Kapitel 20
Entrückt
Neville Longbottom träumte. Er saß im karamellduftenden Dämmerlicht von Madam Puddifoots Café und wartete auf Noelle Devine, eine Fünftklässlerin aus Ravenclaw, die sich unglaublicherweise hier mit ihm verabredet hatte.
Noelle hatte tiefschwarzes langes Haar und blaue Augen und reichte Neville gerade bis zur Schulter. Sie geisterte in letzter Zeit recht häufig durch seine Träume.
Und jetzt saß er hier in einer Nische an einem Tischchen, auf dem eine Wasserschale mit vier rosafarbenen, schwimmenden Kerzen in Herzform stand, und wartete. Vor sich hatte er einen großen Becher heiße Schokolade mit Sahne, und vor den Fenstern sah er einzelne Schneeflocken durch die graue Luft taumeln. Dann beugte sie sich plötzlich über ihn, eine schwarze Haarsträhne strich seidig über sein Gesicht, und sie küsste ihn auf die Wange.
Das schmerzte, und er spürte, wie die Stelle heiß wurde und ganze Hitzewogen auszusenden begann. Gleichzeitig fühlte er sich unheimlich glücklich.
Ohne Übergang war er wieder von Dunkelheit umgeben. Noelle war fort, zurückgeblieben waren ein Puckern unter dem Pflaster auf seiner Wange und das Glücksgefühl. Und der durchdringende Duft von Karamell und Schokolade.
Neben ihm saß, an die Wand gelehnt und laut schnarchend, ein Drittklässler, dessen Kopf mit offenem Mund zurückgesunken war. Als er ganz wach geworden war, konnte er ringsum an die Wände gekauerte und auf dem Boden liegende Gestalten erkennen, die meisten in irgendeinem Stadium zwischen Wegdämmern und Tiefschlaf gefangen.
Obwohl Noelle ihn nur im Traum geküsst hatte, hielt das Glücksgefühl weiter an. Ihm war auf einmal, als würde er nie wieder Angst haben, so stark und zugleich leicht fühlte er sich. Das änderte sich auch nicht, als ihm die vergangenen Stunden wieder in den Sinn kamen. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass Mitternacht eben vorbei war, dass also mehr als sechs Stunden vergangen waren, seit sich der kleine Trupp auf den Weg in den dritten Stock gemacht hatte.
Hier hatte das Unternehmen bereits den ersten Rückschlag erlitten. Ripley hatte die steinerne Hexe, die hier stand, mit ihrem Zauberstab berührt und, ganz wie Harry es Professor McGonagall mitgeteilt hatte, mit dem Befehl Dissendium! einen schmalen Einstieg in ihrem Buckel geöffnet. Durch diesen passte Hagrid aber auch beim besten Willen nicht hinein. Knirschend vor Wut musste er schließlich aufgeben. Es war keine Zeit mehr, einen anderen Begleiter als Ersatz herbeizuholen. So führte Ripley den Trupp an, Neville wurde in der Mitte der Gruppe platziert, und Ron bildete die Nachhut.
Nach dem Einstieg, der auch rundlicheren Personen schon einiges abverlangte, waren sie erst mal wie auf einer Rutschbahn übereinander purzelnd in einen engen, dunklen, feuchten Tunnel hineingeschlittert. Das hatte schon ziemlichen Verdruss ausgelöst, vor allem bei Neville selbst, dem Romilda Vanes Fuß ins Gesicht geknallt war, als sie unmittelbar hinter ihm von der Neigung des Bodens überrascht worden war.
Als Neville jetzt daran dachte, grinste er in die Dunkelheit. Ein Tritt ins Gesicht – und nicht etwa ein Kuss von Noelle Devine! Irgendwie war das komisch! Er fühlte die frische Wunde immer noch puckern. Madam Pomfrey hatte sie noch nicht endgültig geschlossen, sondern ihm eingeschärft, auf jeden Fall am nächsten Tag wieder bei ihr zu erscheinen. Dabei hatte sie etwas über idiotische Schülerhirne gemurmelt.
Nach der Rutschpartie liefen sie alle hintereinander her, weil die Röhre so eng war, dass sie nur jeweils Platz für einen bot; die Größeren, wie Ron, mussten überdies den Kopf einziehen, um nicht an die niedrige Decke dieses erdigen Tunnels zu stoßen. Es gab wenig Licht, es wurde geschimpft, gekeucht, geschubst. Und über allem die Angst vor dem, was sie wohl am Ende des Weges erwarten würde.
Gerade als Neville dachte, er könnte die Enge und den feuchten Modergeruch nicht länger ertragen, begannen die Treppenstufen. Es waren so viele, dass sie alle ins Schwitzen gerieten und Neville schließlich kaum noch seine Knie beugen konnten.
Dann endlich öffnete Ripley, die voranging, ganz oben eine Falltür, und sie kletterten hinauf in den düsteren Keller unter dem Honigtopf. Einige von ihnen mussten tatsächlich durch die Falltür hinaufgezogen werden, weil sie es nach all den Treppenstufen allein nicht mehr schafften. Neville sah Ripley darüber einigermaßen ungläubig den Kopf schütteln, aber sie sagte nichts dazu. Der begehrte Süßigkeitenladen von Hogsmeade empfing die zerzauste, lehmbeschmierte Gruppe mit seinem Duft, der warm und tröstlich war.
Schließlich standen sie alle atemlos und aufgeregt im Keller und warteten gespannt darauf, wie es nun weitergehen würde. Der Plan, soweit sie ihn kannten, sah vor, dass sie von Hogsmeade aus unter dem Schutz der Auroren zu Fuß zur Bahnstation gehen sollten, die nah beim Ort lag.
Aber von da an war gar nichts mehr weitergegangen. Von oben kam ein Mann herunter, der die Gruppe mit einem grimmigen Blick musterte und dann zu Ripley sagte, dass der Zug noch nicht eingetroffen sei und sie hier warten müssten. Neville erkannte in ihm ein weiteres Mitglied des Phönixordens – Kingsley Shacklebolt, der wohl zu den Leuten gehörte, die um Hogwarts herum Wache hielten, und er fühlte aufrichtige Bewunderung für jemanden, der sich trotz der Dementoren da draußen aufhielt.
Und seitdem saßen sie hier und warteten. Die anfängliche Spannung war zu quälender Langeweile und schließlich zu steinerner Müdigkeit geworden, als sich herausstellte, dass es nicht nach ein paar Minuten weitergehen würde.
Zuerst hatte Neville versucht, sich mit Ron zu unterhalten, aber der hatte nur irgendwas gemurmelt und sich dann an einen anderen Platz gesetzt, was Neville nicht wenig gekränkt hatte. Und dann musste er ein bisschen eingedöst sein.
Aber jetzt war er nicht nur wach, er wollte auch unbedingt etwas tun. Er grinste immer noch in die Dunkelheit und dachte daran, dass in diesem staubigen Keller irgendwo auch Noelle Devine saß. Dieser Gedanke löste endgültig ein Hochgefühl in ihm aus, das der Situation nicht unangemessener hätte sein können. Er stand auf und ging vorsichtig zu Ripley hinüber, die am Fuß der Holztreppe saß und eisern gegen den Schlaf kämpfte. Zweimal wäre er dabei beinahe über zusammengerollte Körper gestolpert – sie waren zwar nur fünfundvierzig Personen, aber dafür war der Keller einfach zu eng.
"Pass doch auf!", muffelte ihn jemand schlaftrunken an.
"'Tschuldigung", murmelte Neville, aber er hätte hüpfen können.
Er hatte sich seit Wochen nicht so lebendig und gut gefühlt.
"Ms Ripley – gibt es was Neues?", fragte er, als er sie endlich erreicht hatte.
"Nein. Der Zug muss irgendwo aufgehalten worden sein", sagte sie leise. "Ich geb' ihm noch eine Stunde. Dann kehren wir um."
"Wie sieht's denn draußen aus?"
"Dunkel", war die lakonische Antwort.
"Ich meine – sind Dementoren in Hogsmeade gesichtet worden – was sagen denn Ihre Leute?"
Neville konnte selbst nicht so recht fassen, was er da plötzlich machte: einen Auroren einfach so anzuquatschen und auszufragen!
"Hören Sie – Sie sind doch Neville, oder? Also, ich warte genauso ungeduldig wie Sie auf Neuigkeiten. Kingsley war vorhin kurz hier und sagte, es wäre alles unverändert ruhig, aber wir sollten erst mal hier unten bleiben. Wenn Sie mich fragen, hat dieser Süßigkeitenkrämer, dem die Bude hier gehört, einfach Angst, wir könnten uns oben durch seinen Laden fressen."
Neville kicherte.
"Wenn Sie nichts dagegen haben – kann ich dann mal raufgehen – vorsichtig natürlich – und rausgucken?"
"Wenn Sie im Laden bleiben und keinen Krach machen!"
"Natürlich nicht. Ich seh' nur mal durchs Fenster", antwortete Neville und hüpfte auch schon die Treppe hinauf.
