Kapitel 21

Morsmordre!

"Hekate Harper! Das ist unglaublich!", sagte McGonagall leise. "Wo kann sie denn jetzt noch herkommen? Bill, du hattest doch alles abgesucht!"

Bill nickte, ebenso erstaunt wie sie.

"Das dachte ich jedenfalls. Aber sie kann ja auch von wer weiß woher in den Wald appariert sein. Und ich denke immer noch, wirklich gründlich kann man den Wald nicht absuchen."

"Bist du sicher, George?", rief Moody krächzend nach draußen. Unter sichtlicher Anstrengung versuchte er, mit dem magischen Auge etwas durch das schwere Eichenportal zu erkennen.

"Ja, bin ich", kam die Antwort mit einem Hauch von Ungeduld. "Lasst ihr uns jetzt rein?"

"Sie soll sich mal erklären!"

"Ich glaube, sie kann nicht sprechen. Soll sie nicht im Ministerium gewesen sein? Also, da hatte Rufus aber ziemlich schlechte Laune!"

Jetzt konnte sich Harry nicht länger zurückhalten.

"Sei vorsichtig! Das könnte eine Falle sein!"

"Verdammt, George, lass die Witze!", bellte Moody gleichzeitig. "Ist sie bewaffnet?"

"Ich dachte, die Dame ist jetzt hier Professorin!"

Moody richtete sein magisches Auge noch einmal voller Konzentration auf die Tür, und ein Ausdruck der Überraschung glitt über sein Gesicht.

"In Ordnung", sagte er dann hustend. "Keine Waffen. Sie hat nicht mal einen Zauberstab dabei."

"Ganz sicher?", fragte Harry misstrauisch. "Sie ist doch Expertin für Magische Waffen. Das könnte alles Mögliche sein!"

"Ich bin ganz sicher", antwortete er grimmig.

Professor McGonagall öffnete die Tür.

In der grauen Dämmerung stand George vor dem Portal und hielt jemanden am Arm fest, den Harry kaum als Professor Harper wieder erkannt hätte.

Kaum war die Tür richtig auf, schüttelte sie Georges Hand ab und setzte ihren taumelnden Gang hinein fort. Harry schrak zurück. Ihre Kleidung war zerfetzt und voller Brandlöcher, ihr Gesicht rußgeschwärzt, das vormals kinnlange weiße Haar war größtenteils weggesengt, der Rest starrte vor Ruß und Schlamm. Das Schlimmste aber waren ihre Augen: Sie waren weit geöffnet, aber so verdreht, dass nur noch das Weiße zu sehen war.

"Wo kommen Sie jetzt her? Was ist geschehen?", fragte Moody scharf und hielt sie auf.

Professor Harper war stehen geblieben, aber ihr Gesicht blieb völlig ausdruckslos. Harry schauderte wieder beim Anblick dieser leeren Augen. Dann fiel sein Blick auf ihre Stiefel. Dieselben schweren Stiefel, die er neulich im Unterricht betrachtet hatte. Die Sohlen samt den Absätzen hatten sich fast völlig abgelöst und schlappten bei jedem Schritt.

"Ich glaube, mit dem Verhör solltest du lieber warten", sagte George mit einem schiefen Grinsen.

"Die Zeit, in der wir uns Rücksicht erlauben konnten, ist vorbei", knurrte er. "Harry hat Recht, das könnte eine Falle sein."

Jetzt mischte sich Professor McGonagall, die von Harpers Aussehen sichtlich geschockt war, entrüstet ein.

"Trotz allem darf ich doch wohl um etwas mehr Respekt bitten! Professor Harper ist Mitglied des Lehrkörpers von Hogwarts. Sie ist offensichtlich verletzt und unbewaffnet. Ich denke, sie gehört bis auf Weiteres in den Krankenflügel."

"Unter Bewachung, selbstverständlich", fügte Moody in einem Ton hinzu, der keinen Widerspruch duldete. "Ich werde sie selbst zur Krankenstation begleiten, und Tonks soll dann bei ihr bleiben, bis wir die Dinge geklärt haben. Harry, du gehst und sagst ihr Bescheid. Sie dürfte oben auf einem der Türme sein."

Harry nickte. Er konnte kaum den Blick von der Gestalt wenden, die nun schwankend an Moodys Arm lehnte.

Was hatte sie getan? Was war ihr geschehen? Und wo war das Messer? Hätte Moody es nicht sehen und als Waffe identifizieren müssen, wenn sie es dabei gehabt hätte?

"Halt, Alastor!", sagte McGonagall warnend. "Das können wir Nymphadora jetzt nicht antun, Wache halten da oben in diesem Krankenzimmer! Vielleicht kann Ripley das machen!"

Moody sah tatsächlich ein wenig betreten aus.

"Tschuldige, Minerva. Bin manchmal wirklich ein Klotz. Du hast Recht. Harry, hol mir die Ripley! Die hat sich jetzt sicher ausreichend ausgeruht."

Dann stapfte er in Richtung Krankenflügel davon, wobei er die hilflose Harper recht grob mit sich zog.

"Zwei Professorinnen in einer Viertelstunde!", stellte McGonagall mit einem Seufzen fest.

"Hatte ich da was falsch verstanden – hieß es nicht, dass sie zur Zeit im Ministerium sein sollte?", fragte George etwas verwundert.

"Ja, und dann erkrankt ist. So habe ich es den Schülern mitgeteilt", sagte McGonagall. "Sie ist verschwunden, am Tag von Remus' Tod, aber soweit ich es nachprüfen konnte, ist sie nie im Ministerium angekommen – und es wusste dort auch niemand etwas von einem Termin. Ich wollte das erst mal nicht an die große Glocke hängen, deshalb haben Alastor und ich beschlossen, nur Bill einzuweihen und nach ihr suchen zu lassen. Da waren wir wohl zu halbherzig."

"Gibt's denn da irgendwas Verdächtiges im Zusammenhang mit ihr?"

Professor McGonagall zögerte ein wenig unbehaglich.

"Es gab da – einen etwas seltsamen Vorfall, in den sie verwickelt war – in der Nacht, als Remus ermordet wurde. Und sie hat – aus Versehen oder nicht – etwas mitgenommen, das besser hier geblieben wäre."

"Hm", sagte George. "Sehr diplomatische Worte. Deshalb verstehe ich auch nichts. Was halten Sie jetzt trotz allem von einem weiteren Becher Kaffee?"

"Für mich nicht mehr." McGonagall sah auf ihre Uhr. "In zwei Stunden gibt es ohnehin Frühstück! Ich werde jetzt selbst zum Krankenflügel rübergehen und mit Poppy sprechen. Danach finden Sie mich in meinem Büro."

Als sie an der Treppe stand, rief sie noch zurück:

"Vergessen Sie nicht, vor dem Frühstück findet noch die Besprechung in Raum zwölf statt!"

oooOOOooo

Frühstück! Die Halle sah aus wie jeden Morgen, wieder einmal war der Alltag zurückgekehrt. Gerede überall an den Tischen, der Duft nach Kaffee, Eiern und sogar gebratenem Speck. Die Hauselfen ließen sich offenbar nicht aus der Ruhe bringen.

Harry spürte immer wieder neugierige Blicke auf sich und fragte sich, was nun wieder los war. Immerhin hatte er sich eben sogar noch gekämmt. Glaubte er zumindest.

"Wo is' Neville?", fragte Dean durch einen großen Bissen Toast mit Marmelade hindurch.

"Das frag ich mich auch schon die ganze Zeit", sagte Parvati.

"Also, mir hat Romilda letzte Nacht erzählt, sie hätte ihn getreten – in diesem Geheimgang, wisst ihr. Genau ins Gesicht. Und jetzt liegt er in der Krankenstation", sagte Colin Creevey besserwisserisch, während er sich Kürbissaft in einen Becher goss.

"Romilda – hat dir das letzte Nacht erzählt? Letzte Nacht?", kicherte Lavender los.

"Blödsinn. Der ist einfach abgehauen, um seine Oma zu beschützen!", rief Seamus herzlos, der sich gerade an seinen Platz setzte und mit offenkundigem Appetit nach der Schüssel mit Ei und Speck griff.

Harry und Hermione tauschten einen Blick. Von Neville gab es nichts Neues, hatte er vorhin von Ripley erfahren. Die Auroren, die den Dementor verfolgt hatten, waren immer noch nicht zurück.

"Und wo steckt Ron?", fragte Lavender auf einmal.

"Der ist auch auf der Krankenstation", sagte Colin. "Hatte einen Kollaps oder so was, nachdem sie aus diesem Gang entkommen waren."

"Stimmt doch gar nicht", sagte Dean. "Der war vorhin noch mit mir auf Wache."

"Und außerdem kommt er da gerade", ergänzte Parvati und sah zur Tür.

Richtig, da kam Ron herein, zusammen mit George. Sie steuerten den Gryffindor-Tisch an, setzten sich aber ans andere Ende. Diesmal musste er sich erstaunlich schnell von seinem Anfall erholt haben. Vielleicht wurden sie auch einfach von Mal zu Mal schwächer.

Vorn am Lehrertisch – an dem heute Morgen Moody auf Professor Trelawneys Platz saß – erhob sich Professor McGonagall und klatschte in die Hände.

"Ruhe, bitte! Hören Sie mir kurz zu, bevor Sie weiter frühstücken. Guten Morgen erst einmal.

Wir hatten eben eine kleine Besprechung über die Ereignisse der vergangenen Nacht. Mr Moody und ich bedanken uns für die vielen freiwilligen Hilfskräfte bei den Wachgängen und die Berichte, die Sie geliefert haben. Sie waren sehr hilfreich.

Über die Erschütterung, die wir alle gespürt haben, möchte ich im Moment keine weiteren Vermutungen anstellen. Glücklicherweise hat es abgesehen von dem eingestürzten Geheimgang keine Schäden in der Schule gegeben. Dennoch weise ich Sie alle nachdrücklich darauf hin, dass wir uns in einer Situation der Bedrohung befinden. Ich möchte, dass Sie heute alle eine kleine Tasche mit dem Allernotwendigsten packen und jederzeit bereit sind, sich bei – bei Alarm in die Schutzräume zu begeben. Beunruhigen Sie sich aber nicht allzu sehr: Die Schildzauber sind nach wie vor in Funktion, wir haben das vor wenigen Stunden überprüft. Außerdem hoffen wir immer noch auf Hilfe und Verstärkung vom Ministerium", sagte sie so knapp wie möglich.

Sie sah in die aufmerksamen, aber kaum verängstigten Gesichter. Bei vielen schien die unklare Lage sogar eher die Abenteuerlust geweckt zu haben.

