Kapitel 18

Verräter und Verratene

"Dementoren!", sagte Hermione entsetzt.

Harry und Ron standen neben ihr am Fenster und starrten stumm hinauf in die dunklen Schatten, die sich hoch oben am mondhellen Nachthimmel sammelten.

Er spürte, wie die Angst sein Inneres auflösen wollte. Er konnte nichts sagen.

Hermione sah ihn von der Seite an, und wieder nahm sie seine Hand, wie schon auf dem Weg zu Lupins Bestattung.

"Die Schildzauber funktionieren doch wieder", sagte sie leise. "Die kommen sicher nicht da durch."

Schon einmal hatte man in Hogwarts Dementoren gesehen, aber das war jetzt schon vier Jahre her. Die meisten Schüler kannten diese Wesen also gar nicht aus eigener Erfahrung. Trotzdem erklang das Wort überall, gestammelt, geflüstert, gerufen – Harry hörte, wie es durch das ganze Haus wogte. Die wachen Schüler weckten die noch schlafenden und zogen sie zu den Fenstern, bis man schließlich das Gefühl hatte, dass die ganze Schule auf den Beinen war.

"He, Hermione, du bist doch Schulsprecherin. Musst du nicht irgendwas unternehmen, Lehrer wecken oder Schüler beruhigen oder so?", sagte Ron betont lässig.

Hermione, deren Hand immer noch Harrys umschlossen hielt, nickte verwirrt.

"Lasst uns runter in die Eingangshalle gehen", sagte sie dann, und die beiden folgten ihr durch das Treppenhaus.

Es war unnötig, Lehrer zu wecken. Im zweiten Stock kam ihnen Professor McGonagall im wehenden, schottengemusterten Morgenmantel entgegen. Harry erschauderte unwillkürlich bei diesem Anblick – irgendwie verhieß es nie etwas Gutes, ihr in diesem Aufzug zu begegnen, sagte ihm eine innere Stimme.

"Miss Granger – Miss Granger, gut, dass ich Sie treffe. Wir müssen die Schüler alle in der Großen Halle versammeln. Helfen Sie mir, diesem Aufruhr hier ein Ende zu machen, dann gehen Sie hinüber in die Krankenstation und holen die Leute herüber! Und Sie, Mr Potter und Mr Weasley, gehen Sie los und wecken Sie die, die noch schlafen. Alle in die Große Halle! Und keine Panik, bitte!"

Ron und Harry eilten durch die Jungenschlafsäle im Gryffindor-Turm und weckten alle, die noch schliefen. Bevor sie in ihren eigenen Schlafsaal gingen, betraten sie noch die Treppe zu den Mädchenschlafsälen – die sich gewöhnlich in eine Rutschbahn zu verwandeln pflegte, wenn ein Junge hinaufzugehen versuchte – und brüllten ihre Botschaft hinauf.

"Die flippen doch total aus", murrte Ron. "Gerade die – wenn die keiner persönlich weckt und ihnen klar macht, was los ist."

"Ich denk mal, McGonagall schickt ihnen noch jemanden!", sagte Harry, war aber auch erleichtert, als ihnen Lavender verschlafen entgegenkam und sie verwirrt ansah.

"Ihr sollt alle in die Große Halle kommen. Sofort. Bitte weck die anderen. Es ist ein Notfall, aber keine Panik", sagte Harry, der einfach zu müde war, um sich eine feinfühligere Formulierung einfallen zu lassen.

"Was?", kreischte Lavender los. "Ron, was ist passiert?"

Sie stürmte die Treppe hinunter und warf sich Ron an den Hals. Der stand verlegen da und wusste nicht, wie er die Umklammerung der nur in ein hauchdünnes und sehr kurzes Nachthemdchen gehüllten Lavender lösen sollte. Sie sah mit entsetzensgeweiteten Augen zu ihm auf.

"Sag schon, was ist denn los? Werden wir – werden wir angegriffen?"

"Quatsch", sagte Ron roh. "Da fliegen bloß ein paar Dementoren über dem Schloss rum. Aber McGonagall will –"

Aber der Rest seines Satzes ging in Lavenders Schrei unter.

"Dementoren! Nicht schon wieder die! Oh Mann, was ist das eigentlich für eine Schule!"

Ihr Geschrei bewirkte, dass mehr und mehr verschlafene Mädchen auf der Treppe erschienen.

Harry hatte es jetzt satt.

"Alle runter in die Halle! Komm, gehen wir Neville und die anderen wecken!", wandte er sich an Ron.

Parvati kam und nahm ihre Freundin am Arm, mit einem strafenden Blick auf Ron, der sie erleichtert gehen ließ.

"Ich wusste es doch!", war das Letzte, was er hörte. "Erinnerst du dich, was Firenze erst neulich im Unterricht gesagt hat?"

Dann verschwanden die beiden nach oben, wohl um ihre Morgenmäntel zu holen.

Ron folgte Harry augenrollend zu ihrem eigenen Schlafsaal. Neville, Dean und Seamus waren die letzten Jungen, die noch in tiefem Schlaf lagen.

Gnadenlos machte Ron Licht.

"He, alles raus aus den Betten! Dementoren-Alarm! Alle runter in die Große Halle!"

Harry bewunderte ihn ehrlich für seine Coolness. Er selbst hatte Schwierigkeiten beim Gehen, so sehr krampften sich seine Eingeweide beim Gedanken an die schwarzen Gestalten draußen zusammen.

Lass sie nicht reinkommen, dachte er dauernd. Lass sie bloß nicht reinkommen!

Und doch musste er noch etwas erledigen, bevor er in die Halle flüchten konnte.

Neville tauchte als letzter aus seinen Kissen auf.

"Was ist los?"

"Komm schon. Zieh dir was über. Wird wohl 'ne lange Nacht werden", sagte Ron. "Also, kommt ihr jetzt?"

"Geht schon. Ich muss noch was holen", sagte Harry.

"Ich bleib bei dir."

Also zogen Neville, Dean und Seamus im Halbschlaf ab. Seamus hatte nur einen Schuh gefunden, aber das schien ihn nicht weiter zu stören.

Harry zerrte seinen Koffer hervor. Ron sah ihm zu.

"Muss das wirklich jetzt sein?"

"Allerdings. Ich lass nicht noch eins entwischen", murmelte Harry zwischen zusammengebissenen Zähnen. Mit angespannter Miene murmelte er das Passwort, und die Riegel sprangen auf. Harry zog den schwarzen Ledereinband des Tagebuchs hervor. Beide starrten auf die silbernen Beschläge und das Wappen der Blacks, die diesen trotz allem doch harmlos aussehenden Einband verzierten.

"Glaubst du wirklich – es ist noch – da drin?", flüsterte Ron.

Harry wog den Umschlag in den Händen. Er war wirklich schwer.

"Denk doch an Kreacher", sagte er, ebenfalls beinahe im Flüsterton. "Was meinst du, warum er gestorben ist, als er versuchte, es zu vernichten? Als er versuchte, es zu essen?"

"Du meinst – das war – deshalb? Weil – weil ein – Horcrux drin versteckt ist?"

Harry nickte nur. Dann klappte er den Einband vorsichtig auf. Irgendwo musste ein Geheimfach sein.

"Und wenn das nun auch durch Zauber gesichert ist?", fragte Ron besorgt. "Warum nimmst du nicht das ganze Ding mit runter?"

"Das fällt doch auf. Nein, ich riskier' das jetzt. Entweder sind die Zauber raus, oder – oder –"

"Genau. Oder du verbrennst dir verdammt die Finger."

Harry tastete das schwarze Leder ab. Er musste sich dazu zwingen. Vor seinen Augen stand auf einmal wieder das schmerzverzerrte Gesicht des sterbenden Kreacher. Und dann schob sich darüber ein anderes Gesicht, das er gar nicht kannte: ein Junge oder ein sehr junger Mann mit sorgfältig frisiertem blondem Haar und dunklen, angsterfüllten Augen – in denen sich seltsamerweise bunte Lichter spiegelten –

Dann war es weg. Harrys Hand war vor dem Leder zurückgewichen.

