Kapitel 22
Das Siegel des Siebten
Erste rötliche Sonnenstrahlen fielen schräg durch die Fenster in das Laboratorium und krochen langsam über die am Tisch zusammengesunkene Gestalt Snapes. Zwischen einem Destillierkolben und einem Kessel war ihm der Kopf auf den rechten Arm gesunken, seiner Linken war das Glasfläschchen mit den rotgrünen Kapseln beinahe entglitten. Er schlief wie ein Toter, reglos, von Licht und Geräuschen nicht mehr erreicht.
So hörte er nicht das leise Klirren des Spiegels, der in einer Nische neben dem Glasschrank nahezu versteckt hing. Erst als ein langer, dünner Schatten über den Schlafenden fiel, zuckte dieser zusammen und regte sich unruhig.
"Wach auf, Snape", sagte Voldemort kalt und streckte seine Hand nach ihm aus. Bevor sie ihn allerdings erreichte, fuhr Snape auf. Das Glasfläschchen fiel zu Boden, und als er sich danach bücken wollte, fuhr es mit einem Zischen an seinem Gesicht vorbei nach oben, in Voldemorts Hand.
"Du hast den Beginn meines Siegeszuges verschlafen!", sagte er und ließ mit spöttischer Miene das Fläschchen auf ein Regalbord schweben. "Ich war die ganze Nacht unterwegs. Portschlüssel hier und da – unsere Inferi-Truppen werden heute Nacht das Land in Angst und Schrecken versetzen. Ich würde dich ja mit einem dieser Trupps losschicken, aber heute habe ich eine andere Aufgabe für dich."
Snape, mit einem Schlag hellwach, versuchte, in Voldemorts Gesicht zu sehen, aber wieder einmal stand er mit dem Rücken gegen das Licht, und Snape blickte auf einen dunklen Schatten, in dem keinerlei Gesichtszüge auszumachen waren.
"Heute Abend wirst du mich nach Hogwarts begleiten", sagte Voldemort. "Aber vorher sollten wir uns endlich einmal ausführlich unterhalten. Sag mir, bist du eigentlich Wurmschwanz hier schon begegnet?"
"Nein, Herr."
"Nun, er ist sehr beschäftigt. Sonst hätte er dir vielleicht von dem traurigen Schicksal berichtet, das dein Haus in Spinner's End ereilt hat."
Snape begegnete seinem lauernden Blick mit einem fragenden Ausdruck.
"Es ist niedergebrannt. Bis auf die Grundmauern. Sehr bedauerlich! Wenn ich richtig informiert bin, sind darin bereits drei Generationen von Snapes groß geworden."
"Ja, Herr, das ist richtig", sagte Snape ausdruckslos.
"Wurmschwanz war – nun, sagen wir, zufällig in der Nähe, als es geschah. Er hat versucht, zu retten, was zu retten war – und hat eine ganze Reihe von Büchern aus deiner beachtlichen Bibliothek mitgebracht."
Snape sagte nichts.
Ganz plötzlich ließ Voldemort seinen Zauberstab auf die Tischplatte niedersausen. Er fuhr so dicht an Snapes Gesicht vorbei, dass der Luftzug die Haarsträhnen bewegte, die ihm in die Stirn hingen. Ein aufflammender Lichtblitz begleitete die Bewegung.
"Habe ich nun endlich deine volle Aufmerksamkeit, Snape?", fragte er scharf. "Das ist gut! Denn auch bei dieser – Plünderung hat Wurmschwanz nicht gefunden, was er für mich suchen sollte. Er ist nicht der Intelligenteste, unser Wurmschwanz, nicht wahr? Da hatte er nun Monate Zeit, deine Bücher sehr genau zu inspizieren – aber – nun ja, ich denke, das Lesen gehört nicht zu seinen Stärken."
"Das mag wohl sein", sagte Snape nicht ohne Gehässigkeit. "Er war bei mir im Wesentlichen damit beschäftigt, das Silber zu putzen und den Staub von alten Weinflaschen zu wischen. Und an den Türen zu lauschen, selbstverständlich."
"Und darin ist er nicht unbegabt", sagte Voldemort leise und mit drohendem Unterton. "Du solltest das nicht zu leicht nehmen, mein Freund! Meine Geduld ist nicht unerschöpflich. Sieh mich an, Snape! Es war nicht im Haus. Und ich weiß, du hast es nicht bei dir. Mir fällt noch ein dritter Ort ein, an dem es sein könnte. Und diesen Ort werden wir heute Abend gemeinsam betreten. Du solltest dir genau – sehr genau überlegen, wo du es finden könntest!"
Tiefes Schweigen stand zwischen ihnen.
"Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht, Herr", sagte Snape schließlich ruhig.
"Wirklich nicht, Severus? Dann werde ich dir jetzt eine Geschichte erzählen. Hör mir gut zu!
Es geht um ein Buch, das einem sehr kleinen eingeweihten Kreis unter dem Titel Das Siegel des Siebten bekannt ist. Ein Buch, das von dem Letzten jener großen Magier verfasst wurde, die Slytherin die 'Sieben Könige der Finsternis' genannt hat. Dieser Letzte, Bagoas, lebte vor über zweitausend Jahren in Mesopotamien und sammelte schwarzmagisches Wissen aus aller Welt in einem Buch – dem Buch, dessen berühmteste Hinterlassenschaft bis heute das Avada Kedavra ist!"
"Ich habe natürlich davon gehört. Aber die Geschichte von den Sieben Königen habe ich immer für eben das gehalten – für eine Geschichte, eine Legende."
"So, Snape, hast du das?", fragte Voldemort, und in seiner Stimme mischten sich Drohung und Belustigung auf unheimliche Weise. "Das wundert mich wirklich!
Seit ich noch als Schüler zum ersten Mal von diesem Buch gehört habe, hat mich der Gedanke daran nie wieder losgelassen. Und mein Wille, es zu finden, verstärkte sich, als ich von jenem besonderen Zauber hörte, mit dem Bagoas nicht nur sein Wissen an seine Nachfahren weitergegeben, sondern auf geheimnisvolle Weise auch in ihnen fortgelebt hat. Ein Zauber, der ewiges Leben verspricht!