"Ich denke, wir sollten auf einen Angriff gefasst sein", fuhr sie daher fort. "Ich sage Ihnen das, damit Sie vorsichtig sind und sich darauf einstellen können.

Es kann sein, dass wir noch heute gezwungen sein werden, diese Räume aufzusuchen. Übrigens: Ich habe beschlossen, dass alle Schüler in die Schutzräume gehen werden. Auch die Freiwilligen. Diese Räume sind zwar seit achtzig Jahren nicht mehr in Gebrauch gewesen und deshalb noch nicht ganz wieder auf dem modernsten Standard, aber dort sind Sie jedenfalls sicher", fuhr sie fort, ohne das aufkommende Murren zu beachten. "Und diejenigen, die draußen bleiben, werden die Schule gegen alle Eindringlinge verteidigen. Es ist an der Zeit, Voldemort die Stirn zu bieten – ja, Voldemort! Wir wollen den Feind jetzt endlich alle beim Namen nennen!", rief sie entschlossen, als sie das Zusammenzucken sah, das bei der Nennung des Namens durch die Reihen ging.

"Bis dahin aber werden wir weiter unseren Alltag leben, genau wie gestern. Der Unterricht findet so weit wie möglich statt."

"Aber wir wollen dabei sein bei der Verteidigung!", rief Ron angriffslustig. "Wir sind volljährig! Da müssen wir selbst entscheiden dürfen, ob wir lieber kämpfen wollen!"

"Genau!", rief Ernie Macmillan. "Ich bleibe jedenfalls auch hier draußen!"

Eine ganze Reihe anderer ließen sich mit ähnlichen Rufen vernehmen. Millicent Bulstrode und Blaise Zabini verkündeten, dass sie ebenfalls nicht in die Schutzräume gehen würden.

Parvati und Lavender sahen sich an.

"Wir auch nicht", sagte Parvati dann leiser, aber entschlossen. "Das ist unsere Schule. Und wir sind Gryffindors! Wir lassen hier keine Todesser rein!"

Professor McGonagall hörte sich das mit grimmiger Miene an.

"Finde auch, sie sollten das selbst entscheiden, Minerva, das weißt du ja", sagte Moody hinter ihr mit leiser Stimme. "Entschlossene Leute können wir auf jeden Fall brauchen. An die Hilfe von draußen glaube ich nämlich nicht."

"Das sind Kinder! Sie haben keine Ahnung, was auf sie zukommt!", flüsterte McGonagall empört zurück.

"Das weiß doch letztlich keiner von uns", erwiderte Moody.

"Also gut. Den Volljährigen kann ich den Einsatz nicht verbieten", sagte McGonagall wieder an die Schüler gewandt. "Aber ich rate Ihnen dringend, es trotzdem zu lassen. Ja, Miss Vane, was gibt es denn? Sie sind jedenfalls noch nicht volljährig, also –"

"Nein, darum geht's nicht", rief Romilda Vane von ihrem Platz aus. "Ich wollte nur wissen, wie geben Sie denn eigentlich Alarm? Das müssen wir doch wissen! Und auch, wohin wir dann gehen sollen!"

"Dazu wollte ich gerade kommen", erwiderte McGonagall säuerlich. "Bevor ich unterbrochen wurde. Sie kommen bitte alle in die Eingangshalle und versammeln sich um Ihre Hauslehrer. Und was den Alarm angeht – also, da treffen Sie einen wunden Punkt. Professor Dumbledore war immer dagegen, ein Alarmsystem einzurichten, mit dem man alle Schüler gleichzeitig erreicht. Im Alltag funktioniert es ja auch ganz gut ohne. Aber jetzt –"

"Vielleicht hab ich da was, das uns helfen kann", meldete sich George zu Wort.

"Ja, Mr Weasley?"

"Moment, ich muss mal nachsehen –"

Er war aufgestanden und wühlte in seinen Jackentaschen und leerte deren Inhalt auf den Tisch vor sich. Bunte Päckchen und Tüten kamen zum Vorschein, Bonbons, die Harry um keinen Preis probiert hätte, ein seltsamer kleiner Würfel, der von selbst über den Tisch purzelte, schließlich ein, zwei Flakons von der Art, die sie schon kannten –

McGonagall sah ergeben zu, und um George herum begannen die Leute zu kichern.

"Ich war sicher, dass ich noch ein paar dabei habe –", murmelte George und förderte eine braune Tüte aus einer geräumigen Innentasche seiner Jacke zum Vorschein, die er hastig öffnete. "Richtig, da haben wir sie ja!", sagte er dann und holte triumphierend etwas heraus, das aussah wie ein neonrotes Knallbonbon.

McGonagall verdrehte die Augen.

"Das hier ist 'ne alte Sache, aber sie könnte von Nutzen sein. Fred und ich haben sie schon vor Jahren entwickelt und waren sie ein bisschen leid geworden, aber vor einigen Monaten dachten –"

"Mr Weasley! Bitte, zeigen Sie uns jetzt, was Sie da haben oder lassen Sie es sein, aber keine Werbegespräche jetzt!"

"In Ordnung", grinste George und zog an den Enden des Knallbonbons.

Es puffte, und heraus sprang ein kleines Pferd, auf dem, wie die Umsitzenden erkannten, ein Mann in einer merkwürdigen Uniform saß, der jetzt eine winzige goldene Trompete an die Lippen setzte – und während das Pferd mit trommelnden Hufen über ihren Köpfen losgaloppierte, ertönte eine ohrenbetäubende Angriffsfanfare.

Harry und eine Reihe anderer, die aus Muggelfamilien kamen, erkannten das originalgetreue Abbild eines Kavalleristen, der zum Angriff blies, wie sie ihn in zahlreichen Western gesehen hatten. Nach der ersten Runde über die Köpfe klatschten die Schüler begeistert Beifall. McGonagall wollte sich Gehör verschaffen, aber gegen die Fanfare und das Gelächter der Schüler kam sie nicht an. Schließlich richtete sie ihren Zauberstab auf die Quelle des Lärms und brüllte: "Silencio!"

Augenblicklich verstummte die Trompete, aber Pferd und Reiter jagten weiter, rücksichtslos durch Peeves hindurch, der dem ganzen Schauspiel sozusagen mit beruflichem Interesse zugesehen hatte.

"Ich sagte ja, wir waren ihn etwas leid geworden", sagte George. "Hatten wir mal in einem von Daddys Muggelgeräten gesehen und fanden ihn klasse."

"Oh ja", stöhnte Ron. "An den Sommer kann ich mich noch gut erinnern!"

"Wie lange dauert dieser – äh, Alarm?", fragte McGonagall knapp.

"Ich glaube, so etwa eine Viertelstunde", antwortete George.

"Du meine Güte!"

Sie wandte sich zu Moody um und konnte gerade noch ein Grinsen auf seinem sonst so bärbeißigen Gesicht erkennen.

"Was hältst du davon?"

"Er ist jedenfalls unüberhörbar."

"Also gut. Miss Vane, wenn Sie diese – diese Fanfare hören, betrachten Sie das bitte als Aufforderung, in die Eingangshalle zu kommen. Und alle anderen auch", sagte Professor McGonagall abschließend. "Und jetzt wünsche ich uns allen einen guten Tag. Ach ja, die Freiwilligen bitte gleich wieder zu Mr Moody in Raum zwölf."

oooOOOooo

Harry überlegte, wie er Ron am besten zu fassen kriegen könnte. Jetzt stürzte er gerade aus der Halle, eindeutig bemüht, ihnen allen so schnell wie möglich zu entkommen. Resigniert sah Harry auf das Knäuel der Schüler, die sich vor der Tür drängten. Keine Chance, Ron einzuholen, wenn er das nicht wollte.

"Morgen, Harry."

Unbemerkt war Hermione an seine Seite getreten. Anscheinend hatte sie Ron ebenfalls beobachtet.

"Er will nicht mit uns reden", sagte sie leise. "Es hat keinen Sinn."

Es war seltsam, mit ihr in dieser Menge von redenden Schülern dahinzutreiben – ihm war beinahe so, als gleite er in einer langsamen Strömung dahin. Das musste die Müdigkeit sein. All die vertrauten Gesichter. Große Familie. Sogar die Slytherins. Er war schon so weit weg von ihnen – schwebte über dieser Menge – so viele Kinder –

"Harry!" Hermione sah ihn fragend an und hielt seine Hand fest. "Was hast du?"

"Gar nichts."

"Du sahst gerade so komisch aus."

"Ich bin nur müde."

"Da ist er!", hörte er jemanden tuscheln und sah zwei Mädchen aus der dritten Klasse an ihnen vorbeigehen, die ihm verstohlene Blicke zuwarfen.

"Der sieht doch gar nicht so aus", hörte Harry die andere noch enttäuscht sagen. "Bist du sicher, sie hat gesagt, er soll gekrönt werden?"

Harry stöhnte. Hermione musste grinsen.

"Trelawneys Rede ist durch die halbe Schule gegangen. Allerdings ziemlich verstümmelt", sagte sie. "Hab's heute Morgen schon in der Dusche gehört. Die denken, du bist irgendein ausländischer Prinz, der hier inkognito zur Schule geht."

"Diese Idioten. Das ist doch echt nicht zu fassen."

"Sei lieber froh, dass die dich nicht für Voldemorts Sohn halten!", sagte Hermione leise.

Sie kamen so ziemlich als die Letzten durch die Tür.

"Oh – sieh mal – also, das ist ja wohl wieder typisch!", rief sie plötzlich empört und zeigte auf einen Hauself weiter vorne im Gang, der einen riesigen Schinken schleppte.

Bekloppt, dachte Harry. Ich werd einfach bekloppt.

"Warum lassen die sie das nur tun? Die könnten ihnen doch mit ein paar kleinen Zaubern so leicht helfen!"

Sie zückte ihren Zauberstab, als hinter ihnen Hagrids Stimme ertönte.

"Lass das mal, Hermione! Die woll'n das so. Wenn du da rumzauberst, sin' die nur sauer un' denken, wir wär'n nich' zufrieden mit ihrer Arbeit!"

"Äh – was machen die denn da überhaupt?", fragte Harry völlig verwirrt, als er nun eine weitere Hauselfe sichtete, die etwas trug, das wie ein Käserad aussah, das mehr als halb so groß war wie sie selbst.

"Also ehrlich, du musst ganz schön müde sein. Die bringen Vorräte in die Schutzräume. Hat Professor McGonagall doch vorhin in der 'Zentrale' noch erklärt."

"Genau", sagte Hagrid, der heute Morgen wieder etwas entspannter aussah, wahrscheinlich, weil er genug zu tun hatte. Er trug selbst einen gewaltigen Korb mit Kürbissen und Kartoffeln auf dem Rücken. "Un' ich helf' ihnen dabei. Macht's gut, ihr beiden."