Oben war es heller, und der Duft der verschiedensten Süßigkeiten war noch viel stärker. Er kämpfte kurz mit der Versuchung, ein paar Eismäuse einzustecken, die in einem großen Glas verlockend ganz in seiner Nähe standen. Schon seltsam, so eine Art Kindertraum auf einmal verwirklicht zu sehen: mitten in der Nacht in einem Süßigkeitenladen eingesperrt ...
Er trat vorsichtig an eines der Fenster, durch das gedämpft das Licht der Straßenlaternen fiel. Unter dem gebogenen Schriftzug Honigtopf auf der Scheibe war eine kunstvolle Welt aus Schokofröschen, Lakritzkrokodilen, Eismäusen und vielem mehr aufgebaut worden. Neville spähte hinaus.
Es war still und düster. Hogsmeade schlief.
Und dann sah er sie. Zuerst hatte er sie für Schatten oder Bäume gehalten, in den Schatteninseln zwischen den Laternen war das nicht genau auszumachen. Aber dann erkannte er mit einem jähen Schreck, was die großen, schattenschwarzen Gestalten wirklich waren. Dementoren standen reglos in weiten Abständen an der stillen Straße entlang verteilt.
Neville wich mit einem Keuchen vom Fenster zurück. Sein Herz raste, und während seine Backe immer noch glühte, spürte er, wie kriechende Kälte vom Rest seines Körpers Besitz ergriff.
Er stolperte die Treppe hinunter.
"Ms Ripley! Da oben – auf der Straße – Dementoren!", stieß er hervor, so leise es sein Entsetzen zuließ.
Sie war schon halb oben, als er sich wieder in Bewegung setzte.
Dann standen sie beide schweigend in dem dämmrigen Laden und starrten hinaus, wo die Schatten unverändert verharrten.
"Was – was – machen die denn?", fragte er und fühlte den Schrecken allmählich zurückweichen.
"Warten. Ich schätze, der Zug hat sich doch endlich blicken lassen!", sagte Ripley grimmig.
Ein Knirschen an der hinteren Tür ließ sie herumfahren. Aber die große dunkle Gestalt, die in den Laden kam, war nur Kingsley Shacklebolt.
"Ah, ihr habt sie also auch entdeckt", sagte er. "Kein schöner Anblick, was?"
"Wie sind Sie denn da durchgekommen?", fragte Neville verwundert.
"Die haben mich gar nicht beachtet. Die stehen einfach da – seit dem Moment, als der Zug von weitem in Sicht kam."
"Also doch. Er hat's also doch noch geschafft", sagte Ripley.
"Sieht so aus. Ist jedenfalls eben in die Station eingelaufen. Deshalb bin ich hier."
"Und was machen wir jetzt?", fragte Neville.
In diesem Moment kam noch jemand von unten herauf. Es war Ron, der mit mürrischer Miene zu ihnen trat.
"Ist dieser dämliche Zug endlich da?", fragte er.
"Ist er. Aber wir können nicht zur Station. Das Risiko ist zu groß", sagte Shacklebolt ernst. "Das heißt –"
"Rückzug", ergänzte Ripley, und Shacklebolt nickte.
Aber da fühlte Neville, wie die Leichtigkeit wieder in ihn zurückströmte, ihn langsam ganz durchdrang und zu einem unerschütterlichen Gefühl von Unverwundbarkeit wurde. Ihm war, als hätte er sogar da rausfliegen können, selbst wenn Voldemort persönlich dagestanden hätte –
"Ich gehe", verkündete er fröhlich. "Ich probier' das aus. Vielleicht sollen die uns ja nur abschrecken."
"Aber klar", sagte Ron. "Ich vermute sogar, dass die da nur auf den Fahrenden Ritter warten. He, Neville!"
Neville war zur Tür gegangen und hatte sie einfach geöffnet.
"Tür zu!", zischte Ripley, und Shacklebolt rief gleichzeitig: "Bleib bloß hier, Junge!"
Aber da stand Neville schon draußen in der Nachtluft, die herrlich frisch und kühl war nach der stickigen Zuckrigkeit des Ladens. Er fühlte, wie glücklich er war. Heute würde er alles schaffen!
"Bis gleich!", rief er über die Schulter zurück und rannte los.
"Nicht, Neville!", schrie Ron hinter ihm her.
Die Ladentür wurde zugeschlagen, aber es war Shacklebolt, der Neville nachrannte, während Ripley Ron zurückhielt.
Neville flog, er wusste, dass er flog, als er den ersten Dementor erreichte, der immer noch völlig reglos am Straßenrand stand. Seine Sicht schien sich zu verlangsamen, er sah, wie der Nachtwind das schwarze Gewand der riesigen Gestalt sacht und in wogenden Unterwasserbewegungen bewegte, er fühlte die Kälte, die von ihm ausging, wie die plötzliche Kälte, die einen in Sommernächten in den Senken einer Wiese anwehen konnte. Und er war erfüllt von dieser berauschenden Kraft und Leichtigkeit, die ihn weitertrug, ohne dass der Dementor sich auch nur bewegt hatte!
Er rannte mit einem Lachen weiter, der Bahnstation entgegen, er wusste, er würde es schaffen und dafür sorgen, dass Noelle und die anderen sicher nach Hause kamen.
Shacklebolt rannte hinterher, versuchte ihn mit einem Lähmzauber zu erreichen, aber vergeblich. Und als er die nächste Straßenecke erreichte, sah er, dass endlich Bewegung in die Dementoren gekommen war. Sie schwebten stumm hinter der dahinjagenden Gestalt her. Eisige Unerbittlichkeit strahlte von diesen schwebenden Gestalten aus; sie wussten, dass ihnen ihr Opfer sicher war.
"Neville!", schrie Shacklebolt mit aller Kraft. "Wappne dich! Du musst dich sichern!"
Einen Moment lang glaubte er tatsächlich, den Jungen lachen zu hören. Was war denn bloß in den gefahren? Und wie konnte er so verflucht schnell sein?
Da wurden endlich auch die Auroren auf Neville aufmerksam. Sie waren hoch über dem kleinen Ort und der Bahnstation Hogwarts gekreuzt und stießen nun im Senkflug hinab. Aber es war zu spät.
Shacklebolt sah, wie der Vorderste der Dementoren Neville erreichte und ihn sozusagen im Flug fing. Er riss ihn hoch in die Luft und jagte mit ihm davon, hinauf in den Nachthimmel. Zwei Besen sausten mit einiger Verzögerung, die daher kam, dass ihre Besitzer sich zuerst wieder aus dem Senkflug abfangen mussten, hinterher und verschwanden in den Wolken.
Hinter sich hörte er Ron schreien und fühlte, wie die Kälte näher rückte.
"Zurück!", brüllte er Ron entgegen, der sich Ripley also doch noch entwunden hatte. "Zurück! Wir können jetzt nichts mehr für ihn tun! Wir müssen die anderen sofort zurückbringen!"
Und er packte Ron, der immer noch fassungslos und mit seltsam verzerrtem Gesicht hinauf in die dunklen Wolken starrte, wo sein Zimmergenosse eben verschwunden war.
"Los jetzt! Sie haben uns entdeckt!"
Sie versuchten zum Laden zu apparieren, aber da war die Kälte schon wie eine unsichtbare Mauer ringsum, es gelang nicht. So rannten sie einfach, rannten um ihr Leben. Sie erreichten den Laden, als eine verfaulende Hand eben nach Rons Haar greifen wollte.
Sie warfen die Tür ins Schloss und rissen Ripley mit sich die Treppe hinunter.
"Los, aufwachen! Alle zurück!", brüllte Ripley und zerrte den Deckel der Falltür zur Seite.
Sie stießen die meisten noch im Halbschlaf hindurch. Als Letzte schubste Ron ein weinendes Mädchen mit langem schwarzem Haar durch die Einstiegsluke und sah sich dann nach Kingsley um, der oben an der Treppe stand.
"Los, hau ab! Ich halte sie hier auf! Ich lass den Laden hier oben einstürzen und komm dann nach! Nun los!"
Ron schwang sich nach unten, zog den Deckel wieder über den Einstieg und stolperte die endlose Treppe hinunter. Er hörte die anderen keuchen, schluchzen und fluchen. Alles rannte in blinder Hast den dunklen Gang entlang. Nur die schwachen Lichter einiger Zauberstäbe zuckten über die nahen, lehmigen Wände der Röhre.
Ron dachte nichts, hörte nur den harten, lauten Schlag seines Herzens, der seinen Kopf erfüllte. Er erreichte wieder das Mädchen, das er eben durch die Einstiegsluke auf die Treppe gestoßen hatte, sie war immer noch die Letzte. Er nahm sie bei der Hand, sagte irgendwas Beruhigendes und zog sie mit sich, bis sie die anderen erreicht hatten. Zwischendurch warf er immer wieder panische Blicke zurück, ständig in der Erwartung, dass die Hand, die eben nach ihm gegriffen hatte, ihn nun doch noch packen würde.
Seine Kehle brannte vom Rennen, und er fühlte, wie er langsamer wurde. Er fragte sich, ob er hier drin apparieren konnte – er konnte das Mädchen ja mitnehmen –
Und dann geschah es. Er wurde zu Boden geschleudert und wie von einer gewaltigen Faust auf die nasse Erde gepresst.