Wusstest du, dass Salazar Slytherin auf der Spur dieses Buches aus dem Orient nach England zurückgekehrt ist? Er hatte Hinweise darauf gefunden, dass irgendein Nachfahre des Bagoas mit seinem kostbaren Besitz nach Europa gekommen war."
Voldemort begann langsam an den Regalen entlang auf und ab zu gehen.
"Ha, dieser senile Dippet damals und die anderen Lehrer – wie haben sie sich gewundert, als sie erfuhren, dass ihr bester Schüler, statt irgendeine hochdekorierte Karriere anzustreben, als Angestellter bei Borgin and Burkes angefangen hatte! Aber ich wusste, wenn man auf der Suche nach solchen Schätzen ist, gibt es keinen besseren Ort als diesen Laden. Du ahnst nicht, welche Kostbarkeiten durch die Hände dieser Leute gegangen sind! Und wie weit verzweigt ihre Informationen über alte Schätze aller Art sind! Sie führten Buch über alles, wovon sie je gehört hatten, und verwahrten akribisch auch den kleinsten Hinweis auf den Verbleib eines Objektes auf. Ich habe viele Nächte über ihren Büchern verbracht und manchen nützlichen Hinweis gefunden.
Aber es dauerte dennoch lange, bis ich auf etwas stieß, das mir in meiner eigentlichen Suche weiterhalf. Ein Julius Tumble hatte Burke vor Jahren Pergamente zum Kauf angeboten, die angeblich Auszüge aus einem uralten schwarzmagischen Buch waren. Er verlangte einen horrenden Preis dafür und hatte sich wohl sehr geheimniskrämerisch verhalten. Burke hatte die Pergamente eingesehen und dann den Kauf abgelehnt. Der handschriftliche Kommentar, den er dazu in seinen Büchern vermerkte – ich sehe ihn noch vor mir! – lautete: Schrift aramäisch, Sprache aber unverständlich. Vermutlich Fälschung.
Dieser Narr! Gerade diese Tatsache machte es umso wahrscheinlicher, dass es sich nicht um eine Fälschung handelte! Slytherin selbst sprach von den Verschlüsselungen, in denen die wenigen Überreste von sehr alten magischen Büchern abgefasst waren, die er gesehen hatte.
Ich machte mich also daran, die Spur des Julius Tumble zu verfolgen, und stieß ausgerechnet in einer alten Zeitung auf die Notiz, er habe einen Nachbarn, einen Lennart Johansen, angegriffen und einen unbekannten Fluch über ihn und seine Familie gelegt. Er kam nach Azkaban und ist dort gestorben. Über seine Familie war nichts mehr bekannt.
Dann machte ich mich auf die Suche nach Johansen, aber der war inzwischen auch gestorben; seine Frau und seine beiden Kinder waren durch den Fluch zu Squibs geworden und untergetaucht. Es gelang mir dennoch, sie aufzufinden und von da an ein Auge auf sie zu haben. Dass sie weder das Buch selbst noch irgendwelche Auszüge daraus besaßen, stellte ich schnell fest. Aber in den Erinnerungen der Frau entdeckte ich ein verschwommenes Wissen darüber, dass ihr Mann seinen Nachbarn Tumble des Diebstahls bezichtigt und dass dies wiederum zu dem Angriff Tumbles geführt hatte. Und damit war ich wieder bei Julius Tumble angekommen, bei dem alle Spuren endeten."
Voldemort war während seines Vortrags durch das Labor gegangen, hatte hier und da in Kessel und Flaschen gesehen.
Snape hatte Gelegenheit festzustellen, dass sein Gesicht jetzt jeden noch so dünnen Anschein von Tom Riddle verloren hatte. Da war nur noch der nackte Reptilienkopf mit seinen unmenschlichen, blutunterlaufenen Augen. Sein Gang hatte die Leichtigkeit, das beinahe Tänzelnde der vergangenen Wochen wieder verloren. Und Snape wusste, dass der Entrückungszauber in der letzten Nacht auch die Kräfte Lord Voldemorts nicht unangetastet gelassen hatte.
"Ich habe natürlich auch andere Spuren verfolgt", fuhr die kalte Stimme nun fort. "Zunächst wollte ich es bei Grindelwald versuchen, der ja immerhin die gründlichsten Studien zu Slytherins Leben und Werk betrieben hatte. Aber Dumbledore kam mir zuvor – Grindelwald war bereits tot, und seine Aufzeichnungen waren verschwunden, als ich ihn endlich fand.
Ich lernte das Aramäische in seinen verschiedenen Formen. Ich bin viel gereist und habe in Museen, Bibliotheken, Archiven aller Art geforscht, bei Zauberern ebenso wie bei Muggeln. Hier und da stieß ich auf geheimnisvolle Überreste von Texten – Schnipsel, mehr nicht – die in aramäischer Schrift, aber unverständlicher Sprache abgefasst waren und die jenen ähnlich gewesen sein dürften, die Tumble damals zum Kauf angeboten hatte – die betreffenden Wissenschaftler grübeln wahrscheinlich immer noch darüber und inzwischen sicher auch über ihren Verbleib, denn ich habe sie alle mitgenommen. Aber sie waren zu klein, um damit etwas anzufangen.
Inzwischen hatte ich mich anderer Methoden bedient, mein Leben unsterblich zu machen. Aber was ist ein Horcrux, was sind auch noch so viele Horcruxe im Vergleich zu dieser sicheren und auch sehr viel eleganteren Möglichkeit, ewiges Leben zu erlangen, von der Slytherin da in Andeutungen gesprochen hat!
Ich muss dieses Buch, diesen Zauber des Bagoas haben, Snape – und ich werde ihn bekommen! Ich habe mich lange in Geduld gefasst, um mein kostbares Wild nicht zu verscheuchen, nachdem ich es endlich gestellt hatte. Wusste ich doch, dass ein falscher Schritt ausreichen könnte, es auf immer zu vertreiben samt seinem unschätzbaren Besitz! Aber heute – heute ist der Tag gekommen. Heute wirst du mich zu diesem Buch führen, Snape!"
Er war vor Snape stehen geblieben und beugte sich zu ihm hinunter. Sie starrten einander an, Auge in Auge. Auf Snapes Gesicht lag ein Ausdruck des Widerwillens, fast schon des Ekels.