Letzteres sagte er mit einem Nachdruck, den sie nicht überhören konnten. Er stapfte davon. Hermione ließ Harrys Hand los und wurde rot.

"Nicht! Komm, guck nicht so. Wir bringen das schon in Ordnung", sagte Harry leise. "Und jetzt will ich sehen, wo die das Zeug hinbringen. Vielleicht können wir ja einen Blick in diese Räume werfen."

Sie folgten den Elfen in die Eingangshalle und von dort weiter in den Korridor, in dem auch die 'Zentrale' lag. Gegenüber gab es eine kleine Abstellkammer, in der die Elfen verschwanden. Vor der offenen Tür der 'Zentrale' standen Professor McGonagall, Professor Flitwick und Professor Slughorn im Gang und unterhielten sich.

"Albus war sehr zurückhaltend, was diese Schutzräume angeht", sagte Professor McGonagall gerade. "Er hatte mir im letzten Schuljahr, als er die Schule zum ersten Mal zu einem seiner geheimnisvollen Ausflüge verließ, einen Umschlag überreicht, in dem er mich über die Schutzräume informierte. Bis dahin hatte ich nur eben gewusst, dass sie überhaupt existieren."

"Ja, richtig", fiel Slughorn ein. "Da gab es doch diese Geschichte – ich denke, darauf haben Sie vorhin auch angespielt – also, vor achtzig Jahren, das könnte hinkommen – bei diesem Zwischenfall mit den Riesen und dem unglückseligen Professor Cropper –"

"Ganz recht, ganz recht!", mischte sich nun auch Flitwick voller Eifer ein. "Also, das war mir ja fast entfallen! Eine Horde Riesen zog durch die Gegend und leider schwächelten gleichzeitig die Schildzauber, nicht wahr? Direktor Dippet entschloss sich, die Schule kurzerhand in die Schutzräume zu evakuieren, und dann mussten sie wochenlang da drin bleiben, weil Professor Cropper, der der Passwortwahrer war, in eines dieser – dieser Löcher getreten war und –"

"Und unversehens irgendwo im Urwald gelandet war", sagte Slughorn. "Genau, jetzt erinnere ich mich auch wieder. Eine dumme Geschichte! Man kann Dumbledore verstehen, dass er diese Räume nur im äußersten Notfall aktivieren wollte."

Professor McGonagall hatte ihnen wortlos zugehört.

"Ja, um die Wahrheit zu sagen, wissen wir schrecklich wenig darüber, wie diese Räume funktionieren. Es ist nicht einmal bekannt, wer sie geschaffen hat und wann", sagte sie dann und fuhr entschlossen fort: "Aber in einer Notlage –! Und dies könnte sich durchaus dazu entwickeln, ich denke, da stimmen Sie mir zu. Ich möchte nicht, dass irgendein Schüler in die Hand dieser Leute fällt!"

"Ich stimme Ihnen da völlig zu!", sagte Slughorn hastig. "Liege ich richtig mit der Annahme, dass diese Räume mithilfe eines speziellen Entrückungszaubers funktionieren?"

"Goldrichtig", bestätigte McGonagall. "Da dieser Zauber aber einen vergleichsweise sehr kleinen Bereich betrifft, hat das zur Folge, dass die Räume – nun ja, sozusagen vibrieren. Einige Leute reagieren darauf wohl mit einer Art Seekrankheit. Das ist das eine Problem. Das andere haben Sie ja bereits angesprochen. Gelegentlich scheint es da Löcher zu geben in diesem – lassen Sie es mich der Einfachheit halber Kokon nennen."

"Oh ja", sagte Flitwick. "Wenn Sie das Pech haben, in ein solches Loch zu geraten, können Sie sich an den ungewöhnlichsten Orten wiederfinden."

"Und Sie sprachen von einem Passwortwahrer – darf ich das ähnlich verstehen wie einen Geheimniswahrer?", fragte Slughorn.

McGonagall nickte. "Ja. Nicht so kompliziert wie beim Fideliuszauber, aber vergleichbar. Und um es kurz zu machen, ohne den Passwortwahrer finden Sie aus den Schutzräumen, wenn sie einmal geschlossen wurden, nicht wieder heraus."

Professor Slughorn war sichtlich nicht wohl in seiner Haut.

"Also, ich denke, es war sehr klug von Ihnen, den Schülern das nicht in allen Einzelheiten mitzuteilen", sagte er.

Harry sah eben wieder eine schmächtige Elfe mit einem Sack voller Kohlköpfe aus Hagrids Gemüsebeeten in der Abstellkammer verschwinden. Hermione neben ihm bezwang sich offenbar nur mit Mühe, nicht helfend herbeizuspringen.

Harry beugte sich weit genug vor, um zu sehen, dass die Abstellkammer von einem flimmernden Nebel erfüllt war. Er konnte eben noch die Konturen von einigen Besen und Putzeimern erkennen, zwischen denen die keuchende Elfe, den Sack hinter sich herziehend, verschwand. Dann hörte er einen ganz fernen Aufschrei.

Auch die drei Professoren sahen zur Abstellkammer hin, und die Unruhe auf Slughorns Gesicht war nun nicht mehr zu übersehen.

"Der Eintritt ist leider nicht sehr angenehm", sagte Professor McGonagall bedauernd. "Man verliert sozusagen den Boden unter den Füßen und hat für einen Moment das Gefühl, auf dem Kopf zu stehen, wenn man hinübertritt. Ich habe es gestern selbst ausprobiert."

"Nun ja", sagte Professor Flitwick mit einer Gelassenheit, die weder Harry noch Slughorn teilten. "Da gibt es doch weit Unangenehmeres, nicht wahr?"

"Ich bin erleichtert, dass Sie das so sehen, Filius, denn ich habe Sie als Passwortwahrer vorgesehen. Ich möchte, dass Sie die Kinder begleiten."

"Oh, das wird mir eine Ehre sein", erwiderte Flitwick. "Mir ist schon klar, dass ich mich zum Kämpfer nicht mehr so eigne! Aber sind Sie sicher, dass Sie da den Richtigen als Passwortwahrer ausgewählt haben? Ich bin nicht mehr der Jüngste!"

"Völlig sicher, Filius. Vom Lehrpersonal werden Sie außerdem in jedem Fall Sybill und Hekate Harper begleiten, die im Augenblick beide im Krankenflügel liegen."

Harry und Hermione konnten nicht anders, sie mussten der Elfe in die Abstellkammer folgen und einen Blick auf das riskieren, was dahinter lag.

Sie tauchten in das seltsame Flimmern ein und konnten augenblicklich ihre Beine und den Boden, auf dem sie standen, nicht mehr sehen. Harry hatte sofort das Gefühl, das Gleichgewicht zu verlieren und hörte auch Hermione neben sich quieken.

Das Flimmern war wie ein wirbelnder Nebel, der hier und da dünner wurde, aber nirgends völlig aufriss. Einmal glaubte Harry, dahinter ein tiefgrünliches Dämmerlicht sehen zu können, das ihn an eine Unterwasserwelt denken ließ – dann schob sich das Flimmern wieder davor.

"Mr Potter – Miss Granger – würden Sie bitte zurücktreten!", hörten sie die scharfe Stimme McGonagalls, und zumindest Harry war erleichtert, als er sich am Arm gepackt fühlte und mit festem Griff aus dem Nebel herausgezogen wurde.

"Gut, dass ich Sie beide zusammen antreffe. Ich möchte mit Ihnen reden. Bitte folgen Sie mir in mein Büro."

oooOOOooo

In ihrem – alten – Büro angekommen, schloss Professor McGonagall die Tür.

"So, und jetzt möchte ich, dass Sie mir alles über dieses Messer erzählen, mit dem Professor Harper verschwunden war."

"Ist es wieder aufgetaucht?", fragte Harry atemlos.

"Mr Potter – die Fragen stelle diesmal ich. Und dieses Mal – sollten Sie mir antworten!"

Harry und Hermione tauschten einen Blick. Sie sah unsicher aus. Als beide schwiegen, seufzte McGonagall.

"Ich mache es Ihnen etwas leichter. Sie, Miss Granger, sagten neulich, Sie hätten einen Griff in Vogelform erkannt."

Hermione nickte zögernd.

"Ich bin sicher, es war ein Adlerkopf", sagte McGonagall grimmig, während sie sich an ihren Schreibtisch setzte, der ganz ungewöhnlich unordentlich mit Büchern und Pergamenten aller Art übersät war. "Ich denke, es handelt sich um das Messer der Rowena Ravenclaw, das vor über zwanzig Jahren gestohlen wurde. Eine Angelegenheit, in die bedauerlicherweise auch die damalige Schülerin Hekate Harper verwickelt war. Sie sehen, ich bin nicht ganz so ahnungslos, wie Sie vielleicht denken.

Und jetzt sagen Sie mir, was es mit diesem Messer auf sich hat – diesem Messer, das bei Luna Lovegood eine Verletzung hinterlassen hat, die mich sicher nicht zufällig an eine andere Verletzung erinnert, die ich zum ersten Mal vor einem Jahr an Professor Dumbledores Hand gesehen habe! Dieses Messer, mit dem dieselbe Hekate Harper verschwunden ist, die vor Jahren schon einmal eben dieses Diebstahls verdächtigt wurde – und die nun in einem Zustand zurückgekehrt ist, der, gelinde gesagt, erschreckend ist! Ohne Zauberstab, blind, mit Brandwunden – und ohne das Messer!"

Professor McGonagall hatte lauter und leidenschaftlicher gesprochen, als sie das sonst zu tun pflegte. Es war sehr still, als sie nun schwieg und die beiden streng ansah.

"Sie wollen also weiter schweigen – sind Sie sicher, Mr Potter, dass Professor Dumbledore das wirklich von Ihnen verlangt hat? Also hören Sie mir zu, ich werde Ihnen sagen, woran mich diese Angelegenheit denken lässt. Vor vielen Jahren schon wurde im Orden des Phönix einmal ein bestimmter Verdacht geäußert – ich glaube, es war Remus, der das tat – wonach Voldemort sich eines bestimmten, sehr düsteren Zaubers bedienen könnte, um seine Macht zu verstärken. Eines Zaubers, der scheinbar alltägliche Gegenstände betrifft. Leider hat Professor Dumbledore dazu geschwiegen – so, wie Sie jetzt hier schweigen. Ich selbst habe mich nie mit der schwarzen Magie befasst und möchte das auch weiterhin nicht tun", sagte sie, und Harry konnte den Widerwillen, den dieses Thema bei ihr auslöste, auf ihrem Gesicht sehen. "Sagen Sie mir nur eins – kann ich Hekate Harper trauen? Kann ich es riskieren, sie mit all diesen Schülern in die Schutzräume gehen zu lassen?"

