Kapitel 19
Lily und die wilden Tiere
Harry war der Letzte, der die Treppen zum Kerker hinunterlief. Die Tür war bereits geschlossen, aber das war ihm ziemlich egal. Ausgerechnet jetzt musste auch noch Tränkeunterricht sein, in diesem Klassenraum, in dem Snapes Geist ohnehin noch immer umzugehen schien. Und Ron musste er da auch noch gegenübertreten! Seine Nase tat immer noch furchtbar weh, und seine Lippe war inzwischen angeschwollen. Einen Moment lang überlegte er, einfach nicht hinzugehen. Aber er wollte Hermione sehen und wissen, wie sie jetzt dachte über ihre – ja, was eigentlich – Beziehung? Und er musste unbedingt Leute um sich haben, sonst würde diese Sache mit Snape ihn noch völlig verrückt machen.
Also öffnete er einfach die Tür und ging hinein. Slughorn hatte noch nicht angefangen, es war noch unruhig, und er konnte unbemerkt an seinen Platz verschwinden.
Die schrägen Strahlen der Nachmittagssonne fielen durch die Kerkerfenster und blendeten ihn. Erst als er sich setzte, bemerkte er, dass nur Hermione und Ernie am Tisch saßen. Der Platz neben seinem war frei.
"Ah, da ist ja auch Mr Potter!", sagte Professor Slughorn. "Dann sind wir jetzt vollzählig, nicht wahr? Mr Weasley – richtig, wurde eben entschuldigt! Also, dann lassen Sie uns anfangen!"
Harry sah fragend zu Hermione hinüber. Sie zuckte die Schultern.
"Er ist mit Bill weggegangen", sagte sie leise.
"Tja, meine Lieben. Die Nistlingsbeeren haben sich ja leider nicht wieder eingefunden. Zur Zeit sind auch keine neuen reif, so dass wir jetzt ein wenig – improvisieren müssen, nicht wahr?", sagte Professor Slughorn und sah die Klasse mit trügerischem Lächeln an. "Ich möchte allerdings dem – äh – Finder dieser nicht unbeträchtlichen Menge an Beeren – sollte er sich in diesem Klassenraum befinden, heißt das – dringend ans Herz legen, vorsichtig damit umzugehen. Vermutlich haben einige von Ihnen – wie zum Beispiel Miss Granger – die Artikel ausfindig gemacht, die Ulcus zu diesem Thema publiziert hat. Es ist richtig, dass man aus diesen Beeren einen – äh – Rauschtrank herstellen kann."
Die Schüler sahen sich verstohlen um, ob irgendjemand besonders unschuldig in die Gegend blickte. Man sah aber nur aufrichtige Überraschung, vermischt mit neu aufkeimendem Interesse.
"Von diesem Trank sollte man allerdings auf keinen Fall zu viel zu sich nehmen oder etwa mit der Menge der Zutaten experimentieren! Überdies sind die Nebenwirkungen – äh – alles andere als erfreulich. Also", sagte er mit einem strengen Blick in die Runde, "seien Sie gewarnt! Das Zeug ist nichts, um irgendeine heimliche Party in Schwung zu bringen, falls Sie verstehen!"
Als wenn jetzt irgendwer auf die Idee gekommen wäre, eine Party zu planen!
"Und nach diesem kleinen Exkurs zurück zum Unterricht. Also, da wir wie festgestellt nicht mit unseren Versuchen mit dem Nistling fortfahren können, werden wir heute einen kleinen Trank brauen, der Ihnen – sollten Sie das Bedürfnis dazu verspüren – sozusagen die Wahrheit vor Augen führen kann."
Er machte eine bedeutungsschwere Pause.
"Veritaserum?", fragte Hermione ungläubig.
"Aber nein, Miss Granger – wo denken Sie hin! Das ist dann doch eine Nummer zu groß für den Schulunterricht! Ich dürfte Sie das gar nicht herstellen lassen! Nein, wir werden heute zusammen den Wahrtraumsaft brauen. In der richtigen Menge getrunken, bewirkt er, dass Sie in Ihren Träumen – nun, zur Wahrheit finden. Sie werden ihr sozusagen Auge in Auge gegenübertreten – aber eben nur Sie allein, in Ihrem Kopf. Der Trank eignet sich deshalb auch nicht für Partyscherze!", sagte er eindringlich.
Wer denkt schon jetzt an blöde Partyspielchen, dachte Harry erschöpft.
"Das vielleicht nicht", sagte Ernie Macmillan leise. "Aber mein Cousin ist damals damit an die Prüfungsthemen für die Abschlussprüfungen gekommen."
"Wie das denn?", fragte Harry und stürzte sich begierig auf diese Ablenkung.
"Das Entscheidende ist, dass du noch etwas Persönliches reintust, verstehst du. Normalerweise von dir selbst. Aber er hat ein paar Haare von Professor Sinistras Umhang runtergepflückt und die dann –"
"Und abgesehen davon werden Sie mir Ihre Flaschen am Ende der Stunde aushändigen – so dass niemand auf dumme Gedanken kommen sollte! Dieser Trank ist nämlich ebenfalls nicht freigegeben. Sie bekommen ihn nur auf ein Rezept hin", sagte Slughorn mit einem deutlichen Blick zu Ernie, der daraufhin verstummte. "Was im Übrigen auf beinahe alle personenbezogenen Tränke zutrifft, wie das eben erwähnte Veritaserum, den Vielsaft-Trank und eine ganze Reihe anderer."
"Und wenn man ihn selbst braut?", fragte Hermione.
Slughorn lächelte.
"Verständlich, dass Sie das fragen, Miss Granger – Sie würden damit wohl auch keine Schwierigkeiten haben. Aber Sie können nicht alle Zutaten für diese Tränke einfach so kaufen. Für nicht wenige davon müssen Sie ein – äh, berechtigtes Interesse nachweisen.
Dieser Trank basiert ebenfalls auf einer harmonisierenden Grundmischung und gehört übrigens zu den Mitteln, die heute mithilfe der Nistlingsbeere sehr viel wirkungsvoller und mit weniger Aufwand hergestellt werden können.
Nun, in Ermangelung von Beeren werden wir also auf die konventionelle Weise vorgehen und zunächst eingelegte Salamanderzungen klein schneiden."
Das löste – wie Professor Slughorn zweifellos beabsichtigt hatte – ein Aufstöhnen des Ekels in der Klasse aus. Slughorn aber nahm die beiden großen Einmachgläser, die vor ihm auf dem Pult standen, und stellte je eines auf die beiden vor ihm stehenden Tische.
"Viel Vergnügen, meine Lieben. Und geben Sie sich Mühe, die Zungen wirklich fein zu schneiden", sagte er munter. "Sie dürfen auch schon Seite dreihundertvierundfünfzig in Ihren Büchern aufschlagen, da finden Sie das vollständige Rezept."
Hermione blätterte ungewohnt konfus in ihrem Buch; Harry begnügte sich damit, Ernie zuzusehen, wie er das Zungenglas öffnete.
Endlich überwand er sich und fragte Hermione leise: "Wo ist Ron denn hingegangen? Hast du noch mit ihm geredet?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Er hat mir nicht zugehört. Hat mich einfach – übersehen, als wäre ich Luft. Dann ist er mit Bill weggegangen, der kam uns gerade entgegen. Aber was hätt' ich denn auch sagen sollen!", sagte sie leise, während sie eine dünne, schwarze Zunge in grünlichem Glibber mit ihrem Schneidebrett entgegennahm. Angewidert nahm sie ihr Messer zur Hand.
"Kindisch von Slughorn, wenn ihr mich fragt", murrte Ernie, als ihm das Messer das erste Mal abrutschte und die Zunge über den Tisch glitschte. "Ich meine, woher will er denn wissen, ob es einer von uns war, der die Beeren geklaut hat?"
"Mann, wer sollte das Zeug denn klauen, mal ernsthaft!", schnaubte Blaise Zabini, der eben vom Tisch der Slytherins herüberkam, um sich das Glas mit den Zungen zu holen. "War schon nervig genug, die Dinger zu pflücken. Und als wenn irgendwer diese Artikel gelesen hätte! Außer dir vielleicht", fügte er mit einem verächtlichen Blick auf Hermione hinzu. "Also, und wozu hätte jemand die Beeren nehmen sollen, wo wir doch nicht wussten, dass man auch was – sagen wir – Nützliches damit machen kann!"