"Wieso sollte ich wissen, wo dieses Buch ist?", fragte er.
Im nächsten Moment wurde er wie von einer unsichtbaren Faust getroffen und hintenüber zu Boden geschleudert.
"Fühl dich nicht zu sicher, Snape!", sagte Voldemort eisig, als Snape sich wieder aufrappelte. "Ich sollte wohl dein Gedächtnis ein wenig auffrischen!
Ich könnte dir von deiner Mutter erzählen, deiner Mutter, die doch angeblich schon vor fast zwanzig Jahren gestorben ist, nicht wahr? Die ich aber vor wenigen Monaten – nur Tage vor ihrem tatsächlichen Tod, übrigens – noch angetroffen habe! Sie konnte da nicht mehr viel Zusammenhängendes sagen, aber – das Wenige war genug."
Snape hatte eine jähe Bewegung gemacht, und sein Gesicht war noch fahler geworden. Voldemort sah es und fuhr in kaltem, höhnischem Ton fort.
"Eileen Snape, geborene Prince – ja, in diesem Muggel-Irrenhaus, in das ihr sie vor so vielen Jahren gesperrt habt und in dem sie dann auch gestorben ist, da habe ich sie gefunden. Nach all den Jahren des Suchens – auf einer Spur, die ich eigentlich schon für erloschen hielt! Und es war nicht einmal diese Suche, die mich zu ihr geführt hat, sondern bloße Neugier!
Es war schon nicht mehr viel von ihr übrig, von der Person, die deine Kindheit geprägt hat, aber – oh, ich kann mir vorstellen, wie sie dich mit ihrem Glauben, mit ihrer Besessenheit verfolgt hat! Selbst bei unserer Begegnung aber war sie noch so davon erfüllt, dass sie mir erst mit wilder Stimme von der Macht und Herrlichkeit ihrer Familie gepredigt hat, um mir dann Minuten später zu Füßen zu stürzen und um meine Unterstützung zu flehen – ich sollte dir zu der dir gebührenden Stellung verhelfen, dich dazu bringen, endlich deine wahre Macht zu enthüllen!"
"Sie war nicht mehr bei Sinnen!", sagte Snape, und dieses eine Mal schwang Schmerz in seiner Stimme mit.
"Natürlich nicht. Das war sie nie, mein Freund! Und das weißt du, das hast du gewusst, seit du alt genug warst, sie mit anderen Müttern zu vergleichen! Sie war verrückt – das lag in ihrer Familie! Ihr Vater hat sich bei lebendigem Leibe verbrannt. Und auch er hat sie, sein einziges Kind, in diesem Glauben aufgezogen, den sie dann an dich weitergab, den sie dir von der Stunde deiner Geburt an eingeflößt hat. Der Prinz, der der Familie wieder die alte Pracht zurückgeben würde!"
"Wie Ihr ja schon gesagt habt", sagte Snape mit zusammengebissenen Zähnen, "sie war verrückt!"
"Ohne Zweifel war sie besessen", sagte Voldemort nachdenklich. "Und anfangs dachte ich auch, es sei nicht mehr. Aber dann machte ich mich doch noch daran, ihre Geschichte nachzuprüfen – und siehe da, es war ein Volltreffer. Septimus Prince, ihr Vater, erwies sich als der Enkel jenes Julius Tumble, dessen Familie sich meinen Nachforschungen so erfolgreich entzogen hatte. Und so entdeckte ich durch einen großen Zufall, was für ein Fisch mir da ins Netz gegangen war.
Ich hatte sie aus reiner Neugier aufgesucht, nachdem ich entdeckt hatte, dass deine Mutter durchaus noch lebendig war. Da wollte ich wissen, warum du denn so hartnäckig darauf bestanden hast, sie sei tot. Ich wusste ja, dass du nicht reinblütig bist, aber ich hätte eher verstanden, wenn du deinen Vater totgeschwiegen hättest!
Oh, diese Schande lastete noch in ihrer letzten Stunde auf deiner Mutter, Snape! Darüber konnte sie nicht hinwegkommen, dass sie das Blut der Familie verunreinigt hatte durch die Ehe mit diesem Snape!"
Er kicherte. "Und doch ist es sein Name, den du trägst, oh mein Prinz! Und wie hat er sie unter der Knute gehalten, all diese Jahre, dieser Tobias Snape! Selbstgerecht, eifernd gegen ihre Überzeugung, eine Hexe zu sein, und immer mehr dem Alkohol verfallen – aber sein Ziel, eine vernünftige, gehorsame Frau aus ihr zu machen, das hat er nie aus den Augen verloren! Und während sie seine Schläge, seine Anfälle ertrug, flüsterte sie dir Tag und Nacht in die Ohren, dass du von edelstem Geblüt seiest, ein Prinz aus uraltem Geschlecht, der eines Tages seine wahre Macht zeigen und all ihr armseliges Leben rächen würde und das armselige Leben ihrer Eltern zuvor. Und was du auch tatest, um ihren Reden zu entkommen – sie erfüllten doch jeden Tag deiner Kindheit, sie empfingen dich, wenn du in den Ferien nach Hause kamst, sie grüßten dich aus jedem ihrer Briefe!
Ja, ich kann mir das Leben vorstellen, das du damals hattest! Von deinem Vater geprügelt, von deiner Mutter abgöttisch geliebt und verehrt wie ein dunkler Erlöser, von deinen Mitschülern verspottet – ja, das warst du, Severus Snape, als du dich immer tiefer in die faszinierenden Werke vergrubst, mit denen deine Mutter dich so eifrig versorgte. Ich habe die Bibliothek deines Großvaters selbst gesehen, und ich muss sagen, sie war bemerkenswert. Und doch fehlte etwas darin!"
Snape hatte diese Tirade reglos über sich ergehen lassen. Auch jetzt machte er keine Anstalten, die plötzliche Stille zu brechen.
Er fühlte den Blick der rot glimmenden, schlangenartigen Augen auf sich.
"Wo ist das Buch?", fragte Voldemort schließlich.
"Ich weiß es nicht, Herr", antwortete Snape.