"Was ist?", fragte Ron.

"Weiß nicht", murmelte Harry. Er nahm seinen Zauberstab und sagte: "Specialis revelio!"

Nichts geschah.

"Kein Zauber mehr, anscheinend", sagte er. "Und kein Geheimfach."

"Warte mal", sagte Ron plötzlich und hob seinen Zauberstab. "Alohomora!"

Und da klickte etwas im Innern des Einbandes. Eine schmale Ritze wurde in der Innenseite des Rückendeckels sichtbar. Harry berührte sie, und etwas wie eine winzige Schublade schob sich heraus. Dann lag es funkelnd im Lampenlicht. Das Medaillon. Voldemorts echtes Horcrux.

Sie starrten fasziniert darauf, noch ganz erfüllt von den Worten Blacks, die sie eben erst gelesen hatten.

"Wir müssen los, Harry", sagte Ron schließlich.

Widerwillig berührte Harry das Medaillon und nahm es endlich in die Hand. Es war wirklich schwerer als das gefälschte, das er dann zum Vergleich aus seiner Hosentasche zog. Und die Gravur des Slytherin-S schimmerte, als sei sie eben frisch ausgeführt worden. Im Vergleich dazu war das gefälschte Medaillon matt und unscheinbar. Harry drehte es um, und da war er, der Kratzer auf der Rückseite, von dem Hekate Harper Regulus in jener Kneipe – dem Black Pidgeon – erzählt hatte.

"Wie konnte er die beiden bloß verwechseln?", fragte sich Harry laut.

"Du hast doch gesagt, die Harper konnte es so verzaubern, dass es genauso aussah. Hat der Kerl doch auch geschrieben."

"Ja – aber Voldemort selbst – ich weiß nicht – müsste er es denn nicht bemerkt haben? Sein eigenes Horcrux? Als er es in diesen Trank geworfen hat?"

"Na ja, wir haben ja eben gelesen, dass er es jahrelang – äh – gar nicht in der Hand gehabt hat, nicht mal gesehen hat, oder? Weil er es in dieser Frau verborgen hatte."

Harry sah auf seine beiden Handflächen, die jeweils ein Medaillon hielten. Der Gedanke an all das Blut, das für diese beiden Dinger vergossen worden war, ließ ihn erschaudern.

"Jetzt pack sie ein und komm!", drängte Ron.

"Moment noch!"

Harry griff in einem plötzlichen Entschluss noch einmal in seinen Koffer und nahm aus dem Seitenfach zwei Gegenstände heraus.

"Was ist das?"

"Gehörte meinen Eltern", sagte Harry. "'ne Art Gegenzauber, hoffe ich. Wenn ich das Ding hier schon bei mir tragen muss."

Er steckte den Goldenen Schnatz seines Vaters ein und hielt dann inne, als er den gläsernen Fotobehälter seiner Mutter dazu stecken wollte. Zu groß, zu schwer. Hastig öffnete er den Verschluss und schüttelte das Amulett heraus. Er steckte es ein, packte dann den Glasklotz zurück und schob das Tagebuch des Regulus Black zurück in seinen nun so harmlosen Einband. Dann wickelte er es in einen alten Umhang und legte es in den Koffer. Im letzten Moment fiel ihm ein, auch noch die Karte des Rumtreibers mitzunehmen. Wer wusste, wozu man die noch gebrauchen konnte.

"Schon fertig", sagte er und sprang auf.

"Haha", sagte Ron. "Ich wette, wir sind die Letzten. Die, die von den Dementoren direkt vor der Tür zur Großen Halle erwischt werden."

"Halt bloß die Klappe, Mann."

Sie rannten die Treppen hinunter und gelangten noch mit den letzten Nachzüglern zusammen in die hell erleuchtete Große Halle.

oooOOOooo

Sie tauchten ein in ein buntes Gewimmel aus Schlafanzügen, Nachthemden, Morgenröcken und hier und da hastig übergeworfenen Klamotten. Viele tuschelten aufgeregt, aber die meisten hatten schlaftrunkene, verwirrte Gesichter und warteten schweigend auf eine Erklärung von McGonagall.

Der Lehrertisch war bereits voll besetzt, und zu ihrer großen Überraschung sahen Ron und Harry neben Professor McGonagall, die vor dem Tisch stand und die Schüler mit strengem Blick in Schach hielt, Bill Weasley und Tonks stehen.

"Der Orden des Phönix ist auch schon da!", sagte Harry erstaunt, als sie sich an den Gryffindor-Tisch neben Neville setzten, der sich damit abmühte, die Kröte Trevor in der Tasche seines Schlafanzugs festzuhalten.

Dann fand sein Blick Hermione, die am anderen Ende des Tisches saß – umgeben von Erst- und Zweitklässlern – und zu ihm herübersah. Erst in diesem Moment wurde ihm klar, dass er sie gesucht hatte.

"Sieh da, die Schulsprecherin am Kopf der Tafel", sagte Ron ein bisschen spöttisch.

Harry überwand sich und blickte auf zu der verzauberten Decke. Ihm war nie klar gewesen, ob sie einfach ein allgemeines Bild von der gerade herrschenden Tageszeit und dem Wetter draußen vermittelte, oder ob sie so verzaubert war, dass man durch sie – wie durch ein Glasdach – in den wirklichen Himmel über Hogwarts blicken konnte. Im letzteren Fall hätte man doch jetzt wohl Dementoren sehen müssen. Aber da waren keine.

Wieder sah er zu Hermione hinüber. Sie redete mit einem kleinen rothaarigen Mädchen, das eine Katze auf dem Schoß hielt, die fast genauso groß schien wie sie selbst. Es war Krummbein.

Überall an den Tischen fielen ihm jetzt auf einmal die Erst– und Zweitklässler auf, die mit verschreckten, schlafblassen Gesichtern zwischen den Größeren saßen und überhaupt nicht wussten, was los war. Viele von ihnen hatten ihre Haustiere mitgebracht.

"Ruhe! Darf ich um Ruhe bitten!", rief nun Professor McGonagall und hatte beinahe sofort die volle Aufmerksamkeit aller. "Ich werde mich kurz fassen, denn wir sind alle müde.

Sie haben vermutlich fast alle gesehen, dass Dementoren über Hogwarts fliegen. Hogwarts ist durch starke Schildzauber geschützt, die diese Wesen nicht durchbrechen können. Dennoch ist ihr Erscheinen sicher ein Grund zur Besorgnis. Darum habe ich Sie alle zusammengerufen, damit Sie den Rest der Nacht hier in der Halle verbringen, bis wir Genaueres wissen. Wachleute, die zu unserem Schutz hier sind, patrouillieren in diesem Augenblick durch die Gebäude und über die Außengelände. Sie werden die ganze Nacht bleiben. Ich wiederhole also, hier befinden Sie sich in Sicherheit. Über alles Weitere werden wir morgen früh sprechen. Und jetzt nimmt sich jeder eine Matratze, Decke und Kissen und versucht zu schlafen. Die Schulsprecher und die Vertrauensschüler werden Ihnen helfen. Gute Nacht."

Trotz dieser Worte war die Anspannung in McGonagalls Miene wie in allen anderen Gesichtern nicht zu übersehen. Aber immerhin stellten sich jetzt alle brav in Reihen an, um ihre Schlaflager in Empfang zu nehmen. Eine Stunde später kehrte Ruhe ein, und zwischen den vielen Matratzen-Reihen gingen leise wie Schatten immer zwei Lehrer auf und ab.

Harry lag auf dem Rücken und starrte in den verzauberten und immer noch Dementoren-freien Nachthimmel über sich hinauf. Rechts von ihm schlief Ron schon tief und fest, auf seiner linken Seite drehte Neville seinen mysteriösen Kräuterbeutel in den Händen.