Jetzt haben sie mich! dachte er verwirrt, während er wieder zu Atem zu kommen versuchte. Dann sah er, dass das Mädchen – Noelle hieß sie, fiel ihm ein – auch am Boden lag und kein Dementor zu sehen war. Er sprang auf die Füße, hörte Schreie und Rufe von vorne, sah viele, die sich wieder aufrappelten, und war einen Moment lang völlig desorientiert. Was war geschehen? Was hatte ihnen den Boden unter den Füßen weggezogen?
"Weiter! Kommt schnell!", schrie Ripley von weiter vorn.
Dann hörten sie es alle, ein dumpfes, anschwellendes Grummeln, das schnell lauter wurde und schließlich wie polternder Donner über sie hinwegraste. Im schwachen Licht von vorne konnte Ron eine schwarze Zickzacklinie in der gekrümmten Decke über sich erkennen. Dann begann es hinter ihnen zu krachen.
"Die Decke stürzt ein!", brüllte er. "Los, komm!"
Er riss Noelle mit sich und hörte, wie ihnen der Einsturz zu folgen schien.
Er rannte mit weit aufgerissenen Augen, von einem Entsetzen gepackt, wie er es nie zuvor gefühlt hatte, er konnte schon fühlen, wie die schweren Lehmmassen ihn unter sich begraben würden. Nahm dieser furchtbare Tunnel denn nie ein Ende? Und wie sollten sie bloß die Rutschbahn am Ende hinaufkommen?
Er rannte an Ripley vorbei, die stehen geblieben war, um sicher zu sein, dass alle nachkamen. Und dann rannte er irgendwann in den Pulk der anderen hinein, die sich am Fuß der geneigten Röhre drängten und diejenigen, die sich vor ihnen mühsam hinaufarbeiteten, flehend anfeuerten, doch schneller zu machen.
Hinter ihm kam Ripley zum Stehen.
"Es hat aufgehört", sagte sie bemerkenswert ruhig. "Die Decke hängt zwar durch, ein Stück hinter uns, aber sie ist nicht weiter runtergekommen. Guter Schutz gegen die Dementoren."
"Meinen Sie, das war Shacklebolt?", fragte Ron fassungslos.
"Unsinn. Das war 'ne Nummer größer. Ein Erdbeben vielleicht", antwortete sie, aber er konnte die Verwirrung auf ihrem Gesicht sehen. "Na ja, vor den Dementoren sind wir hier jedenfalls erst mal sicher."
Ron kicherte, er konnte nicht anders. Kichernd half er einigen noch aufgelösteren Schülern, den Weg die Rutsche hinauf zu bewältigen.
Er und Ripley waren die Letzten. Als sie ein gutes Stück hinaufgeklettert waren, hörte er von vorne einen lauten Ruf. Jemand rief seinen Namen. Harry.
Da setzte er sich kichernd hin und war drauf und dran, wieder hinunterzurutschen.
"Jetzt reißen Sie sich mal zusammen", sagte Ripley barsch und hielt ihn fest. "Wir haben's ja fast geschafft!"
"Ja, von der Pfanne ins Feuer!", sagte Ron und konnte nicht mehr aufhören zu lachen, während er unter zunehmenden Seitenstechen hinaufkletterte.
Und dann stand er auf einmal wieder blinzelnd im hell erleuchteten Gang des dritten Stocks, umgeben von den lehmverkrusteten, völlig aufgelösten übrigen Flüchtlingen.
Da waren Harry und Hermione, direkt vor dem Einstieg, und sahen ihm voller Angst entgegen. Harry hatte ein Buch in der Hand – was machte der um die Uhrzeit noch mit Büchern? Hermiones Gesicht, blass, mit weit aufgerissenen Augen – er sah sie nach Harrys Hand tasten und wandte den Blick ab. Kichernd lehnte er sich an die Wand.
Moody stakste durch den Gang auf die Gruppe zu, von Professor McGonagall in ihrem unvermeidlichen Morgenrock überholt, als er wegen eines heftigen Hustenanfalls stehen bleiben musste.
"Was ist passiert? Habt ihr das auch gemerkt? War das ein Erdbeben?", flogen die Fragen hin und her. Professor McGonagall wandte sich mit strengem Blick an Ripley.
"Was ist geschehen?", fragte sie knapp.
"Der Zug ist erst vor einer halben Stunde in Hogsmeade angekommen. Gleichzeitig gingen die Dementoren überall entlang des Wegs von diesem Laden bis zur Station in Stellung. Wir beschlossen, das Risiko nicht einzugehen und den Rückweg zur Schule anzutreten. Im Gang wurden wir von einer – Druckwelle erreicht, die die Decke des Gangs auf einer weiten Strecke zum Einsturz gebracht hat."
"Danke, Ms Ripley. Ich denke, Sie haben die richtige Entscheidung getroffen. Die Druckwelle haben wir hier auch gespürt – und man kann auch seltsame Verfärbungen am Himmel sehen – ich muss gestehen, dass ich nicht weiß, was da vorgefallen ist. Sind Sie vollzählig?"
Ripley senkte den Blick und antwortete dann leise, damit es möglichst wenige Schüler mitbekamen.
"Wir – wir haben Mr Longbottom verloren. Er rannte hinaus, es war, als wäre er irgendwie – nun ja, betrunken, denke ich. Ein Dementor hat ihn mitgenommen."
Atemlose Stille herrschte nach diesen Worten.
"Nein!", schrie Hermione. "Nicht Neville!"
"Doch Neville!", kam es von Ron, zu dem sich nun ein paar Leute umdrehten. "Er war komplett durchgeknallt! Bildete sich ein, er könnte diesen Dingern entwischen."
Hier wurde er wieder von einem Kicheranfall überwältigt. "Hahaha, und jetzt sind wir von der Pfanne ins Feuer gesprungen! Ist Voldemort erst umgebracht, kommt Harry Potter an die Macht!" Vor Lachen konnte er kaum weitersprechen. "Gut, was?"
Die anderen sahen ihn betreten an, bis Moody energisch auf ihn zuging.
"Komm schon, Junge – was du brauchst ist ein guter Schluck zu trinken. Kenn' das Gefühl! Komm mit uns runter."
McGonagall hatte den Ausbruch in stummer Fassungslosigkeit verfolgt. Jetzt wollte sie gerade zum Sprechen ansetzen, als Ron sich hinsetzte – und einzuschlafen schien. Das überraschte nun auch Moody.
"Warten Sie, Mr Moody!", sagte Hermione. "Das hat er manchmal, er hat dagegen Tropfen verschrieben bekommen. Ist so was wie 'ne magische Verletzung."
Sie beugte sich über Ron, der mit glasigen Augen ins Leere starrte.
"War wohl zu viel für ihn, armer Kerl", sagte Moody unbehaglich.
"Er wollte Neville zurückhalten. Hat's direkt mit angesehen", sagte Ripley.
"Ich weiß, wo er die Tropfen hat", murmelte Harry. "Ich geh in den Schlafsaal und hol sie!"
Da endlich kam wieder Leben in McGonagall.
"Gut, tun Sie das, Mr Potter. Und sagen Sie allen, die Sie unterwegs sehen, dass sie wieder runter in die Große Halle kommen sollen, bis wir geklärt haben, was da vorhin passiert ist", sagte sie mit gewohnter Energie. "Und das gilt auch für Sie alle hier. Es tut mir leid, dass Sie den Zug nicht nehmen konnten. Aber wer weiß, welchen Gefahren Sie damit entgangen sind. Und nun los, in die Halle."
"Ich trag ihn runter", sagte Moody zu Hermione, die immer noch unschlüssig vor dem erstarrten Ron stand.
"Das mach' ich!", sagte Hagrid, der hinzugekommen war. "Is' alles meine Schuld! Wär' ich nur mitgekommen!"
"Unsinn, Hagrid!", sagte Professor McGonagall barsch. "Und tragen Sie ihn hinüber in den Krankenflügel! Pomfrey soll ihn sich ansehen. Ich schicke Potter mit den Tropfen nach."
"Is' gut", sagte Hagrid, hob den schlafenden Ron auf und stapfte mit ihm auf den Armen die Treppen hinunter. Moody hustete wieder heftig.
"Und wenn du vernünftig bist, Alastor, gehst du auch zu Poppy und lässt dir was gegen diese Erkältung geben!", sagte McGonagall streng.
Moody knurrte irgendwas und blieb stehen. Um sie herum setzte sich nun alles in Bewegung und eilte hinunter zur Großen Halle. Hermione ging langsam hinterher.
Nur Ripley, Moody und die Direktorin blieben zurück.
"Und ich weiß auch nicht, was mit Kingsley Shacklebolt ist", sagte Ripley leise. "Er wollte sie aufhalten, uns den Weg für eine Weile freihalten. Da durch konnte er jedenfalls nicht mehr, nachdem die Decke eingestürzt ist."
Keiner sprach es aus, aber alle drei versuchten sie das Bild zu verdrängen, wie Shacklebolt von den Lehmmassen begraben tief unter Hogwarts lag. Oder wie er von einem Dementor geküsst wurde ...
"Sie sagten, der Dementor habe Neville Longbottom mitgenommen", sagte McGonagall. "Also hat er ihm nicht direkt etwas – angetan?"