Es war kaum glaublich, aber trotz der strengen Miene war diese Frage eine Bitte. Harry und Hermione fühlten sich schrecklich.

"Ich – ich weiß es auch nicht", flüsterte Harry.

"Also gut." McGonagall schlug mit den Händen auf die Schreibtischplatte. "Ich habe noch eine Menge zu erledigen. Ich möchte, dass Sie jetzt beide Ihre Sachen packen. Und ich befehle Ihnen, in dem Moment, in dem Alarm gegeben wird, zu den Schutzräumen zu gehen! Sie werden in jedem Fall da hineingehen."

"Aber –", begann Harry lahm.

"Kein Aber, Mr Potter. Wir alle wissen, dass Voldemort Ihnen nach dem Leben trachtet. Sie gehen in den Schutzraum, das ist mein letztes Wort. Und Sie, Miss Granger, sind Schulsprecherin. Ihr Platz ist sowieso dort bei den Schülern. Und nun lassen Sie mich weiter arbeiten."

"Also, das ist ja wohl das Letzte!", platzte Hermione los, kaum dass sie wieder auf dem Gang standen. "Ich bin volljährig, da kann sie mich doch nicht zwingen – sogar die Slytherins dürfen selbst entscheiden – diese Bulstrode hat gesagt, sie macht lieber bei einem Kampf mit als in diesen blöden Raum zu gehen –"

"Du bist aber wirklich Schulsprecherin, da hat sie schon Recht", sagte Harry sanft. "Bitte, fang nicht gerade jetzt damit an, unvernünftig zu sein. Geh in den Schutzraum, wenn es Alarm gibt!"

"Harry – und was ist mit dir?", fragte sie misstrauisch. "Willst du wirklich freiwillig da reingehen?"

"Na, sie hat doch Recht, oder? Solange ich hier rumlaufe, bin ich doch nur eine Gefahr für alle anderen."

Hermione sah ihn immer noch misstrauisch von der Seite an, als sie schweigend in Richtung des Gryffindor-Turms gingen.

oooOOOooo

Der Tag nahm schwerfällig, aber im Großen und Ganzen ungestört seinen üblichen Verlauf. Harry war, wie die meisten Schüler der siebten Klasse, einmal dazu eingeteilt, Wache zu halten. Das bestand in Harrys Fall darin, dass er gähnend durch verlassene Korridore ging und auf alles zu achten versuchte, was eventuell ungewöhnlich sein könnte. Er beneidete diejenigen, die wenigstens draußen auf den Türmen umhergehen durften.

Von der Wache abgesehen hatte er tatsächlich noch Unterricht, eine Doppelstunde Kräuterkunde am Vormittag, die sie damit verbrachten, die Schluffer mit noch intakten Nistlingsbeuteln von den anderen abzusondern, die sich nach dem nächtlichen Katerangriff mit Zähnen und Klauen von ihren Beulen befreit hatten. Es waren zwei scheußliche Stunden, und zusätzlich musste Harry immer wieder an Neville denken. Nachmittags hätte er noch eine Stunde Verwandlung gehabt, aber während dieser Zeit war er von Moody zum Wachegehen eingeteilt worden.

Ron tauchte nicht im Unterricht auf. Harry war entschlossen, heute noch mit ihm zu sprechen, und suchte zwischendurch immer wieder nach ihm, aber ohne Erfolg. Nach dem Mittagessen ging er frustriert und schlecht gelaunt zur Eulerei hinüber.

Sie sollten ohne Bewachung nicht nach draußen gehen, und so nahm er wieder einmal den Tarnumhang zu Hilfe. Trotzdem war er ganz überrascht, dass es ihm gelang, unbemerkt hinauszukommen.

Es tat gut, wieder in der frischen Luft zu stehen, auch wenn die Wolken so tief hingen, dass man glaubte, sie greifen zu können. Es war ziemlich kalt, und er beschloss, nachher auf jeden Fall seinen Winterumhang zu holen. Wie sehr er sich wünschte, einmal wieder auf seinem Besen über das Quidditchfeld oder besser noch über den See zu jagen!

Er konnte eine Gestalt oben auf dem Gryffindor-Turm erkennen. Eine der Wachen. Dementoren waren dagegen nach wie vor nicht zu sehen. Ob das nicht vielleicht doch alles ein großer Bluff war?

Aber er wusste, dass es ernst war. Und er konnte die Anwesenheit der Dementoren – vielleicht irgendwo da oben hinter den Wolken versteckt – spüren, ebenso wie eine stetig wachsende Unruhe. Nein, es gab keinen Aufschub mehr. Und irgendwie war das auch eine Erleichterung.

Er trat in das Dämmerlicht der Eulerei und zuckte zurück, als er ausgerechnet jetzt Ron entdeckte, der dort auf einer umgekehrten Kiste saß und Pigwidgeon auf seiner Hand hielt. Noch bevor er die Tür schloss, zog er den Tarnumhang herunter. Ron sah auf und direkt wieder weg.

Harry kam zögernd weiter in den großen, runden Raum hinein. Sein Herz schlug heftig, er hatte jetzt nicht mit Ron gerechnet – aber vielleicht war das genau die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte. Zumindest konnte der hier nicht einfach abhauen, ohne sich bis auf die Knochen zu blamieren.

Er lockte Hedwig zu sich herunter. Sie hatte ihn in letzter Zeit nicht oft zu Gesicht bekommen und musste erst ein bisschen umschmeichelt werden. Schließlich aber nahm sie gnädig einen Keks aus seinen Fingern entgegen. Er streichelte ihre weißen Federn.

"Du musst aufpassen, Hedwig", flüsterte er. "Keine Ausflüge in der nächsten Zeit! Aber ich glaube, das weißt du selbst, oder?"

Die goldenen Augen sahen ihn nachdenklich an.

"Mach's gut!", sagte er schweren Herzens. Er streckte den Arm aus und ließ die Eule wieder zu ihrem Platz hinauffliegen.

Dann endlich ging er zu Ron hinüber, der nach wie vor so tat, als habe er ihn gar nicht gesehen.

"Hi, Ron."

Keine Reaktion. Pigwidgeon hingegen flatterte kreischend auf und um Harry herum und versuchte sich pickend auf seinem Kopf niederzulassen.

"Kann ich mal mit dir reden?", versuchte Harry es noch einmal.

"Pig! Pigwidgeon! Komm sofort zurück!", schnauzte Ron statt einer Antwort seinen Kauz an. Harry hatte es satt.

"Ron! Mann, jetzt hör mir doch mal zu!"

Ron war aufgestanden und griff sich den protestierenden Pigwidgeon aus der Luft. Dann wollte er an Harry vorbei zum Ausgang gehen.

"Hör mir wenigstens zu!", rief Harry und packte ihn am Arm.

"Nimm deine Finger da weg!"

"Ich wollte dir nur sagen, dass – dass es mir leid tut. Wirklich leid. Ich weiß gar nicht, wie ich das noch sagen soll."

"Musst du gar nicht. Ich glaub dir sowieso nichts, Potter."

"Jetzt hör doch auf damit. Guck dich mal um, wie die Dinge stehen! Sollen wir da jetzt wirklich noch so 'ne Show abziehen?"

"Keine Ahnung, wovon du redest."

"Ich möchte nur – es kann sein, dass – also, ich hab was zu erledigen. Und ich wollt dich bitten – kümmer' dich um Hermione. Bitte, Mann."

Da endlich sah Ron ihn an, aber sein Blick war genauso hart und kalt wie zuvor.

"Jetzt haust du ab, was? Jetzt, wo's hier losgeht. Sag's doch endlich. Du bist doch auf seiner Seite, oder? Du hast uns all die Jahre was vorgemacht. Oder hast du es selbst erst vor kurzem gemerkt? Aber jetzt weißt du's, und jetzt gehst du zu ihm."

"Das kann doch nicht dein Ernst sein!"

Aber wie es schien, hatte Ron gründlich darüber nachgedacht, und nun sprudelte es nur so aus ihm heraus, in einem Ton der Verbitterung, der Harry viel mehr zusetzte als jede berechtigte Wut.

"Was die Kimmkorn da geschrieben hat – ich hab das ja auch für Blödsinn gehalten. Aber wenn ich's mir genau überlege, vielleicht bin ich ja auch einfach nur so naiv und blind gewesen die ganze Zeit und hab mich von dir verarschen lassen. Ich mein', wenn du mit Hermione was anfangen konntest und ich's nicht gemerkt hab, warum dann nicht auch –"

"Jetzt halt doch endlich die Klappe! Das ist doch so ein Schwachsinn! Was immer die Kimmkorn geschrieben hat, du kennst die doch! Und du kennst mich, was redest du denn bloß?"

"Kenn ich dich wirklich? Glaub ich nicht. Ich hätte nie gedacht – nie gedacht –"

Er konnte nicht weiter sprechen und würgte an seiner Wut und seinem Kummer.

"Ron! Bitte, hör mir doch zu! Voldemort ist mein schlimmster Feind! Ich – ich werde ihn töten, wenn ich ihm begegne!", sagte er leise. "Und – ich werde auch Snape töten!"

"Und was soll mir das beweisen? Dass du fähig bist zu töten? Dass du deine Macht mit niemandem teilen willst?"

Wut und Enttäuschung überwältigten ihn, und jetzt packte er Harry am Kragen.

"All die Jahre über hab ich gedacht, du wärst mein Freund. Ich war so blöd, und du hast dich wahrscheinlich noch kaputtgelacht über meine Dämlichkeit. Aber das ist vorbei. Mach was du willst. Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben. Verstehst du? Nichts."

"Okay. Wenn du's so willst", sagte Harry schließlich. "Kannst du dich denn wenigstens um Hermione kümmern? Denk einfach, dass die auch mein Opfer ist. Auch auf mich reingefallen."

"Hau ab."

Und Harry verließ den von leisen Vogelgeräuschen erfüllten, kühlen Raum mit seinem seltsam trockenen, aber nicht unangenehmen Geruch und ging wieder ins Haus zurück. Er verbrachte eine Viertelstunde in einem glücklicherweise leeren Kloraum, wo er so laut fluchen und die Tür mit seinen Fäusten bearbeiten konnte wie er wollte. Aber danach fühlte er sich immer noch nicht besser. Schweren Herzens ging er zu seiner Wache. Nun blieb noch das Gespräch mit Hermione.

oooOOOooo

Harry fand Hermione unglaublicherweise in der Bibliothek. Er hätte dort nicht gesucht, aber schließlich fragte er Moody, und der sagte ihm, sie habe sich für eine Weile abgemeldet und gesagt, sie wolle in die Bibliothek.

