes Severus. Aber dennoch ist Dumbledore tot – was wir ebenfalls Severus zu verdanken haben. Übermorgen werden wir uns noch einmal in – wie nanntet ihr es, den Tempel der Todesser, richtig? Dorthin also werden wir beide uns begeben und das Objekt bergen, das mich so viele Jahre deiner Treue versichert hat."
Er lachte leise. "Dann wirst du es tragen dürfen bis zu deinem Tod."
Wurmschwanz erschauerte. Unschlüssig stand er da, das Glasgefäß mit dem Gift in der Hand, und blickte seinen Herrn und Meister ängstlich an.
"Ich werde Euch auch ohne das – das Medaillon treu dienen, Herr!"
"Aber Wurmschwanz! Wir wissen doch beide, dass du ohne diese besondere Hilfe ein schwankendes Rohr im Wind bist! Aber genug davon! Berichte mir von den Wegen und Umwegen unseres Freundes Severus Snape! Und mach endlich meinen Trank fertig!"
Wurmschwanz fuhr herum und griff hastig nach einer Karaffe, zog mehrere zugekorkte Flaschen heran und machte sich ans Werk.
"S–S–Snape – mein Gebieter – er hat den Wald bei Hogwarts durchstreift, nächtelang – unablässig. Die Tage hat er schlafend verbracht, in einem kleinen Unterschlupf tief im Wald. Ich – ich habe ihn selbst da gesehen."
"Und – weiter? Was hat er gemacht? Die Spinnen besucht oder was? Die Zentauren?"
"Nein, mein Herr. Er hat überhaupt mit niemandem gesprochen. Es sah so aus – ich hatte den Eindruck, als suche er bestimmte Plätze wieder auf, die er von früher her kannte. Er sammelte Pflanzen – Pilze vor allem."
"Und du hast nie seine Spur verloren?", fragte Voldemort spöttisch.
"Ich – nein – ich bin sehr schnell und gewandt, Herr. Einmal ist er beinahe auf mich getreten, aber –"
"Das war nicht meine Frage!"
"Einmal nachts – ich dachte, er sei mir entwischt – aber, nein, nein Herr, so war es nicht – ich fand ihn wieder schlafend in seinem Unterschlupf, nur kurze Zeit später."
"Severus – schlafend? Er sah mir nicht nach einer erholsamen Woche aus! Hast du gesehen, ob er sich Hogwarts genähert hat? Vielleicht sogar das Gelände betreten hat?"
"Das hat er nicht, mein Herr", antwortete Wurmschwanz voller Überzeugung und darum erleichtert.
Voldemort sah ihn scharf an.
"Bedauerlich, dass unerschütterliche Treue und ein scharfer Verstand nie in einer einzigen Person vereint zu finden sind. Nun ja. Andererseits –"
Er unterbrach sich und blickte auf den Inhalt eines großen Pokals, den Wurmschwanz ihm nun reichte. In seinen Augen flammte die Gier auf, als er mit langen, dünnen Fingern nach dem Pokal griff und in tiefen Zügen trank.
"Mein einfältiger Knecht – ist dir klar, dass du mich vergiften könntest, wenn du nur etwas mehr Verstand besäßest?", fragte er mit wieder erwachter Heiterkeit, als das Glas geleert war.
"Ihr seid mein Herr und Meister", erwiderte Wurmschwanz mit einem seltsamen Anflug von Würde. "Ich will Euch dienen und damit zufrieden sein!"
"Du hast eine Menge gelernt, seit ich dir damals vor so vielen Jahren meinen kostbarsten Schatz anvertraut habe! Aber trag nicht zu dick auf!"
Er stand auf und ging zur Tür. Dort wandte er sich noch einmal um.
"Ach, und Wurmschwanz! Vergiss nicht, deine gute Freundin zu füttern! Und nimm nicht wieder Rattenblut. Ich denke, sie hat sich heute eine große Portion ihrer Lieblingsspeise verdient, findest du nicht?"
Wurmschwanz wurde noch fahler, und die großen Schweißtropfen, die ihm auf Stirn und Schläfen standen, begannen zu rollen.
"Ja, mein Herr."
oooOOOooo
Als es Abend wurde, versammelten sich die Todesser um dieselbe Tafel wie beim letzten Mal, die aber heute nicht in jenem Kuppelsaal, sondern in einem eher konventionellen Esszimmer stand.
Einer nach dem anderen kamen sie herein, von Hauselfen durch das lebendige Labyrinth geführt, das diese Festung in Wirklichkeit war.
Keiner wagte es, sich zu setzen, bevor der Hausherr da war, und so standen sie in Grüppchen beisammen, bis Voldemort als Letzter und in strahlender Laune erschien.
"Aber, aber, meine Freunde! Weshalb habt ihr noch nicht Platz genommen? Komm, Severus, setz dich hierher, neben mich! Nein, Bellatrix, heute nicht da, dieser Platz ist – reserviert."
Nach und nach fanden alle einen Platz.
"Ein einziger Gast fehlt noch, aber ich denke, wir werden das Essen auftragen lassen", sagte Voldemort, und augenblicklich betraten die Hauselfen in einer stummen Reihe den Raum, beladen mit Platten und Schüsseln voll dampfender Speisen und geöffneten Weinflaschen.
Eine Weile hörte man nur das Klirren von Schöpflöffeln und Bratengabeln gegen Porzellan und das leise Gluckern von Wein, der in die Pokale gegossen wurde.
Dann plötzlich öffneten sich die Türflügel noch einmal, und geleitet von einem Hauself stolperte eine erbarmungswürdige Gestalt herein. In abgerissenen, unendlich schmutzigen Kleidern, das Haar in verfilzten Strähnen über den gebeugten Rücken hinabfallend, schlurfte sie zwei Schritte in den Raum und hielt dann inne. Alle Gespräche waren verstummt, die Todesser starrten voll Neugier und Ekel auf diese Erscheinung, die direkt einer Gruft entstiegen schien.