"Nein. Er ist mit ihm davongeflogen, soweit ich das vom Laden aus beobachten konnte. Also, ich hab das alles nur von weitem gesehen. Auf jeden Fall haben sich zwei von uns – das waren wohl Savage und Proudfoot – direkt an die Verfolgung gemacht. Ich habe gesehen, wie sie dem Dementor nachflogen, gerade als Shacklebolt und Ron zurück in den Laden stürmten. Ein Dementor war ihnen so dicht auf den Fersen, dass ich nicht weiß, wie wir ihn doch noch abhängen konnten."
"Und Neville Longbottom war – betrunken? War das Ihr Ernst?", fragte sie scharf.
"Ich weiß es nicht. Irgendwas war jedenfalls mit ihm. War ganz aufgekratzt. Wirkte schon ein wenig – berauscht."
McGonagall schüttelte den Kopf.
"Ich kann das nicht glauben! Aber bitte, kommen Sie jetzt erst mal mit hinunter in die Halle. Ich werde die Dinge da noch organisieren, dann möchte ich mit Ihnen und Ihren Kollegen sowie mit allen Freiwilligen im Raum zwölf sprechen."
oooOOOooo
Harry war im Dauerlauf zum Gryffindor-Turm gerannt. Der Gemeinschaftsraum war voller Schüler, die sich hastig angezogen hatten. Alles redete durcheinander, anscheinend konnten sie sich nicht entscheiden, ob sie runter in die Halle gehen sollten oder nicht. Die Erschütterung hatte die meisten geweckt, der anschließende Lärm warf die übrigen aus den Betten.
"Wir sollen alle wieder in die Große Halle gehen!", rief ihnen Harry zu und wehrte alle Fragen ab, mit denen sie ihn bestürmten. "Geht einfach runter, McGonagall wird sicher gleich 'ne Erklärung abgeben. Ich hab keine Ahnung, was passiert ist."
Er stürmte weiter in den leeren Schlafsaal, sah Nevilles unberührtes Bett, auf dem Trevor in einem kleinen Terrarium saß, und sah ganz schnell wieder weg.
Mit fliegenden Fingern nahm er Rons Tropfen vom Regalbord über seinem Bett. Dann warf er das Buch des Prinzen auf sein eigenes Bett. Er hatte es die ganze Zeit über nicht aus der Hand gelegt. Das eine Blatt, auf dem sein schweißfeuchter Zeigefinger die ganze Zeit gelegen hatte, war ganz gewellt. Nach kurzem Zögern und einem weiteren Blick auf das überschriebene Rezept gegen Albträume riss er die Seite kurzerhand aus dem Buch. Er faltete sie klein zusammen und steckte sie in seine Hemdtasche. Dann holte er heraus, was er sonst noch in den Taschen hatte – das Kästchen mit dem Schnatz, zwei Medaillons, das hölzerne Amulett und zwei anonyme Briefchen.
Er steckte das echte Medaillon wieder ein und nach kurzem Nachdenken auch das Amulett. Die übrigen Sachen stopfte er samt dem Tränkebuch zurück in seinen Koffer, den er danach wieder mit dem Passwort verschloss.
Dann jagte er los, um Ron die Tropfen zu bringen, und wurde unten im Korridor von Dean abgefangen, der dort auf ihn gewartet hatte.
"Ich soll dir sagen, Ron ist im Krankenflügel. Du sollst die Tropfen dahin bringen. Und dann auch in die Große Halle kommen."
Harry nickte und rannte weiter.
oooOOOooo
In der Halle war es hell, und die Schüler trudelten in Grüppchen ein und setzten sich an ihren jeweiligen Tisch. Professor McGonagall stand vor dem Lehrertisch und beobachtete das Geschehen mit angespannter Miene. Sie winkte alle hereinkommenden Lehrer zu sich.
Als endlich die Halle ziemlich gefüllt war, rief sie laut:
"Entschuldigen Sie, dass wir Ihren Nachtschlaf ein weiteres Mal stören müssen. Sie haben vermutlich die Erschütterung gespürt, die die Schule getroffen hat. Im Moment wissen wir noch nicht, was das war. Wir sind nicht angegriffen worden, aber ich möchte, dass Sie alle zusammenbleiben und im Notfall sofort hinüber in die Schutzräume gehen können, ohne dass ich Sie alle einzeln aus den Schlafsälen holen muss. Vorerst muss ich Sie bitten, für den Rest der Nacht noch einmal hier Ihre Matratzenlager aufzuschlagen. Mr Filch wird Ihnen dabei helfen. Bitte überprüfen Sie alle, ob jeder da ist, den Sie kennen! Melden Sie fehlende Schüler bitte unverzüglich!
Und nun alle Lehrer, die Vertrauensschüler und Schulsprecher zu mir! Im Anschluss an diese kleine Besprechung möchte ich außerdem alle Freiwilligen im Klassenraum zwölf zu einer Beratung mit den Wachleuten sehen."
Während in der Halle dieselbe Geschäftigkeit ausbrach wie in der Nacht zuvor, kamen die Aufgerufenen zum Lehrertisch.
"Wo ist Professor Sprout?", fragte McGonagall, als sie mit scharfem Blick die Anwesenden überflog.
Keiner schien es zu wissen.
"Ich warte noch einen Moment, dann schicke ich jemanden nach ihr. So, und nun zur Sache. Ich möchte, dass die Hauslehrer und die Vertrauensschüler die Schüler ihres Hauses auf Vollzähligkeit überprüfen, für Disziplin und Ruhe sorgen und sich bereitmachen, im Notfall die Schutzräume aufzusuchen. Da ich selbst nicht dauernd hier in der Halle sein werde, übertrage ich die Aufsicht über Gryffindor so lange an Sie, Madam Hooch."
Die Angesprochene, in einem braunen Morgenmantel und Stiefeln, nickte.
"Sie, Horace, werden mit mir zusammen die Schildzauber überprüfen. In Ihrer Abwesenheit wird Sybill die Aufsicht über Slytherin übernehmen. Alles in Ordnung mit Ihnen, Sybill?"
Professor Trelawney zuckte zusammen. Sie stand da mit verkrampften Händen und unruhigem Blick.
"Wie? Ja – ja, alles in Ordnung. Ich bin nur ein bisschen – derangiert, fürchte ich – wissen Sie – dieses Gedränge – diese Atmosphäre –"
"Gut dann", schnitt ihr McGonagall das Wort ab. "Filius, bei Ihnen ist alles klar, hoffe ich. Und jetzt muss nur noch Pomona erscheinen! Was die Krankenstation angeht, so bleiben die Leute erst mal da – im Moment haben wir nur drei Patienten, keiner davon ernsthaft krank. Aber lassen wir sie solange wie möglich die Ruhe dort genießen. Sie sollen aber zur Umquartierung im Ernstfall bereit sein. Es handelt sich um Luna Lovegood, Ron Weasley und Miriam McMillan, nur damit Sie Bescheid wissen.
Die Schüler, die die Schule verlassen wollten, sind übrigens zurückgekehrt, da ihnen die Dementoren den Weg versperrten. Neville Longbottom ist – ist verschwunden", fügte sie mit sichtlicher Anstrengung hinzu und schnitt alle Fragen und Ausrufe ab. "Das muss auf jeden Fall unter uns bleiben, wenn wir eine Panik vermeiden wollen. Also kein Wort darüber. Wenn jemand fragt, ist Neville hier in Hogwarts mit den Wächtern unterwegs."
"Aber werden nicht die Schüler, die von Hogsmeade zurückgekommen sind, ohnehin darüber reden?", fragte Professor Slughorn, der ganz blass geworden war.
"Niemand von ihnen hat mitbekommen, was wirklich passiert ist, denke ich. Und Gerüchte werden sich ohnehin nicht unterbinden lassen."
"Da kommt Professor Sprout!", sagte Hermione und zeigte zur Tür.
"Das wurde aber auch Zeit!", schnaubte Professor McGonagall.
Überrascht sahen sie alle der Kräuterkunde-Professorin entgegen, die keineswegs in Morgenrock und Pantoffeln aus dem Bett gestolpert kam, sondern vollständig angezogen und in Wetterumhang und schmutzverkrusteten Stiefeln durch die Halle stapfte. Mit grimmiger Miene hielt sie etwas mit beiden Armen fest – etwas, das sich heftig gegen ihren Griff wehrte.
"Hier bin ich, Minerva, alles in Ordnung", sagte sie. "Entschuldigen Sie die Verspätung. Hatte noch was zu erledigen! Gehört der jemandem von Ihnen?", fragte sie dann, auch an die Schüler gewandt, und hielt den schwarzen Kater, der bis dahin in ihrer Umklammerung gezappelt hatte, am Nacken gepackt vor sie hin.
Alle schüttelten die Köpfe.
"Aber ich glaub – wir haben ihn schon mal gesehen", rief Dean, der nicht allzu weit entfernt stand.
"Klar", sagte nun Hermione. "Ein Streuner, Hagrid kannte ihn. Und Krummbein war mit ihm unterwegs. Falls es derselbe ist." Und sie musste wieder an Lupins Tod denken.