Harry ließ sich die zahlreichen Dinge, die er an diesem Tag erfahren hatte, durch den Kopf gehen. Kaum zu glauben, dass er nun hier lag, mit einem von Voldemorts Horcruxen in der Hosentasche! Die Erinnerung an die düstere Zeit der Todesser, die in Regulus Blacks Tagebuch lebendig geworden war, hielt ihn in ihrem Bann.

Er konnte die Faszination, die dieser düstere Bund in Black geweckt hatte, einfach nicht verstehen. Konnte man wirklich bereit sein, einer so abstrakten Idee wie der ‚Reinblütigkeit' Menschenleben zu opfern? Und warum? Ob Sirius' Bruder, bevor er die grausame Ermordung von Amy Benson mit angesehen hatte, jemals dem Tod begegnet war? Hatte er je zuvor Todesqual in den Augen eines Menschen gesehen? Wohl nicht.

Harry dachte an den bedauernswerten Kreacher, der bereit gewesen war, sich mit dem Buch seines ehemaligen Herrn in die Flammen zu stürzen, nur damit Harry es nicht in die Hände bekam. Auch wenn er keinen Grund hatte, Kreacher besonders freundliche Gefühle entgegenzubringen, hatte sein qualvolles Sterben ihn doch tief bestürzt. Ob es das Horcrux in diesem Buch gewesen war, das den Hauself so weit getrieben hatte?

Das war ein Gedanke, den er jetzt – mit demselben Horcrux in der Tasche – lieber nicht weiter verfolgen wollte.

Und Hekate Harper – wo mochte sie in diesem Moment sein? Was hatte sie mit dem Ravenclaw-Messer gemacht? Brachte sie es eben jetzt zu Voldemort, ihrem Herrn?

Und dann kam ihm immer wieder Hermione in den Sinn. Wie sie sich im Raum der Wünsche geküsst hatten – sein Herz schlug schneller beim bloßen Gedanken daran. Was war mit Ginny, mit Ron? Wie konnten sie so etwas nur anfangen – wenn sie doch wussten, dass es mit der Freundschaft zwischen ihm und Ron endgültig zu Ende sein würde, wenn er es erfuhr? Und wie sollten sie damit aufhören?

Seine Gedanken verwirrten sich, als er in einen dämmrigen Halbschlaf sank, aus dem er immer wieder aufschreckte.

Die ganze Nacht über saßen Professor McGonagall und die Hauslehrer mit den beiden Phönixleuten zusammen – immer in wechselnder Zusammensetzung, je nachdem, wer gerade mit einem Wachgang an der Reihe war – und berieten sich im Flüsterton. Dieses eine Mal war Harry dankbar, dass er noch zu jung war, um ein Mitglied des Ordens zu sein. Er war so müde, dass er keinen einzigen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Wenn er in der unruhigen Halle auch keinen wirklichen Schlaf finden konnte, so war er doch froh, dass er wenigstens liegen und schweigen durfte.

oooOOOooo

Am frühen Morgen, als alle ihre Matratzen wegräumten und sich, als Professor McGonagall die Erlaubnis gab, in ihre Schlafsäle verzogen, um sich zu waschen und anzuziehen, kam Parvati wie zufällig bei Harry vorbei, der gerade zusammen mit Neville nach Trevor suchte. Sie trug einen weinroten Morgenmantel, der bis zum Boden reichte, und sah für eine so frühe Stunde nach einer üblen Nacht außerordentlich hübsch aus. Aber ihre dunkelbraunen Augen blickten sehr besorgt zu Harry auf.

"Harry – ich wollte es dir schon gestern sagen, aber wir haben dich nirgends gefunden. Und Lavender und ich finden, du solltest es wissen."

"Was ist denn?", fragte Harry mürrisch und betrachtete sein zerwühltes Nachtlager, in dem sich Trevor auch nicht gefunden hatte.

"Professor Trelawney hat – deinen Tod vorausgesagt, Harry!", flüsterte Parvati. "Sie sagte, dass du diese Welt bald verlassen wirst!"

"Ach, und was ist daran neu?", knurrte Harry, obwohl er gerade an diesem Morgen lieber von solchen Botschaften verschont geblieben wäre. "Das ist dann ungefähr das zweihundertsiebzehnte Mal, oder?"

"Ja, aber ihre Stimme klang so komisch – und sie sah auch so anders aus, als sie das sagte. Und es war nicht im Unterricht, sondern abends, als Lavender und ich sie privat besuchten!"

Harry fühlte, wie eine eisige Hand sein Herz wie in einem Schraubstock zusammenquetschte. Sollte das tatsächlich noch einmal eine der wenigen echten Prophezeiungen Trelawneys gewesen sein? Hatte sie mit den bisherigen sein Leben nicht ohnehin schon einschneidend genug verändert?

"Hat sie noch was gesagt?", fragte er, bemüht, lässig zu klingen.

"Nein – na ja, irgendwas von einem dunklen Spiegel oder so. Ich krieg's nicht mehr zusammen. Aber das andere war ganz klar. Und Harry, das hat sie gestern erst gesagt!"

"Wieso überhaupt Trelawney, ich dachte, Firenze gibt jetzt Wahrsagen!"

"Sie teilen sich den Unterricht! Er gibt Astrologie, sie macht alles andere." Sie sah sich um. "Ich muss jetzt zurück zu Lavender. Sie ist ein bisschen nervös. Harry, noch was. Professor Trelawney sagte auch, dass – dass du es wärest, der – der Du-weißt-schon-wen nach Hogwarts lockt."

"Hat sie das auch – prophezeit?"

"Nein, nein, das hat sie schon vor 'ner Woche mal gesagt, nebenbei im Unterricht. Aber ich glaube, ein paar andere denken das auch!"

"Ich locke Voldemort hierher!", wiederholte Harry, ohne sich um Parvatis Zusammenzucken zu kümmern. "Glaubt ihr ernsthaft, ich bin so scharf drauf, ihm zu begegnen?"

"Also, das war jedenfalls das, was Professor Trelawney gesagt hat. Und ich glaube, 'ne ganze Reihe von Leuten aus der Sechsten denkt, dass du schuld bist, dass Ginny nach Beauxbatons gegangen ist. Die sind alle nicht so gut auf dich zu sprechen."

"Parvati! Kommst du jetzt endlich?", rief Lavender ihrer Freundin im Vorbeigehen zu. Sie warf einen schiefen Blick auf Ron, der soeben gähnend und mit völlig verwüstetem Haar unter seinem Kissen auftauchte.

"Uäh – was ist das denn –", schrie er plötzlich auf und sprang mit ungekannter Geschwindigkeit von seinem Matratzenlager.

Er schüttelte sich und tanzte dabei ziemlich würdelos vor den Augen der erstaunten Mädchen herum. Und siehe da, aus seinem linken Hosenbein stürzte Trevor und blieb verdutzt auf Lavenders rosa Plüschpantoffel sitzen. Ihr Schrei zog noch mehr Aufmerksamkeit auf die Gruppe, und Harry beeilte sich, die geschockte Kröte einzusammeln und ihrem Herrn zurückzugeben.

Dann suchte er seine Schuhe, die erstaunlich weit von seinem Platz verstreut lagen, und machte sich daran, sie anzuziehen. Als er den rechten Fuß in den Schuh stecken wollte, bemerkte er den Zettel darin. Er nahm ihn heraus und warf einen verstohlenen Blick in die Runde, aber niemand beachtete ihn.

"POTTER, DIE ZEIT IST NAHE! VERSCHWINDE ENDLICH!"