Dann sprang Voldemort auf und zog den Mann zum Tisch.
"Und hier, meine Freunde, ist Lucius! Er ist ein wenig unangemessen gekleidet, weil die Einladung zum Dinner ganz überraschend für ihn kam. Aber wir werden ihm das nachsehen, nicht wahr?"
Er drückte Malfoy, der einfach stehen geblieben war, wo Voldemort ihn hingeschoben hatte, auf den frei gebliebenen Platz neben dem seinen. Von ihm ging ein Geruch aus, als hätte er die letzten Wochen in den Inferi-Gräben verbracht. Aber Voldemort schien das nicht zu stören. Munter setzte er sich zurück in seinen Sessel am Kopf der Tafel.
"Lucius hatte etwas abzubüßen, im Namen seiner Familie und auch wegen der Ungeschicklichkeit, die er in letzter Zeit bedauerlicherweise selbst gezeigt hat", sagte er. "Aber jetzt bin ich schon beinahe versöhnt, mein Freund. Ich kann dir sagen, dass deine Bußezeit nicht mehr lange dauern wird!"
Snape spürte, wie sich seine Kehle zusammenzog. Also Lucius würde es sein. Er hatte es schon vermutet, als er seine verwahrloste Gestalt durch die Tür hatte kommen sehen. Lucius Malfoy, ausgerechnet.
Snape konnte den Blick nicht von dem Mann wenden, der beinahe so etwas wie ein Freund für ihn gewesen war und der nun am Tisch hing wie ein Inferius und mit den Fingern gierig das Essen in sich hineinschlang, das eine unterwürfige Hauselfe ihm auf den Teller häufte. Aus seinen stumpf gewordenen grauen Augen schoss er zwischendurch misstrauische Blicke in die Runde, als befürchte er, jemand könne ihm seinen Teller streitig machen.
"Wo bleibt Hekate Harper, mein Gebieter? Sollte sie nicht heute auch hier sein?", fragte Bellatrix, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen und die Aufmerksamkeit von ihrem schmatzenden Schwager abzulenken.
"Ich erwarte sie stündlich, meine Liebe. Hekate hatte eine Aufgabe für mich zu erledigen, eine überaus wichtige und nicht ganz einfache Aufgabe. Es kann schon sein, dass sie sie nicht so schnell erledigen kann, wie sie hoffte. Wir wollen ihr die Unpünktlichkeit verzeihen!"
"Oh mein Lord! Hättet Ihr nur mir diese Aufgabe erteilt! Ich hätte sie erfüllt und wäre dennoch pünktlich zu Euch zurückgekehrt!", rief Bellatrix aus.
Snape betrachtete sie kühl aus seinen dunklen Augen. Lucius, den sie beinahe ihr ganzes Leben lang kannte, das Schicksal ihrer Schwester Narcissa, ihres Neffen Draco – das alles war ihr anscheinend keinen Gedanken, nicht einmal ein Innehalten wert.
Er versuchte seinen Geist vor dem fürchterlichen Gestank zu verschließen, der von Malfoy ausging, und seine Gedanken von der Überlegung abzuhalten, wo und wie er die Zeit seit jener Nacht verbracht hatte, als Draco –
Es gelang nur schwer. Die Frage, wo Draco und Narcissa waren und was Voldemort mit ihnen vorhatte, war zu brennend. Um sich abzulenken, überlegte er, welche Aufgabe Hekate Harper wohl nach all den Jahren für ihren alten Herrn und Gönner zu erledigen hatte, und er vermutete, dass es auch da um Voldemorts Horcruxe ging.
Er versuchte, etwas zu essen. Immerhin schien die Küche noch zu funktionieren. Er hätte sich nicht gewundert, Ungeziefer im Gemüse zu finden oder eine tote Maus in der Bratensoße, aber es schien alles in Ordnung zu sein. Die Todesser – dieselbe Runde wie beim letzten Dinner, das Snape in der Festung eingenommen hatte – ließen sich offenbar von Malfoys Auftritt nicht den Appetit verderben, sondern schienen sich angesichts der guten Laune ihres Herrn zu entspannen und das Essen zu genießen.
Eine Weile wurde schweigend gegessen und getrunken. Dann sagte Voldemort:
"Morgen Nacht – wenn meine Macht endlich vollkommen und unsterblich ist – werde ich dieses Land entrücken! Das wird der Beginn unseres Feldzuges sein, unseres Siegeszuges, mit dem wir das Land überziehen werden!"
"So werden die alten Träume also endlich doch noch wahr!", sagte Bellatrix inbrünstig. "Ich freue mich, mein Gebieter!"
Die anderen in der Runde schienen nicht recht aufsehen zu wollen. Schließlich fragte Snape: "Mein Lord, welches Land wollt Ihr entrücken?"
"Aber Snape! Großbritannien natürlich, das einst die Heimat der Unseren war – und das soll sie endlich wieder werden! Wir werden die Muggel nicht länger über uns herrschen lassen!"
"Aber – sind Entrückungszauber nicht bisher immer nur auf einen fest umgrenzten und – kleineren Bereich angewandt worden?", wagte Macnair zu fragen.
"Ganz recht, bisher!", sagte Voldemort verächtlich. "Ihr ewig Kleinmütigen! Morgen Nacht – morgen Nacht werde ich der mächtigste Zauberer sein, der jemals gelebt hat! Und ich werde dieses Land – eine Insel, meine Freunde, eine Insel mit festen Grenzen! – entrücken! Niemand wird mehr von draußen hereinkommen, niemand hinaus, solange ich das nicht will. Ich sage euch, wir werden dieses Land nach unseren Vorstellungen verändern!"