Er nahm sich das Glas und ging zurück zu seinem Tisch, an dem nur Draco Malfoy fehlte.
Harry ertappte sich dabei, wie er sein Tränke-Buch in der Hoffnung aufschlug, der Prinz möge etwas zu diesem Saft geschrieben haben, das die Sache abkürzen könnte –
Er zuckte zusammen, als ihm klar wurde, wie sehr er sich an die Hilfe dieses Buches gewöhnt hatte – an Snapes Hilfe, mit anderen Worten. Erst beim Blättern fiel ihm wieder ein, dass dies hier ein anderes Exemplar war und das Buch des Prinzen oben in seinem Koffer lag. Der Gedanke an Snape, den er eben mit größter Mühe von sich geschoben hatte, bewirkte, dass ihm geradezu übel wurde.
"Was hat Hagrid denn zu dir gesagt?", fragte Hermione schließlich, den Kopf tief über die schwarze Zunge gebeugt, die sie in hauchdünne Scheibchen schnitt.
"Er – er meinte, ich sollte es in Ordnung bringen und so", sagte Harry lahm. Er hätte es nicht über sich gebracht, ihr von Hagrids Geschichte zu erzählen.
"Wenn Sie nun alle Ihre Zungen geschnitten haben, setzen Sie bitte die Kessel auf und lassen Sie sie aufkochen und danach eine Viertelstunde köcheln – in der Zeit können Sie dann die übrigen Zutaten vorbereiten", sagte Slughorn nun, der von Tisch zu Tisch gegangen war und sich die Schnippelei angesehen hatte.
Jetzt blieb er bei Hermione stehen.
"Sehr schön, Miss Granger, wie immer! Übrigens, ich habe neulich eine ganze Weile auf Sie gewartet! Wollten Sie nicht mit einem Buch zurückkommen? Einem äußerst ungewöhnlichem Buch sogar? Oder habe ich Sie da falsch verstanden?"
Einen Moment lang wusste Hermione wirklich nicht mehr, wovon er sprach, so viel war seitdem geschehen. Dann kapierte sie.
"Ach ja, das tut mir leid, Professor Slughorn – ich – äh – ich hatte mich vertan. Es war doch nicht das richtige Buch."
Noch viel schlechter hätte sie das nicht bringen können, dachte Harry und sah mit einer Woge von Zuneigung in ihr errötendes Gesicht.
"Wie geht es denn Miss Lovegood jetzt? Ich habe sie heute Morgen in der Großen Halle gesehen, da erschien sie mir doch recht blass. Aber immerhin ist sie wieder auf den Beinen, nicht wahr?"
"Mmh", nickte Hermione.
"Ich nehme an, Ihr – äh – ungewöhnlicher Verdacht bezüglich ihrer Verletzung hat sich dann doch nicht bestätigt?", fragte er mit einem Anflug von Nervosität in der Stimme.
"Nein", sagte Hermione fest.
"Nun gut. Das ist mir doch eine Beruhigung." Dann wandte er sich wieder an die Klasse, immer noch mit der aufgesetzten Munterkeit, die Harry allmählich wirklich zusetzte. "Wenn Sie mit den Zungen alle so weit sind, geben Sie bitte einen Würfel gepressten Braunen Blasentang hinzu und lassen es zehn Minuten weiter köcheln."
Der Blasentang strömte schon in getrocknetem Zustand einen unangenehmen Geruch aus. Als sich die ersten Würfel in den Kesseln zu einem matschigen Gelee auflösten, krochen Schwaden fauligen Gestanks durch den Kerker. Den Tränkebrauern stand allmählich der Schweiß auf der Stirn.
"Und schließlich reiben wir noch einen großen Löffel Amulettbaum-Rinde hinein", sagte Slughorn fröhlich.
Sie kommentierten das nicht einmal mehr mit einem Stöhnen. Der Geruch, den der aufgekochte Tangsud ausströmte, lud nicht dazu ein, mehr Atem als nötig für irgendetwas zu verschwenden.
Ein Korb mit Rindenstücken machte die Runde, und als er bei Harry ankam, waren natürlich nur noch die kleinsten Stückchen darin. Er konnte also sicher sein, dass er sich die Fingerspitzen auf der Reibe verletzen würde. Dieses Zeug war steinhart.
"Im Rezept steht aber gar nichts von Amulettbaum-Rinde!", beschwerte sich schließlich Millicent Bulstrode und betrachtete verzweifelt ihre gepflegten Fingernägel, die schon unter der Zungen-Schnippelei gelitten hatten.
"Ganz recht, meine Liebe. Das ist eine Zutat, mit der ich selbst gern experimentiere – mit gemahlener Rinde allerdings", antwortete Slughorn gnadenlos.
Aber irgendwann war auch diese Doppelstunde vorbei – die Dämmerung hatte längst Einzug in den Kerker gehalten – und sie konnten aufatmend die Flaschen mit ihren Trankproben füllen, sie etikettieren und beschriften und dann endlich den stinkenden Klassenraum verlassen.
"Diesmal hat er's uns aber ganz schön gegeben", stöhnte Ernie, als sie die Treppen hinaufgingen. "Und dann lässt er uns das Zeug nicht mal ausprobieren!"
"Er wirkt immer so jovial – aber ich glaub, er kann's gar nicht leiden, wenn er das Gefühl hat, dass man ihn verarscht", sagte Harry, der mit dem Unterricht ganz zufrieden gewesen war. Ablenkung hatte er jedenfalls genug geboten.
Er ging neben der schweigenden Hermione und sah sie von der Seite her an.
Als sie in die Eingangshalle kamen, fanden sie dort eine große Versammlung vor. Ein kleiner Trupp von Schülern hatte sich um Hagrid versammelt, der wie ein Bär zwischen ihnen herausragte. Jeder hatte irgendein kleines Gepäckstück dabei.
Die Schüler, die zum Hogwarts-Express wollten, fiel es Harry ein, der den ganzen Tag keinen einzigen Gedanken daran verschwendet hatte. Die vielen anderen waren Zuschauer und Freunde, die sich verabschiedeten.
Harry entdeckte Neville, der am Rand der Gruppe stand und ihnen entgegenlächelte.
"Hi, Neville – du willst uns doch wohl nicht verlassen?"
"Mad-Eye hat mich dazu eingeteilt, die Gruppe nach Hogsmeade zu begleiten", erklärte er und versuchte, nicht so wichtig auszusehen, wie er sich zweifellos fühlte. "Mich und Ron."
"He Mann, wo ist denn dein Furunkel hin?", fragte in diesem Moment Ernie überrascht.
Ein Schatten ging über Nevilles Gesicht, das nun ein großes Pflaster zierte anstelle des Geschwürs, an das sie sich gerade gewöhnt hatten.
"Hab Madam Pomfrey gebeten, es aufzumachen", murmelte er.
"Aber die kleinen Schätzchen waren doch sicher noch gar nicht reif!", sagte Ron, der eben an ihnen vorbeiging.
Er würdigte Harry und Hermione keines Blickes.
"Ich komm' jetzt nicht dazu, mich damit zu beschäftigen", sagte Neville würdevoll. "Im Moment gibt es Wichtigeres."
"Da hast du verdammt Recht", sagte Ron. "Also komm jetzt. Ich glaub', die warten schon auf uns."
"Tut mir leid, wenn ihr deshalb irgendwelche Wetten verliert!", rief Neville ihnen noch über die Schulter zu. Dann verschwand er in der Gruppe.
Eben kam auch Professor McGonagall hinzu, und die Gespräche und Verabschiedungen verstummten. Sie sah sehr besorgt aus, als sie ihren Blick über die erstaunlich kleine Gruppe der Weggehenden schweifen ließ.