"Vielleicht ist das ja die Wahrheit", sagte Voldemort langsam, ohne den Blick von Snape zu wenden. "Eine Weile habe ich überlegt, ob du es vielleicht mit dem Hortus-Zauber bei jemandem verborgen haben könntest! Aber wer hätte das sein können? Es gibt da niemanden, der dir in der Weise nahe zu stehen scheint, die dieser Zauber nun einmal mit sich bringt. Kein Diener, kein Freund, keine Frau.
Nein, ich war mir schließlich sicher, damit hattest du es nicht versucht. Ebenso sicher bin ich mir, dass du es nicht bei dir hast. So dumm bist du nicht. Nein. Die Wahrheit ist komplexer.
Dumbledore hat es dir weggenommen, nicht wahr? Er hatte es herausgefunden – er hatte ja genug mit Grindelwald zu tun, dass ihm irgendwelche Notizen in die Hände gefallen sein können! Dumbledore hatte es an sich genommen und dann verborgen! Und das ist auch der wahre Grund dafür, dass du ihn getötet hast, selbst auf das Risiko hin, dir meinen Unmut zuzuziehen! Dass er es dir genommen hat, hat dich mit wahrem Hass auf ihn erfüllt, so dass dir das Avada Kedavra gelingen konnte. Und dann fehlte dir die Zeit, deinen Besitz wieder an dich zu nehmen!"
Snape starrte voll Abscheu in das Gesicht Voldemorts, auf dessen reptilienhaften Zügen noch ansatzweise der Triumph zu erkennen war, der in seiner Stimme klang.
"Nun, mein Prinz – heute Abend wirst du alle Zeit und Unterstützung bekommen, die du brauchst! Wir werden dieses Buch finden. Und dann wirst du es für mich entschlüsseln!"
Er wandte sich zur Tür.
"Und bis dahin wirst du diesen Raum nicht verlassen, mein Freund! Du hast mit dem Inferi-Trank genug zu tun, denke ich! Außerdem brauche ich noch einen großen Kessel vom Trank der Lebenden Toten."
Er verschwand, und Snape blieb zurück, mit verzerrtem Gesicht und geballten Fäusten.
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Wurmschwanz, in einem früheren, lang zurückliegenden Leben einmal Peter Pettigrew, war beschäftigt. Mit einem feuchten Tuch rieb er den grausam aufgespannten Schlangenleib ab, wie er es jeden Tag tat. Dabei redete er leise mit der Schlange oder summte vor sich hin. Er wusste nicht, warum, und er machte sich auch keine Gedanken darüber, aber die Schlange tat ihm leid. Mochte Voldemort sagen, was er wollte, er war sicher, dass diese Schlange nur deshalb noch lebte, weil er sich um sie kümmerte. Er fing die Ratten, mit denen er sie fütterte – es war ihm immer noch ein Leichtes, Ratten zu fangen, und in der Festung schienen sie sich täglich zu vermehren – und auf Voldemorts Befehl hin nährte er sie auch mit seinem eigenen Blut.
Seit der aufreibenden Woche, in der er Snape hatte verfolgen müssen, war er kaum mehr aus seinem Schlangenlaboratorium hinaus gekommen, und das war ihm auch ganz recht. Diese Festung war ihm so unheimlich, dass er nicht schlafen konnte, kaum essen und trinken. Dagegen fühlte er etwas wie Frieden, wenn er sich mit der Schlange beschäftigte, die hier ebenso Gefangener war wie er selbst.
Aber er war stets auf der Hut, denn Voldemort erschien immer dann, wenn er ihn am wenigsten erwartete.
Und das tat er jetzt auch wieder. Er stand auf einmal neben ihm, als sei er dort aus dem Boden gewachsen – was er wahrscheinlich auch getan hatte.
Wurmschwanz fiel vor Schreck das Tuch aus der Hand, und in diesem Moment der Unvorsichtigkeit erwischte ihn beinahe der zustoßende Schlangenkopf.
Voldemort gebot ihm mit dem Zauberstab Einhalt, und die Schlange erstarrte mitten in der Bewegung.
"Nicht, Nagini! Wir brauchen ihn noch!"
Voldemort setzte sich in seinen Sessel und fixierte Wurmschwanz, der ohnehin wie ein Kaninchen zwischen zwei Schlangen da stand.
"Den Trank, Wurmschwanz", sagte Voldemort. "Beweg dich!"
"Ja, Herr, ja, sofort!"
Es war seit langer, langer Zeit nicht mehr vorgekommen, dass er an zwei Tagen nacheinander nach dem Gift verlangte. Wurmschwanz konnte allerdings sehen, dass sein Herr geschwächt war. Der Anblick des schlangenartigen Gesichts – wie froh war er gewesen, als es Voldemort vor einiger Zeit endlich gelungen war, etwas von seinem alten menschlichen Aussehen wieder zu erlangen! – erfüllte ihn mit unbestimmter Angst. Irritiert sah er auf die Kugel, die Voldemort in den Händen hielt. Was würde das nun wieder werden?
"Wurmschwanz! Ich warte!" Seine Stimme war wie ein Peitschenhieb.
Als der kleine Mann mit zitternden Händen sein Schlangenbesteck hervorholte und sich der immer noch erstarrten Schlange näherte, sagte Voldemort:
"Heute Nacht, wenn ich von Hogwarts zurück bin, kommst du mit mir in die Höhle."
Es klirrte, als Wurmschwanz das Glas aus der Hand fiel. Zitternd beugte er sich über die Scherben.
"Lass das doch, Dummkopf! Reparo!"
Die Scherben fügten sich wieder zusammen. Aber Wurmschwanz hatte die Fassung endgültig verloren.
"Oh mein Herr! Bitte – lasst mich hier bleiben! Ich – ich will nicht wieder in diese Höhle!"
"Du bist nicht nur dumm, sondern darüber hinaus ein elender Feigling! Was jammerst du denn, diesmal gibt es keinen Hortus-Zauber zu lösen! Im Gegenteil. Ich will dir das Medaillon wieder anvertrauen."
"Oh bitte, ich bin diese Ehre doch gar nicht wert, Herr! Nehmt einen anderen, würdigeren Diener! Ihr sagt doch selbst, ich bin dumm und feige, und das stimmt, ja, das stimmt!"
"Hör mit dem Flennen auf, Wurmschwanz", sagte Voldemort kalt und verächtlich. "Natürlich bist du dumm und feige, und deshalb bist du auch der richtige Mann für diese Aufgabe."