Snape gab den Versuch zu essen auf. Als er stattdessen nach seinem Wasserglas griff, begegnete sein Blick Malfoys grauen Augen, die ihn ansahen. Das Essen schien ihm geholfen zu haben; der stumpfe Ausdruck war aus ihnen verschwunden, und zwischen den Haarsträhnen, die ihm ins Gesicht hingen, war nun auf einmal wieder etwas von dem alten Lucius Malfoy zu erkennen. Und dessen Blick ließ Snape nicht los.
Unterhaltungen kamen in Gang, ein Nachtisch wurde auf- und wieder abgetragen, die Weinpokale wurden nachgefüllt. Und immer wieder begegneten sich die Blicke von Snape und Malfoy.
Snape sah verschorfte Wunden auf Malfoys rechtem Arm und schmutzige Strohhalme, die fest in seinem ehemals hellblonden Haar verklebt waren. Sein Gesicht, das ohnehin immer blass und spitz gewesen war, sah nun aus wie ein Totenschädel. Er musste gehungert und offenbar auch Durst gelitten haben, wie die tiefen braunen Schatten um seine Augen und die aufgesprungenen, verkrusteten Lippen zeigten. Immerhin war er so vernünftig, sich zunächst mit Wasser zu begnügen.
Snape sah, wie er schließlich doch noch nach dem gefüllten Weinpokal griff und gierig trank, als sei ihm bewusst, dass dies sein letzter Wein sein würde. Gerade da erhob Voldemort wieder die Stimme.
"Und nun, meine Freunde, möchte ich die Tafel für heute aufheben. Wir werden uns morgen Abend alle wieder versammeln – im Kuppelsaal hier in der Goldenen Festung!"
oooOOOooo
Es war halb drei nachts, als der Zwietrank endlich fertig war. Snape betrachtete die funkelnde Flüssigkeit, die sich im Destillierkolben gesammelt hatte. Ihre Farbe oszillierte zwischen verschiedenen Blau- und Grüntönen, und so hatte Slytherin sie in seinem Buch auch beschrieben. Optisch stimmte also alles, und dass er Nistlingsbeeren anstelle von Galgamoth-Sprossen verwendet hatte – seine eigene Neuerung – hatte den Trank offenbar nicht beeinträchtigt.
Jetzt fehlte nur noch die persönliche Note, sozusagen die Unterschrift desjenigen, für den der Trank wirksam sein sollte. Es war Snape klar, dass Voldemort sich diese letzte Prägung für das Ritual selbst aufheben würde. So vertrauensselig war er nicht, dass er Snape eine Haarsträhne überlassen hätte.
Snape ging zum Fenster und öffnete es weit. Die Nachtluft wehte kühl und frisch herein, für einen Moment glaubte er sogar, die See darin riechen zu können. Draußen war es nun still geworden, die Geräusche der Zeltstadt, die viele Stunden lang bis nach hier oben gedrungen waren – und wie absurd der Klang gefiedelter Tanzmusik hier erschien! – waren endlich verstummt.
Lange stand er da und ließ die nächtliche Stille auf sich wirken. Er konnte keine Lichter in anderen Fenstern der Festung sehen, aber er spürte, dass sie keineswegs schlief.
Schließlich wandte er sich ab, strich sich das Haar aus dem Gesicht und ging zu seinem Arbeitstisch zurück. Er löste den Destillierkolben und leerte seinen Inhalt in einen schweren, gläsernen Pokal, den der Hauself vorhin zusammen mit den Gewändern gebracht hatte, die nun über einer Stuhllehne hingen. Er löschte die Flamme des Brenners, und für einen Moment glomm etwas in seiner Handfläche auf. Dann strich er mit dem Zauberstab über den Pokal und verschloss ihn so. Die Nachtluft trug die winzige Schliere von Geruch nach verbranntem Haar rasch hinaus.
Mit der Nachtluft kamen auch einige Motten herein und flatterten wie irr um die Kerzen. Snape schlug nach ihnen, dann schloss er das Fenster, griff sich den Packen schwerer Stoffe von der Stuhllehne, löschte das Licht und betrat den Korridor, wo wie erwartet ein Hauself reglos neben der Tür gestanden hatte.
Er folgte ihm die weite, treppenreiche Strecke, die nun wieder zwischen seinem Laboratorium und seinem privaten Zimmer lag.
Der Elf brachte ihn in einen Teil der Anlage, in dem noch andere Gäste untergebracht waren. Hinter verschiedenen Türen hörte er Stimmen, Gelächter und andere Geräusche. Auf einmal wurde vor ihnen eine Tür aufgerissen, und ein nackter Mann stolperte auf den Flur hinaus und schlug vor ihnen auf dem Teppich hin. Lautes Gelächter schrillte ihm aus dem Zimmer nach. Snape erkannte Bellatrix' Stimme.
Der Hauself ging mit unbewegter Miene um den fluchenden Mann herum, der offenbar zu betrunken war, um wieder auf die Füße zu kommen, und öffnete die nächste Tür. Er winkte Snape hinein und verschwand.
Snape betrat sein Zimmer mit saurer Miene und achtete darauf, die Tür nicht ganz ins Schloss zu ziehen. Dann hielt er inne, denn in der Dunkelheit des Raums überfiel ihn der schwere Duft von Lilien.
"Lumos!"
Die Kerzen des Kronleuchters flammten auf, und ihr Licht fiel auf den Krug voll langstieliger, reinweißer Lilien, der vor den zurückgezogenen dunkelroten Vorhängen stand. Voller Widerwillen ging er über den Mosaikfußboden zum Bett, warf die Gewänder ziemlich achtlos über das Fußende und setzte sich.
Von nebenan drangen gedämpft betrunkene Stimmen.
"Nox!", sagte er leise und ließ sich nach hinten auf das Bett fallen. Die Lichter verloschen, und nur ein schwacher Schimmer in Form eines hohen Spitzbogens lag auf dem Mosaikfußboden – vom Mondlicht, das durch das Fenster fiel.