"Ich lasse Sie nicht gerne ziehen", sagte sie. "Ich trage die Verantwortung für Sie und habe große Bedenken, Sie ohne Zustimmung, ohne Wissen Ihrer Eltern auf diese – ungewisse Reise zu schicken. Aber die Lage der Schule ist im Moment auch nicht sicherer, und ich respektiere Ihre Entscheidung. Immerhin haben wir seit gestern Nacht keine Dementoren mehr gesichtet.
Ms Ripley wird Sie im Zug bis London begleiten. Kommen Sie wohlbehalten zu Hause an. Ich werde mich selbstverständlich sofort mit Ihren Eltern in Verbindung setzen, sobald die Verbindungen wieder funktionieren. Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute und hoffe, dass wir uns wieder sehen, sobald sich die Lage beruhigt hat."
"Das sind ja wirklich wenige!", sagte Ernie erstaunt an Harry und Hermione gewandt, die stumm zu Ron hinsahen. Hermione hatte Tränen in den Augen. "Ich dachte, die würden den Hogwarts-Express heute stürmen!"
"Vielleicht haben sie alle Angst, man könnte sie für feige halten", sagte Harry mit einem Kloß in der Kehle.
"Es sind auch kaum Kleine dabei."
"Die fühlen sich hier wahrscheinlich sicherer", sagte Hermione mit wackliger Stimme und winkte einem Mädchen aus der fünften Klasse zu, das eben mit blassem Gesicht an ihnen vorbeiging.
Die Stimmung in der Halle war sehr bedrückt, als die Gruppe schließlich aufbrach. Das Letzte, was Harry und Hermione von Ron sahen, war sein roter Haarschopf, der im Licht der großen Deckenleuchter leuchtete, an dem eben die Kerzen aufgeflammt waren.
"Slug hätte uns mal lieber einen Kessel Felix Felicis brauen lassen sollen", murmelte Ernie, als die Letzten außer Sicht waren und sich die Versammlung der Übrigen allmählich auflöste. "Den könnten wir jetzt alle brauchen. Kommt ihr mit zum Abendessen?"
oooOOOooo
In der Großen Halle herrschte zehn Minuten später eine ganz andere Stimmung. Eine Vielzahl von Schülern war nach dem ruhigen Tag zu dem Schluss gekommen, dass die Bedrohung so groß ja wohl nicht sein konnte. Man hatte nicht den Schatten eines Dementors mehr gesehen – die Sonne schien – in der Schule waren eine Menge Wächter, die auf sie aufpassten – das alles führte dazu, dass sie sich hier sicher fühlten.
Es wurde geredet und mit Appetit gegessen wie sonst auch, und vereinzelt wurde sogar Gelächter laut.
Harry setzte sich auf einen Platz neben Dean und Seamus, gegenüber von Lavender und Parvati, und versuchte, nicht an Neville und Ron zu denken. Hunger hatte er keinen. Er stocherte im Salat herum und beobachtete die Leute.
Das war Hogwarts, seine Heimat. Die warm erleuchtete Halle mit Tischen voller Essen und einer Menge Leute, die es sich schmecken ließen, jeder so, wie es ihm passte, ohne dass sich irgendwer besonders für Manieren interessierte. Die Halle mit den gelegentlichen Besuchen der Geister (die sich allerdings in diesem Schuljahr bisher sehr zurückgehalten hatten), mit zahlreichen Kerzen, der verzauberten Decke und der Lehrertafel am Kopfende des Saales. Der Ort, an dem er sich schon an seinem ersten Abend in Hogwarts glücklich und geborgen gefühlt hatte. Den Professor Dumbledores humorvolle, gütige Gelassenheit zu einem Ort gemacht hatte, an dem sich jeder willkommen fühlen durfte genau so wie er war, ob Slytherin oder Gryffindor.
Der Ort, an dem Dumbledore jetzt so schmerzhaft fehlte.
Er fühlte sich entsetzlich bedrückt und hilflos. Seit er es zu Hermione gesagt hatte, wurde er den Gedanken gar nicht mehr los: Er war derjenige, von dem Dumbledore erwartet hatte, dass er das Unheil von dieser Schule abhalten würde.
Und nun saß er hier, Dumbledore war tot, die Dementoren belauerten die Schule, und er hatte das Medaillon in der Tasche – eines von vermutlich noch vier existierenden Horcruxen – und nicht die blasseste Ahnung, wie er es vernichten könnte. Und um alles noch schlimmer zu machen, hatte er ein anderes dieser Horcruxe, das zum Greifen nahe gewesen war, einfach entkommen lassen. Wo Hekate Harper sich in diesem Moment mit dem Ravenclaw-Messer befand, darüber wollte er lieber gar nicht erst nachdenken.
Er hat sich in mir geirrt, dachte Harry verzweifelt. Genau wie in Snape! Liebe – schöner Mist ist das! Von wegen Liebe. Jetzt hab ich auch noch den besten Freund verloren, den ich je hatte!
Hermione saß nach wie vor am anderen Ende des Tisches und stocherte genau wie er im Essen herum. Er beobachtete sie eine Weile. Hermione, die seit ihrem ersten Jahr hier seine – und Rons – Freundin gewesen war. Sie war ihm so vertraut, sie hatte ihn so oft genervt – und jetzt?
Was war nur mit ihm geschehen?
Er hatte auch Ginny geküsst, aber das hatte ihn nicht aus seiner Welt hinausgeschleudert, im Gegenteil, es schien so gut zu passen. Es hatte Geborgenheit, Zuhause-Sein bedeutet.
Aber jetzt – jetzt war ihm, als hätte die Welt um ihn herum plötzlich ein anderes Licht, andere Farben angenommen. Er verstand auf einmal, was damit gemeint war, wenn man sagte: die Welt in einem anderen Licht sehen. Er war nicht sicher, ob er dieses Licht mochte. Alles wirkte intensiver, so als brenne es.
Das fühlte sich auch nicht nach Geborgenheit an, außer wenn er tatsächlich in Hermiones Nähe war. Nein, es fühlte sich verboten an.
Und nicht zuletzt das Verbotene daran war ganz schön aufregend, musste er sich eingestehen. Sogar jetzt, in diesem Moment, in dem ein großer Teil seines Herzens um ihre Freundschaft trauerte – sogar jetzt lachte etwas in ihm, lachte über Ron, den Trottel, und Ginny, das Gänschen, das sich einfach hatte wegschicken lassen, lachte laut und wild darüber. Er fühlte sich schuldig und als Verräter, aber etwas tief in ihm genoss gerade auch das: das Dunkle, das Unwiderstehliche daran, das ihn rücksichtslos immer weiter und weiter lockte. Genoss die Heimlichkeit. Genoss das Gefühl, die Welt in Brand gesteckt zu haben mit einem einzigen Kuss ...
"He Mann! Gibst du mir jetzt mal den Ketchup oder brauchst du's s schriftlich?" rief Dean grob zu ihm herüber.
Mürrisch schubste er ihm die Flasche hin.
Dann sah er Hermione an, und ihre Blicke begegneten sich über die Länge des Tisches hinweg und hielten aneinander fest. Er fühlte, wie sehr sie miteinander verbunden waren – und dass Ron und Ginny nicht wirklich zwischen ihnen standen.
Etwas war geschehen mit seiner Welt. Sie schien noch dieselbe zu sein, aber alles klang anders, als gäbe es auf einmal einen Riss in einer Glocke, die vorher rein und voll getönt hatte.
Und es machte ihn wütend, wenn er merkte, dass er sich schuldig fühlte. Wieso sollte er sich nicht in sie verlieben? Wer wollte ihm das verbieten? Ron etwa, der ihre Gefühle jetzt seit Jahren mit seinen großen Füßen trat? Und trotzig dachte er, dass er sich von niemandem seine Gefühle verbieten lassen würde.
Aber konnte es wirklich das gewesen sein, was Dumbledore gemeint hatte, als er von Liebe sprach?
Er merkte auf einmal, dass Lavender ihn sehr genau beobachtete.
"Komisch, dass Ron allein mit den anderen losgezogen ist", sagte sie. "Wo ihr doch sonst immer so zusammenklebt. Na ja, wenigstens einer, der sich wirklich für diese Schule einsetzt."
"Neville ist übrigens auch dabei", sagte Harry mit trügerischer Friedfertigkeit.