"Aber Herr – ich habe solche Angst – und das kann doch jederzeit dazu führen, dass ich Euer Medaillon wieder verliere, oder nicht?", wandte Wurmschwanz mit einem Anflug seiner alten Verschlagenheit ein.
Voldemort lachte.
"Vielleicht bist du doch nicht so dumm, wie du mich glauben machen willst! Aber du musst dir keine Sorgen machen, du wirst in Zukunft nicht mehr mit vielen Leuten zusammentreffen, die dich ängstigen könnten. Du hast hier deinen ruhigen, sicheren Platz – du wirst so etwas wie ein lebendiges Stück in meiner Sammlung sein."
"Ich – ich verstehe Euch nicht, Herr", murmelte Wurmschwanz und hielt mit zitternden Fingern das Glas an Naginis Zähne gepresst.
"Wozu auch? Nun sieh dir hier die Kugel an, und sag mir, was du davon hältst."
Wurmschwanz versuchte, über seine Schulter hinweg nach der Kugel in Voldemorts Händen zu schielen.
"Sie – sie ist schön, Herr!", keuchte er, während ihm das Glas von Naginis Zähnen abrutschte.
Und schön war sie. Es war ein annähernd kopfgroßer Ball aus dunklem Metall, auf dem in warmem Gold Sternbilder schimmerten.
"Ja, sie ist schön. Und ein sehr altes Andenken … Ich habe beschlossen, den Trank aus dem Becken in sie einzugießen und dann mit hierher zu bringen."
"D–das ist eine gute Idee."
"Seine Aufgabe in der Höhle konnte er ja leider nicht erfüllen", sagte Voldemort nachdenklich. "Wie oft soll ich dir übrigens noch sagen, dass du das Gift mit dem Cruciatus viel schneller gewinnst?"
Wurmschwanz fuhr zusammen.
"Ich k–kann das nicht, Herr!"
"Du solltest dir etwas Mühe geben!"
Wurmschwanz stand vor der Schlange, den Zauberstab erhoben, und kämpfte mit sich. Schließlich sagte er ein schwächliches "Crucio!"
Als keine Reaktion von der Schlange kam, lachte Voldemort höhnisch.
"Was für ein Versager du doch bist! Und ich habe heute keine Geduld für so etwas. Ich brauche den Trank und rate dir, ihn schnellstens zu bereiten, wenn du mich nicht wirklich ärgerlich machen willst!"
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Snape stand noch immer vor seinem Arbeitstisch und kämpfte mit seinen Gefühlen.
Da war es also endlich heraus! Er hatte sich wochenlang gefragt, warum Voldemort ihn auf diese ironische Art hofierte und zugleich unterschwellig bedrohte. Er glaubte tatsächlich, seine Hilfe zu brauchen! Und auch diese lächerliche Art, ihn mit "mein Prinz" anzureden, hatte also durchaus einen versteckten Sinn.
Aber wenn er glaubt, was er da sagt, warum lässt er mich dann jetzt hier allein – nimmt mir nicht einmal den Zauberstab weg? Warum sagt er es mir überhaupt, warum jetzt? Wie konnte er mich die ganze Zeit über machen lassen?
Die Antwort war ernüchternd einfach: Voldemort hatte wohl gehofft, er werde ihn vielleicht eines Tages zu diesem geheimnisvollen Buch führen, wenn er ihn nur weiter seiner Wege gehen ließ. Und dass er unter ständiger Bewachung stand, hatte Snape ohnehin nie bezweifelt.
Hier in der Festung musste er sich seiner Sache schon sehr sicher sein. Snape überraschte das nicht. Soweit er es beurteilen konnte, hatte Voldemort Recht: Es war nicht möglich, sich hier zurechtzufinden, wenn der Hausherr es nicht wollte. Immer noch konnte Snape ohne die Hilfe der Hauselfen nicht von einem Raum zum anderen finden; die Räume selbst und ihre Lage veränderten sich ständig, wenn auch nicht besonders auffällig. Und doch mehrten sich täglich die Anzeichen von Verfall und Zusammenbruch – es wunderte ihn, dass Voldemort das nicht wahrzunehmen schien.
Allmählich gelang es ihm, sich zu beruhigen, und je ruhiger er wurde, desto deutlicher wurde ihm bewusst, dass er nicht mehr viel Zeit hatte.
Über Hogwarts würde er später nachdenken. Jetzt aber gab es zwei Dinge, die dringlicher waren: Er musste an den Pokal kommen – und er musste herausfinden, wo sich Draco und Narcissa Malfoy befanden. Darüber hinaus konnte er nur noch eines tun: warten.
Die Malfoys –
Snape fragte sich ganz kühl, wie viel Leben noch in Draco sein mochte, nach all der Zeit, die er jetzt ohne Zweifel in irgendeinem Verlies dieser Festung verbracht hatte. Mit der schweren Verletzung noch dazu, die ihm sein eigener Vater zugefügt hatte. Und Lucius' Auftritt an Voldemorts Tafel hatte ja genug über die Art der Verliese ausgesagt.
Während Snape sich daran machte, die Zutaten für den Inferi-Trank zusammenzusuchen, gingen seine Gedanken zurück zu dem Tag in Spinner's End im letzten Jahr.
Er hatte sich nicht so sehr gewundert, dass Narcissa mit ihrer Bitte damals ausgerechnet zu ihm gekommen war – war er doch so etwas wie ein alter Freund der Familie und überdies Dracos Hauslehrer. Mit einem säuerlichen Lächeln erinnerte er sich an die zahllosen Gelegenheiten, bei denen Narcissa ihn wegen Draco behelligt hatte – Draco und seine schwache Gesundheit, Draco und sein schlechter Umgang, Draco war ja so einsam und brauchte dringend Freunde, die ihn ein wenig aufmunterten. Und so weiter.
Snape hatte Draco immer für ein verwöhntes Früchtchen ohne besondere Talente gehalten. Umso mehr hatte er sich gewundert, als er im Sommer des letzten Jahres von seiner Aufnahme bei den Todessern erfahren hatte. Aber dann erkannte er schnell, dass es bei Draco um mehr als bloße Eitelkeit und Selbstüberschätzung ging. Er war glühend von dem Willen durchdrungen, die Familienehre wiederherzustellen, vielleicht von der verqueren Hoffnung geleitet, seinen Vater auf diese Weise von der Schande des Versagens reinwaschen zu können. Und ihm dabei zu beweisen, dass er ein würdiger Sohn war.