Vorsichtig öffnete Snape seine linke Hand. Er konnte den dunklen Umriss der Motte gerade noch erkennen. Aber je länger er hinsah, desto schärfer wurde seine Sicht, und endlich konnte er im schwachen Licht sogar ihre starren, ausdruckslosen Augen sehen. Die Zeit war gekommen, er musste es riskieren.
Er murmelte zwei, drei Wörter. Dann schloss er die Augen und lag still. Der Zauberstab entglitt seiner Rechten.
Die Motte schwirrte von seiner geöffneten Handfläche.
Sie flog durch die spaltbreite Öffnung, die die nur angelehnte Tür ihr bot. Draußen im Korridor lag der nackte Betrunkene und schnarchte friedlich auf dem Teppich.
Snape konnte sehen durch diese fremden, seltsamen Augen. Aber er wusste, es war ziemlich aussichtslos. Die Festung war riesig und ständig in Umwandlung, das fühlte er nun, mit den Sinnen des Insekts, so selbstverständlich und eindeutig, als spüre er den Atem eines gigantischen Lebewesens. Er hätte nicht einmal sein eigenes Laboratorium wieder gefunden. Also steuerte er den winzigen Körper aufs Geratewohl durch die Gänge und Treppenhäuser, in die wenigen Räume, deren Türen offen standen oder die sonst wie eine Einlassmöglichkeit boten.
Er versuchte, in die Tiefe des Gebäudes zu gelangen, dahin, wo er Kerker und Verliese vermutete. Aber die Treppen endeten alle auf der Ebene der Höfe, und er fand nichts, keinen Gang, keinen Einstieg, kein Fenster, das tiefer geführt hätte. Es war wie in einem Albtraum.
Schließlich gab er es auf und ließ sich wieder durch die Gänge treiben. Dann hatte er Glück. Am anderen Ende eines Korridors wurde eine Tür geöffnet, und eine vertraute Gestalt taumelte hinaus, ein, zwei Schritte, dann sackte sie stöhnend zusammen.
Es war Wurmschwanz, sein entschwundener und wenig loyaler Diener.
Die Motte schwirrte durch die offen stehende Tür und hinein in einen düsteren Raum, den ein paar fast heruntergebrannte Kerzen kaum erhellten. Er sah den aufgespannten Schlangenleib im Hintergrund sofort, ebenso wie er den Sinn dieser Konstruktion sogleich erfasste.
Nagini, die Schlange, lebte also noch und nährte ihren Herrn nach wie vor. Und wie es aussah, musste Wurmschwanz die Schlange seinerseits nähren. Er hörte das schwache Stöhnen vom Flur, wo sich der kleine Mann gerade wieder aufrappelte, mühsam hereinschlurfte und das Licht löschte. Die Motte flatterte hastig hinaus, bevor die Tür geschlossen wurde.
Er wollte noch weiter suchen, vielleicht Voldemorts Museum finden, obgleich er dort wohl kaum einen Zugang gefunden hätte. Aber ein Instinkt, den er bis zu diesem Moment ignoriert hatte, alarmierte Snape nun unüberhörbar. Er verließ die Motte und sank zurück in seinen eigenen Körper. Sofort spürte er, dass er nicht allein im Raum war. Ein Grunzen, ein Schnüffeln kam von der Tür her. Er fuhr auf. Das Mondlicht fiel auf einen gespenstisch weißen Körper, der auf sein Bett zu kroch, ungelenk, aber schnell. Snape sprang auf. Wo war nur sein Zauberstab!
Er packte einen der schweren Kerzenständer. Der Inferius hatte ihn nun entdeckt und holperte in seine Richtung. Snape hob den Kerzenständer zum Schlag – als der Mosaikfußboden sich plötzlich unter dem geisterbleichen Körper öffnete und ihn verschlang. Das schrille Geheul, das aus der toten Kehle drang, erinnerte Snape an ein Schwein, und ihn erfasste ein Grausen, das ihm fast den Atem nahm.
Endlich fand er seinen Zauberstab wieder – er war zwischen Matratze und Bettkasten gerollt – und machte Licht. Er schlug die Zimmertür zu und setzte sich in den Sessel, der bei dem Blumenkrug stand. Atemlos und immer noch erschauernd saß er da und versuchte, sich wieder zu beruhigen.
Aber seine Gedanken fanden keinen Ruhepunkt mehr in dieser Nacht. Sie entglitten ihm und drifteten immer wieder hin zu der Erinnerung an eine andere Nacht, in der er ebenso von Grauen erfüllt gewesen war.
Diese Nacht lag viele Jahre zurück, er war zwanzig Jahre alt gewesen und kam soeben von einem Gespräch mit seinem Herrn, zu dem er bestellt worden war – nicht in der Londoner Wohnung, sondern in der Höhle, im Tempel der Todesser ...
ooOoo
Und nun stand er hier, im nassen Schneeregen, in einer schmalen Straße Londons, die zum Haus der Genealogischen Gesellschaft führte – einer Einrichtung der Magischen Welt übrigens, mitten in einem Muggelviertel. Es war fast Mitte Dezember, und in einem Fenster gegenüber blinkten die bunten Lichter einer Weihnachtsbeleuchtung. An und aus. Und an und aus.
Er stand in einem Hauseingang, reglos und ohne die Kälte zu beachten, die allmählich durch seinen Umhang drang; er stand da und wartete auf Regulus Black.
Du wirst ja inzwischen wissen, wo du ihn finden kannst, hatte der Dunkle Lord gesagt, und das stimmte natürlich. Snape hatte ihn seit Wochen beobachtet.
Und richtig, sein Warten hatte ein Ende. Da kam er.
Black ging eilig die verlassene Straße entlang, ein Bündel Bücher unter den Arm geklemmt. Es war niemand zu sehen, und Snape fühlte so etwas wie Bedauern darüber, dass es so leicht war. Was musste der auch zu Fuß durch die Nacht gehen! Als die hallenden Schritte beinahe bei ihm waren, trat er auf den Weg vor. Black blieb wie angewurzelt stehen, und das Licht der Straßenlampen spiegelte sich in seinen Augen, die ihn voll Entsetzen ansahen. Aber er fasste sich.