Hermione saß an einem Tisch am Fenster und war außer der unruhig hin- und herhuschenden Madam Pince die Einzige im ganzen Raum. Harry ging an der Bibliothekarin vorbei, die ihn misstrauisch beäugte, und setzte sich zu Hermione an den Tisch. Sie sah lächelnd von ihrem Buch zu ihm auf – er sah in dem Stapel Bücher, den sie neben sich liegen hatte, ohne große Überraschung auch die Nachtwelten in ihrem harmlosen Umschlag.

"Bist du sicher, dass du hier den Alarm hörst?", fragte er mit einem Grinsen, nach dem ihm gar nicht zumute war.

"Ich find es hier einfach so entspannend", erwiderte sie. "Und ich wollte auch noch was nachsehen."

Harry zog die vermeintliche Geschichte der Zauberei aus dem Stapel hervor.

"Das sollten wir wohl besser auch irgendwo verstecken. Wer weiß, wenn die Schule – angegriffen wird –", sagte er.

"Ich hab gerade noch drin gelesen", sagte Hermione. "Ich hab angefangen, alle englischsprachigen Teile darin systematisch durchzugehen. Aber du hast Recht. Ich nehme es nachher mit und stecke es in mein Handgepäck. Das Tagebuch hast du doch hoffentlich auch eingepackt? Das sollten wir nämlich auch nicht hier liegen lassen."

Sie sahen sich an. Redeten sie jetzt wirklich ernsthaft von der Möglichkeit, dass ihre Schule angegriffen und vielleicht eingenommen werden könnte? Am besten, man dachte gar nicht so genau darüber nach, fand Harry. Am besten ging man immer den nächsten Schritt weiter.

"Was hast du denn da noch gelesen?", fragte Harry dann, hauptsächlich, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Er konnte es nicht ertragen, ihr jetzt schweigend gegenüber zu sitzen. "Du hast doch selbst gesagt, dass zum Thema Horcrux-Vernichtung nichts drin steht."

"Man kann nie wissen, was einem vielleicht noch nützlich ist, oder?", fragte sie mit einem Anflug ihrer früheren schnippischen Altklugheit. "Und außerdem ist es schon sehr fesselnd, ein Buch zu lesen, das so verboten ist. Wer weiß, ob ich das je wieder in die Hände kriege!"

"Ich schenk es dir", sagte Harry düster.

"Wusstest du, dass Slytherin aus noch viel älteren Quellen geschöpft hat?", fragte Hermione, die wieder einmal vom wissenschaftlichen Eifer davongetragen wurde.

"Hattest du nicht mal was vom Kommentar gesagt, wo der Typ auf die älteren Quellen verweist?", sagte Harry, bemüht, ihrem Eifer zu folgen, obwohl ihm Quellenforschung im Moment ferner lag als je zuvor.

"Genau. Du hast mir ja zugehört!", sagte sie erfreut. "Also, heute Morgen hab ich die Übersetzung der Einleitung gelesen. Nichts, was uns jetzt betreffen würde. Aber es war interessant. Da gibt's 'ne uralte Legende, von den Sieben Königen der Finsternis, das waren schwarze Magier aus aller Welt, sozusagen die Urväter der schwarzen Magie, auf die alle Grundlagen dieser Kunst zurückgehen sollen. Ihnen wurde jede Menge Geheimwissen zugeschrieben, das sie von Generation zu Generation weitergegeben haben, immer an einen aus der Familie."

"Ich hoffe, keiner von denen hieß Potter!", seufzte er. "Sonst kriegen diese Gören hier vielleicht noch mal Recht!"

Von einem Bücherregal neben der Tür warf ihnen Madam Pince argwöhnische Blicke zu, und Harry erwartete jeden Moment, dass sie ihnen das Reden verbot.

"Nee, das sind alte Namen, von denen mir keiner was sagt", antwortete Hermione. "Die stammten aus aller Welt, China, Mesopotamien, Ägypten, keltische Gebiete, Indien."

"Ob die Slytherins auch auf so eine Familie zurückgehen? Also, Voldemort wäre doch sicher nichts lieber als ein Nachkomme von so einem König! Du weißt schon, Lord Voldemort und so!"

"Harry, ich glaub, das ist nur 'ne Legende."

"Sagt er denn was zu den Slytherins – ich meine, das ist doch seine eigene Familie!"

"Wenn, dann sagt er es nicht offen. Er sagt über die Peverells – du weißt schon, die Familie seiner Frau – irgend so einen schwülstigen Kram, dass sie aus ältestem magischem Geblüt entstammen."

"Wenn du mich fragst, ist das nur 'ne Masche, um sich selbst bedeutungsvoller zu machen. Die ganze Sache ein bisschen geheimnisvoll aufzuplustern."

"Das seh' ich auch so", sagte sie, während sie dennoch suchend in dem Buch blätterte. "Und helfen kann es uns jetzt auch nicht. – Hier ist es, genau, er nannte es plejadischen Adel – du weißt schon, Plejaden, das Siebengestirn."

"Ja, erinnert mich dunkel an irgend'ne Stunde bei Sinistra", sagte Harry und unterdrückte ein Gähnen. "Wirkt auf mich wie Wortgeklingel. Ehrlich gesagt, glaub ich immer weniger, dass man aus diesem Buch was wirklich Nützliches erfahren kann. Das ist alles so ein verschwurbeltes Zeug, Andeutungen hier, unübersetzter Kram da – warum konnte der nicht klar und deutlich schreiben, was er sagen wollte?"

"Vielleicht, weil es sich um geheime Wissenschaften handelt?", erwiderte Hermione mit einem müden Grinsen. "Was ich dich schon die ganze Zeit fragen will: Was hast du denn gestern noch in deinem Tränkebuch gefunden? Hatte Snape wirklich was darin versteckt?"

"Gar nichts. Blöder Scherz, wenn du mich fragst. Wenn er irgendwas daran verändert hat, ist es mir jedenfalls nicht aufgefallen. Was meinst du, sollten wir den Sei-mein-Auge-Zauber mal ausprobieren?", fragte Harry, vielleicht eine Spur zu hastig.

"Äh – ich weiß nicht. Ich find's etwas komisch, dass er nicht auf Latein ist wie die anderen – das wirkt auf mich mehr wie so 'ne Notiz, irgendwie unfertig."

"Ja, da hast du Recht. Das ist mir noch gar nicht aufgefallen. Was meinst du, warum er das gemacht hat?"

"Vielleicht hatte er sich noch keine passende lateinische Version ausgedacht? Oder – vielleicht hatte er den Zauber ja aus einer anderen Sprache? Und musste ihn erst noch irgendwie übersetzen?"

"Du meinst, es war vielleicht gar keine eigene Erfindung?"

"Keine Ahnung. Ich versuch nur, 'ne Erklärung zu finden."

"Wie könnte man ihn lateinisch übersetzen?"

"Äh – 'Esto oculus meus', so ungefähr, glaube ich. Aber ich könnte mir denken, dass man für diesen Zauber 'ne Menge – na ja, diese Fähigkeiten haben muss, die man für Okklumentik und so braucht."

"Du meinst – Disziplin?", fragte er mit halbem Lächeln.

"So in etwa", grinste sie. "Seine Sinne übertragen – das klingt für mich ganz schön schwierig, egal, wie der Zauberspruch geht."

Harry sah sie schweigend an. Jetzt. Jetzt musste es sein. Aber er brachte es nicht heraus.

"Gibt's was Neues? Von Neville?", fragte sie alarmiert, als sie merkte, dass er an etwas herumdruckste.

"Nein – nein, das ist es nicht. Hermione – ich glaub, wir können nicht so weitermachen", sagte er mit einem Kloß in der Kehle.

Sie wandte den Blick ab.

"Ja, das glaube ich auch", sagte sie nach einer Weile. "Es ist nicht in Ordnung."

"Wir müssen hier erst mal durch. Und dann – Ron – "

Sie nickte.

"Ich kann das auch nicht ertragen", flüsterte sie. "Ich war so lange – so lange verliebt in ihn – oder ich dachte das jedenfalls – und dann, als er endlich ein bisschen – auf mich zukam, da – ich weiß auch nicht. Als hätte ich mich vertan, als hätte ich eigentlich dich gemeint, Harry. So war das. Ich hab mich total geschämt. Aber ich hab Ron so gern. Er ist doch unser bester Freund."

Er hätte sie zu gern an sich gezogen und festgehalten. Aber dann hätte er das hier nicht mehr durchziehen können, das wusste er.

"Er ist total sauer. Hab vorhin versucht mit ihm zu reden. Aber – da ging nichts. Kannst du – ein bisschen auf ihn aufpassen? Dass er keinen Blödsinn macht, irgendwelche komischen hirnlosen Heldentaten oder so?"

"Wenn du denkst, der redet noch mit mir, irrst du dich. Ich bin Luft für ihn."

Einen Moment lang sahen sie beide schweigend aus dem Fenster hinaus in das schweflige Grau des Tages.

"Ich hau mich jetzt einfach 'ne Weile hin. Bin furchtbar müde", sagte er dann so lässig wie möglich.

"Du willst jetzt in den Schlafsaal?"

"Klar. Keine Sorge, den Alarm werd ich wohl kaum verpassen", sagte er mit einem schiefen Grinsen und wandte sich zum Gehen. "Ich lass das Abendessen ausfallen."

"Harry! Geh doch nicht so! Bitte!", sagte sie leise. Sie war aufgestanden.

Er drehte sich um und umarmte sie, und dann küssten sie sich doch. Es war wie draußen beim Gewächshaus, ein Kuss zum Versinken, aber er machte sich los und streichelte ihr Haar. Dabei fing er den äußerst giftigen Blick von Madam Pince auf, die offenbar schon zu einer Tirade ansetzen wollte.

"Ich geh dann jetzt."

Sie blieb am Fenster stehen, während er die Treppen hinunterrannte und sich zwang, an nichts zu denken. Oder an den blödsinnigen kleinen Soldaten mit seiner Trompete. Oder an eine andere Weasley-Erfindung, die Wildfeurigen Wunderknaller, die damals in der Fünften so ein herrliches Chaos gestiftet hatten. Er musste tatsächlich grinsen, als er an die Wunderkerze dachte, die so unermüdlich "KACKE" über den Abendhimmel geschrieben hatte ...