Das passte ja gut. Die roten Buchstaben leuchteten hell in der morgendämmrigen Halle. Harry knüllte auch diesen Zettel zusammen und steckte ihn in eine seiner allmählich ziemlich vollen Hosentaschen.

oooOOOooo

Die Schlaflager wurden weg-, die Tische und Bänke wieder herbeigehext. Nach und nach trudelten die angezogenen Schüler wieder herein, und dann gab es erst einmal Frühstück. Obwohl es keinen Angriff gegeben hatte und offenbar keine unmittelbare Gefahr bestand, herrschte eine gedrückte und angespannte Stimmung, und alle warteten nur darauf, dass McGonagall endlich ihre Ansprache hielt und ihnen mitteilte, wie es weitergehen sollte.

Neville, der Trevor jetzt ein kleines Band mit einer Leine daran um den Bauch gelegt hatte, mümmelte schlecht gelaunt sein Rührei hinunter. Seine Backe war heute so geschwollen, dass die anderen vorsichtig Abstand von ihm hielten.

Dean und Seamus tuschelten miteinander, wie auch Parvati und Lavender, und die Blicke von allen vieren streiften immer wieder Harry, der sich inzwischen ziemlich elend fühlte. Wenn er nur mit Hermione hätte reden können, aber die saß immer noch bei den Jüngeren, offenbar um im Bedarfsfall Trost spenden zu können. Bill und Tonks waren nirgends zu sehen.

Und dann wurde die Tür geöffnet, und Mad-Eye Moody kam hereingestakst, mit schnellen Schritten und einem angenehmen Schwall kalter, frischer Luft. Anscheinend hatte Professor McGonagall nur auf ihn gewartet, denn nun stand sie auf, stellte den Kaffeebecher ab und bat um Ruhe.

"Zunächst einmal wünsche ich Ihnen allen einen guten Morgen. Wie Sie sehen, ist Mr Moody extra gekommen, um uns über die Situation aufzuklären. Bitte hören Sie ihm aufmerksam zu."

Moody griff sich einen Kaffeebecher vom Tisch und trank einen langen Schluck. Dann begann er mit heiserer Stimme zu sprechen, immer wieder von Husten unterbrochen.

"Von den Dementoren geht im Augenblick anscheinend keine Gefahr aus. Sie haben im weiten Bogen über Hogwarts Stellung bezogen, aber offenbar haben sie den Befehl, dort als Wache still zu verharren. Natürlich ist klar, dass sie dort auf weitere Befehle ihres Herrn warten. Darum ist die Situation auch alles andere als – nun ja –" Er unterbrach sich hustend, als er in die verängstigten Gesichter sah, die alle ihm zugewandt waren. "Also, wir müssen jedenfalls auf – weitere Schritte vorbereitet sein. Ich glaube, darüber klärt Sie jetzt am besten Professor McGonagall auf."

Abrupt setzte er sich wieder an den Tisch, riss mit seinem Holzbein beinahe Professor Slughorns Stuhl um und griff verstohlen nach seinem Flachmann. Er sah richtig krank aus, auch wenn das bei einem Gesicht wie dem seinen nicht so einfach zu sagen war.

Professor McGonagall erhob sich ein wenig überrascht wieder.

"Wie ich Ihnen letzte Nacht schon sagte, halten sich bis auf Weiteres mehrere kampferprobte Mitglieder einer Schutztruppe zur Bewachung und, wenn nötig, Verteidigung der Schule hier auf. Heute Abend steht der Hogwarts-Express bereit für alle Schüler, die die Schule verlassen möchten. Esther Ripley von der Aurorenzentrale und Hagrid werden Sie durch einen Geheimgang bis nach Hogsmeade geleiten."

Die Schulleiterin sah mit einem scharfen Blick in die Runde.

"Ich muss Sie aber darauf aufmerksam machen, dass es ein Risiko ist, die Schule jetzt zu verlassen. Wir wissen nicht, wie die Dementoren darauf reagieren werden. Wer es dennoch versuchen möchte, hat leider keine Möglichkeit, seine Eltern zu benachrichtigen. Ich muss Sie nämlich bitten, keine Eulen mehr auszuschicken. Hagrid hat bereits mehrere tote und verletzte Eulen gefunden. Anscheinend kommen sie nicht von Hogwarts fort."

McGonagall machte eine Pause, bevor sie mit einem Seufzen fortfuhr.

"Wir müssen uns wohl mit dem Gedanken vertraut machen, dass Hogwarts unter Belagerung steht. Wir werden alles tun, um einem Angriff nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Die Schule verfügt über uralte Schutzräume, die in diesem Moment hergerichtet werden.

Und was mir am schwersten fällt: Ich muss alle Schüler, die bereit sind, sich – aktiv an einem eventuellen Kampfgeschehen zu beteiligen, bitten, sich nach dem Frühstück bei Mr Moody im Klassenraum für Verteidigung zu melden."

Hier kam wildes Gemurmel auf. Professor McGonagall machte eine beschwichtigende Handbewegung.

"Ich sage Ihnen gleich, alle – und ich wiederhole: alle Schüler unter siebzehn Jahren werden im Fall eines Angriffs in die Schutzräume gehen und nicht zu irgendwelchen Kampfhandlungen zugelassen werden!

Bis auf Weiteres aber werden wir unserer Tradition getreu den normalen Schulbetrieb fortsetzen. Bleiben Sie möglichst zu mehreren zusammen, gehen Sie nicht weiter hinaus als bis zu den Gewächshäusern – und dahin nur, wenn Sie dort Unterricht haben! – lassen Sie sich durch nichts zu irgendwelchen wagemutigen Aktionen hinreißen. Wenn Ihnen etwas Ungewöhnliches auffällt, wenden Sie sich sofort an einen Lehrer, einen Vertrauensschüler oder einen der Wächter, die weiterhin ständig patrouillieren werden.

Seien Sie geduldig und bewahren Sie Ruhe. Hogwarts wird diese dunkle Zeit überstehen!"

Sie wollte sich setzen, dann sah sie, dass sich jemand am Ravenclaw-Tisch zu Wort meldete.

"Ja, Miss Lovegood, was gibt es denn noch?"

Luna, selbst aus der Ferne durchscheinend und blass, fragte:

"Warum versuchen wir es nicht über das Flohnetzwerk? Ich meine, die Leute, die gehen oder ihre Eltern benachrichtigen wollen, warum –"

Es war McGonagall deutlich anzusehen, wie unbehaglich sie sich fühlte, als sie Luna unterbrach.

"Es tut mir leid, Miss Lovegood. Wir haben das bereits ausprobiert. Aber das Netzwerk – funktioniert im Augenblick nicht. Es scheint – unterbrochen zu sein."

Das löste heftige Diskussionen aus.

Harry merkte, wie müde er war. Mit schweren Augen sah er zu, wie sich die Gruppen und Grüppchen allmählich zum Unterricht trollten, wie Moody und eine junge Frau, die er noch nie gesehen hatte und die wohl Esther Ripley sein musste, von einem Knäuel Siebtklässler und einigen Sechstklässlern verfolgt die Halle verließen und –

"Wach auf, Harry!" Ron schubste ihn energisch. "Ich geh jetzt zu Moody, du kommst doch mit, oder?"

"Klar", sagte Harry und gähnte. Beim Hinausgehen sah er sich nach Hermione um, aber sie war nirgends zu entdecken.

Die Gänge waren jetzt wieder überflutet vom morgendlichen Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster hereinfiel, und da war es wirklich schwer, an die ernsthafte Bedrohung zu glauben, die über ihnen lag. Die Schüler, die um sie herum zu ihren Unterrichtsstunden eilten, verstärkten nur den Eindruck, die Dementoren könnten nichts als ein Albtraum gewesen sein.

Auch im Klassenraum für Verteidigung malte der Sonnenschein Muster auf den dunklen Boden und ließ ganze Bahnen von tanzenden Stäubchen aufleuchten. Die Schüler hatten sich an die Tische gesetzt. Am Pult nahm Moody Platz, die Frau blieb daneben stehen. Als Letzte schob sich noch Tonks durch die Tür.