Mit anderen Worten: Er war ein perfekter Bauer auf Voldemorts Schachbrett. Snape war sehr an der Aufgabe interessiert, die Voldemort Draco gestellt haben musste – die Aufgabe, die der eigentliche Grund für seine Aufnahme bei den Todessern gewesen sein dürfte.
Da Voldemort ganz sicher nicht an der Wiederherstellung von Lucius' gutem Ruf interessiert war, hielt Snape es für wahrscheinlich, dass die Aufgabe so gestellt war, dass Draco letztendlich an ihr scheitern musste, auf dem Weg dahin aber einiges in Bewegung setzen würde, das für Voldemort von Nutzen war. Und danach hätte er sich seiner wieder entledigen können.
Voldemort wusste natürlich von Snapes vertrautem Umgang mit den Malfoys. Und an dem Punkt wurde es nicht unwahrscheinlich, dass er Draco benutzte, um eine andere Figur auf seinem Schachbrett zu zwingen, Position zu beziehen: Snape.
So war er den Eid mit Narcissa aus kaltem Kalkül eingegangen. Er war ganz einfach die einzige Möglichkeit gewesen, aus der damaligen Situation nicht nur unbeschadet, sondern sogar mit einem gewissen Gewinn wieder herauszukommen. Er hatte nicht die Absicht, sich von Bellatrix einen Strich durch seine sorgfältigen Rechnungen machen zu lassen.
Außerdem hätte ihn sein Wissen darüber, dass der Dunkle Lord Draco eine Aufgabe gestellt hatte, von nun an ohnehin auf Schritt und Tritt an Draco gebunden. Snape war überzeugt, dass ihm von Voldemort so oder so eine Rolle in diesem Spiel zugedacht war.
Und jetzt war Dracos Rolle ausgespielt. Snape war sich sicher, dass er nur deshalb noch lebte, weil sein Tod dank des Unverbrüchlichen Eides auch ihn, Snape, mit sich gerissen hätte. Für Snape aber hatte Voldemort noch eine Aufgabe, und endlich wusste er nun, was er von ihm erwartete.
Snape reinigte den großen Kupferkessel sorgfältig, während er nachdachte.
Ja, seine Zeit lief ab. Er war hier eingesperrt, bis Voldemort ihn mit nach Hogwarts nehmen würde. Und von da an –
Es war auch nur eine Frage der Zeit, bis er der Höhle einen Besuch abstatten würde, darüber war sich Snape im Klaren. Oder hatte er das vielleicht sogar schon getan?
Snape hielt mitten in der Bewegung inne. Weiß ich, wie weit sein Katz-und-Maus-Spiel wirklich geht? Das fragte er sich mit einem eisigen Gefühl im Magen.
Wenn er sich in dieser Festung doch nur allein zurechtfinden könnte!
Es gab da vielleicht eine Möglichkeit, aber diese konnte nur der letzte Ausweg sein. Sein Verdacht war nahezu zur Gewissheit geworden, als er mit der Motte durch die Festung geflogen war. Aber der Gedanke war dennoch so ungeheuerlich, dass er immer noch davor zurückschreckte.
Snape ging nach alter Gewohnheit zum Fenster, um es zu öffnen, musste aber feststellen, dass das nicht möglich war. Seufzend kehrte er zum Tisch zurück. Die Tür probierte er nicht einmal aus.
Er machte sich daran, nach dem Kessel nun auch alle übrigen Geräte gründlich zu reinigen.
Ich habe Angst, dachte er, während das heiße Wasser über seine Finger rann. Nach allem habe ich Angst, diesen Weg zu versuchen!
Er lachte in das stille Zimmer hinein, das spöttische, bösartige Lachen, mit dem er früher die unsäglichen Dummheiten seiner Schüler quittiert hatte.
Er führte seine Arbeit zu Ende, ordnete alle Gerätschaften genau so an, wie er sie später brauchen würde, und ging dann noch einmal zum Fenster hinüber. Er legte die Hand an die kühle, graue Wand und holte tief Luft.
"Estoculme!", sagte er leise. "Estoculme!"
Und dann war er im Gehirn dieser Kreatur, die er bislang nur vermutet hatte, die er aber nun mit allen Sinnen spüren konnte. Und da war unermessliche Qual – Schmerzen, als werde sie gefoltert. Sein Blick wurde ruckartig durch zahllose dunkle Gänge und Höhlen in seltsam fremden Perspektiven und Farben gerissen, und wenn der Schmerz nicht so alles beherrschend gewesen wäre, hätte er vielleicht hier und da Bekanntes entdecken können, aber so gellten ihre unhörbaren Schreie durch sein Gehirn, um schließlich aus seiner eigenen Kehle zu brechen.
Snape sackte schreiend an der Wand zusammen und wand sich vor Schmerz am Boden. Es fehlte nicht viel, und die Qual der Kreatur hätte seinen Geist mit sich hinweggefegt. Es gelang ihm eben noch, sich zurückfallen zu lassen in seinen eigenen, wundervoll schmerzfreien Körper.
Er blieb minutenlang am Boden liegen und hoffte nur, Voldemort würde ihn nicht gerade jetzt mit einem weiteren Besuch beehren.
Sein Vorhaben war gescheitert. Dies war kein Weg, den ein Mensch gehen konnte. Aber er hatte es zumindest versucht. Zutiefst erschöpft hob er den Zauberstab auf, der ihm aus der Hand gefallen war, und steckte ihn ein.
Dann machte er sich daran, einen weiteren Kessel des Inferi-Tranks zu brauen. Ganz so, wie sein Herr es verlangt hatte.
Er arbeitete an den Kesseln und sah erst wieder auf, als Voldemort nach Stunden wieder im Raum stand.
"Komm mit, Snape", sagte er. "Es geht endlich los!"
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Ron kam mit Tonks auf den Armen in die Eingangshalle, verzweifelt bemüht, die Panik, die sein Gehirn mit schwarzem Schnee bedecken wollte, auszublenden und irgendwo Madam Pomfrey zu finden. Aber schon beim ersten Blick in das Durcheinander wurde ihm klar, dass da keine Chance bestand.