"Das stimmt!", warf Dean ein und spießte ein Fleischbällchen auf. "Und er hat dafür sogar sein Projekt für Kräuterkunde platzen lassen!"
"Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes!", prustete Seamus und sprühte ein paar Brotkrümel über die Tischdecke.
"Ihr seid echt ekelhaft", sagte Parvati, aber sie musste auch grinsen.
"Genau. Und weißt du, wir sind eben nicht alle zu Helden geboren, oder, Harry?"
"Du bestimmt nicht", knurrte Harry, für einen Moment von der albernen Stimmung der anderen mitgerissen. "Ich selbst – na, wartet es ab!"
Lavender warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Aber sie kam nicht mehr dazu, etwas Bissiges zu sagen, denn in diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, und Moody kam mit Bill und Tonks herein.
Die drei gingen zum Lehrertisch und wollten offenbar nur zu Abend essen, aber die anheimelnde Hogwarts-Atmosphäre war trotzdem zerstört, und Harry fühlte, wie all seine Sorgen sich erneut wie eisige Klumpen in seinem Magen sammelten.
Erst im Anschluss an das Essen gab Bill freundlich und mit beruhigender Gelassenheit einen kurzen Bericht zur Lage ab – die alles in allem völlig unverändert war.
"Und ich darf euch allen mitteilen – es steht auch schon draußen am Schwarzen Brett – dass ihr heute wieder in euren Betten schlafen könnt! Wir haben im Moment zwanzig Leute, die das Schloss bewachen. Ihr solltet natürlich bereit sein, im Notfall direkt wieder hier in die Halle zu kommen – also lasst heute Nacht die Spitzennachthemdchen mal im Schrank!"
Gekicher und vereinzelte empörte Blicke quittierten den letzten Satz. Aber alle fühlten sich einigermaßen beruhigt, als sie die Große Halle verließen und sich in ihre Gemeinschaftsräume zurückzogen.
oooOOOooo
Harry stand am Fenster des Gemeinschaftsraums und sah hinaus in die Dunkelheit. Von den Dementoren war zwar den ganzen Tag über nichts zu sehen gewesen. Dennoch fand er den Gedanken sehr beruhigend, dass dort draußen jetzt Bill, George, Moody, Tonks und die Auroren Wache hielten und ständig das Gelände abschritten.
Seit er hier drin war, hatten sich seine Gedanken wieder fest verbissen, zunächst in sein Problem mit Ron, dann, sosehr er auch dagegen ankämpfte, in Hagrids elende kleine Geschichte über Snape.
Je länger er darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien es ihm, dass Hagrid sich da irgendwie verhört hatte – dass er etwas missverstanden hatte. Es konnte doch unmöglich die Wahrheit sein! Er erinnerte sich an die Szene in Snapes Erinnerungen, die er vor zwei Jahren im Denkarium gesehen und die dieser ihm natürlich hatte vorenthalten wollen.
James Potter hatte Snape ganz schön zugesetzt und ihn vor den Mädchen – ganz besonders vor Lily Evans – lächerlich gemacht. Und als Lily sich für Snape einsetzte, hatte der sie nur beschimpft. Schlammblut hatte er sie genannt, und Harry fühlte, wie seine Wut auf Snape aufkochte, wenn er nur daran dachte. Also, nach Liebe hatte das nicht gerade ausgesehen, oder?
Aber da war – etwas gewesen. Etwas. Er hatte es schon damals gefühlt, ohne es benennen zu können.
Harry rutschte unruhig auf der Fensterbank hin und her. Es war nervtötend, wie ein Kernchen, das einem im Zahn steckte ... Er musste irgendwie die Wahrheit darüber herausfinden, das war ihm klar. Vorher würde er keine Ruhe mehr finden. Slughorn fragen? Angeblich musste der ja einiges von der Sache mitbekommen haben. Aber das war einfach zu peinlich.
Er rutschte weiter herum und grübelte.
Hier drinnen war es, so unglaublich das schien, als sei nichts geschehen. Auf der anderen Fensterbank saßen Lavender und Parvati zusammen und unterhielten sich leise. Um den Tisch am Sofa lümmelte eine große Runde von Viertklässlern und spielte Karten. Hermione brütete schon wieder über einem ganzen Stapel von Büchern und kritzelte von Zeit zu Zeit etwas auf eine Pergamentrolle. Konnte es sein, dass sie jetzt wirklich Hausaufgaben machte?
Als hätte sie seinen Blick gespürt, sah sie auf, und er brauchte nur in ihr müdes, unglückliches Gesicht zu sehen, um zu wissen, dass auch sie sich nur abzulenken versuchte.
"Verdammt!", rief in diesem Moment Dean quer durch das Zimmer. "Ron hat sich heute Morgen meinen Aufsatz für Verwandlung ausgeliehen – ich brauch' den heute Abend unbedingt zurück!"
"Tja, dann wirst du wohl warten müssen, bis sie zurück sind", sagte Lavender spitz. "Und das kann dauern. Vielleicht geht er danach ja auch noch auf Wache!"
"So ein Quatsch", murrte Dean. "Mad-Eye hat vorhin selbst gesagt, dass sie im Moment keinen von uns brauchen! Ich hab ihn extra noch gefragt! Wahrscheinlich sitzt der Blödmann schon längst irgendwo mit seinen Brüdern zusammen und zieht sich ein paar Butterbierchen rein! Und ich häng' hier mit meinem Aufsatz in der Luft!"
Er warf sich in den letzten freien Sessel.
"Na ja, auch gut. Ich hatte sowieso keine Lust, mich noch mal da dran zu setzen. Bescheuert genug, in dieser Situation an Hausaufgaben zu denken, findet ihr nicht? Ich meine, erst treiben sie uns mitten in der Nacht in der Halle zusammen und machen ein Riesentheater – und dann tun sie so, als gäb's nichts Dringenderes als den Unterricht."
"Ich frag mich, was mit der Harper ist", sagte Seamus nachdenklich. "Warum sagt keiner von den Lehrern was dazu? Sie verschwindet einfach – und irgendwie ist es, als wär' sie nie da gewesen!"
"Das find' ich auch seltsam", sagte Parvati. "Ich hatte sie ja nicht im Unterricht, aber Padma hat jede Menge von ihr geredet. Bisher sind die Verteidigungstypen ja immer irgendwie am Ende des Schuljahrs verschwunden – aber die Harper hat doch wohl den Rekord gebrochen!"
Lavender kicherte.
Harry setzte sich zu Hermione.
"Was machst 'n du noch? Etwa Hausaufgaben?", fragte er und berührte unter dem Tisch sacht ihr Bein.
Er sah auf ihr Pergament. Sie hatte praktisch jede Zeile wieder durchgestrichen.
"Muss ich nachher noch mal machen", murmelte sie und legte ihre Hand auf seine. Sie war eiskalt.
"Ich wär' so gern allein mit dir! Ich möchte mit dir reden", flüsterte Harry.
"Ich auch mit dir", sagte sie gequält. "Was sollen wir nur tun, wegen Ron, meine ich? Wie konnten wir ihn nur so gehen lassen?"
Er bewegte seine Hand unter der ihren, streichelte mit angehaltenem Atem ihr Bein in der Cordhose. Das Gefühl des warmen Stoffes unter seinen Fingern hatte etwas so bezwingend Reales, bewirkte eine geradezu schockierende Nähe. Er fühlte sein Herz auf einmal wieder wie wild schlagen und war beinahe froh, als sie seine Hand packte und festhielt.
"Komm mit raus", sagte er. "Was soll's, er weiß es doch ohnehin."
Sie sah ihn verletzt an.
"Heißt das, es ist dir egal, was heute Nachmittag passiert ist?"
"Nein. Er ist – war mein bester Freund. Und er –", aber hier wusste er nicht weiter. Die Erinnerung an Rons Blick da draußen bei den Gewächshäusern tat ziemlich weh. "Ich – ich – bitte komm mit mir, Hermione! Nur ganz kurz!"
Er sah auf – und begegnete direkt Lavenders aufmerksamem Blick.
"Verstehst du, was ich meine?", fragte Hermione leise, der der Blick auch nicht entgangen war.