Harry sah sie an und wartete darauf, dass sie seinen Blick erwiderte, aber das geschah nicht. Ihr kurzes Stoppelhaar war jetzt schwarz, was ihr schmales Gesicht noch blasser erscheinen ließ. Mit einem schmerzhaften Stich dachte Harry an Lupin.

Moody ließ seinen durchdringenden, von dem magischen Auge unterstützten Blick grimmig über die Schüler schweifen.

"Also. Wir erwarten, dass Voldemort Inferi einsetzen wird. Ich gehe davon aus, dass ihr alle wisst, was das ist? Gut. Gegen die Inferi ist ein Gift entwickelt worden. Fred und George Weasley haben dafür eine handliche kleine Waffe für jedermann – und jede Frau – entwickelt."

Moody hustete heftig und hielt dann einen kleinen Flakon hoch, der Harry bekannt vorkam.

"Das –", er wurde wieder von seinem Husten unterbrochen, "das ist ein Anti-Inferius-Spray. Aus der Weasley-Reihe – wie hieß das noch?"

"Sprüh-und-Flieh!", ertönte da eine vertraute und unverschämt ungezwungene Stimme von der Tür.

Zu seiner großen Freude sah Harry, wie George – es war doch George? – Weasley hereinkam und neben Tonks stehen blieb.

"Genau. Sprüh-und-Flieh. Da steht einer der Erfinder, George Weasley, der in den nächsten Tagen ebenfalls hier bleiben wird."

Spontane Beifallsrufe aus der Gryffindor-Riege wurden laut. George winkte ihnen grinsend zu.

"Um zum Thema zurückzukommen – jeder von euch bekommt so ein Ding. Wenn ihr einen Inferius seht, sprüht ihr ihn einfach voll. Klar? Dann wäre das geklärt."

"Wie sollen die Inferi eigentlich hierher kommen?", fragte Dean Thomas, der neben Neville in der ersten Reihe saß.

"Gute Frage. Haben wir auch noch nicht raus. Aber es liegen eindeutige Hinweise darauf vor, dass Voldemort eine große Menge dieser Kreaturen hat. Wir sind sicher, er lässt sich für ihren Transport auch was einfallen. Ich würde ja auf Portschlüssel tippen. Natürlich müssen wir auch mit anderen Kämpfern rechnen. Er hat wieder 'ne Menge Todesser um sich geschart. Und auch von den Werwölfen wissen wir's ja leider sicher –"

Wildes Husten.

"Um das klarzustellen – ihr seid nicht für's aktive Kampfgeschehen vorgesehen. Dafür kommt noch 'ne Abteilung Auroren, die Scrimgeour in letzter Minute lockergemacht hat. Soll ihm wohl hinterher keiner vorwerfen können, dass er die Schule geöffnet gelassen hat. Miss Ripley hier ist eine von ihnen. Tschuldigung, wenn ich nicht so respektvoll von Ihrem Boss rede."

"Wir würden Sie als hintere Deckung an sensiblen Punkten des Schlosses einsetzen", sagte Ripley nun. "An den Türmen, Eingängen und so weiter. Und als Boten hier auf dem Gelände, zwischen den Auroren, den Phönixleuten und den Bewohnern."

Harry sah, wie Lavender und Parvati zweifelnde Blicke wechselten. Er konnte es ihnen nicht verübeln. Er war selbst nicht so scharf darauf, Inferi und Werwölfen entgegenzutreten, schon gar nicht, wenn er an seine letzte Begegnung mit Greyback dachte.

"Noch was. Wer aus irgendeinem Grund das Gefühl hat, dass er diese Sache nicht packt – der soll sich bitte nicht schämen und es einfach sein lassen. Das ist keine Schande. Und ihr schadet uns allen mehr, wenn ihr nur Helden sein wollt und dann im entscheidenden Moment ab– äh, versagt. Verstanden? Ich will keine toten Helden. Ich will ein paar umsichtige, klar denkende Leute mit einem gesunden Selbsterhaltungstrieb und einer guten Portion Ahnung in Verteidigung. Verdammt, dieser idiotische Husten!"

"Ich koch' dir jetzt einen heißen Tee, und dann redest du mal 'ne Weile nicht mehr", meldete sich Tonks, als Moody endlich ausgehustet hatte.

"Kann glaub ich nichts dagegen einwenden. Ripley, übernehmen Sie die Jungs?"

"Und die Mädchen auch, Sir, ja", erwiderte Ripley kühl, aber mit einem Lächeln in den Augen.

"Kurze Grundausbildung. Wie besprochen."

"Ja, Sir."

"Noch eine Frage bitte!", meldete sich Hermione, die Harry jetzt erst in einer der letzten Bänke entdeckte, ausgerechnet neben Pansy Parkinson.

"Ja?"

"Was ist denn nun mit den Schirmzaubern um Hogwarts? Inwieweit können wir uns denn auf die verlassen?"

"Um ehrlich zu sein", hustete Moody, "überhaupt nicht. Gut, sie halten. Jetzt. Und gegen die Dementoren. Aber wenn Voldemort persönlich hier erscheinen sollte oder ein Trupp seiner Leute – dann müssen wir mit allem rechnen. Nicht zuletzt deshalb, weil einer derjenigen, die hier an der Errichtung des Schutzes maßgeblich beteiligt waren – äh – vermutlich auf die andere Seite gewechselt ist. Wie ja die meisten von Ihnen wissen. Außerdem sollte man Voldemorts Fähigkeiten nicht unterschätzen."

oooOOOooo

Mittags, als die "kurze Grundausbildung" endlich beendet war und Harry kurz davor war, im Stehen einzuschlafen, blieben sie noch im Klassenraum für Verteidigung zurück, er, Ron, Hermione, Tonks, George und Moody.

Moody hatte mit steinerner Miene den Tee getrunken, den Tonks für ihn gekocht hatte, und war inzwischen wieder bei seinem Flachmann angekommen. Ripley war gegangen, um die anderen Auroren in Empfang zu nehmen, die um diese Zeit ankommen sollten.

"Gibt es was Neues von Greyback?", fragte Hermione.

Moody schüttelte den Kopf mit dem grauweißen Haar.

"Ich hab seine Spur verloren. Wir sind sicher, dass er in der unzugänglichen Zone um Azkaban verschwunden ist. Dort dürfte sich Voldemorts Hauptquartier befinden, da sind sich inzwischen alle ziemlich einig."

Sie schwiegen einen Moment. Jeder hing seinen Gedanken nach, und die meisten betrafen Lupin. Tonks, die Harry heute klapperdürr erschien, hatte die Hand so fest um ihren Kaffeebecher geklammert, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sie mied immer noch seinen Blick und hüllte sich in Schweigen.

"Euer Neville ist ein richtig guter Kämpfer", sagte Moody schließlich. "Entschlossen und gründlich. Sehr gut."

Schade, dass er das nicht gehört hat, dachte Harry und beschloss, es auf jeden Fall an ihn weiterzugeben.

"Ja, und mit seiner Backe sieht er auch richtig gefährlich aus. Als könnte er jeden Moment explodieren oder so", ergänzte George. "Was hat er gemacht?"

"Frag nicht", antwortete Ron düster.

Die Tür wurde geöffnet, und ein winziger Erstklässler – oder war es ein Mädchen? – schob sich herein.

"Professor McGonagall sagt, Sie sollen zu ihr kommen – äh, Mr Moody und Harry Potter", sagte er oder sie und schoss wieder davon.

Harry stöhnte innerlich und stand schwerfällig auf. Zusammen mit Moody verließ er den Raum und fragte sich, wann er wohl wieder einen Augenblick mit Hermione allein verbringen konnte.

"Warum bist du hier, Tonks?", fragte Hermione, als sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte. "Ich meine, nach allem, was – na ja – und du siehst nicht gut aus, weißt du – Moody hat dich doch sicher nicht geschickt, oder?"