Schüler rannten immer noch von den Treppen und Fluren her in die Halle, obwohl der Alarm jetzt seit mindestens sieben Minuten gegeben wurde. Ron konnte die Fanfare immer noch irgendwo im Schloss hören, ein absurder Klang über dieser fürchterlichen Situation. Er sah Slughorn, Sprout, Flitwick und Madam Hooch in Vertretung von McGonagall, die hektisch die Schüler ihrer Häuser zählten, während sie an ihnen vorbeirannten. Madam Hooch beaufsichtigte mit gewohnt burschikosem Verhalten den Eintritt in die Schutzräume und half zögernden Schülern resolut auf die Sprünge.
"Madam Pomfrey – wo ist Madam Pomfrey?", brüllte Ron.
"Sie hat uns gerade von der Krankenstation rübergebracht und ist dann sofort wieder losgesaust. Keine Ahnung, wohin", sagte Luna. "Sie war total aufgelöst. Diese Aurorin, Ripley, also die hat –"
Sie unterbrach sich und betrachtete Tonks neugierig.
"Was ist mit ihr?", fragte sie. Ihre Ruhe inmitten des Chaos war so eigenartig wie ihr lang wallendes, sonnengelbes Kleid, und Ron hatte auf einmal das Gefühl, dass das alles nur ein schlechter Traum sein konnte.
"Ein – ein Werwolf hat sie gebissen. Wenn die Pomfrey nicht da ist, bring ich sie direkt in die Schutzräume", entschied Ron.
"Das wirst du nicht", sagte Tonks leise, und mit katzenartiger Gewandtheit sprang sie aus seinen Armen und lief davon, sich einen Weg durch das Getümmel suchend, offenbar auf dem Weg zur Treppenhaus.
"Tonks! Warte!", schrie Ron. "Du musst da rein, du bist verletzt! Warte doch!"
Er hechtete los.
"Ron!", hörte er Luna noch hinter sich her rufen, dann blieb der Lärm der Eingangshalle hinter ihm zurück, und das schwach erleuchtete Treppenhaus mit den aufgeregt tuschelnden Porträts auf allen Seiten lag vor ihm. Er konnte Tonks irgendwo weiter oben rennen hören.
"Tonks! Warte doch!", schrie er hinauf.
"Ich bleibe hier!", schrie sie zurück. "Ich werde kämpfen!"
Es war unglaublich, dass sie jetzt so rennen konnte, nachdem sie sich nur wenige Minuten zuvor von ihm hatte hineintragen lassen. Aber was wusste er schon von den Reaktionen eines Metamorphmagus auf einen Werwolfbiss! Tatsache war jedenfalls, dass Tonks nicht in die Schutzräume hatte gehen wollen.
"Die werden jeden Moment hier reinkommen!", rief er verzweifelt.
Wieder stand die Szene draußen vor seinen Augen und wollte alles andere aus seinem Kopf wischen: die stumm heranrückenden Reihen der Todesser mit ihren verdammten Fackeln in der Dämmerung. Bellatrix Lestranges Augen! Und dieser wölfische Greyback, wie er Tonks im Sprung aus der Luft packte! Warum hatte Moody ihn nicht getötet?
Keuchend blieb Ron stehen, versuchte, ans Treppengeländer gelehnt, wieder zu Atem zu kommen. Er hatte Angst. Es hatte keinen Sinn, es zu leugnen. Er hatte solche Angst, dass er schwitzte und ihm schlecht war. Er ertappte sich bei dem Gedanken daran, einfach umzukehren und auch in den Schutzraum zu gehen.
Hermione! Sie würde doch wohl nicht irgendwo da draußen auf einem der Türme sein? Sein Herz raste. Das konnte einfach nicht sein! Ganz sicher musste sie als Schulsprecherin bei den Schülern bleiben!
Auf einmal wurde ihm klar, dass er sie seit heute Morgen nicht mehr gesehen hatte. Aber Quatsch, die würde schon selbst wissen, was sie zu tun hatte!
Seine wieder aufkochende Wut auf Hermione bewirkte, dass er den Angstanfall überwand und weiter die Treppe hinaufgehen konnte.
"Warte wenigstens auf mich!", schrie er hinauf. "Ich komme mit!"
Aber da wurde seine Aufmerksamkeit von einer Bewegung unten im Treppenhaus abgelenkt. Er sah hinunter und konnte eben noch Professor Harper erkennen, die vorsichtig die letzten Stufen zur Eingangshalle zurücklegte.
Sollte die nicht bei den Leuten von der Krankenstation sein?
Ron hatte von George gehört, dass sie am Morgen wieder aufgetaucht und verletzt war. In seiner Wut auf Harry und alles, was mit ihm zusammenhing, hatte er ganz bewusst nicht weiter nachgefragt. Sollte Harry das doch selbst rausfinden.
Ob die noch mal in ihrem Büro gewesen war?
Einen Moment lang stand er ganz still. Dann wusste er, dass er in ihr Büro gehen und hineinsehen musste. Er hatte das seltsame Gefühl, dass er sonst etwas geschehen ließe, das nicht wieder gutzumachen war. Dieses Gefühl war so stark, dass er atemlos die Treppe hinunter und immer weiter rannte, bis er in Harpers Büro stand – sie hatte nicht einmal die Tür geschlossen.
Die Todesser hatte er beinahe vergessen.
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Bellatrix Lestrange hatte noch drei Schritte bis zu Moody und McGonagall vor sich. Sie genoss diesen Auftritt, denn sie wusste, dass sie diesmal endlich unbestritten in der Übermacht sein würden. Sie beachtete nicht einmal, dass Moody den Zauberstab hob und eben zu sprechen ansetzte –
Aber in diesem Moment teilte etwas die Reihen der Todesser hinter ihr und kam mit einem seltsamen Zischen, das mehr Bewegung als Geräusch war, neben ihr zum Stehen. Sie fuhr zurück und sah überrascht, wie zwei Personen neben ihr Gestalt annahmen. Als sie in der einen ihren Herrn erkannte, verneigte sie sich verwirrt. Seine Augen schimmerten rot in der Dunkelheit.