Harry sah sie an und nickte. Und in diesem Moment kam ihm eine Idee, eine Idee, die simpel und ziemlich verrückt war, aber er wusste sofort, dass er sie in die Tat umsetzen würde.
"Ich muss noch mal weg", sagte er. "Ich muss einfach was rauskriegen, und mir ist gerade eingefallen, wie ich es versuchen könnte."
"Wohin willst du denn?"
"In den Kerker", sagte er zu ihrer Überraschung.
"Soll ich nicht mitkommen? Wir sollen doch jetzt nicht mehr auf den Gängen rumlaufen."
"Oh Mann. Erst bettle ich dich an, mit raus zu kommen, und dann – aber das muss ich allein machen. Es – es geht um meine Eltern, weißt du. Nichts Gefährliches. Nur was, das ich rauskriegen muss."
"Also gut. Ich warte hier auf dich. Und wenn du in einer Stunde nicht zurück bist, schlag ich Alarm", sagte sie entschlossen.
"Bis dahin müsste ich's schaffen. Und ich bin wirklich nur im Tränkeraum. Ich nehm' den Tarnumhang."
Er hätte sie gern geküsst. Aber daran war natürlich nicht zu denken. So streichelte er ihre Hand unter dem Tisch noch einmal und stand dann auf.
Ein kleiner Umweg über den Schlafsaal – dann war er wieder einmal unsichtbar in den Gängen unterwegs.
oooOOOooo
"Alohomora!", sagte Harry Minuten später und war sich im Klaren darüber, dass er im Begriff war, einen Einbruch zu begehen. Die Tür zu Professor Slughorns Büro öffnete sich geräuschlos. Wenigstens musste er nicht lange suchen.
Das Licht seines Zauberstabes schimmerte auf den zehn Flaschen, die sie heute im Tränkeunterricht mit Wahrtraumsaft gefüllt hatten und die nun ordentlich in Slughorns Regal standen. Harry fand die Flasche mit der Beschriftung "H. Potter" auf dem Etikett und verließ das Büro schnell wieder.
Dann nahm er einen kleinen Kessel vom Bord und setzte sich in dem dunklen Klassenraum an einen Tisch.
Er öffnete das fest verkorkte Fläschchen, goss die Flüssigkeit in einen kleinen Kessel und zog dann seufzend das Kästchen mit dem Goldenen Schnatz aus seiner Hemdtasche. Nachdem er es geöffnet hatte, strich er vorsichtig über die zerknitterten Flügelchen, die unter seinen Fingern zu flirren begannen. Die Initialen seiner Mutter, die sein Vater vor vielen Jahren auf die goldene Kugel geschrieben hatte, waren im Halbdunkel eben noch erkennbar.
Dieser Gegenstand war sicherlich etwas ganz Persönliches – und er hatte sich für ihn schon einmal zu einer Art Fenster in die Vergangenheit geöffnet. Harry hatte sich schon ein paar Mal gefragt, ob Dumbledore ihn extra für ihn verzaubert hatte, in der Gewissheit, dass er ihn finden würde in dem Haus in Godric's Hollow. Oder war es einfach eine spezielle Magie, die ihm innewohnte, weil er für seinen Vater so etwas wie ein Sinnbild seiner Liebe gewesen war? In diesem Fall musste er eigentlich genau der richtige Gegenstand für seine Zwecke sein, fand Harry.
Aber er zögerte immer noch. Sein Vorhaben kam ihm ziemlich verrückt vor – Magie hin oder her, er konnte sich nicht vorstellen, dass das tatsächlich funktionierte. Und außerdem war er sich nicht einmal sicher, ob er die Wahrheit wirklich wissen wollte.
Schließlich gab er sich einen Ruck und ließ den Goldenen Schnatz in den Kessel plumpsen. Dann hielt er rasch die Hand darüber, damit er nicht einfach wieder hinausflog. Tatsächlich fühlte er den Schnatz sekundenlang immer wieder gegen seine Handfläche flattern, aber jedes Mal fiel er mit einem leisen Platschen zurück in den Saft.
Ich spinne doch, dachte Harry.
Entnervt packte er den Schnatz bei dessen nächstem Fluchtversuch und steckte ihn zurück in das Kästchen. Die feuchten Flügelchen flirrten noch einmal, und Harry spürte einen ganz feinen Schauer in sein Gesicht sprühen. Dann schloss er den Deckel und steckte das Kästchen wieder ein.
Schließlich sah er in den Kessel. Der Moment der Wahrheit, dachte er mit schiefem Grinsen.
Vorsichtig trank er einen Schluck. Es schmeckte eigentlich nicht so scheußlich, wie man nach den Zutaten und dem Geruch hätte vermuten können. Schließlich kippte er den ganzen Inhalt runter und konzentrierte sich angestrengt auf den Punkt, den er klären wollte.
Dann saß er einfach da und kam sich blöd vor. Er fühlte sich weder schläfrig noch sonst irgendwie anders als vorher. Seufzend kippte er den Stuhl nach hinten und legte die Beine bequem auf den Tisch.
Ein paar Minuten geb' ich der Sache noch, dachte er, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte gähnend auf die dämmrigen Bögen der Fenster.
ooOoo
Und dann hatte sich unvermittelt das Klassenzimmer um ihn herum mit Schülern gefüllt, und obwohl doch Nacht war, wie sich Harry noch vage erinnerte, fiel durch die geöffneten Fenster warmes Sonnenlicht. Sogar die Vögel konnte er zwitschern hören. Die Luft, die hereinwehte, roch nach Sommer.
Es musste ein Traum sein, denn Harry konnte sich frei im Raum bewegen, so schnell wie er denken konnte, und niemand schien ihn zu bemerken. Wie kam er hierher und was wollte er hier?
Während sich die Schüler um ihn herum wie üblich unter Stühlerücken, Gerede und Herumkramen an ihre Plätze setzten, stellte er fest, dass ihm keiner von ihnen bekannt vorkam, und fing an, sich genauer umzusehen.
Und dann, mit einem Schreck, der richtig wehtat, sah er, dass er den Jungen, der neben ihm saß und unberührt von der Unruhe um sich herum in einer Zeitung las, doch kannte. Der braune Haarschopf war noch nicht grau gesträhnt, das Gesicht noch nicht so müde und verhärmt, wie Harry es gekannt hatte, aber es war unverkennbar –
"He, Moony! Guck mal, was Sirius da hat! Ich glaub, er hat's tatsächlich geschafft!", sagte der Junge in der Reihe vor ihnen, der sich zu Remus Lupin umgewandt hatte.
Er wirkte klein und pummelig, hatte ein kindlich weiches Gesicht, kleine, dunkel umschattete Augen und einen trotzigen Zug um den Schmollmund. Er sah aus wie der ewige Außenseiter, fand Harry, das Dickerchen, das immer wieder versucht, Freunde zu finden und dabei eine gewisse Verschlagenheit entwickelt hat. Die Ähnlichkeit mit dem abgemagerten, nervösen Mann, den er vor vier Jahren kennen gelernt hatte, lag nicht so sehr in den Äußerlichkeiten wie in der Ausstrahlung. Aber er war sich sicher: Das war Peter Pettigrew. Besser bekannt unter seinem wenig schmeichelhaften Namen Wurmschwanz.
Jetzt erst blickte er in die Richtung, in die dieser zeigte und wohin auch Lupin sich nun lässig wandte. Schräg hinter ihnen, in der letzten Reihe, saßen sie. James und Sirius: Sein Vater und sein Pate, in ein offenbar unerfreuliches Gespräch vertieft. Vor allem James sah wütend aus und schien im nächsten Moment laut werden zu wollen. Als Harry sie ansah, konnte er ihr Gespräch mit anhören.
"Nun reg dich doch nicht auf. Sie hat nein danke gesagt, oder etwa nicht? Und was viel wichtiger ist – sieh dir mal das an!"
Und mit einem triumphierenden Blick hielt Sirius seinem Freund ein Blatt unter die Nase, offenbar eine aus einem Buch herausgerissene Seite. Wider Willen schien James fasziniert zu sein.
"Du hast es tatsächlich getan!"