"Nein. Er wollte überhaupt nicht, dass ich nach Hogwarts gehe, aber ich wollte das unbedingt. Ich werde jedes dieser Schweine fertig machen, das mir über den Weg läuft."

Da mussten sie erst mal schlucken.

"Und was hast du gegen Harry?", fragte George dann.

"Wieso – was meinst du damit? Oh – also gut. Ich weiß, er kann nichts dafür. Aber ich – ich kann ihm im Moment trotzdem – nicht ins Gesicht sehen", murmelte sie. "Natürlich glaube ich den Quatsch nicht, den die Kimmkorn wieder verzapft hat, aber – na ja –"

"Welchen Quatsch?", fragte Hermione alarmiert. "Wir haben schon ewig nichts mehr von ihr gelesen."

"Das war in der letzten Hexenwoche! Ein langer, reißerischer Artikel, in dem sie alles auflistet, was dafür sprechen könnte, dass Harry eigentlich ein schwarzer Magier ist – ehrlich, das ist der totale Blödsinn – ich –"

"Habt ihr die Zeitung da?", schnitt Hermione ihr das Wort ab.

"Oh, ich glaub – also, irgendwer hat sie bestimmt – George, du hattest doch eine –"

"Hier", sagte George und zog ein zerfleddertes Exemplar mit Ketchup-Flecken aus seiner Umhangtasche. "Aber es lohnt sich wirklich nicht, den Kram zu lesen."

"Her damit!", sagte Ron, und er und Hermione blätterten, bis ihnen die Schlagzeile "Harry Potter – Sohn der Dunkelheit?" in die Augen sprang.

"Oh", sagte Hermione schwach. "Das fängt ja gut an."

Dann lasen sie beide.

"Ist es möglich, dass Harry Potter, der so viele Jahre lang als derjenige galt, der uns vom Terror des Unaussprechlichen befreit hat, der ihm selbst seit dessen Wiedererstehung mehrfach die Stirn geboten hat und der im letzten Jahr noch als der ‚Auserwählte' bezeichnet wurde – ist es möglich, dass dieser Harry Potter in Wirklichkeit selbst auf der Dunklen Seite steht?

Die Verfasserin dieser Zeilen hatte bereits mehrfach die Gelegenheit, mit ihm persönlich zu sprechen, und ist schockiert über die Entwicklung der Dinge, sieht sich aber auch nicht imstande, weiterhin zu schweigen.

Harry Potter ist bei denen, die ihn länger kennen, bedauerlicherweise für seine Rachsucht bekannt. Immer noch sind Gerüchte im Umlauf, wonach er am Tod seines Mitschülers und damaligen Konkurrenten Cedric Diggory im Trimagischen Turnier vor drei Jahren nicht ganz unschuldig sein könne.

Es wirft ebenfalls ein bezeichnendes Licht auf ihn, dass das Muggelhaus, in dem er aufgewachsen ist und bis zum Juli dieses Jahres gelebt hat, am Tag nach seinem Auszug durch eindeutig magische Einwirkung zerstört wurde.

Aber den Hauptpunkt der Anklage – wenn der juristische Terminus hier gestattet ist – bilden doch die völlig ungeklärten Umstände beim gewaltsamen Tod seines Schulleiters und Mentors Albus Dumbledore im Juni dieses Jahres.

Harry Potter hat sich mehrfach geweigert, über gewisse Dinge Auskunft zu geben, die mit dem Tod des berühmten Leiters von Hogwarts in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Minister Scrimgeour, der ihn schließlich einer Legilimentation unterziehen wollte, konnte sich mit diesem Vorhaben im Wizengamot nicht durchsetzen – bedauerlicherweise, wie nicht nur die Verfasserin dieser Zeilen findet. Zu tief ist die Wertschätzung des ‚Jungen, der überlebte' immer noch in den Herzen unserer Mitbürger verwurzelt, und ganz offenbar hat Potter bis hinauf in die höchsten Stellen mächtige Fürsprecher, die ihm nach wie vor unerschütterlich vertrauen.

Nun hat die Schule einen neuen Skandal: Wie aus einer gut informierten Quelle verlautete, ist die international anerkannte Forscherin Hekate Harper – selbst auch Hogwarts-Absolventin – die sich trotz der widrigen Umstände bereit erklärt hatte, für dieses Schuljahr die vakante Stelle der Lehrkraft für Verteidigung zu übernehmen, verschwunden. Dieselbe Quelle informierte uns auch darüber, dass Professor Harper vor ihrem rätselhaften Verschwinden Harry Potter zu einem Gespräch unter vier Augen in ihr Büro gebeten hat. Wie es der Zufall will, war übrigens Professor Harper, ein vom Ministerium anerkannter Legilimens, im Juli für die Legilimentation Potters vorgesehen.

In der darauf folgenden Nacht soll es einen bislang noch völlig ungeklärten Zwischenfall auf dem Gelände der Schule gegeben haben, bei dem ein nicht näher benanntes Mitglied der in Hogwarts stationierten Schutztruppe zu Tode gekommen sein soll und eine weitere, Potter nahe stehende Mitschülerin schwer verletzt wurde.

Warum, so fragen sich viele Eltern, warum zieht die neue Schulleiterin, Minerva McGonagall, nicht endlich die Konsequenzen aus all diesen Ungereimtheiten und schickt Harry Potter nach Hause, bis seine Unschuld erwiesen ist? McGonagall, die gehetzt wirkte und möglicherweise auch mit ihrer neuen Aufgabe überfordert ist, war zu einer Stellungnahme nicht bereit.

All diese Vorkommnisse haben den schon vor vielen Jahren aufgekommenen Gerüchten neue Nahrung gegeben, wonach Harry Potter vielleicht selbst ein mächtiger schwarzer Magier ist, der nur auf die richtige Stunde wartet – oder auf den richtigen Verbündeten ..."

"Was für ein hirnlos zusammengequirlter Schwachsinn!", sagte Ron.

"Woher weiß sie das?", fragte Hermione angespannt. "Mit Harper, mit Luna, mit Lupin? Wer ist diese gut informierte Quelle?"

"Das fragen wir uns auch", sagte Tonks. "Und auch, was nun mit Harper wirklich los ist – und sonst so einiges. Im Moment ist niemand besonders gesprächsbereit. Vielleicht hätte Harry sich der Legilimentation doch stellen sollen!"

Hermione stand auf. Ihre Augen blitzten.

"Wieso sollte er? Wieso sollte er irgendjemanden in seinen Gedanken herumstochern lassen?"

"In einem so wichtigen Fall – wenn er damit dazu beitragen kann, Dumbledores Tod aufzuklären oder auch nur seine eigene Unschuld eindeutig und für alle klarzustellen – da hätte er es vielleicht tun sollen!", erwiderte Tonks, ebenfalls in scharfem Ton. "Wenn er nichts zu verbergen hat, heißt das!"

"Das reicht!", sagte Hermione. "Das höre ich mir nicht länger an. Vielleicht bist du blind vor Trauer, aber –"

"Red nicht von ihm!", brauste Tonks auf. "Er hat sich für diesen – er hat mit dem Leben bezahlt – und Harry ist nicht mal bereit, uns zu erzählen, was er weiß!"

Ihre Tränen unterbrachen sie. Sie schlug die Hände vors Gesicht, und Ron und Hermione sahen betroffen und hilflos auf das zuckende, schwarze Zottelhaar.

"Entschuldige, Tonks", sagte Hermione schließlich. "Es tut mir so schrecklich leid für dich – und wir – wir vermissen ihn auch alle –"

Und nun liefen auch bei ihr die Tränen. Ron verdrehte die Augen.

"Er fehlt mir so!", weinte Tonks. "Und wir hatten doch so wenig Zeit!"