"Da bist du also endlich. In einer dunklen Straße. Damit habe ich gerechnet", sagte er und tastete mit der freien Hand nach seinem Zauberstab. Snape hinderte ihn nicht.
"Nimm doch wenigstens deine Maske ab, Mann, oder bist du zu feige dazu? Lass mich sehen, wer mein Henker ist!", rief Black.
Snape zögerte einen Moment, dann zerrte er die Maske von seinem Gesicht. Blacks Augen weiteten sich vor Erstaunen.
"Snape! Wer hätte das gedacht!" Er hatte nun seinen Zauberstab in der Hand und hob ihn.
"Expelliarmus", murmelte Snape und machte eine kleine Bewegung. Der Stab zerbarst in Blacks Hand, die Splitter sanken als verglühende Funken auf den Schneematsch, wo sie still erloschen.
"Snape – du dienst einem Wahnsinnigen", sagte Black heiser und ließ den nutzlosen Rest seines Zauberstabs fallen. "Wenn er hat, was er will, wird er euch alle töten! Ist dir das klar?"
Snape schwieg immer noch. Black zitterte am ganzen Körper, so sehr, dass ihm die Bücher aus der Hand zu fallen drohten.
"Also gut", sagte er. Er legte sein Bücherbündel auf einer Mülltonne ab, die neben ihm stand. "Ich bin bereit."
"Sectumsempra!", sagte Snape leise, aber deutlich und machte mit dem Zauberstab eine scharfe kleine Bewegung in Richtung von Blacks Kehle.
Sie klaffte auf wie von einem Messer durchschnitten. Blut spritzte aus der durchtrennten Schlagader in den Schneematsch. Black kippte lautlos vornüber in die Blutlache.
Snape wandte sich um und disapparierte.
Er landete hart auf den Füßen, die Hände auf etwas gepresst, das sich wie warmer Stein anfühlte, und starrte in ein dunkles Gesicht, in schwarze Augen so voller Entsetzen, dass er mehrere Sekunden brauchte, um zu begreifen, dass es sein eigenes Spiegelbild war, das ihm aus einem schwarzen Becken entgegensah. Da auch merkte er erst, dass seine Hände an den Stein gefesselt waren.
Etwas berührte den Stein und ließ das Becken leicht erbeben; sein Spiegelbild zerbrach.
Er blickte auf und sah in Voldemorts Gesicht, das ihn mit einem Ausdruck musterte, den er am ehesten mit grausamer Güte beschrieben hätte.
"Und, Snape?", fragte er sanft.
Sie sahen einander an, und die Stille dehnte sich zwischen ihnen, sie hätten die einzigen Lebewesen in einem ansonsten leeren Weltall sein können.
Snape begriff, dass zwischen dem, der er noch vor wenigen Stunden gewesen war, und dem, der er jetzt für den Rest seines Lebens sein würde, eine unüberwindliche Mauer lag. Er hörte ein seltsames Geräusch, halb Keuchen, halb Schluchzen, und sah immer noch wie Hilfe suchend in das grausam-gütige, so seltsam entstellte Gesicht auf.
"Oh entschuldige, Snape, die Schlangen – sie reagieren meistens so auf plötzliche Berührung", sagte Lord Voldemort und tippte mit dem Zauberstab auf die metallenen Schlangen, die sich wie Klammern um Snapes Handgelenke geschlossen und ihn an das Becken gefesselt hatten. Augenblicklich zogen sie sich in den Stein zurück. "So, ich nehme an, deine Unternehmung war erfolgreich?"
Snape nickte.
"Sehr schön. Lucius! Lucius, bring unserem jungen Freund hier doch ein Glas Wein!"
Malfoy, dessen Anwesenheit er bis dahin gar nicht bemerkt hatte, kam die Treppe herunter, die die schwebende Ebene über dem See mit der kleinen Insel verband, auf der das Schlangenbecken stand.
Snape war zurückgetreten und wollte das Glas ablehnen, aber Malfoy drückte es ihm entschlossen in die Hand.
"Nun komm schon, trink das, Snape", sagte er mit unwirscher Freundlichkeit und fügte leiser hinzu: "Tu es, Mann! Das wird dir helfen. Geht uns allen mal so!"
Da trank er. Es war nicht nur Wein.
Er sah, wie Voldemort und Malfoy sich entfernten, und dass oben auf der Ebene noch mehr Todesser waren. Er hörte ihre Stimmen ganz von fern und bemerkte auch, dass sie irgendwann verschwanden und es dunkel wurde in der Höhle. Er war allein – Voldemort hatte etwas gesagt, das ihm klarmachte, dass er die Nacht hier verbringen sollte, und war gegangen.
Nun war er allein auf dieser Insel, allein mit dem schwarzen Becken, auf dessen spiegelnde Oberfläche von irgendwoher ein Mondstrahl fiel. Snape fragte sich, ob es Spalten in der Felskuppel gab, die sich über ihm wölbte, aber er interessierte sich nicht sonderlich für die Antwort.
Seine Gedanken schienen sich wie auf einer spiraligen Wendeltreppe in rasender Hast empor zu schrauben, immer höher, immer verdrehter.
Als er hier träumend an diesem dunklen Altar stand, im Dienste eines Herrn, der alles fordern konnte, alles forderte – morgen vielleicht schon sein eigenes Leben – da fühlte er die tiefe bittere Süße seines Daseins intensiver als jemals zuvor.
Es war nicht von Belang, dass sein Blut vermischt, verwässert war, im Gegenteil, vielleicht verhalf ihm das sogar zu einer umso schärferen Empfindung für das, worum es eigentlich ging. Denn es ging nicht um Reinblütigkeit, wie sie die Muggel verstehen oder auch hochmütige Narren in den Reihen der Zauberer – wie Regulus Black einer gewesen war – nicht um Reinblütigkeit im Sinne von gesellschaftlichem Darüberstehen.