"Ja, wie ein Streuner hat er sich auch aufgeführt! Ich wollte eben noch mal in den Gewächshäusern nach dem Rechten sehen – nachdem doch gerade die Beerenbüschel von dort gestohlen worden sind! Ich hab da ein paar sehr seltene und wertvolle Pflanzen. Na ja, und da hör' ich schon von draußen ein wildes Gekreische. Das war er hier. Hat die Schluffer gejagt! Zwei von ihnen erledigt. So ein Mistvieh."
"Also, das führt uns jetzt nicht weiter, denke ich", entschied McGonagall mit einem strafenden Blick zu Professor Sprout. "Ich habe Sie eben zur Aufsicht über Ihr Haus eingeteilt. Prüfen Sie, ob die Schüler vollzählig sind. Und sorgen Sie bitte mit den anderen Hauslehrern für Ordnung hier in der Halle, während ich mich mit den Wachen und den Freiwilligen über die weiteren Maßnahmen berate. Ich möchte hier drin keinen Unsinn haben!", sagte sie und warf einen vielsagenden Blick auf ein eng umschlungenes Pärchen in einer dunkleren Ecke der Halle. "Sie verstehen, was ich meine, Pomona?"
Sprout, sichtlich noch immer in Rage, nickte knapp.
"Und lassen Sie doch endlich das Tier runter. Wir können ihn kaum vor Gericht bringen, oder? Wie konnte er überhaupt in die Gewächshäuser kommen?"
"Ich denke, jede Katze schafft das schon über die Belüftungsklappen, nicht wahr. Und die stehen nachts meist auf", antwortete Sprout mit einem hörbaren Schnauben. "Aber als er eben abzuhauen versuchte, habe ich gesehen, dass hinten im Gewächshaus eins – hinter einer Gruppe von wirklich seltenen chinesischen Drachenschlingen – ein Einschlupf gegraben worden ist. Nicht groß, aber sicher groß genug, dass eine Katze hindurch kann."
"Nun, dann wäre das ja geklärt", sagte McGonagall säuerlich. "Und vielleicht ist da auch Ihr Nistlingsbeerendieb eingestiegen."
"Sie meinen –", begann Sprout und brach ab. "Ich hatte mich ja gleich über diese Schleifspuren gewundert", murmelte sie dann. "Aber ich hab noch nie gehört, dass Katzen an dieses Zeug gehen!"
"Nein, ich meinte gar nichts, Pomona – und ich denke, wir haben jetzt genug Zeit mit dieser Angelegenheit vertan. Es gibt Dringenderes als ein paar verschwundene Beeren. Halten Sie die Schüler hier in Zaum! Die Situation entgleitet uns sonst noch. Ich verlasse mich auf Sie!"
Und damit wandte sie sich schwungvoll um und marschierte zur Tür hinaus.
oooOOOooo
Im Flur kam ihnen Harry atemlos entgegen.
"Schön, Mr Potter! Sie können uns gleich in Raum zwölf begleiten", sagte Professor McGonagall knapp und ging voran. "Ist mit Mr Weasley alles in Ordnung?"
"Er schläft. Madam Pomfrey hat ihm die Tropfen gegeben", keuchte Harry und folgte den anderen zu dem selten benutzten Klassenraum direkt vorne bei der Eingangshalle. Er lag gegenüber von dem Raum, in dem Firenze seinen Unterricht in Astrologie abhielt.
Ein ganzer Trupp Siebtklässler und ein paar Sechstklässler drängten sich in den Raum, der übrigens hell erleuchtet war und in dem es intensiv nach Kaffee roch. Einige Tische waren zusammengeschoben worden, da saß jetzt Alastor Moody und blickte trübsinnig in einen Becher.
"Die anderen kommen gleich", sagte er heiser.
Und da kamen sie auch schon, Bill, Tonks, George, Ripley und vier junge Männer, die Harry noch nie gesehen hatte, von denen er aber auf den ersten Blick hin annahm, dass sie Auroren waren.
Dann war der Raum voll.
"Was können Sie uns sagen?", wandte sich McGonagall an die Phönixleute und die Auroren.
"Draußen ist alles ruhig. Auf den ersten Blick keine Schäden an den Gebäuden. Nach wie vor keine Dementoren zu sehen. Das einzig Auffällige sind die grünen Lichter und Streifen am Himmel, die Sie sicher schon gesehen haben", antwortete einer der Auroren knapp.
"Vielen Dank, Mr Mainwaring. Ich werde mich auch kurz fassen", begann McGonagall, die offenbar keine Lust mehr auf weitere Ansprachen hatte. "Mr Moody wird Sie alle in Gruppen von mindestens zwei Leuten einteilen, die jeweils ein bestimmtes Stück der Schule abgehen und auf eventuelle Schäden, schlafende Schüler sowie Auffälliges aller Art untersuchen werden.
Professor Sinistra wird so freundlich sein, das seltsame Phänomen vom Astronomie-Turm aus zu beobachten und dann Bericht zu erstatten.
Professor Slughorn und ich überprüfen jetzt die Schildzauber, das wird ein Weilchen dauern. Hagrid wird uns begleiten.
Miss Granger, wenn ich Sie bitten dürfte, wieder in die Große Halle zu gehen und dort bei der Aufsicht über die Schüler zu helfen! Sie haben das in den letzten Tagen sehr gut gemacht, und die Jüngeren haben Vertrauen zu Ihnen.
Und Sie, Mr Potter, werden Mr Weasley und Nymphadora begleiten und mit ihnen die Einstiege zu allen Geheimgängen kontrollieren und dann verschließen. Sie sind ja im Besitz dieser besonderen Karte, die Ihnen dabei helfen wird. Und bitte beachten Sie: Ich möchte nicht, dass Sie in die Gänge hineingehen und nachsehen, ob sie begehbar sind. Die Einsturzgefahr erscheint mir zu groß. Verschließen Sie sie einfach.
Wenn Sie Ihre Aufgaben erfüllt haben, kommen Sie alle hierher zurück und geben einen Bericht ab. Mr Moody wird hier sein. Und nun viel Erfolg!"
Die Schüler scharten sich um Moody, der sie in Gruppen einteilte.
Pansy Parkinson sah Hermione gehen und rief ihr gehässig nach: "Viel Spaß beim Babysitten, Granger!"
Einige Slytherins kicherten. Harry wunderte sich, dass sie sich überhaupt freiwillig gemeldet hatten. Dann wurde ihm klar, dass Hogwarts auch ihre Schule war – und Slytherin zu sein nicht bedeutete, dass man ein Todesser sein musste oder auch nur mit ihnen sympathisierte.
Schließlich war er selbst –
"Kommst du, Harry?", sagte George und ging beschwingt voran. Tonks schloss sich ihnen mit verbissenem Gesichtsausdruck an.
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"Richtig gut, mal wieder in Hogwarts zu sein", sagte George vergnügt, als sie durch das Treppenhaus gingen, und grüßte hier und da Leute in den Porträts, die ihnen hinterher sahen.
"Was macht eigentlich Fred?"
"Na, den Laden führen natürlich! Einer muss sich ja ums Geschäft kümmern – und das läuft immer noch bestens. Ach, übrigens, hat Ginny dir auch die letzten Neuigkeiten von Percy geschrieben?"
"Äh – nein. Bei uns lief's mit der Post in letzter Zeit nicht so gut", murmelte Harry.
George musterte ihn mit wachen Augen.
"Also, Percy hat ihr wohl einen seiner peinlichen onkelhaften Briefe geschrieben, gratulierte ihr zu der vernünftigen Entscheidung, nach Beauxbatons zu gehen und ein bisschen Abstand zwischen ihr und dem ‚bedauerlich notorischen Potter' zu schaffen." Er kicherte. "Genau das waren das seine Worte: bedauerlich notorisch, wie gefällt dir das? Der Gute sollte mal wieder an seinem Stil feilen! Und dann hat er sie gebeten, sich um seine Penelope zu kümmern. Denn die – und jetzt kommt es – schickt er jetzt auch nach Frankreich, zu den Delacours. Sie erwartet ja ein Baby, und offenbar hat Percy Angst, egal, was sein Chef so an Beschwichtigungsversuchen loslässt."
"Und Percy selbst? Was macht der jetzt?"
"Also wenn du mich fragst, der plant da seinen eigenen Abgang! Ich meine, es ist doch immer eine gute Entschuldigung, wenn man sagt, dass die schwangere Ehefrau Probleme hat und ihren Mann unbedingt in der Nähe haben will –! Im Moment scheint er aber noch ermutigende Reden im Auftrag seines Chefs zu schwingen."
Sie waren im zweiten Stock angekommen, wo laut Karte der Einstieg in den ersten Geheimgang war.
"Hier ist es", sagte George zufrieden, als sie vor einem großen steinernen Kessel stehen blieben. "Der Kessel von Alan Haystack. Besser bekannt als der Anbetungswürdige Alan oder –"
"– Alan Amortentia!", fiel Tonks mit einem blassen Grinsen ein. "Ja, von dem hab ich auch gehört!"