"Ich seh' mal nach, wo Harry bleibt", sagte Ron unbehaglich und stand auf. George schloss sich ihm an, und dann blieben die beiden Frauen weinend zurück.

oooOOOooo

Harry kam aus McGonagalls Büro. Er war entlassen, während die Direktorin nun mit Moody die wahren Erwachsenen-Gespräche führte. Aber Harry ärgerte sich nicht weiter darüber. Sie hatten ihn nach den verschiedenen Geheimgängen gefragt. Die Karte des Rumtreibers war offenbar kein Geheimnis geblieben. Aber in diesem Fall war es gut, dass er helfen konnte.

Eine falsche Wachheit hatte ihn überkommen. Alles schien ihm etwas grell und zu scharf konturiert, aber er war hellwach. Wenn er aus dem Fenster sah, war nicht der geringste Schatten eines Dementors zu sehen. Nur sattblauer Himmel mit fliegenden, wenn auch verfrühten Herbstblättern davor. Und das leuchtende Grün der Wiesen.

Er musste hinaus, an die Luft. Nicht einmal seine Angst vor den Dementoren konnte ihn daran hindern. Er hatte die letzten Tage überwiegend drinnen verbracht und tief vergraben in alte Geschichten, die ihn zu ersticken drohten. Jetzt brauchte er Luft und Gegenwart – und Hermione. Ja, und auch Ron, und Frieden und ein Ende dieses ganzen irrwitzigen Albtraums!

Es war still in den Gängen, denn die meisten Schüler waren beim Mittagessen in der Halle. Er ging in die Eingangshalle, ohne jemandem zu begegnen. Er öffnete eben vorsichtig die Tür, als er schnelle Schritte hinter sich hörte.

"Harry! Warte!"

Es war Hermione. Sie war allein und sah aus, als hätte sie geweint.

"Warte auf mich. Ich komme mit."

"Es ist verboten", sagte er.

"Oh, hör schon auf!"

Sie öffneten das große Portal und rannten die Treppe draußen hinunter.

"Gehen wir zu den Gewächshäusern rüber – das ist zumindest nicht ausdrücklich verboten."

"Ja, und wir könnten uns die Schluffer ansehen", sagte Harry und verzog das Gesicht.

Eilig gingen sie nebeneinander über die Wiesen.

"Hast du Angst? Wegen der Dementoren, mein' ich", fragte sie auf einmal, als er zum dritten Mal den Kopf in den Nacken legte und den Himmel absuchte.

"Und wie", antwortete er.

"Mir kommt das alles so unwirklich vor. Sieh dich doch um – das ist der perfekte Spätsommertag, oder etwa nicht?"

"Bisschen kalt."

"Ja, aber sonst – "

Dann standen sie vor dem Gewächshaus, in dem die armen Schluffer ihre fremde Brut austrugen.

"Nicht da rein", bat Harry. "Wir setzen uns drüben in die kleine Seitentür. Dann sind wir immer noch bei den Gewächshäusern, oder?"

Sie gingen um das Glashaus herum und setzten sich auf die Stufe, die zu einem Nebeneingang führte, der aber meistens verschlossen war. Direkt gegenüber war die Rückseite des zweiten Gewächshauses, und hinter der Glaswand zeichneten sich die vertrauten, bizarren Umrisse von Professor Sprouts diversen Zöglingen ab.

Sie saßen da und fühlten sich mit einem Mal etwas beklommen. Harry wollte ihr nicht von Parvatis Geschichte und den anonymen Briefen erzählen, und Hermione war entschlossen, nichts von Rita Kimmkorns neuester Sudelei zu berichten. So saßen sie schweigend da, Hermione rupfte Grashalme aus, und Harry starrte immer wieder nach oben.

Seit Stunden hatte er gehofft, er würde sie endlich allein sprechen können – es gab so viel, was er mit ihr bereden musste, das Tagebuch, das Medaillon, Harper, die jetzige Situation – aber nun fiel ihm plötzlich gar nichts mehr ein.

"Wenn du mich fragst, ist das alles, was die da machen, Quatsch", sagte sie plötzlich grob.

"Was meinst du?"

"Moody, McGonagall, die Auroren – "

"Alle sind wieder blöder als du, Hermione Granger?"

Sie sah ihn böse an, aber er lächelte.

"Glaubst du wirklich, wir können uns gegen Voldemort mit Sprüh-und-Flieh verteidigen?"

"Nein, aber das denken die auch nicht. Denen ist schon klar, dass wir gegen den eigentlichen Feind nichts ausrichten können. Gar nichts", sagte Harry hart. "Aber das können sie uns nicht sagen, das ist dir doch klar, oder? Ich sollte was haben, das uns retten könnte. Dumbledore hat das jedenfalls gedacht, glaube ich."

"Ja, das glaube ich auch."

"Aber da ist nichts. Ich hab keine Ahnung. Verstehst du? Die werden hier alle draufgehen, wenn er kommt. Und ich werde dabei zugucken, bis ich an der Reihe bin. Dann wird er mich entwaffnen und mir das Licht auspusten. Und das war's dann."

"Sag so was nicht. Wir – wir haben jetzt eins seiner Horcruxe!"

"Ja, aber was können wir damit tun? Hast du eine Ahnung, wie wir es vernichten können?"

"Wir sollten vielleicht doch mit Slughorn sprechen."

"Der feiste kleine Wicht! Der macht sich doch in die Hosen vor Angst! Hast du ihn mal beobachtet, heute Morgen?"

"Harry!"

"Aber eins sag ich dir. Ich werde nicht draufgehen, bevor ich Snape eins aufs Maul gegeben habe. Ich – ich glaube – ich will ihn – umbringen! Für alles, was er getan hat! Dieser miese Verräter!"

"Harry!", sagte sie wieder und berührte seinen Arm. "Lass uns zehn Minuten lang mal nicht von all dem sprechen. Ich weiß, ich hab davon angefangen, tut mir leid. Aber lass uns einfach mal nur hier sitzen. Und die Sonne genießen."

Sie sagte es nicht, aber er konnte beinahe hören, wie sie es dachte: Wer weiß, wie oft wir das noch tun können. Vielleicht ist es das letzte Mal.

Und dann saßen sie da nebeneinander und sahen in den Sonnenschein.

Irgendwann legte er den Arm und sie und zog sie an sich. So blieben sie sitzen, so nahe beieinander, dass sie den Herzschlag des anderen spüren konnten.

Harry sah, wie sich hoch über ihnen der silbrige Kondensstreifen eines Flugzeugs über den Himmel zog.

"Seltsam, nicht?", murmelte sie, die seinem Blick gefolgt war. Er nickte.

Seltsam, über diese andere Welt nachzudenken, in die Hogwarts eingebettet lag wie eine Perle in einer Auster. Die andere Welt, aus der sie beide kamen.

Schließlich sagte sie: "Wir sollten zurück ins Haus. Slughorns Stunde fängt bald an."

Harry lachte abfällig. Was kümmerte ihn jetzt noch Slughorns Unterricht? Aber er stand auf. Er konnte sie nicht einfach so gehen lassen.

Ohne Übergang hielt er sie fest umschlungen und küsste sie und fühlte, wie ihre Hände sich in sein Haar gruben und versank in diesem Kuss wie in einem dunklen Wirbel.

Und dann packte ihn plötzlich eine Hand an der Schulter und riss ihn hart herum. Er konnte gerade noch Rons Gesicht erkennen, das weiß war vor Wut, dann traf ihn Rons Faust ungeübt, aber voller Kraft auf die Nase. Es kam so überraschend und tat so weh, dass er zurücktaumelte und hinfiel.

"Das ist für Ginny!", sagte Ron leise. "Du – du – "

"Ron – bitte!", rief Hermione, die Harry wieder aufhalf. Seine Nase und seine Lippe bluteten.

Aber Ron beachtete sie überhaupt nicht. Er stand mit geballten Fäusten da und wartete darauf, dass Harry zurückschlug. Aber Harry stand nur da und sah einen Ausdruck in Rons Augen, den er noch nie darin gesehen hatte.