"Aber klar. Alles eine Frage des richtigen Zeitpunkts. Und ich hab dir ja gesagt, dass er dazu was ausgeknobelt hat. Noch dazu was, das viel simpler ist als alles, was wir probiert haben."
In diesem Moment betrat Professor Slughorn den Raum. Er sah genauso aus, wie Harry ihn kannte. Dunkelroter Samt mit Goldborte brachte die schon damals beträchtliche Wölbung seines Bauches prachtvoll zur Geltung. Die schwarzen Stiefel, in denen seine kleinen Füße steckten, hatten goldene Beschläge. Aber er war nicht in der leutseligen Stimmung, die Harry an ihm kannte. Sein kleiner Mund war schmollend gespitzt, die Augen hinter den Brillengläsern blickten unwillig über die Schülerköpfe hin – Horace Slughorn war verstimmt.
Er legte seine Drachenhautmappe mit einem Knall auf das Pult und wandte sich demonstrativ dem Materialschrank zu, in dem er vor sich hin murmelnd zu kramen begann. Offenbar ergebnislos, denn schließlich wandte er sich zur Klasse um, die inzwischen ruhig geworden war und ihn beobachtete, und sagte missgelaunt:
"Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass jemand den Drüsenextrakt des Rotäugigen Zirbelbeutlers aus diesem Schrank gestohlen hat. Er ist äußerst schwer zu gewinnen und entsprechend teuer. Ich glaube nicht, dass mein Budget es zulässt, noch eine weitere Flasche davon zu besorgen, jedenfalls nicht in diesem Schuljahr. Womit das Projekt ‚Versöhnungstrank' wohl gestrichen ist. Sie werden also auf Ihre eigenen Fähigkeiten zurückgreifen müssen, wenn Sie das nächste Mal irgendwas verbockt haben", fügte er nicht ohne Bosheit hinzu. "Dann fahren wir jetzt mit dem –"
"Professor Slughorn, sagten Sie nicht in der letzten Stunde, dass dieser Extrakt auch zur Herstellung von Liebestränken verwendet wird?", wurde er von Sirius grinsend unterbrochen. "Also, da gibt's doch sicher jede Menge Interessenten, oder?"
In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, und Harry krümmte sich innerlich, als er in dem mageren, kümmerlich aussehenden Teenager, der möglichst schnell und unauffällig an seinen Platz zu verschwinden versuchte, Snape erkannte. Sein schwarzes Haar, fettig wie eh und je, war noch länger und ungepflegter als in jener Szene, die Harry damals im Denkarium gesehen hatte, und sein blasses, beinahe gelbliches Gesicht wirkte kränklich und verbissen. Er setzte sich in die erste Reihe.
Das Mädchen auf dem Platz neben ihm hatte dunkelrotes Haar, das sie zu einem Knoten aufgesteckt trug, und als Harry hinsah, machte sein Herz einen wilden Sprung. Lily Evans, seine Mutter. Sie ordnete gerade ihre Utensilien, Kessel, Kellen, eine Reihe von Zutaten. Harry erkannte in dem Buch, das aufgeschlagen vor ihr lag, ohne große Überraschung Zaubertränke für Fortgeschrittene.
Snape hatte sich neben Lily gesetzt, ohne sie zu begrüßen oder auch nur anzusehen. Jetzt saß er da, über die Tischplatte gebeugt, den Kopf in eine Hand gestützt, und starrte mit einem dumpf brütenden Ausdruck ins Leere. Als Slughorn weitersprach, fuhr er zusammen und begann in seiner Materialkiste zu kramen.
"Er ist sogar eine überaus wirksame Zutat bei allen Mitteln, die eine Harmonisierung bewirken sollen", sagte Slughorn. "Und zweifellos ist er eine der grundlegenden Zutaten bei allen Liebestränken. Leider ist er aber auch –"
Doch da wurde er ein weiteres Mal unterbrochen.
James platzte unbeherrscht los: "Na also! Das passt doch genau! Ich kann Ihnen sagen, wer das Zeug gestohlen hat!"
"Aber, aber – Mr Potter –"
Aber James war nicht mehr zu bremsen. Mit dem Blatt, das er von Sirius bekommen hatte, wedelte er in Richtung erste Reihe und sagte voll kaum verhaltener Wut: "Da vorne sitzt er, fragen Sie ihn doch mal! Na, Sniv – gib's doch zu!", wandte er sich unvermittelt an Snape, der noch immer in seiner Kiste kramte und jetzt herumfuhr. "Du hast doch sicher Bedarf an solchen Sachen, oder? Ich meine, freiwillig geht doch keine mit dir!"
"Halt den Mund, Potter!", zischte Snape zurück. Er war noch blasser geworden, und seine schwarzen Augen waren hasserfüllt. "Und wenn du von Diebstahl reden willst – gib mir das Blatt da zurück! Das ist meins! Du hast es aus meinem Buch rausgerissen!"
"Ich wette, du hast das Zeug geklaut und kochst jetzt einen deiner ganz speziellen Tränke draus!", sagte James, ohne Snapes Worte zu beachten. "Du schleimiger Heuchler! Jahrelang hast du hier rumgeschwafelt von wegen reinem Blut und altem Adel und all diesem Schwachsinn und hast die Leute beschimpft! Und dann jaulst du ihr was vor, ausgerechnet ihr!"
"Halt die Klappe, Potter!", schrie Snape, jetzt kreideweiß und außer sich.
Er war aufgesprungen wie James, und über die Tischreihen hinweg starrten sie sich an, bereit, im nächsten Moment aufeinander loszugehen.
"Aber bitte, meine Herren!", versuchte Slughorn einzugreifen, aber niemand beachtete ihn. Die ganze Klasse verfolgte gebannt diesen wundervollen Ausbruch ungezügelter Emotionen.
"Ihr hättet ihn hören sollen!", höhnte James. "Ich liebe dich, Lily! Du bist das Einzige, was mich an dieser Schule hält!", machte er Snape nach.
"Du – verdammter – SCHEISSKERL!", schrie Snape und stürzte sich auf James, der darauf nur gewartet hatte.
Sie rissen einen Tisch um, und Snape gelang es in seiner Wut, dem um einen Kopf größeren James die Faust ins Gesicht zu schlagen, wurde dann aber von ihm zu Boden geschleudert. Offenbar war dies eine der wenigen Situationen, in denen auch ein Zauberer seinen Gefühlen nur noch durch das Zuschlagen den richtigen Ausdruck verleihen konnte.
"Treibst dich die ganze Zeit mit diesen Typen da rum und redest was von Erneuerung der Gesellschaft – und denkst, dass wir nicht wissen, was wirklich mit dir los ist!"
James hatte Snape auf die Füße gerissen und schüttelte ihn jetzt wie eine Katze die Maus.
"Glaubst du, wir wissen nicht, dass dein Vater ein versoffener alter Muggel ist, der –"
"Genug jetzt!", brüllte Slughorn.
"Beruhig' dich, Mann!", sagte Sirius zu James, während er versuchte, seinen Freund von Snape wegzuziehen.
Der wiederum versuchte vergeblich, James an die Kehle zu gehen oder wenigstens einen weiteren Treffer in seinem Gesicht zu landen.
Auch Lily war dazugekommen, aber sie schien von dieser Szene wie gelähmt. Hilflos stand sie da und sah von einem zum anderen. Harry verstand das nur zu gut. Er war selbst vor Entsetzen erstarrt.
"Ich bring dich um, Potter!", schrie Snape, als er endlich loskam. Er hatte Tränen der Wut im Gesicht. Seine Stimme kippte, als er weiterschrie: "Ich bring dich um! Du arrogantes Schwein!"
"Heul doch, Sniv!", höhnte James. "Heul doch mal uns allen was vor!"
Da zückte Snape endlich seinen Zauberstab, als habe er sich erst jetzt wieder darauf besonnen, dass er wirksamere Waffen als seine Fäuste hatte. James' Zauberstab lag auf dem Boden hinter dem umgeworfenen Tisch.
"Nicht!", sagte Lily, und fasste Snape am Arm.