Nur nicht an Hermione denken, die jetzt allein da in dieser Bibliothek saß.

oooOOOooo

Er ging auch tatsächlich noch einmal zum Schlafsaal, der zum Glück verlassen war. Hier überprüfte er, ob sein Koffer mit dem Passwort verschlossen war, dann sperrte er ihn in den Schrank und hoffte, dass, wer immer ihn herausholen mochte, sich die Zähne daran ausbeißen würde. Schließlich nahm er seinen Winterumhang, vergewisserte sich, dass das Medaillon noch in seiner Hosentasche und das gefaltete Blatt aus Snapes Tränkebuch in seiner Hemdtasche war, dann ging er leise hinaus.

Die Zeit war endgültig abgelaufen.

oooOOOooo

Harry ging langsam den Flur entlang. Er hatte sich zwar den Tarnumhang übergeworfen, aber tief in ihm hoffte dieses eine Mal etwas darauf, dennoch entdeckt zu werden. Natürlich begegnete ihm niemand. Nicht einmal einer der Wache gehenden Phönixleute oder Auroren. Der Unterricht – soweit er heute überhaupt stattgefunden hatte – war auch vorbei. Es ging aufs Abendessen zu.

Harry erreichte Professor Harpers Büro ungesehen, öffnete die Tür ungehindert und stand dann in dem stillen, kleinen Raum mit seinem Bücherregal, dem unbequemen Holzstuhl vor dem Schreibtisch und – dem Spiegel dahinter, immer noch von Professor Harpers schwarzem Umhang verborgen.

Sekundenlang stand er einfach da und glaubte zu fühlen, wie die Zeit wegtickte, ein dünner, goldener Zeiger, der in winzigen, ruckartigen Bewegungen im Kreis über ein augenloses Gesicht lief und immer weiter lief.

Gab es denn keinen Ausweg? Keinen anderen Weg?

Er fragte sich, wann man sein Fehlen bemerken würde. Er war sich überhaupt nicht sicher, ob dies hier ein Weg sein würde. Aber seit er Trelawney von den dunklen Spiegeln hatte reden hören, glaubte er, dass das kein Zufall gewesen sein konnte. Und wenn es nicht klappte, dann würde er Hogwarts eben einfach durch die Tür verlassen. Voldemort brauchte nicht hierher zu kommen. Er, Harry, würde zu ihm gehen. So weit hatte Ron Recht gehabt.

Endlich ging er die paar Schritte bis zum Spiegel. Zögernd zupfte er an einer Saumkante des Umhangs, sah ein Stück der seltsam schwimmenden bronzenen Fläche dahinter aufschimmern.

Wie still es hier war! Dies war nicht mehr Hogwarts, wie es sein sollte.

Er nahm den Umhang vom Haken über dem Spiegel und sah endlich hinein.

Dunkle, schlierige Bronze, die in ganz sachter Bewegung zu sein schien. Gewölbt wie das Innere einer Kugel. Es sah faszinierend aus, und immer meinte er, endlich die Bewegung gesehen zu haben, mit der sich die Schlieren in- und umeinander verschoben, aber nie sah er sie wirklich. Man konnte sich verlieren in dieser Betrachtung ...

Aber dafür stand er nicht hier. Er nahm seinen Zauberstab und sagte nach einem tiefen Atemzug, als mache er sich für einen Tauchgang bereit: "Alohomora!"

Nichts passierte. Er versuchte es noch einmal, diesmal mit "Dissendium!"

Nichts. Einen Moment lang hatte er geglaubt, von ganz, ganz fern ein Geräusch zu hören – wie das Rauschen einer Brandung. Aber dann war doch alles still.

Ratlos stand er vor dem Spiegel. Fürs Erste war ihm ganz der Wind aus den Segeln genommen worden.

Ein Knacken ließ ihn herumfahren. Da stand Professor Harper in der Tür und lachte leise. Sie kam herein, und Harry wunderte sich nicht wirklich, als sie die Tür mit einem Zauberstab verschloss.

"Colloportus!", sagte sie lässig, wenn auch mit krächzender, fast tonloser Stimme.

"Und ich dachte, Moodys Auge entgeht nichts!", sagte er erbittert.

"Oh, das ist auch so", erwiderte sie. "Ich war völlig unbewaffnet und bin es noch. Wenn Sie den Zauberstab meinen – den habe ich mir auf der Krankenstation ausgeliehen. Bei Miss Ripley, so heißt sie, glaube ich."

Mit Schritten, die trotz aller Selbstbeherrschung nicht verbergen konnten, dass sie blind war, ging sie zu dem Holzstuhl und setzte sich. Harry stand ihr ergeben gegenüber, die Arme hatte er hilflos sinken lassen. Er fühlte sich seltsam gelähmt.

"Ist es nicht ein Risiko, mit einem fremden Zauberstab zu zaubern?"

"Ach, Sie glauben doch nicht etwa diesen romantischen Quatsch? Das ist alles Unsinn. Wenn Sie ausreichend entschlossen sind, Mr Potter, können Sie mit jedem Zauberstab zaubern. Auch ohne dass sein Besitzer Ihr Seelenzwilling ist!", sagte sie mit ironischem Grinsen.

"Und wir dachten, Sie liegen quasi im Sterben."

"Tja. Das war ein Irrtum. Poppy Pomfrey versteht ihr Handwerk. Ein paar heiße Getränke, und ich war wieder fast wie neu. Jedenfalls funktioniert meine Stimme wieder", sagte Harper und verschränkte die Arme.

"Woher wussten Sie, dass ich hier sein würde?"

"Ich wusste es nicht. Aber ich habe es vermutet – nachdem ich stundenlang der armen Trelawney zugehört hatte. Sie war ja völlig außer sich. Muss schon schrecklich sein, wenn man plötzlich wirklich etwas sieht, mit dem Inneren Auge, meine ich."

Ihr spöttischer Ton reizte Harry.

"Also, was wollen Sie jetzt? Mich zurückhalten? Und warum?"

"Nein, Mr Potter, ich will Sie nicht daran hindern, Ihre Bestimmung zu erfüllen! Ich will nur vorher mit Ihnen reden."

"Das trifft sich gut", sagte Harry, mit einem Mal wütend. "Fangen Sie doch mal an! Wo ist das Messer? Was haben Sie damit gemacht? Wo waren Sie?"

Harper lachte wieder leise. Jemand hatte ihr die angesengten Haarsträhnen abgeschnitten, so dass sie nun wie geschoren aussah und viel jünger als vorher. Der Blick dieser von einem milchigen Schleier überzogenen grauen Augen war schwer zu ertragen, auch wenn Harry sich ziemlich sicher war, dass ihre Blindheit nicht gespielt war.

"Ich glaube, so funktioniert das nicht, Harry. Lassen Sie mich erst mal loswerden, was mir wichtig erscheint."

"Wichtiger als ein Horcrux von Lord Voldemort?", schnappte Harry.

"Wichtig im Hinblick auf das, was Sie vorhaben", erwiderte sie sanft. "Lassen Sie sich warnen. Sie sind noch nicht bereit dafür. Sie haben doch sicher gehört, dass der Dunkle Lord ein Meister der Legilimentik ist. Leider verstehen Sie sich aber so gar nicht darauf, Ihren Geist zu verschließen. Und das sollten Sie können."

"Und um mir das zu sagen, haben Sie Ihr Krankenbett verlassen? Ihr Vorgänger hat mich schon darauf aufmerksam gemacht, vielen Dank."

"Und das ist mein zweiter Punkt. Hüten Sie sich vor Snape!", sagte sie eindringlich und plötzlich ohne jeden Spott.

Harry erschauderte unwillkürlich.

"Darauf bin ich auch schon gekommen", sagte er, aber er merkte, dass sein schnippischer Ton nicht ganz überzeugend wirkte.

"Schön. Dann wäre das gesagt, und nun können Sie mir Fragen stellen."

Harry lachte spöttisch auf, er konnte nicht anders.

"Also gut. Das Messer. Das Messer der Rowena Ravenclaw, das Sie mit dreizehn Jahren für Voldemort gestohlen haben und dann Jahre später – wie ich vermute – mit ihm zusammen im See von Hogwarts versenkt haben – wo ist das?"

"Es wird keinen Schaden mehr anrichten", sagte sie. "Wenn es das war, was Sie wissen wollten."

"Es ist ein Horcrux!"

"Das ist mir bewusst, Mr Potter", sagte sie ruhig. „Aber jetzt ist es das nicht mehr!"

Harry erstarrte. War das nicht endlich das, was er hatte hören wollen? Warum nur fühlte er sich nicht beruhigt?

"Sie haben es vernichtet! Aber warum – warum erst jetzt, nach all den Jahren?", fragte er drängend. "Sie haben das doch gewusst! Sie hätten doch schon viel früher handeln können! Warum erst jetzt?"

"Oh, Harry Potter! Das könnte eine lange Antwort werden! Und Sie werden sie vielleicht gar nicht verstehen."

"Versuchen Sie's!"

"Wenn ich Ihnen sage, dass ich sehr mit meinen Studien beschäftigt war und mich auch scheute, etwas wieder aufzurühren, das mir ganz gut geborgen erschien, werden Sie sicher nicht zufrieden mit meiner Antwort sein, oder?", fragte sie mit einem Seufzen.

"Ganz bestimmt nicht!"

"Und sehen Sie, da ist unser Problem, Mr Potter", sagte sie mit einem Lächeln, das ihn richtig in Wut versetzte. "Denn das ist durchaus die Wahrheit. Aber Sie und ich, wir leben sozusagen in verschiedenen Welten. Ich versuche es trotzdem. Sehen Sie – ich teile Dumbledores Moralvorstellungen nicht, um es auf die kürzeste Formel zu bringen.

Diese Welt besteht nun mal aus Licht und Dunkel – und beide sind nichts ohne das andere! Ohne Dunkel gäbe es kein Licht. Unser Dasein entsteht nur in der Spannung zwischen diesen beiden Polen. Nehmen Sie einen weg, dann schnurrt das, was Sie Wirklichkeit nennen, in einen Punkt zusammen, zu etwas, in dem Leben wie wir es kennen, nicht mehr möglich ist.

Aber Leute wie Sie oder Dumbledore werden mir da nie zustimmen. Sie sind der Ansicht, das, was sie für gut halten, müsse am Ende unbedingt über das 'Böse' siegen. Sie können nicht einmal verstehen, dass man darüber auch anderer Ansicht sein kann."

"Heißt das, Sie wollen den Mörder Ihrer Mutter nicht bestraft sehen?"

"Macht das meine Mutter wieder lebendig? Oh, ich weiß, diese Frage wird Sie wieder empören – und doch ist sie berechtigt. Das Verlangen nach Rache ist übrigens auch einer der Motoren, die das, was Sie böse nennen, in Gang halten!"

Ich sollte sie entwaffnen, dachte Harry. Solange es noch geht.

Als er sie ansah, begegnete ihm ein wissendes Lächeln.