Nein, es ging um das, was hinter dieser oberflächlichen Sicht der Dinge steckte: um Magie, um die uralte Magie des Blutes. Um die magische Kraft des unvermischten Blutes, die wie ein starker Strom sein konnte.
Seine Sehnsucht, die sich aus seinem Selbsthass ebenso sehr speiste wie sie in ihn mündete: Einer von ihnen zu sein! Der Würde des Geistes den Adel des Blutes hinzuzufügen ...
Der dunkle Spiegel des Beckens, der nur gelegentlich einen Schimmer des Mondlichts einfing. Ihn sogleich zersplitterte, verschwimmen und vergehen ließ und ihm so ein Symbol der Zerstörung, des Chaos wurde – des tiefsten Mysteriums des Seins.
Zu töten ist der letzte Akt der Liebe.
Nur wer das begriff, konnte die Schönheit, die unendliche Gnade der Dunklen Seite erkennen. Sie erlaubte ihrem Diener, allen Schmutz, alle Qual der Welt zu durchschreiten, sich ihrer zu bedienen, wenn es nötig war, und sie entließ ihn doch aus der Pflicht der Scham, der Reue und Verdammnis.
Der Dunkle Lord sah die Menschen so, wie sie waren: als Wesen aus Dreck und Geist, zappelnd im Gefängnis ihrer sterblichen Körper. Wer die Welt so begriff, dem war Zerstörung ein Gottesdienst, Angst ein Gebet, und Schmerz die Erlösung.
Als er sein Blut in dieses schwarze Becken rinnen sah, bis es den dunklen Spiegel in feinsten Wellen erzittern ließ, fühlte er bis in die letzte Faser seines Seins, dass für den Dunklen Lord zu sterben das höchste Glück seines Lebens sein würde, die Vervollkommnung seines so beklagenswert unfertigen Wesens.
Die köstliche Schwäche, die ihn langsam erfasste, je länger er dem dunklen Rinnsal zusah! Es fiel ihm schwer, innezuhalten und den Schnitt zu schließen. Es war ein Opfer für seinen Herrn, dass er sich dem verlockenden Dunkel der ewigen Nacht noch nicht ganz hingab. Er gehörte nicht sich selbst.
Aber er hatte zu lange gezögert, seine Beine gaben unter ihm nach, und er sank an dem schlangenumwundenen schwarzen Becken zusammen.
Er sah das Silbermesser unendlich langsam aus seiner rechten Hand gleiten, durch die Luft schweben, bis es mit hartem Klirren auf dem Steinboden aufschlug. Da lag er schon am Boden, versuchte, durch flatternde Lider hindurch seinen Zauberstab zu erkennen, der ganz in seiner Nähe liegen musste. Ein krankes, selbstfernes Lächeln verzerrte sein bleiches Gesicht, als er dalag und in die dunkle Wölbung hinaufsah.
In Wellen kam die Schwärze über ihn.
Aber so tief reichte sein Gehorsam, dass seine unverletzte Hand schließlich doch noch den Zauberstab ertastete. Seine tauben Lippen formten mit Mühe den erforderlichen Spruch. Der tiefe Schnitt an seinem linken Handgelenk schloss sich. Aber es dauerte lange, bis er genug Kraft gesammelt hatte, um sich langsam wieder aufrichten zu können.
ooOoo
Snape, so viele Jahre älter jetzt, kehrte mit einem Schaudern in die Gegenwart zurück. Morgen also. Morgen sollte er ein weiteres Mal für den Dunklen Lord töten.
Ein böses Lächeln verzerrte seinen Mund. Diesmal würde er danach keinen drogenvermischten Wein mehr brauchen. Seit damals war er sehr viel weitergekommen. Er legte sich auf sein Bett.
Draußen stahl sich schon der erste Schimmer der Dämmerung über den nachtdunklen Himmel.
oooOOOooo
Voldemort hatte den Kuppelsaal, in dem er die Todesser damals zu Dracos Bestrafung zusammengerufen hatte, zu einer Art Amphitheater umgebildet, und Snape musste seiner außerordentlichen magischen Befähigung wieder einmal Respekt zollen.
Der Saal war nun kreisrund und viel größer, als er ihn in Erinnerung gehabt hatte. Kein Kronleuchter spendete zivilisiertes Licht in dieser Nacht, stattdessen flackerten wieder die Fackeln in ihren Haltern ringsum an den verspiegelten Wänden.
Snape in seinem schweren, mit Goldstickerei verzierten Brokatmantel betrat den Saal durch eine Flügeltür und ging auf einem Steg aus schwarzem Stein über einen vielleicht drei Meter breiten Graben, der mit schwarz glitzerndem, unruhigem Wasser gefüllt war. Dieser trennte die eigentliche Bühne dieses Theaters von den Rängen, auf denen nun dicht gedrängt die Todesser standen, schweigend, in Kapuzenmänteln und mit Masken vor den Gesichtern.
Snape war überrascht über ihre große Zahl. Hinter ihnen sah er andere Gestalten; die Werwölfe um Greyback konnte er ausmachen, eine Gruppe von Kobolden und viele andere, die wohl kaum mehr als Handlanger des Dunklen Lords waren. Sie standen auf mehreren Stufen, die rund um die Bühne liefen. Hoch über ihnen wölbte sich die steinerne Kuppel.
Die Stille, die trotz der vielen Zuschauer herrschte, war beklemmend.
Voldemort selbst erwartete ihn an seinem schwarzen Altar, dem Schlangenbecken. Snape setzte den gläsernen Pokal mit seinem blau funkelnden Inhalt auf dem Rand des Beckens ab. Er vermisste noch jemanden.