"War vor hundert Jahren Tränkelehrer hier", fuhr George mit dumpfer Stimme aus dem Innern des Kessels fort, wo er auf dem Boden nach dem Stein suchte, den man zur Öffnung der Tür mit dem Zauberstab berühren musste. "Ah, hier ist es ja! Übrigens, Alan der Anbetungswürdige hat angeblich jede Menge Herzen gebrochen und ist am Ende mit einer Schülerin durchgebrannt. Dissendium!"
Es gab ein Krachen und einen dumpfen Aufprall.
Harry sah in den Kessel hinein, dessen Rand ihm bis zu den Schultern reichte. Statt auf den Kesselboden blickte er in einen dunklen Schacht, an dessen Grund er George eben noch erkennen konnte. Er rieb sich die Knie.
"Hatte vergessen, dass man sich festhalten sollte", rief er hinauf.
Dann kletterte er an den eisernen Sprossen hinauf, die in die Wand des Schachtes getrieben waren. Als er wieder aus dem Kessel herausgeklettert war, verschlossen sie den Eingang mit einem dreifachen Colloportus-Zauber.
"Dann mal weiter!", sagte er munter, ohne sich an seinen schlammbeschmierten Hosenbeinen zu stören.
"Die Geschichte von Alan kenn ich aber anders", sagte Tonks, als sie zum dritten Stock hinaufgingen. "Ich hab das so in Erinnerung, dass sogar die damalige Direktorin scharf auf ihn war und ihn dann gefeuert hat, als er auf ihre Avancen nicht einging. Sie soll gesehen worden sein, wie sie mitten in der Nacht –"
"He, Tonks, das ist die Version für Erwachsene", sagte George. "Harry, mein Junge, warum so verbissen?"
"Tschuldige", murmelte Harry.
Er war froh, das Gefrotzel von George wieder mal um sich zu haben, aber auch unfähig, auf diesen Ton einzugehen. Er konnte seine Gedanken nur mit Mühe vom Grübeln über Neville abhalten. Und dann war da dieses fest zusammengefaltete Blatt in seiner Brusttasche. Er glaubte, sein Gewicht tatsächlich spüren zu können.
"Woher habt ihr nur so 'nen Kram?", fragte er lahm.
"Aus Inside Hogwarts", sagten Tonks und George wie aus einem Mund.
"Ein fesselndes kleines Buch, das sich ausschließlich der weniger rühmlichen Seiten von Hogwarts' Historie annimmt", erklärte George. "Und du rätst nie, wer das geschrieben hat!"
"Dolores Umbridge?"
"Quatsch. Rita Kimmkorn! Das war ihr Erstling!"
Im dritten Stock verschlossen sie den Eingang, durch den vor wenig mehr als einer Stunde die Schüler zurückgekommen waren – alle, außer Neville.
"Tut mir richtig leid, dass gerade dieser Gang zerstört ist", sagte George. "Wir haben ihn so oft benutzt."
Danach verschlossen sie noch einen Einstieg im vierten, zwei im fünften, einen im sechsten und sogar einen im siebten Stock. Aus dem Letzteren flog ihnen ein Schwarm Fledermäuse ins Gesicht, und Harry ließ beinahe die Einstiegsluke fallen, einen schweren Balken aus altersgeschwärztem Holz, der wie ein Bord an der Wand befestigt war und auf dem eine Reihe obskurer Bilder standen.
"Fertig!", sagte George nach dem letzten Colloportus. "Ihr wart zwar keine besonders unterhaltsame, aber doch wenigstens hilfreiche Gesellschaft. Gehen wir runter in Moodys ‚Zentrale'. Da kriegen wir sicher einen Kaffee – oder was Stärkeres."
Er hängte sich bei Harry und Tonks ein, und so stiegen sie die stillen Treppen wieder hinunter.
Das ist mein Abschied von Hogwarts, ging es Harry plötzlich durch den Kopf, und die Kehle wurde ihm eng.
In der ‚Zentrale' – wie Moody Raum zwölf nannte – saßen er selbst und Professor McGonagall und unterhielten sich leise.
"Alle verschlossen", sagte George und nahm sich einen Becher mit Kaffee.
Tonks blieb mit verkniffenem Gesicht an die Wand gelehnt stehen.
"Mr Potter, gehen Sie ein bisschen schlafen", sagte Professor McGonagall.
Aber in diesem Augenblick kam Professor Sinistra hereingefegt.
"Faszinierend!", rief sie mit leuchtenden Augen. "So etwas habe ich noch nie gesehen! Wie Meteoritenschauer, und es dauert immer noch an! Grünliche Lichter wie Funken, hoch über den Wolken! Sie ziehen eine schimmernde Bahn über den Himmel, ohne zu verlöschen, stattdessen scheinen sie sich auszubreiten. Wie die Fäden eines gigantischen Netzes, die ganz langsam miteinander verschmelzen!"
Die anderen sahen sie ein wenig zweifelnd an und konnten ihre Begeisterung offensichtlich nicht ganz teilen.
"Aber Sie haben keine Ahnung, was dahinter stecken könnte?"
"Nein. Nur, dass es keineswegs nach einem Naturphänomen aussieht. Anfangs dachte ich ja, wir hätten da eine ganz ungewöhnliche Form der Aurora Borealis, aber jetzt – nein, nein, das ist magischen Ursprungs. Auch zum Zweck kann ich Ihnen nichts sagen. Übrigens ist das Wetter umgeschlagen. Die Temperatur fällt stark, und Wolken ziehen auf."
McGonagall zuckte zusammen.
"Natürlich!", sagte sie, ohne weitere Erklärungen abzugeben.
"Ja, das ist interessant", murmelte Moody und putzte sich schnaubend die Nase. "Ihr habt es ja vorausgesagt, du und Dumbledore."
Und Harry erinnerte sich schlagartig an das Gespräch, das Hermione und er – vor vielen Wochen, wie es ihm vorkam – im Hauptquartier des Phönixordens belauscht hatten.
Wetterzauber, dachte er. Er werde sich an Wetterzaubern versuchen, hatten sie damals eine Vermutung Dumbledores zitiert. Und was hatte Hermione später darüber gesagt? Wetterzauber könnten nur gelingen, wenn man zuvor –
"Potter – ins Bett!", sagte McGonagall harsch. "Wenn Sie vor Müdigkeit aus den Schuhen kippen, nützen Sie niemandem. Es ist ohnehin bald wieder hell!"
"Können Sie mir erklären, worauf Sie da anspielen?", hörte Harry Professor Sinistra noch fragen, bevor er die Zentrale verließ.
In der dunklen Eingangshalle stehend, warf er einen neugierigen Blick aus dem Fenster. Richtig, da waren riesige Wolkenbänke aufgezogen und bedeckten fast den ganzen Himmel. Aber an ihren Rändern konnte er grünliches Licht schimmern sehen. Und immer wieder zuckten Blitze darüber hin und ließen das Grau der Wolkenberge fahl aufleuchten.
Ein Schirm. Eine gigantische Käseglocke, dachte Harry. Er hat angefangen! Irgendwas ist passiert. Und jetzt legt er los. Es ist höchste Zeit für mich!
Und wieder berührte er mit der Hand den gefalteten Zettel in seiner Hemdtasche. Das war nun sein wichtigster Besitz, wie ihm nur zu deutlich bewusst war. Ausgerechnet Snapes Gekritzel!
Dann fiel ihm etwas ein, und er ging noch einmal zurück.
Drinnen hatte sich Tonks inzwischen zu den anderen gesetzt, und Harry wurde das Gefühl nicht los, dass sie das nicht getan hätte, solange er noch im Raum geblieben wäre.
"Was gibt's noch?", fragte McGonagall, und Harry kam sich vor wie ein kleiner Junge, der noch einmal aufgestanden und zu den Erwachsenen gegangen ist, nachdem man ihn zu Bett geschickt hatte.
Er zog die Karte des Rumtreibers aus seiner Tasche und hielt sie ihnen hin.
"Ich dachte, ich sollte sie Ihnen vielleicht zur Verfügung stellen, solange – na ja, bis das hier alles vorbei ist. George kann damit umgehen", fügte er hinzu.
Professor McGonagall sah ihn überrascht an.
"Das ist sehr – uneigennützig von Ihnen, Harry", sagte sie warm. "Vielen Dank. Sie werden sie zurückbekommen."
Aber als Harry dann durch den dunklen Flur weiter zur Großen Halle ging, hatte er das seltsame Gefühl, eben ein Stück Kindheit unwiederbringlich aus der Hand gegeben zu haben.
Wenn man anfängt, mit Lehrern zusammenzuarbeiten, dachte er mit einem säuerlichen Lächeln, dann ist's wirklich vorbei mit dem Spaß.
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Er öffnete leise die Tür zur Großen Halle. Direkt bei der Tür stand ein kleiner Tisch mit einer Lampe und ein paar Gläsern darauf, an dem Madam Hooch, Professor Sprout und Professor Flitwick saßen.
"Ah, Sie sind's, Potter", sagte Madam Hooch leise. "Kommen Sie rein, aber machen Sie keinen Krach."
In der Halle herrschte vorbildliche Ruhe. Anscheinend waren die meisten tatsächlich wieder eingeschlafen und ließen sich auch von dem flackernden Wetterleuchten nicht stören, das durch die Decke zu sehen war – also hat man doch den direkten Durchblick auf den Himmel draußen, dachte Harry flüchtig.