"Nun beruhigen Sie sich. Ich sagte doch, ich werde Sie nicht aufhalten! Hören Sie mir einfach zu! Sie sind empört, in Ordnung! Ich sagte ja, dass es schwierig sein würde, sich über die Grenzen zwischen uns hinweg verständigen zu wollen.

Die Welt lebt nun einmal nur in der Spannung zwischen Gut und Böse. Lassen Sie mich der Einfachheit halber Ihre wertenden Bezeichnungen verwenden. Diese Aufspaltung ist nicht gut oder schlecht oder überhaupt irgendetwas, über das wir diskutieren sollten! Sie ist der Nährboden unseres Daseins. Sie ist die Determinante unserer – na ja, vergessen Sie's, ich fasse mich kurz!", unterbrach sie sich, wieder mit diesem leisen Lachen. "Ich will damit sagen, dass ich keinen Drang verspüre, mich für den Sieg einer dieser beiden Seiten über die andere einzusetzen. Ein solches Unternehmen käme mir absurd vor, und – verzeihen Sie – sehr naiv. Töten Sie Voldemort! Aber Sie glauben doch nicht, dass Sie damit das Böse ausmerzen, oder?"

"Sie sind – ein Ungeheuer", sagte Harry leise und fassungslos. "Sie wissen, dass er böse ist! Sie kennen ihn! Und Sie lassen es zu – lassen ihn weitermachen, obwohl Sie ihn doch sogar täuschen konnten!

"Oh, ich verdanke Voldemort eine Menge! Weit mehr als meinem eigenen Vater, wenn ich es recht bedenke.

Harry, denken Sie doch mal nach. Richtig, Ihre Eltern sind durch ihn gestorben. Aber ist nicht der Tod das Schicksal, das uns alle trifft? Er hat ihre Zeit nur verkürzt. Und Ihnen damit eine Bestimmung gegeben! Nein, unterbrechen Sie mich jetzt nicht – ich weiß ja, was Sie sagen wollen! Aber sehen Sie es einmal, ein einziges Mal von einer anderen Seite!

Wer wären Sie denn heute, wenn das nicht geschehen wäre? Irgendein kleiner Zauberlehrling, ohne besonderen Ehrgeiz, ohne besondere Gaben; ein hohles, unausstehliches Bürschchen im bequemen Haus Ihres wohlhabenden Vaters – der letztlich auch nichts anderes gewesen ist! Aber so hat Ihr Leben einen Sinn, eine Aufgabe bekommen!

Was immer geschieht, es hält das Pendel in Schwung – und das allein zählt! Es schlägt mal nach hier, mal nach dort aus – aber es bleibt in Bewegung."

"Ich kann nicht glauben, dass Sie das wirklich so sehen! Warum sollten wir denn dann überhaupt etwas tun? Und was?"

"Nun ja, ich halte das Streben nach Wissen, nach – nennen wir es Erkenntnis, durchaus für einen lohnenden Zweck!"

"Warum haben Sie es dann doch getan – das Horcrux vernichtet? Warum jetzt!"

"Sagen wir einfach, ich sah nach Dumbledores Tod das Gleichgewicht ein wenig in Gefahr. Ich streue ein wenig Sand ins Getriebe – aber ich werde mich nie für den Bau einer neuen Maschine einsetzen, wenn Sie verstehen, was ich damit sagen will."

"Und deshalb sind Sie jetzt nach Hogwarts gekommen, nach all den Jahren?"

"Nicht nur. Ich war da auf etwas gestoßen – ich wollte mit Snape sprechen, etwas überprüfen. Dass er Dumbledores Mörder war, ahnte ich nicht, als ich mich in Hogwarts bewarb."

"Ja, der wird hier immer noch gut bedeckt gehalten", schnaubte Harry. „Hier, und im Ministerium auch!"

"Nun ja, ein langjähriges Mitglied des Lehrkörpers – noch dazu jemand, dem Dumbledore vertraut hat. Das müssen Sie ihnen nachsehen. Aber noch einmal: Seien Sie gewarnt vor Severus Snape. Wenn ich Recht habe, ist er eine der gefährlichsten Personen in diesem Spiel."

"Spiel –"

"Genau, Harry, ein Spiel! Denn es ist eins! Sie müssen sich nur darüber im Klaren sein, was Sie erreichen und was Sie einsetzen wollen. Und wo wir gerade dabei sind – meine Rolle dabei habe ich gespielt. Ich sehe meine Aufgabe hier als erledigt an. Jetzt möchte ich nur noch etwas zurück, von dem ich annehme, dass es sich inzwischen in Ihrem Besitz befindet."

Und schneller, als Harry überhaupt begreifen konnte, stand sie neben ihm, packte sein Handgelenk und hielt es mit eisernem Griff. Wieder hob er den Zauberstab, und wieder schüttelte sie nur den Kopf. Sie tippte ihn sanft mit dem gestohlenen Zauberstab an, und er fühlte, wie alle Kraft aus seiner Zauberstabhand zu weichen schien.

"Nein, Harry, lassen Sie das doch. Es war Regulus' Tagebuch, habe ich Recht? Das Buch, das diesen Hauself getötet hat? Und Sie haben noch mehr gefunden, vielleicht sogar darin, nicht wahr?"

Die blinden Augen hatten einen unheimlichen Glanz angenommen, wie silbrige Spiegel.

"Geben Sie mir das Medaillon! Sie können ohnehin nichts damit anfangen und bringen sich nur in noch größere Gefahr! Geben Sie es mir, und dann gehen Sie, wenn Sie glauben, dass das Ihre Bestimmung ist!"

Er stand schwer atmend unmittelbar vor dem Spiegel und fühlte eine leise Kühle von ihm ausgehen, wie einen Durchzug, als sei irgendwo eine Tür einen Spalt weit geöffnet worden –

"Warum sagen Sie nicht einfach Accio!?", fragte er böse.

"Seien Sie nicht dumm, Harry!", sagte sie ernst. "Ich sage Ihnen, Sie sind noch nicht bereit dafür! Und dieser Weg hier ist nichts für Leute, die sich so wenig auf Okklumentik verstehen wie Sie."

"Nur noch eine Frage!", sagte Harry, dem plötzlich etwas eingefallen war, das er eigentlich Hermione vorhin hatte fragen wollen. "Was bedeutet Ihr Name? Hekate?"

"Bei den Griechen war Hekate die Göttin der Zauberei – und noch weit mehr –"

"Dann hatte ich also Recht –"

Er schüttelte ihre Hand ab und machte mit einem tiefen Atemzug einen hastigen Schritt vorwärts – in den Spiegel.

"Sie Dummkopf! Vergessen Sie wenigstens nicht, die Tür zu schließen!", rief sie ihm nach, und von ihrer Faust baumelte ein golden glänzender Gegenstand herab. "Und – hüten – Sie – sich – vor – Snape!"

oooOOOooo

Ron ging seit einer Stunde auf der Mauer hin und her. Es war inzwischen eiskalt geworden, er konnte seinen Atem in weißen Schwaden in der Abendluft stehen sehen. Das dichte Gewölk, das sich den ganzen Tag über so bedrohlich am Himmel zusammengezogen hatte, war über dem Horizont aufgerissen, kurz bevor die Sonne unterging. Jetzt standen noch letzte schwärzlich-rote Wolkenbahnen im Westen, während in einem Streifen grünlichen Abendhimmels darüber die ersten Sterne blinkten. Es sah aus wie der Anfang einer eisigen Winternacht.

Ron trug drei Pullover übereinander und fühlte einen seltsamen Trost von den sonst so wenig geliebten Stücken seiner Mutter ausgehen, aber ihm war immer noch kalt.

Er sah auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten, dann würde Tonks ihn hier ablösen, und er konnte endlich einen heißen Kaffee trinken da unten in der 'Zentrale' und bei den Phönixleuten untertauchen. Im Moment wollte er keinen seiner Mitschüler sehen. Es würde gut sein, wenn Bill oder George oder Moody nachher ein Butterbier mit ihm trinken würden. Andererseits – stillsitzen war im Moment auch nichts. Ob mit Bier oder ohne.

Er schlug seine Hände zusammen, um sie zu wärmen. Wie konnte es Anfang September nur so kalt sein?

Er blieb an der Brüstung stehen und sah hinunter auf das Gelände. Sechs Jahre! Sechs Jahre war er hier zu Hause gewesen! Er konnte sich sein Leben ohne diesen Ort und ohne die Freunde, mit denen er hier gelebt hatte, einfach nicht vorstellen. Aber seit er gesehen hatte, wie Harry Hermione küsste, war diese Welt für ihn zusammengebrochen. Sicher, er und Hermione waren irgendwie nie so richtig weitergekommen mit ihrer Beziehung, aber es war doch klar gewesen, dass sie sein Mädchen war, oder? Und was sollte das von ihr – war sie nicht das ganze letzte Jahr zickig und eifersüchtig gewesen wegen ihm, Ron? Hatte er da was total missverstanden? Aber dass Harry und Ginny zusammen waren, das hatte er sich jedenfalls nicht eingebildet. Und er hatte Ginnys verweintes Gesicht am Abend von Bills Hochzeit noch sehr deutlich in Erinnerung. Da war er schon wütend auf Harry gewesen. Und dann jetzt das.

Oh, er kam nicht drüber weg. All die Jahre hatte er ihm vertraut. Da war oft ein Funke von Neid und Eifersucht in ihm gewesen, weil Harry alles einfach zuflog, was er selbst gern gehabt hätte – wenn er da nur an Quidditch dachte ... Aber im Grunde seines Herzens hatte er nicht an ihm gezweifelt, hatte diese ewig drohende Konfrontation mit Voldemort als schicksalhaft hingenommen – als etwas, das Harry sich selbst am allerwenigsten gewünscht hatte.

Aber dann, als er die beiden sah, wie sie sich küssten – irgendwo draußen, obwohl die ganze Schule in Angst vor den Dementoren war und ihre ganze Welt hier sich aufzulösen schien, da fielen die Worte Rita Kimmkorns und so manches anderen wie glühende Funken zurück in sein Herz.

Was, wenn doch etwas dran war, wenn es da doch eine dunkle Kraft in seinem Freund gab, wenn er sie alle betrog? Vielleicht war ja auch etwas mit ihm geschehen, damals, als Dumbledore ermordet wurde oder als er mit ihm unterwegs gewesen war – irgendwas, das von ihm Besitz ergriffen hatte–

Es fiel ihm schwer, so von Harry zu denken – und doch, es fiel ihm genauso schwer, diesen Keim des Zweifels ganz auszureißen, seit der einmal aufgekommen war. Vor allem aber stürzte er sich auf alles, was seine Wut auf Harry nährte.