Einen Moment lang standen sie alle wie erstarrt, Snape, Lily, James und Slughorn mit der ganzen Klasse.
Als Snape die Hand mit dem Zauberstab sinken ließ, ging ein leises Aufatmen durch den Raum.
Er schüttelte Lilys Hand ab. Dann ging er einfach aus dem Zimmer.
ooOoo
Harry starrte immer noch auf die dämmrigen Fenster. Er hatte keinen abrupten Übergang gespürt. Das Klassenzimmer um ihn herum war einfach zurück ins Dunkel gesunken, die Stimmen waren verklungen, und nun saß er wieder allein hier, mit lässig auf den Tisch gelegten Füßen. Er holte Luft mit einem langen, zitternden Atemzug, nahm die Füße vom Tisch und ließ den Stuhl auf alle vier Beine zurückkippen.
"Oh Mann", murmelte er in den stillen Raum und ließ den Kopf auf seine Arme sinken, als könne er dadurch die Bilder ausblenden, die er eben gesehen hatte. "Verdammt, verdammt, VERDAMMT!"
Das fast Unerträgliche an der Sache war, dass er etwas wie – Mitleid mit Snape fühlte. Und das war mehr, als er ertragen konnte. Was sein Vater da gemacht hatte, war wirklich gemein gewesen, noch um vieles gemeiner als die Schwebenummer, die er früher mit ihm abgezogen hatte und die Harry damals im Denkarium gesehen hatte. Egal wie wütend und eifersüchtig er gewesen war, das hätte er nicht tun dürfen. Und Snapes Schrei "Ich bring dich um, Potter!" hallte nur allzu deutlich in seinen Ohren nach.
Zugleich streifte vieles in dieser Szene so sehr das, was Harry selbst gerade heute erlebt und empfunden hatte, dass er sich ducken und verkriechen wollte. Hagrid hatte Recht gehabt.
Und wie absurd das war, das Letzte, worauf er jemals gekommen wäre; in gewisser Weise erschien es ihm noch viel abwegiger, als seine Slytherin-Abstammung zu entdecken: dass Snape – ausgerechnet Snape! – in seine Mutter verliebt gewesen war. In diesem Moment hoffte Harry inbrünstig, dass er ihm nie, niemals wieder begegnen und ins Gesicht sehen musste. Es gab da noch eine Frage, die dicht unter der Oberfläche seiner Gedanken lauerte und die er rücksichtslos überging. Er wollte sie sich nicht einmal stellen.
Tatsache war, dass seine Mutter seinen Vater geliebt und geheiratet hatte – er konnte ihr glückliches Gesicht auf dem Hochzeitsfoto noch deutlich vor sich sehen, und auch die Erinnerung, die er in Godric's Hollow erlebt hatte.
Er fragte sich, was das für ein Blatt gewesen sein mochte, das Sirius offenbar aus einem Buch von Snape gerissen hatte. Im selben Moment war er sich unerschütterlich sicher, dass es sich um eine Seite aus Snapes Tränkebuch gehandelt haben musste – eine von den vielen Seiten, auf die er seine eigenen Rezeptvariationen, aber auch selbst erfundene Zaubersprüche an den Rand geschrieben hatte.
Was konnte die vier Rumtreiber so interessiert haben, dass Sirius nicht davor zurückgeschreckt war, eine Seite aus Snapes Buch zu reißen?
Das Buch des Halbblutprinzen. Und jetzt war es in seinem, Harrys, Besitz. Wieder – und durch merkwürdige Umstände ...
Harry stand auf.
Er schlich sich unter dem Tarnumhang zurück zum Gemeinschaftsraum der Gryffindors. Zweimal begegnete er stummen Gestalten in den Fluren und blieb reglos stehen, bis sie vorbei waren.
Beim ersten Mal erkannte er Bill, der langsam und aufmerksam seine Runde ging. Beim zweiten Mal, nicht weit vom Porträtloch entfernt, kam ihm Tonks entgegen. Ihre Schritte hallten hart im Treppenhaus wider, und mehrere Köpfe in den Porträts an den Wänden drehten sich nach ihr um und sandten ihr strafende Blicke nach. Sie ging so dicht an Harry vorbei, dass er erschrak, weil er glaubte, sie habe ihn bemerkt. Aber ihre Augen blickten an ihm vorbei, so voll von dumpfer Trauer, dass er es kaum ertragen konnte.
Endlich stand er vor dem Porträt der Fetten Dame.
"Verräter", brachte er über die Lippen. Wie wahr, dachte er.
Sie hatte geschlafen und öffnete nun ungnädig ein Auge.
"Ja, das sind Sie. Und was machen Sie um diese Uhrzeit hier draußen?"
"Das geht Sie gar nichts an. Ich will einfach nur rein!", sagte er voll zorniger Resignation. Musste die ihn auch noch zur Rede stellen?
Das Porträt schwang auf. Als Harry hindurchstieg, hörte er sie noch "Rotzlöffel!" sagen.
"Endlich!", sagte Hermione, die noch immer an ihrem Tisch saß. Sie war ganz blass, und Harry begriff, dass sie sich Sorgen um ihn gemacht hatte.
Er kam zu ihr und schloss sie einfach in die Arme. Irgendwie wurde es so erträglicher.
"Ist Ron zurückgekommen?", fragte er schließlich.
"Nein", sagte sie, und es klang seltsam verloren.
"Ich werde morgen mit ihm reden. Und wenn ich ihn festbinden muss."
Aber was soll ich bloß zu ihm sagen? Tut mir leid, ich wusste es selbst nicht, aber ich glaube, ich bin in Hermione verliebt? War er das? Er wusste nicht einmal, wie er das nennen sollte, was er fühlte, wenn er sie so hielt wie jetzt. Es war vertraut und zugleich so fremd, so neu, dass es ihm immer noch den Atem nahm, wenn er sie nur sah.
"Was hast du denn gemacht?", fragte sie.
"Den Wahrtraumsaft getrunken", antwortete er. "Ich musste was rauskriegen."
"Hat es funktioniert?"
"Ja. Und jetzt muss ich was in dem verdammten Tränkebuch nachsehen – in seinem, meine ich."
Er brachte es nicht über sich, Snapes Namen auszusprechen, aber Hermione verstand offenbar.
"Ich kann jetzt einfach nicht darüber reden", sagte er dann entschuldigend. "Es war so – ätzend. Geh doch schlafen, ich werd' noch eine Weile aufbleiben."
Er streichelte ihr Haar. So weich, so verletzlich, dachte er wieder.
Über ihre Schulter sah er, dass sie in den Nachtwelten gelesen hatte.
"Bist du damit weitergekommen?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Ich habe diese Hortus-Conclusus-Sache nachgeschlagen. Und ich bin mir jetzt sicher, dass da nichts über die Vernichtung von Horcruxen drinsteht", sagte sie mutlos. "Sonst hätte Regulus Black es ja sicher auch gewusst."
"Vielleicht gibt es dafür gar keine wirkliche Methode. Keine allgemein gültige, meine ich."
oooOOOooo
"Was suchst du denn jetzt? Irgendein spezielles Rezept?", fragte Hermione Minuten später, als Harry das Buch aus seinem Koffer geholt hatte.
"Nee. 'ne ausgerissene Seite", erwiderte Harry. "Es muss sie geben. Beziehungsweise eine entsprechende Lücke!"
"Aber eine ausgerissene Seite hätte er doch sicher wieder reingehext!", sagte Hermione zweifelnd. "Ich glaub kaum, dass er dafür Tesafilm verwendet hat!"
"Aber du hast doch damals selbst das Specialis revelio über das Buch gesprochen. Da hätte sich eine angehexte Seite doch vielleicht gelöst."
"Das stimmt."
Harry blätterte und zupfte hier und da an den Seiten. Aber da war nichts lose.
"Vielleicht hat er sie ja wieder festgehext", sagte Hermione, die ihm skeptisch zusah. "Du denkst doch, dass er es war, der das Buch zurück zum Grimmauldplatz gebracht hat, oder? Vielleicht –"
Aber er hörte gar nicht mehr hin. Seine Augen leuchteten.