Und richtig, da kam er. Lucius Malfoy hatte sich waschen und umkleiden dürfen und sah nun fast wieder so aus, wie Snape ihn seit über fünfundzwanzig Jahren gekannt hatte. Er kam durch dieselbe Tür wie zuvor Snape und wurde von Bellatrix über den Steg geführt. Unwillig schüttelte er ihre Hand ab und blieb dann vor Snape und Voldemort stehen.
"Nun sind wir vollzählig", ertönte Voldemorts Stimme. "Lasst uns also beginnen. Lucius, leg deinen Umhang ab."
Malfoy warf ihm den schwarzen Kapuzenmantel der Todesser mit angewiderter Miene vor die Füße. Die glimmenden Augen blickten ihn warnend an. Aber es war Bellatrix, die ihn zu Boden stieß.
"Heb ihn auf!", zischte sie. "Er ist noch immer dein Herr!"
Malfoys eigener Wille, der sich noch einmal aufgebäumt hatte, sank nun endgültig in sich zusammen. Er hob mit zitternden Händen den Umhang auf und reichte ihn Voldemort, der ihn achtlos beiseite legte. Im selben Moment schossen die Schlangen aus dem Stein und fesselten Malfoy mit Händen und Füßen an das Becken.
"Meine Todesser – ihr habt euch versammelt, um ein letztes Mal Zeuge des Rituals zu sein, das euren Herrn und seine Macht unsterblich machen wird! Lucius Malfoy hat vor einigen Jahren den Verlust eines meiner wertvollsten Besitztümer verschuldet, die diesem Zwecke dienen. Er hat leider noch viel mehr Schaden angerichtet – er, und seine Familie ebenfalls. Es ist also nur recht und billig, dass er diesen Schaden wieder gutmacht. Dafür wird er uns heute in ganz besonderer Weise dienen."
Snape fühlte, wie ihm unter den schweren Gewändern der kalte Schweiß ausbrechen wollte. Aber er war völlig ruhig, als er Malfoy in die Augen sah und dieser seinen Blick erwiderte.
"Sein Blut wird die Ehre haben, meine Erinnerung – oh und wie viel mehr als nur eine Erinnerung! – für die Ewigkeit aufzunehmen", fuhr Voldemort fort.
Von den Rängen der Zuschauer kam unbehagliches Hüsteln, aber Snape konnte auch die Gier spüren, die so deutlich wie ein Geruch über der Menge stand.
"Und nun, Severus, walte deines Amtes!"
Es wurde ganz still in dem Saal.
Snape hob den gläsernen Pokal und öffnete ihn mit dem Zauberstab. Winzige blaue Funken stoben hinaus.
"Mein Herr! Es fehlt noch Eure Gabe, die diesen Trank erst zu dem Euren macht!"
Voldemort lächelte dunkel.
"Gib zuerst Malfoy einen Schluck davon!"
"Wie Ihr wünscht!"
Er goss ein wenig von dem Zwietrank in einen kleinen Silberbecher und hielt ihn dem Gefesselten an die Lippen. Dieser zögerte einen Moment, trank dann aber doch. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Es geschah jedoch nichts.
"Sehr gut", sagte Voldemort. "Und verzeih meine Vorsicht, Severus. Hier, nimm nun die Haarsträhne!"
Er schnitt sich mit einem Messerchen eine dünne Strähne seines dunklen Haars ab und reichte sie an Snape weiter. Der berührte sie mit seinem Zauberstab, und sie glomm kurz auf. Dann warf er die Reste in den Pokal, aus dem augenblicklich weitere blaue Funken stoben.
Snape nahm ihn auf und sagte mit kühler, volltönender Stimme die ersten Worte des Ritualtextes. Voldemorts Befehl folgend trug er den Text zunächst in Latein vor und ließ dann eine englische Übersetzung folgen.
"Solvere! Das Lösen! Dies ist der Trank der Aufspaltung, der Trank, der zu zweien macht, der Trank, der das Gespaltene löst! Trinkt, mein Lord, denn dies ist Euer Trank, und nur Eure Seele vermag er zu lösen!"
Er reichte den Pokal an Voldemort weiter, der in tiefen Zügen daraus trank. Dann gab er das geleerte Gefäß zurück an Snape.
"Und nun, während der Zwietrank Euren Körper und Eure Seele durchdringt, werde ich das Opfer vornehmen, dessen Blut aufnehmen wird, was immer Ihr ihm anvertrauen wollt."
Snape konnte die Bitte um Gnade für seine Familie in den grauen Augen seines Opfers lesen, als er sich ihm zuwandte.
In kühler Ruhe hob er seinen Zauberstab und berührte damit fast die Kehle seines alten Freundes. Und dann sagte er leise, aber deutlich genug, dass man es bis zu den hintersten Rängen hinauf hörte: "Sectumsempra!"
Und noch einmal sah er, wie die Bewegung seines Zauberstabs die Kehle eines Menschen durchschnitt, ein Leben nahm. Er stand neben Lucius Malfoy, hielt seinen Arm und fühlte, wie sein warmes Blut auch ihn benetzte, seine Hände, sein Gesicht. Malfoy war stumm nach vorne gesackt, und sein Blut rann in das schwarze Becken. Snapes Stimme bebte ein wenig, als er weitersprach.
"Und nun, mein Lord, taucht Eure Hände in dieses – dieses Opferblut und überlasst ihm, was der Trank in Euch gelöst hat."
Er ergriff Voldemorts Hände und drückte sie in das Becken. Sie sahen den perlfarbenen Schimmer, der wie ein blasser Geist von ihren Händen aufstieg, für einen Moment über dem Becken schwebte und dann langsam zurücksank in das warme Blut.
Sie nahmen die Hände aus dem Becken.
"Tergeo!", sagte Snape, und das Blut verschwand von ihren Händen.
"Mein Lord, reicht mir jetzt das Objekt!"
Voldemort hielt auf einmal eine kleine goldene Kugel auf seiner Handfläche. Snape nahm sie entgegen und ließ den Löwenschnatz in das Becken gleiten. Er schimmerte golden durch die dunkle Flüssigkeit.