Gelegentlich war Donnergrollen zu hören, aber das kam noch aus weiter Entfernung.
Er ging an den Reihen schlafender Hufflepuffs vorbei und wollte eben zur Gryffindorseite gehen, als er Hermione genau auf sich zukommen sah. Sie wollte offenbar zur Tür. Gerade als sie zusammentrafen, berührte ihn auf einmal jemand am Arm, und er schrak zusammen. Eine kleine Erstklässlerin stand hinter ihnen und sah sie mit verschreckten Augen an.
"Hallo – könnt ihr mir sagen, wo Professor McGonagall ist? Oder könntet ihr mal mit mir zu Professor Trelawney kommen?", fragte sie. "Sie ist so komisch! Sie redet die ganze Zeit vor sich hin! Die anderen sagen, die ist immer so und machen sich drüber lustig. Aber – ich find es irgendwie unheimlich!"
Harry erkannte den Winzling, der ihn neulich nach der "kurzen Grundausbildung" zu Professor McGonagall geholt hatte. Jetzt trug sie ein übergroßes T-Shirt mit der Aufschrift Rettet die Drachen unter einem prachtvollen Exemplar des Chinesischen Feuerballs, aus dessen Maul in regelmäßigen Abständen aufleuchtende Funken stoben.
Kein Wunder, dass die nicht schlafen kann, dachte Harry.
"Was ist denn mit Professor Slughorn?", fragte Hermione.
"Äh – der schläft. Ich wollte ihn nicht wecken."
"Also gut, wir kommen mit", sagte Hermione beruhigend.
Sie gingen leise zwischen den Reihen schlafender Schüler hindurch zu der Seite der Halle, wo sonst der Slytherin-Tisch stand. Die meisten Slytherins schienen zu schlafen. Aber Pansy Parkinson sah auf, als sie an ihrer Matratze vorbeikamen.
"Was ist denn los? Oh – hat sich die kleine Loons ein paar Beschützer gegen die unheimliche Trelawney geholt? Mann, Loons, die ist immer so, das hab ich dir doch gesagt! Die hat einfach ein paar Schrauben locker!"
"Pst!", sagte Hermione. "Wo ist sie denn nun?"
"Da drüben – sitzt an der Wand. Direkt hinter meiner Matratze", sagte das Mädchen, das Pansy mit Loons angesprochen hatte, ein wenig beschämt.
Und richtig, auf einem Stuhl an der Wand saß Sibyll Trelawney und bewegte sich unaufhörlich: Ihre Hände wanden sich umeinander, ihre Füße zuckten, sie war anscheinend kurz davor, aufzuspringen. Es schien, als schliefe sie und könne sich nicht aus dem Schlaf befreien. Als sie herankamen, hörten sie sie murmeln, ohne dass sie Worte ausmachen konnten.
"Sie redet im Schlaf!", sagte Hermione grinsend. "Das kenn ich von meiner Kusine. Die macht das auch stundenlang, und man kann nie ein Wort verstehen!"
Loons sah noch beschämter aus.
"Vielleicht sollten wir sie aber wecken", sagte Hermione. "Sie kann sich ja jetzt woanders hinsetzen, wo Slug doch wieder hier ist."
Sie grinste zu Harry hin, und nickte in Richtung eines anderen Stuhls am Ende der Matratzenreihe, wo Professor Slughorn mit auf die Brust gesunkenem Kopf saß und selig schlummerte. Sein gelegentliches Schnarchen klang bis hier herüber und wirkte seltsam beruhigend.
Hermione ging zu Professor Trelawney und fasste sie am Arm.
"Professor Trelawney! Bitte wachen Sie auf! Können Sie –"
Weiter kam sie nicht. Sybill Trelawney sprang so plötzlich auf, dass Hermione vor Schreck zurückwich. Die ohnehin großen Augen der Lehrerin – jetzt ohne Brille wie blind – waren weit aufgerissen. Sie blickte gehetzt um sich, bis ihr Blick an Harry hängen blieb. Und dann stieß sie einen gellenden Schrei aus, bei dem ihnen allen eine Gänsehaut ausbrach. Überall fuhren Leute von ihren Matratzen auf. Hermione fasste sich als Erste.
"Bitte, beruhigen Sie sich doch, Professor Trelawney! Es ist alles in Ordnung! Sie haben geschlafen."
Professor Trelawney keuchte, als wäre sie lange gerannt. Ihre Augen flogen zwischen Harry und Hermione hin und her, während sie wieder unzusammenhängende Wortfetzen hervorstieß. Aber dann wurde ihr Gesicht auf einmal ganz starr, beinahe wie eingefroren, und sie begann mit einer rauhen, lauten Stimme zu sprechen, die so gar nicht ihre eigene war und bei deren Klang Harry am liebsten die Flucht ergriffen hätte.
"Die Zeit ist nahe! Der Dunkle Lord sucht seinen Auserwählten, um ihn zu krönen! Die Zeit ist nahe!"
Nein, dachte Harry entsetzt. Oh nein, nicht so was! Und den Spruch kenn ich schon!
Er wich Hermiones erschrecktem Blick aus.
Um sie herum wurden Stimmen und Gekicher laut. Sogar Professor Slughorn war erwacht und kam mit unsicheren Schrittchen näher, wobei er sich über Haar und Kleidung strich.
Trelawney bekam von all dem nichts mit, sie war übergangslos wieder ins Stammeln mit ihrer üblichen Stimme verfallen. Professor Slughorn trat zu ihr und fasste sie an den Schultern.
"Sybill, meine Liebe! Nun beruhigen Sie sich! Sie verschrecken ja all die Kinder hier", sagte er jovial, aber Harry sah, dass ihm selbst der Schrecken im Gesicht stand. Trelawney sah Slughorn an und krallte ihre Hände um seine Arme wie eine Ertrinkende.
"Wie in einem – dunklen – Spiegel!", stieß sie kehlig hervor. "Wie in – einem – dann – von – Angesicht – von Angesicht –"
Es klang irgendwie flehend, so als hoffe sie, er könne sie verstehen.
"Schon gut, Sybill, Sie hatten einen Albtraum! Jetzt kommen Sie und trinken ein Gläschen Wein mit mir! Das wird Ihnen helfen."
Ohne Widerstand ließ sie sich von ihm wegführen. Sie steuerten den Tisch bei der Tür an, wo Hooch, Flitwick und Sprout eben aufgestanden waren, um nach der Ursache des Aufruhrs in der Slytherin-Ecke zu sehen.
Harry fragte sich verwirrt, ob Slughorn wirklich eine seiner Weinflaschen mit in die Halle genommen hatte. Trelawneys Worte hallten durch seinen Kopf. Nicht die, die er schon teilweise von den anonymen Briefen gekannt hatte. Nein, die Sache mit dem Spiegel. Ein dunkler Spiegel –
"Gute Arbeit, Loons!", fauchte Pansy. "Jetzt sind wir alle wieder wach. Verdammt!"
Loons kümmerte sich nicht darum. Sie hatte den Ausbruch nach anfänglichem Schrecken fasziniert verfolgt.
"Ist sie verrückt?", fragte sie jetzt geradezu ehrfürchtig an Hermione gewandt.
"Nein. Sie hat wohl wirklich schlecht geträumt", antwortete Hermione tonlos. "Und du solltest jetzt wieder schlafen gehen!"
"Träum schön von deiner Krone, Potter!", rief Pansy ihnen giftig hinterher, als sie zurück zu den Gryffindors gingen.
Von allen Seiten kamen Fragen und Getuschel.
"Kanntest du das, was sie gesagt hatte?", fragte Hermione leise, während sie sich wieder an ihre Plätze setzten.
"Na ja, – also –", Harry zögerte. "Ich hab da ein paar – äh – Zettelchen gefunden – mit so Sprüchen –"
Hermione sah ihn fragend an.
"Was meinst du? Zettel? Von Trelawney!"
"Äh – sieht ganz so aus. Und anscheinend hat sie die gleiche Show schon mal vor Parvati und Lavender abgezogen", sagte er und erzählte ihr nun doch die ganze Geschichte.
Hermione hörte schweigend zu. Schließlich sagte sie: "Wie 'ne Show kam mir das aber nicht vor. Ich hab immer noch 'ne Gänsehaut! Und an irgendwas hat mich das erinnert. Das mit dem Spiegel, meine ich. Irgendwie kam mir das bekannt vor."
"Harpers Spiegel!", sagte Harry lakonisch.
"Nein! Daran hab ich gar nicht gedacht! Aber – ja – vielleicht –"
"Hör mal, ich muss einfach kurz hier raus", sagte Harry und stand auf.
"Aber du gehst nicht nach draußen, oder?"
"Nein. Nur in den Flur oder mal in der ‚Zentrale' vorbeisehen."
"Komm bald zurück!", sagte sie leise.
Er beugte sich über sie und küsste sie.
Dann ging er zur Tür. Madam Hooch ließ ihn hinausgehen, als er sagte, er müsse noch einmal mit Mr Moody sprechen.
oooOOOooo
Im Flur war es düster, bis auf das schwache Licht, das durch die Fenster fiel. Diese chaotische Nacht ging anscheinend doch einmal zu Ende. Der Donner rumpelte nun lauter.