Er sah wieder auf die Uhr. Noch knapp zehn Minuten. Da sah er Tonks vom Turm her schon auf sich zukommen. Sie hob die Hand zum Gruß, dick eingemummt gegen die Kälte, ihr spitzes Gesicht aber trotzdem schon bläulich verfroren.

Er hatte Tonks gern. Seit Lupins Tod sah sie aus, als würde sie vor die Hunde gehen. Überhaupt, Lupin. Er konnte nicht an ihn denken, ohne dass sich in seiner Kehle etwas verkrampfte. Und Tonks' Worte zu Harry wollten sich einfach nicht verdrängen lassen: Ist dir klar, dass er deinetwegen hier war? Dass er deinetwegen gestorben ist, das war es doch, was sie damit hatte sagen wollen.

"Hi, Ron. Kalt heut Abend, was?"

"Hm. Freu mich schon auf 'n heißen Kaffee. Wie sieht's denn drinnen so aus?"

"Alles ruhig. McG hat die Sache hier wirklich im Griff. Rita Kimmkorn sollte jetzt mal vorbeisehen. Von wegen überfordert und so."

"Ja, die Frau hat's drauf", stimmte Ron zu.

"Sie hat sogar Alastor zur Pomfrey – hey, hörst du das auch?"

Sie stand auf einmal ganz still und lauschte. Dann hörte Ron es. Ein komisches, plätscherndes Geräusch, das er sich beim besten Willen nicht erklären konnte.

Sie gingen hastig zur Brüstung, um sich umzusehen. Aber da war nichts zu sehen. Das Geräusch wurde jetzt lauter, unüberhörbar und auf unbestimmte Weise bedrohlich.

"Was kann denn das –"

"Da! Der See!", japste Tonks.

Nun sah Ron es auch. Da war nicht länger die schimmernde Fläche, die den Abendhimmel spiegelte. Stattdessen blickten sie in wild aufgewühltes, strudelndes Wasser hinab. Als würde der ganze See in einem riesigen Kessel kochen. Hier und da sprühten hohe Fontänen in die stille Luft.

"Was ist das?", flüsterte Tonks mit blassen Lippen. "Der Krake kann's doch nicht sein?"

"Nein! Nein, verdammt!" Ron schwang sich auf seinen Besen. "Wir müssen sofort Alarm auslösen! Die kommen durch den See! Oh verdammt, hat denn da keiner dran gedacht! Karkaroff hat das damals auch so gemacht – mit der Mannschaft von Durmstrang!"

Und er schoss so schnell hinab, wie sein Besen es eben schaffte.

Aber Tonks blieb oben auf der Mauer stehen und starrte in das Wasser, unfähig den Blick davon zu lösen. Sekunden später tauchten in den umgewälzten, sich aufwerfenden Wassermassen kleine Flöße auf – fünfzehn, zwanzig Stück? Und auf jedem konnte sie Leute sehen, mindestens zehn Mann pro Floß, schätzte sie.

Sie konnte nicht mehr atmen.

Jetzt waren die Stimmen sogar zu hören. Rufe im Befehlston hallten über den See. Die Flöße trieben ans Ufer, die Leute sprangen herunter aufs Festland. Das Wasser beruhigte sich.

Sie hörte, wie Georges lächerlicher Alarm durch die ganze Schule dröhnte, und ahnte, dass drinnen jetzt das Rennen und Flüchten einsetzte.

Und unten am See fächerten sich die Ankömmlinge auf, setzten dazu an, in drei Reihen hintereinander einen Ring um die Schulgebäude zu ziehen, wie es aussah. Tonks in ihrer atemlosen Panik sah, wie dort unten in der einbrechenden Dunkelheit zahllose winzige Lichtpunkte aufflammten, als die Angreifer Fackeln entzündeten. Das mussten ein paar hundert sein! Als sie näher rückten, konnte sie die schwarzen Kapuzenmäntel der Leute im vordersten Ring erkennen.

Ein paar Hundert! Und sie – sie waren eine Handvoll Leute vom Phönixorden, vier oder fünf Auroren zusätzlich und vielleicht noch fünfundzwanzig Schüler mit ein paar Lehrern! Sie würden einfach überrannt werden! Wenn Moody und McGonagall etwas anderes vorhatten als die Kapitulation, waren sie verloren!

"Nein!", hauchte sie. "Nicht kampflos! Nicht kampflos!"

Und sie stürzte sich auf ihrem Besen ebenfalls hinunter in die Tiefe.

Sie kam hart auf dem gefrorenen Gras auf, eben als Moody mit McGonagall aus dem Hauptportal kam.

Hier unten war die Dunkelheit schon fast vollkommen, und der Ring aus Fackeln tragenden schwarzen Gestalten rückte bedrohlich näher.

"Sie haben uns", sagte McGonagall tonlos, als sie neben Tonks stehen blieb. "Wir haben den See vergessen. Ich war einfach davon ausgegangen, dass die Schildzauber auch da wirken."

"Wenn Snape bei ihnen ist, hatten die Schilde ohnehin keine Chance. Egal, wie sehr ihr sie verändert habt", erwiderte Moody bitter.

Durch die Dunkelheit schallten harte Stimmen. Offenbar wurde ein Halt befohlen.

Die Verteidiger standen wie erstarrt vor der Treppe und sahen zu.

Tonks erkannte die Gestalt, die sich nun aus dem vordersten Ring löste. Ihr Gesicht war nicht von einer Maske bedeckt, und außerdem riss sie sich nun mit einer triumphierenden Geste die Kapuze vom Kopf. Der Fackelschein fiel auf Bellatrix Lestranges schwarzes Haar. Tonks glaubte beinahe, ihre leuchtenden, hasserfüllten Augen von hier aus sehen zu können, als sie nun den Zauberstab hob.

"Morsmordre!", gellte ihre Stimme wild über das Gelände.

Und Tonks, Ron, Moody, McGonagall und die anderen, die inzwischen ihre Stellungen auf den Türmen und vor den Eingängen bezogen hatten, mussten mit ansehen, wie der grüne Totenkopf riesig und gleißend in den Abendhimmel aufstieg, um dann über dem Astronomieturm innezuhalten.

"Hogwarts für den Dunklen Lord!", schrie Bellatrix und ging ihren Leuten voran in Richtung auf das Hauptportal zu.

"Wir müssen uns ergeben", sagte Moody zähneknirschend.

Sie starrten den Näherkommenden entgegen, unfähig, etwas zu unternehmen.

"Nein", sagte da Tonks neben ihnen, die immer noch ihren Besen in den frostkalten Händen hielt. "Ich ganz bestimmt nicht!"

Und bevor einer der anderen sie zurückhalten konnte, war sie schon auf ihrem Besen und jagte genau auf den ersten Ring der Angreifer zu.

Zwei, drei Meter über Bellatrix brachte sie ihren Besen zum Halten – ein Manöver, das Ron trotz aller widrigen Umstände bewundern musste – und riss ihren Zauberstab in die Höhe.

"Avada Kedavra!", schrie sie. "Das ist für Sirius, du Miststück!"

Fassungslos sahen die anderen zu, wie von ihrem Besen ein grüner Blitz zuckte, der Bellatrix, die ebenso überrascht wie alle anderen nach oben starrte, auf jeden Fall getroffen hätte. Aber da sprang aus dem ersten Ring eine große, wolfsartige Gestalt hervor und riss sie grob zur Seite. Der Blitz schlug zischend in den Boden, wo das Gras mit einer kleinen Rauchfahne schwarz verdorrte.

"Aber nein!", rief der Werwolf. "So eine junge Frau – du willst doch nicht für den Rest deines Lebens nach Azkaban?"

Und mit einem wilden Lachen machte er einen riesigen, kaum glaublichen Sprung, packte Tonks und ließ sich mit ihr in den Armen zurück auf den Boden fallen.

"So ein zartes Stück Fleisch!", rief er, und Ron glaubte zu hören, wie er seine Zähne in ihre Kehle schlug.

Nein, schrie es in ihm. Nein, neiin!

Das Ganze hatte keine zehn Sekunden gedauert, und nur Moody war so schnell, dass er jetzt den Zauberstab auf das wolfsartige Wesen richten konnte, dessen blutige Zähne das böse Licht des Dunklen Mals einzufangen schienen. Tonks lag wie eine zerbrochene Puppe in seinen Armen.

"Petrificus totalus!", sagte Moody und traf.

Er stürmte vor und zerrte Tonks aus der Umklammerung, bevor Greyback hilflos zu Boden krachte.

Keuchend war er fast wieder bei ihnen angekommen, als Bellatrix sich aufgerappelt hatte und dem aufkommenden Tumult in der ersten Reihe ihrer Leute mit einer Handbewegung Einhalt gebot.

"Ruhe! Bleibt zurück! Das regeln wir anders. Denkt an die Worte eures Herrn!"

"Wir müssen sie sofort reinbringen!", sagte McGonagall.

"Nein, nein", sagte Tonks da, leise, aber ganz klar und deutlich. "Kümmert euch nicht um mich! Mir kann nichts mehr passieren."

Erst jetzt sah Ron, dass sie kaum blutete. Ihr Umhang und der Pullover darunter waren über ihrer rechten Schulter aufgerissen, und da sah er eine kleine, nicht besonders stark blutende Wunde.

Unglaublicherweise hörte er Tonks leise lachen.

"Ich kann es fühlen. Es – rieselt durch mich hindurch. Ich – werde – wie – er –"

Und ein verzerrtes Lächeln lag auf ihrem weißen, spitzen Gesicht.

"Warum hast du ihn nicht getötet?", fragte sie dann Moody. "Er hat Remus umgebracht!"

"Bring sie rein, Ron!", befahl Moody. "Die Pomfrey soll sehen, was sie tun kann, aber bring sie auf jeden Fall in die Schutzräume!"

Ron nahm den erstaunlich leichten Körper aus seinen Armen entgegen. Ein unbeschreibliches Grausen hatte ihn gepackt, das sich verstärkte, als er in Tonks Augen sah. Darin spiegelte sich das grüne Gleißen, das über ihnen allen stand.

"Ich bring dich zu Madam Pomfrey", sagte er hilflos. "Die kann sicher was für dich tun."

Sie lächelte nur stumm und sah unverändert mit weit offenen Augen nach oben in den Nachthimmel, während er mit ihr die große Eingangstreppe hinaufeilte und in den Strudel des Wahnsinns eintauchte, der hier in der Eingangshalle herrschte.

Draußen waren die Todesser zum Stehen gekommen. Der flackernde Schein ihrer Fackeln huschte unruhig über die Mauern, als Bellatrix auf Moody und Professor McGonagall zukam, die reglos auf dem Rasen vor der Treppe standen.