"Transferre! Das Übertragen!", sprach Snape weiter. "Nimm auf, was dein Herr dir hier anvertraut! Sei ein würdiger Speicher für die Seele deines Herrn! Verschließe sie für die Zeit, die er dir befiehlt, oder aber für die Ewigkeit!"
Und all das Blut, das aus Malfoys Kehle in das schwarze Becken geronnen war, schien in die kleine Kugel am Grunde des Beckens zu fließen und in ihr zu verschwinden. Schließlich lag sie goldglänzend und völlig unbefleckt auf dem leeren schwarzen Stein.
Snape nahm sie heraus und hielt sie Voldemort entgegen.
"Das Horcrux ist erschaffen! Nehmt also Euren Seelenspeicher an Euch, mein Lord, und verbergt ihn gut."
Und während Voldemort mit gierigen Händen das letzte Stück seiner Unsterblichkeit entgegenzunehmen glaubte, löste Snape die Fesseln, die den toten Malfoy an das Schlangenbecken ketteten. Er ließ ihn sanft auf den Boden gleiten und bedeckte sein Gesicht mit dem Umhang, den er getragen hatte.
Seine Hände waren wieder blutverschmiert, als er sich aufrichtete und mit brennenden Augen Voldemort ansah. Dieser wandte sich nun wieder an die Zuschauer, die in ängstlicher Stille das Geschehen verfolgt hatten.
"Meine Todesser, nun ist der Moment gekommen! Euer Herr hat sich seine Unangreifbarkeit gesichert, und nun sollt ihr feiern! Severus und ich haben jedoch noch eine Aufgabe zu erfüllen!"
Er wandte sich an Snape, beschwingt und voller Energie.
"Folge mir!"
Und er eilte mit großen Schritten an der überraschten Bellatrix vorbei, über den Steg und aus dem Saal, aus dem Gebäude, hinaus in die Nacht. Snape folgte ihm.
Draußen war der Wind so heftig, dass sie kaum dagegen ankamen. Aber das war anscheinend genau das Wetter, das Voldemorts Stimmung entsprach, denn anstatt direkt zu apparieren, eilte er weiter durch die Dunkelheit, bis sie am Fuß des Turms standen. Erst hier packte er Snape am Arm, und dann apparierten sie zusammen hinauf.
Oben angekommen spürten sie das Schwanken des Turms unter ihren Füßen. Snape konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken, als er Halt suchend nach dem Geländer der Plattform griff. Voldemort, der es sah, lachte.
Es war ein schauerliches Geräusch, das im Geheul der winddurchtosten Dunkelheit davongetragen wurde. Immer wieder tauchte der schiefe Mond zwischen den fliegenden Wolken auf wie aus den Brechern einer sturmgepeitschten See. Sein Licht fiel auf die beiden Zauberer, die sich hier oben gegenüberstanden, der eine mit glühenden Augen voller unmenschlicher Heiterkeit, während aus den bleichen, verzerrten Zügen des anderen Augen blickten, in denen die Dunkelheit Einzug gehalten hatte.
"Los jetzt! Lass uns die Entrückung vornehmen und damit meinen Siegeszug endlich beginnen! Gib mir deine Hand, schließe den Kreis!"
"Mein Lord, wir sind nur zu zweit!"
"Da unten in der Festung sind Hunderte und vor allem meine Todesser, auf die wir zugreifen können, Severus! Konzentriere dich!"
"Mein Lord – ich –"
"Was ist mit dir, Snape? Bekommt Töten deinem Magen nicht?" Wieder dieses wilde Lachen, als Snape sich mit seinen blutverschmierten Händen an dem schwankenden Geländer festzuhalten versuchte. "Du wirst schon noch auf den Geschmack kommen, vertrau mir! Ich kenne dich! Und nun gib dir Mühe, ich brauche deinen hervorragenden Geist!"
Snape richtete sich auf und berührte mit seiner blutigen Hand schließlich die knochenweiße Hand Voldemorts, deren ohnehin überlange Finger in langen, gekrümmten Nägeln endeten.
"Gut so. Und jetzt sprich mit mir zusammen."
Sie hoben die Zauberstäbe und führten sie langsam in einem weiten Kreis auseinander, bis sie sich wieder trafen.
"Ex conspectu sevoco! Ex conspectu sevoco! Ex conspectu sevoco!"
Der Wind riss ihnen die Worte des Zauberspruchs vom Mund, aber als sich die beiden Zauberstäbe berührten, war es, als gäbe es eine gewaltige Explosion, die jedoch stumm und unsichtbar blieb. Eine riesige dunkle Welle schien aufzusteigen und sich in alle Richtungen auszubreiten.
Snape taumelte zurück, nach Atem ringend. Voldemort sah hinauf in den Nachthimmel, wo sich das Dunkel nun vor die fliegenden Wolken legte und mehr und mehr davon verdeckte.
Dann gab es einen Lichtblitz, und eine gleißend helle Kugel aus grünem Licht stand für einen Augenblick hoch über ihnen, bis sie zerplatzte und Licht wie eine Flüssigkeit überallhin in die Dunkelheit verspritzte. Das Licht breitete sich aus und wurde blasser, schien in feinen Schlieren den ganzen Himmel zu überziehen.
Voldemort lachte laut und triumphierend. Snape rang immer noch nach Atem, mit der Hand seine Kehle umklammernd brach er schließlich in die Knie.
"Ich lasse dich für eine Weile allein, mein Freund! Du scheinst keine Gesellschaft zu wünschen!", rief Voldemort immer noch lachend und schwang sich über das Geländer der Plattform. Er verschwand in der Dunkelheit, die nun von einem grünlichen Schimmern erfüllt war, und sein Gelächter wurde vom Wind davon gerissen.
Auf dem schwankenden Boden hoch oben über der Festung lag Snape auf den Knien und würgte erbärmlich.