"Du lügnerisches, verräterisches Schwein", sagte Ron noch immer in diesem unnatürlichen leisen Ton. "Mit dir bin ich fertig! Hast du gehört? Fertig!", brüllte er plötzlich los und klang nun endlich wieder nach Ron Weasley.

"Ron, Mann, bitte – es tut mir leid –", stammelte Harry heiser und kam nicht über den Ausdruck in den Augen seines Freundes hinweg.

"Halt die Schnauze! Wahrscheinlich haben die doch Recht mit allem, was sie über dich sagen! Und ich bin ja nur der blöde Ron Weasley, der fällt ja auf alles rein! Hau endlich ab!", schrie er, aber dann wandte er sich um und ging stattdessen selbst.

Beide, Harry und Hermione, wollten ihm nachstürzen. Aber da stand plötzlich Hagrid im Weg und hielt Harry am Arm fest.

"Halt, warte mal, Harry!"

Er wollte ihn abschütteln, begriff kaum, dass es Hagrid war. Seine Augen brannten. Schließlich blieb er stehen und sah mit trübem Blick, wie Hermione über die Wiesen weiter hinter Ron herlief.

"Was ist denn?"

"Das hat jetzt keinen Sinn, Harry. Lass ihn erst mal gehen."

Auch Hagrid schien verlegen.

"Ich – ich hab's zufällig mitgekriegt", sagte er. "Tut mir leid, wollte nicht lauschen. Hab ein Talent, immer in so was reinzuplatzen. Wie wär's, komm einfach mit, ich muss rüber ins Quallenhaus."

Und so stolperte er neben Hagrid her, während er versuchte, sich das Blut vom Gesicht zu wischen. Er zitterte immer noch.

Sie erreichten den kleinen Pavillon, in dem sich das Quallenbassin befand und der zu jeder anderen Zeit Harrys ganze Aufmerksamkeit gefesselt hätte. Jetzt starrte er nur stumpf in das hier herrschende Dämmerlicht.

Es war sehr warm und feucht hier. Ein großes, rundes Becken war mit dunklem Wasser gefüllt. Er konnte die trägen Bewegungen unter der Oberfläche sehen, als sie an den Rand traten.

"Pass bloß auf, geh nicht zu nah dran. Die werfen manchmal ihre Nesselarme einfach mal so raus. Tut verflucht weh, wenn dich eine erwischt", sagte Hagrid, während er eine riesige Schürze von einem Haken an der Tür nahm und umband. Dann packte er einen verschmierten Eimer und griff sich aus einem kleinen Regal mehrere große Behälter und Flaschen heraus. Er kippte den Inhalt eines dieser Behälter in den Eimer, und es klatschte irgendwie Ekel erregend. Harry riskierte einen Blick und sah nur matschige, dunkel glänzende Klumpen. Es stank fürchterlich.

Hagrid rührte mit einem großen Löffel weiße Flocken aus einem Karton darunter.

"Du solltest nichts zwischen Ron un' dich kommen lassen, Harry", brummte er. "So was is' nie gut. Können sich schreckliche Sachen draus entwickeln. Hab's schon selbst gesehen."

"Oh Mann", sagte Harry schwach. Er stand ganz neben sich vor Scham und verwirrten, verletzten Gefühlen. "Ich weiß nicht, was ich tun soll –"

"Alles, was das wieder in Ordnung bringt", sagte Hagrid mit ungewohntem Ernst. "Weißt du – ich hab's dir nie erzählt – wollt' ich auch nicht – aber – aber ich denk, du bist jetzt alt genug – is' vielleicht genau der richtige Moment dafür –"

"Was? Hagrid, was meinst du?", fragte Harry plötzlich etwas aufmerksamer.

Hagrid schlug mit dem Löffel auf die Klumpen in seinem Eimer ein und hackte sie klein. Im Hintergrund hörten sie das Plätschern im Becken, das stärker zu werden schien, als wüssten die Quallen, dass es bald Futter geben würde.

"Also weißt du – vor Jahren – dein Vater –"

"Hagrid! Was war mit meinem Vater?", drängte Harry.

Er fühlte schon wieder die nächste Aufregung herannahen. Hagrid – hatte der nicht schon oft so was an sich gehabt, als wolle er ihm etwas verheimlichen? Und jetzt stand er da und rührte in seinem blöden Eimer und schwieg wieder.

"Du musst mir das jetzt sagen!"

"Ja, ja. Versuch's ja schon", brummelte er. "Also, ich hab damals auch mal 'n Gespräch mit angehört – das wollt' ich gar nich', aber ich war schon da im Gewächshaus – un' sie hatten mich nicht gesehen un' ich konnt' nich' wieder unauffällig verschwinden, wenn du verstehst, was ich meine –"

"Hagrid, bitte! Erzähl's mir jetzt endlich. Also, was hat mein Vater gesagt? Und zu wem?"

Aber sein Herz schlug heftig, und irgendwie war er nicht sicher, ob er wirklich hören wollte, was Hagrid zu sagen hatte.

"Nich' James. Es war Lily, deine Mutter, und – Snape –"

Harry starrte ihn nur stumm an.

"Sie arbeiteten da an irgend'ner Pflanze. Un' als die anderen weg waren, fing Snape plötzlich an un' – un' redete auf Lily ein. Was eigentlich passiert wär', oder so. Warum sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Was er ihr getan hätt'."

Hagrid kippte noch mehr weiße Flocken in den ekelhaften Brei.

"Un' dann – dann sagte er, dass – dass er sie – lieben würd' – un' sie wär' das Einzige, was ihn noch an der Schule hielt' un' – ach, ich weiß es auch nich' mehr so genau! War irgendwie schrecklich. Ich mein', das war Severus – der war doch immer so 'n Randsteher – nich' grad beliebt, weißt du – un' Lily – die hat nur gesagt, es wär' unmöglich – ich glaub', sie hat geweint."

Harry stand wie versteinert da. Etwas in ihm brüllte los, aber er sagte nichts.

"Ich glaub – nee, ich bin sicher – James war auch noch da in dem Gewächshaus, das is' der springende Punkt. Er hatte den Tarnumhang um un' war ganz in meiner Nähe. Hat jedes Wort gehört. Un' dann, 'ne Woche später oder so, gab's diesen Aufstand da in Professor Slughorns Klasse. Ham sich geprügelt, James und Severus. War 'ne üble Sache. Un' – wer weiß, wenn das nich' gewesen wär' – verstehste, was ich dir sagen will?"

Harry schüttelte nur langsam den Kopf, nicht als Antwort auf Hagrids Frage, sondern mehr in Abwehr dieser ganzen Geschichte.

"Wann war das denn? Waren meine Eltern da schon – äh – befreundet?", fragte er schließlich mit krächzender Stimme.

"Nee, das war vorher – irgendwann im Sommer, muss wohl Ende ihres sechsten Jahres gewesen sein – ja, so war's. Paar Monate später waren James und Lily jedenfalls fest zusammen."

Hagrid packte seinen Eimer und kippte den Inhalt komplett in das Becken. Augenblicklich spritzte das Wasser in ganzen Fontänen auf. Harry sah entgeistert in ein wildes Gewühl von etwas, das wie rubinrote Schlangen aussah, die sich um die breiigen Klumpen schlugen.

Auf einmal fühlte er sich ganz schwach im Magen.

"Danke Hagrid – dass du's mir gesagt hast", murmelte er. "Ich muss jetzt raus – an die Luft!"

"Geh sofort ins Haus, Harry! Un' versuch das mit Ron in Ordnung zu bringen, ja?"

Aber Harry stürmte schon über die leuchtend grünen Wiesen davon. Er rannte aufs Schloss zu und rannte und rannte und versuchte nur, das Bild von Snape loszuwerden, von Snape, wie er –

Er konnte es nicht ertragen. An die Dementoren verschwendete er keinen Gedanken mehr.