"Klar, Hermione, das ist es! Er hat es wieder festgehext!", rief er. Dann nahm er seinen Zauberstab und schwenkte ihn über dem Buch. "Specialis revelio!"
Es geschah wieder einmal – gar nichts.
"Du musst –"
Aber Harry war schon selbst darauf gekommen. Er packte das Buch am Rücken und schüttelte es. Und dann sahen sie gebannt, wie ein Blatt herausrutschte und langsam zu Boden segelte.
Sie starrten einander an. Harry nahm das Blatt und überflog es hastig. Es war die Seite, auf der der Vielsaft-Trank in verschiedenen Varianten beschrieben wurde. Snape hatte eine Menge handgeschriebener Anmerkungen gemacht.
Vor Harrys Augen drängte sich das Bild des Jungen, den er noch vor einer halben Stunde gesehen hatte – wie er mit tief gebeugtem Rücken über diesem Buch saß, die eine Hand in das fettige schwarze Haar vergraben, mit der anderen hastig kritzelnd –
Er schob das Bild beiseite.
"Hier, sieh mal", sagte Hermione, die ebenfalls die Anmerkungen verfolgte. "Ich weiß ja nicht, worum es dir geht, aber das da ist auf jeden Fall interessant."
Sie zeigte auf ein Rezept, das eine Variante des Vielsaft-Trankes bot, mit deren Hilfe man sich angeblich für länger als einen Tag in ein Tier verwandeln konnte. Es wurde aber empfohlen, keine kleinen und vor allem keine fliegenden Tiere zu verwenden, da das Fliegen einen Menschen auch in Tiergestalt überfordere ...
Snape hatte es mit ungeduldigen Federstrichen einfach durchgestrichen. Daneben hatte er geschrieben: "Sinne übertragen! 'Sei mein Auge!'"
"Sei mein Auge? Was meint er denn damit?", fragte Harry.
Hermiones Augen leuchteten vor Begeisterung.
"Damit schlüpft er in den Geist des Tieres! Verstehst du? Er verwandelt sich nicht in ein Tier, was ja sowieso immer nur für kurze Zeit geht, wenn du kein Animagus bist, sondern er überträgt seine Sinne auf das Tier! Sieht durch seine Augen und so! Das ist genial!"
Auf einmal verstand Harry, was die Rumtreiber gesucht hatten. Allerdings hatten sie zu dem Zeitpunkt – in der sechsten Klasse – doch längst den Animagus-Zauber erfolgreich herausbekommen, wozu also das Interesse? Hatten sie sich von Snape verfolgt gefühlt? Von Snape – oder von etwas, hinter dem sie Snape vermuteten?
"Es geht um die Rumtreiber, stimmt's?", sagte Hermione, die ihn beobachtet hatte.
Harry nickte. Er stand da mit dem Buch in der Hand und dachte nach.
Das Buch des Halbblutprinzen. Er hatte es vor Snape im Raum der Wünsche versteckt. Dann hatte er es in seinem Bücherregal am Grimmauldplatz wieder gefunden. Konnte es wirklich Snape gewesen sein, der es ihm auf diese Weise zugespielt hatte? Aber warum sollte er das getan haben?
Konnte es denn jemand anders als Snape gewesen sein?
"Was meinst du – war es Snape, der das Buch zum Grimmauldplatz gebracht hat?", fragte er, während er die Seite, die sein Pate vor so vielen Jahren aus diesem Buch gerissen hatte, wieder einlegte.
Sie zuckte die Schultern.
"Keine Ahnung. Ich weiß nicht, wer es sonst gewesen sein könnte. Ich meine, wer wusste denn außer ihm – und uns – dass du sein Buch hattest? Und dass du es im Raum der Wünsche versteckt hast – da ist er vielleicht von selbst drauf gekommen."
"Aber wieso sollte er das tun – mir das Buch wieder zuspielen?"
"Das frag ich mich auch. Für 'ne bloße Drohung scheint mir das einfach zu viel Aufwand. Hast du es je wieder gründlich durchgesehen?"
"Nein. Ich wollt's nicht mehr anfassen. Ich kann nicht mal seine Schrift sehen, ohne an sein Gesicht zu denken – wie er Dumbledore eiskalt umgebracht hat!", platzte es aus Harry heraus.
"Aber wir müssen das jetzt wirklich tun", sagte Hermione leise. "Es muss einen Grund geben für diese komische Sache. Wir hätten da schon früher reinsehen sollen."
Sie zog ihn zum Sofa. Und dann saßen sie da, und anstatt irgendeine verliebte Unterhaltung zu führen, gingen sie Seite um Seite dieses Buches durch, in das der Mörder Dumbledores – der Junge, der in Lily Evans verliebt gewesen war – so fleißig und erfinderisch seine Kommentare geschrieben hatte.
Als sie auf Seite einhundertneunundvierzig waren, sank Hermiones Kopf gegen seine Schulter, und er sah, dass sie schlief. Er versuchte, möglichst leise zu blättern, um sie nicht zu wecken. Gähnend las er weiter, eine Seite nach der anderen, bis die Wörter und die winzige Schrift vor seinen Augen verschwammen. Vielleicht nickte er zwischendurch auch ein paar Mal ein. Er war schrecklich müde.
Jedenfalls zuckte er zusammen, als sein Blick mit einem Mal auf eine Seite fiel, die er nur zu gut kannte. Die obere Ecke war umgeknickt. Das hatte er selbst getan, im Winter. Sectumsempra, stand da in Snapes Schrift. Gegen Feinde.
Und dann sah er es. Neben Snapes Gekritzel am Seitenrand war über die Zeilen des Rezepts gegen Albträume etwas geschrieben worden, das, wie Harry ziemlich sicher war, nicht da gewesen war, als er die Seite das letzte Mal gesehen hatte. Bei genauerem Hinsehen zeigte sich auch, dass es sich nicht um Snapes übliche Verbesserungen zu einem Tränkerezept handelte, sondern um eine Sache, die gar nichts mit dem Rezept zu tun hatte. Und es schien, dass die Worte Tabula Rasa, die über die unterste Zeile geschrieben waren, den Anfang bildeten. In den drei Zeilen darüber setzte sich die Notiz fort.
In der Handschrift des Prinzen, etwas abgeschliffener vielleicht, aber erkennbar in derselben Schrift.
Harry las. Und las noch einmal.
Ganz langsam durchdrang das Verstehen sein Gehirn und ließ ihn erstarren. Ja, das war Snape. Er konnte sein zynisches Lächeln förmlich sehen, als er wie gelähmt auf dem Sofa saß.
Bleich bis in die Lippen saß er lange da und starrte auf die Zeilen, die ihn zu verhöhnen schienen.
oooOOOooo
Dann geschah es.
Es war wie eine vollkommen lautlose Druckwelle, die wie ein harter Schlag durch ihn hindurchging. Dass sie ihn tatsächlich beinahe vom Sofa gestoßen hätte, wurde ihm erst klar, als er sah, wie Hermione sich mit einem Aufschrei an die Rücklehne klammerte, und er selbst sich eben noch am Tisch abfangen konnte.
Sie starrten einander an.
"Was war das? Ein Erdbeben?"
"Keine Ahnung. Ich hab nichts gehört. Auch nichts gesehen."
Sie stürzten zum Fenster. Draußen war alles dunkel und auf den ersten Blick auch ruhig. Dann sahen sie, wie vom Verbotenen Wald ein großer Schwarm Vögel aufflog und kreischend auf das Schloss zustob. Im Haus um sie erwachten wieder die Stimmen. Vom Jungenschlafsaal stolperte Dean herein.
"Was is'n bloß schon wieder los?", nuschelte er und versuchte die Augen aufzukriegen.
"Da!", rief Hermione und zeigte zum Nachthimmel hinauf. Ganz blass ergossen sich von irgendwoher plötzlich grünliche Streifen über die Schwärze, wie von einem Meteoritenschauer.
Aber sie erloschen nicht, sondern breiteten sich weiter und weiter aus und wurden dabei immer blasser.
"Das ist nicht die Dämmerung, oder?", fragte Dean leise.
Harry, der den Arm fest um Hermione gelegt hatte und spürte, wie sie zitterte, schüttelte den Kopf.