Er blieb kurz am Fenster stehen und sah in das finstere Grau der Wolkenbänke hinauf. Neville fiel ihm dabei ein, und sein Herz krampfte sich zusammen. Nein, er konnte jetzt unmöglich an ihn denken.
Trelawneys Worte waren jedenfalls keine Show gewesen waren. Er war sicher, dass er sie heute zum dritten Mal eine Prophezeiung hatte aussprechen hören. Was konnte sie nur damit gemeint haben, der Dunkle Lord wolle ihn krönen?
Er seufzte. Beim Frühstück würde die ganze Schule darüber reden, das war klar. Und konnte es wirklich sein, dass Professor Trelawney – eine Lehrkraft immerhin – ihm anonyme Briefe zugesteckt hatte? Vielleicht war sie wirklich verrückt geworden?
Er dachte wieder an die Worte über den dunklen Spiegel, die sie mit ihrer – mehr oder weniger – normalen Stimme gesagt hatte. Eine verschwommene Idee begann sich in ihm zu formen.
Schließlich machte er sich auf und ging tatsächlich noch einmal zum Klassenraum zwölf hinüber.
Das Bedürfnis nach Schlaf schien ihn verlassen zu haben. Seine Augen brannten, aber sein Kopf fühlte sich ganz leicht und klar an, ein bisschen so, als habe er keine Verbindung mehr mit dem Rest seines Körpers.
In Nummer zwölf war es auch ruhig. Bill und Moody saßen mit Professor McGonagall zusammen und sahen auf, als Harry eintrat.
"Was gibt's, Harry?", fragte McGonagall alarmiert.
"Nichts, alles in Ordnung. Na ja, Professor Trelawney hatte gerade so 'ne Art Albtraum – Professor Slughorn kümmert sich um sie."
"Füllt sie garantiert mit einem Glas Wein ab", sagte Bill grinsend.
"Woher weißt du das denn?", fragte Harry ehrlich überrascht.
"Hab ihn vorhin mit zwei Flaschen runtergehen sehen", antwortete Bill. "Hielt sie im Arm wie zwei Babys."
"Wie geht es Ron?", fragte Harry dann.
"Ich habe vorhin kurz mit Poppy gesprochen. Er schläft ganz ruhig. Sie sagte, die Tropfen seien ganz hervorragend. Sie will sich deshalb an die Heilerin wenden, die sie verschrieben hat. Und sie war in Sorge wegen Neville – meinte, sie hätte ihm klargemacht, dass sie diese – diese Furunkel-Behandlung unbedingt wiederholen müsse", sagte McGonagall mit einem tiefen Seufzen. "Ich habe ihr nichts gesagt."
"Gibt's denn da irgendwas Neues?", fragte Harry ohne große Hoffnung. "Haben Sie was von den Auroren gehört?"
"Kingsley ist vorhin vorbeigekommen, um zu sagen, dass er es geschafft hat. Anscheinend hat ihn keiner der Dementoren beachtet. Er sagte, die beiden Auroren, die die Verfolgung des Dementors aufgenommen hatten, seien noch nicht wieder zurück."
"Möchte noch jemand einen Kaffee?", fragte Bill vom Fenster her, wo auf einem Tisch ein Kessel über einer Flamme hing. Erst jetzt kam der Kaffeeduft bei Harry an.
"Ja, ich!", sagte Moody.
"Du gehörst eigentlich auch in den Krankenflügel, Alastor", sagte McGonagall mit einem Blick auf sein blasses, schweißfeuchtes Gesicht. "Du hast Fieber, eine Grippe, da muss ich nicht mal Poppy fragen."
"Quatsch", knurrte Moody. "Nichts, was ein Kaffee mit einem ordentlichen Schuss nicht heilen würde."
Durch die offen stehende Tür wurden auf dem Flur Schritte und lautes Schluchzen hörbar.
"Was –", begann McGonagall, aber da kam auch schon der Bauch von Professor Slughorn in seinem prächtigen Hausmantel durch die Tür, gefolgt vom Professor selbst und von Professor Trelawney, die er am Arm führte.
"Guten Abend", grüßte er. "Darf ich Sybill Trelawney zu Ihnen bringen? Ihr geht es gar nicht gut, aber ich denke, Sie sollten hören, was sie zu sagen hat, bevor man sie vielleicht in die Ruhe des Krankenflügels hinüberbringt."
"Was ist denn los, Sybill?", fragte McGonagall mit einem Anflug von Ungeduld in der Stimme. "Potter sagte etwas von einem Albtraum."
Trelawney sackte weinend auf dem Stuhl zusammen, zu dem Slughorn sie geleitet hatte.
"Ich hatte – in letzter Zeit – dauernd – Visionen!", weinte sie und suchte verzweifelt ein Taschentuch.
"Das hoffe ich. Sie sind schließlich eine angestellte Seherin", sagte McGonagall trocken und fing sich einen tadelnden Blick von Slughorn ein.
"Hier, nehmen Sie das, meine Liebe", sagte er und hielt Trelawney ein mit Lochstickerei gesäumtes, fliederfarbenes Taschentuch hin, das er aus der Tasche seines Mantels gezogen hatte.
"Seit Dumbledores Tod höre ich immer wieder eine Stimme, die mir – Dinge sagt – Dinge über – über – Sie wissen schon – nein, eigentlich Dinge, die er selbst sagt. Zu mir. Über – über Harry Potter." Und sie brach erneut in lautes Weinen aus. "Er hat all das Unheil über diese Schule gebracht!"
"Ich bitte Sie, Sybill, jetzt reißen Sie sich aber zusammen!", schnaubte McGonagall. "Wir stehen alle unter großer Anspannung seitdem. Was Sie jetzt brauchen, ist –"
"Oh, sagen Sie mir nicht auch noch, was ich brauche!", fauchte Trelawney unerwartet los. "Sie verstehen mich nicht! Es ist – nicht wie sonst! Ich will das gar nicht sehen! Aber immer, wenn ich in die Karten sehe, ist es da. In der Kugel – dasselbe. Verstehen Sie! Wir müssen Potter loswerden, bevor er kommt und ihn holt! Soll er doch zu ihm gehen!"
"Also, das ist jetzt weit genug gegangen, Sybill", sagte McGonagall entschieden. "Ihre Nerven haben in letzter Zeit gelitten. Sie gehen jetzt hinüber in die Krankenstation – Horace begleitet Sie sicher – und lassen sich etwas Beruhigendes von Poppy geben. Und ich muss Sie entschieden bitten, solche Dinge nicht noch einmal zu äußern."
Harry, der sich von dieser ganzen Szene seltsam unberührt fühlte, sah zu, wie Trelawney schluchzend an Horace Slughorns Arm hinauswankte.
"Also, das ist ja unglaublich!", schnaubte McGonagall, kaum dass sie außer Hörweite waren. "Das muss der Sherry sein! Tut mir wirklich leid, dass Sie das mit anhören mussten, Harry. Ist noch Kaffee da, Bill?"
"Jede Menge", sagte Bill, der immer noch beim Kaffeekessel am Fenster stand.
"He!", rief er dann überrascht. "Da draußen kommt jemand!"
"Was? Irgendeiner von uns oder den Auroren?", fragte McGonagall, während sie aufstand und zum Fenster ging.
"Glaub ich nicht! Sehen Sie mal, wie der schwankt!"
Jetzt standen auch Harry und Moody am Fenster.
Richtig, in der grauen Dämmerung konnten sie eine Gestalt in zerfetztem Umhang erkennen, die in Richtung Eingangstreppe zutaumelte.
"Kann sich kaum auf den Beinen halten!", sagte Moody, als er sah, wie sie von einer Seite zur anderen schlingerte, strauchelte, sich wieder fing, langsam und unsicher ihren Weg fortsetzte.
"Was ist denn da wieder passiert? Wer kann das nur sein?", fragte McGonagall besorgt. "Wer ist denn jetzt noch draußen?"
In diesem Moment schoss ein Besen von oben herab und kam bei der taumelnden Gestalt zum Stehen.
"Das ist George!", sagte Harry, als er den roten Haarschopf erkannte.
Sie verfolgten gespannt, wie George abstieg, den Schwankenden stützte und langsam auf die Schule zukam.
"Hoffentlich weiß er, was er da tut!", knurrte Moody. "Das kann doch eine Falle sein!"
"Ich denke mal, er weiß, wer das ist", sagte McGonagall und versuchte angestrengt, mehr zu erkennen. "Jetzt sind sie außer Sicht! Kommt mit in die Eingangshalle. Wir sollten sie trotzdem nicht unüberprüft einlassen."
Sie liefen hinaus in die Eingangshalle, und wenig später wurde an das Portal gehämmert.
"Macht auf! Ich hab hier einen Verletzten!", rief George von draußen.
"Wer ist es denn, George?", fragte Bill. "Kennst du ihn? Bist du sicher, dass –"
"Hab sie zwar nur einmal gesehen bisher, und sie ist auch reichlich angesengt, aber ich bin ziemlich sicher", rief George zurück. "Macht schon auf. Es ist diese Harper!"