"Expelliarmus!", sagte er leise und kalt.
"Ferula!", kreischte Bellatrix im gleichen Moment, mit schlagartig zurückgekehrter Aufmerksamkeit.
Augenblicklich wurden Moody und McGonagall, die fassungslos auf die Erscheinung gesehen hatten, die Zauberstäbe entrissen. Sie fielen vor Voldemort ins Gras. Dort krümmten sie sich wie Schlangen, quollen auf und zerplatzten. Gleichzeitig wanden sich Fesseln um die Hände der beiden, bevor sie auch nur eine Bewegung machen konnten.
Voldemort reckte eine Hand in die Höhe und rief: "Und nun los, Todesser! Entwaffnet sie und holt sie von den Türmen und Eingängen! Avery, du führst die zweite Reihe – ins Schloss! Bringt mir jeden Menschen heraus – und seht zu, dass ihr nichts zerstört! Nott, die dritte Reihe nach hier – bildet einen Ring und haltet die Gefangenen darin."
Und dann brach der Sturm hinter ihm los. Moody und McGonagall mussten zusehen, wie die Todesser auf Besen die Türme und Eingänge anflogen, während die nächste Reihe an ihnen vorbei die Schlosstreppe hinaufstürmte.
"Sieh an, Dumbledores Nachfolgerin und der verrückte alte Jäger!", sagte Voldemort und betrachtete die beiden, während rings um sie die Todesser aus der dritten Reihe in tiefem Schweigen Aufstellung nahmen.
"Snape!", sagte Moody voller Verachtung, als er die Gestalt neben Voldemort erkannte. "Hätte man sich denken können!"
Er spuckte Snape vor die Füße.
Professor McGonagall sah ihren ehemaligen Kollegen nur an. Sie hatte schon Mühe gehabt, zu glauben, dass er Dumbledore getötet haben sollte. Aber ihn jetzt hier an der Seite Voldemorts zu sehen, bereit, die Schule zu stürmen –
Snape hielt ihrem Blick kühl stand. Seine unbewegte Miene ließ keinerlei Empfindung erkennen.
Dann wurde ihre Aufmerksamkeit von lauten Stimmen und Blitzen auf den Türmen abgelenkt. Eine Gestalt stürzte mit einem gellenden Schrei vom Nordturm herab. McGonagall schloss die Augen für einen Moment.
"Ripley", murmelte Moody zwischen den Zähnen. "Wir hätten doch den Befehl zur Kapitulation geben sollen!"
"Das wird gar nicht mehr nötig sein", sagte Voldemort. "Mir scheint übrigens, wir haben da noch etwas vergessen, nicht wahr?", fügte er beiläufig hinzu und sah Moody an. Dann streckte er die Hand aus. "Accio!"
Moody schrie überrascht auf, als sein magisches Auge aus der Höhle quoll und wie ein kleiner Ball in Voldemorts Hand schwebte – wo es mit einem zischenden Laut zusammenschrumpfte.
Inzwischen war es eiskalt und völlig dunkel geworden. Das Dunkle Mal hoch über Hogwarts erfüllte die Nacht mit einem bösen, grünlichen Glanz, ohne wirklich Licht zu geben. McGonagall und Moody standen da inmitten des weiten Rings von schwarzen Gestalten und sahen in hilflosem Zorn zu, wie von allen Seiten die Todesser zurückkamen und die wenigen Verteidiger, die Hogwarts noch gehabt hatte, in den Ring hineinstießen.
Bellatrix sorgte dafür, dass sie entwaffnet und gefesselt wurden, soweit das nicht schon geschehen war. Zu ihren Füßen sammelte sich allmählich ein Stapel von Zauberstäben an.
Die weinende Madam Pomfrey wurde herbeigebracht. Als sie McGonagall sah, rief sie: "Ripley ist tot! Sie ist vom Turm gestürzt, ich konnte ihr nicht mehr helfen!"
Erst dann sah sie, wer bei der Schulleiterin stand, und verstummte voller Entsetzen.
Da wurde Bill herangebracht, der mit verschlossener Miene seinen Bruder George fest am Arm gepackt hielt und mit sich zog, was die beiden Todesser, die sie mit ihren Zauberstäben in Schach hielten, zu amüsieren schien. George sah aus, als hielte den Mund nicht ganz freiwillig.
Professor Sinistra und die vier Auroren wurden gefesselt und offenbar nach heftiger Gegenwehr in den Kreis gestoßen; ihre Bewacher hatten Brandspuren und blutige Wunden davongetragen.
Ein ständig stärker werdender Wind war aufgekommen und zerrte an ihren Haaren und Umhängen. Die Gefangenen waren jetzt beinahe dankbar für die Fackeln, die sie umringten, denn von ihnen ging wenigstens ein bisschen Wärme aus. Ihre Blicke hingen ängstlich an den dunklen Fenstern von Hogwarts, hinter denen hier und da Licht aufflammte und wieder verlosch, je weiter sich der Trupp Todesser durch das Schloss hindurcharbeitete. McGonagall, deren Blick immer wieder Snape streifte, bemerkte, dass auch seine Augen häufig zum Schloss gingen.
Er und sein Herr schienen das Ganze hier wie Zuschauer zu verfolgen, wie ein spannendes Quidditch-Match etwa – und doch konnte jeder der Anwesenden die unberechenbare Drohung spüren, die von den beiden reglosen dunklen Gestalten ausging, wie ein Verhängnis, das jederzeit über sie hereinbrechen konnte.
Es war vor allem die Stille, die über dem Platz voller Menschen lastete. Man konnte den Wind hören, hin und wieder ein paar Worte, Pomfreys leises Weinen – aber nichts sonst, das darauf hingewiesen hätte, dass hier gerade Hogwarts von den Todessern eingenommen wurde.
Dann wurde diese Stille jäh durchbrochen. Sie hörten die wilden Schreie schon eine ganze Weile, bevor die Gruppe in Sicht kam.
"Lasst eure Dreckspfoten von mir, ihr Pack!", brüllte Hagrid und schlug um sich.
Offenbar war es ihm gelungen, den drei Todessern die Zauberstäbe aus den Händen zu schlagen, und jetzt wären sie gegen ihn auf verlorenem Posten gewesen, wenn nicht Hilfe gekommen wäre. Ein weiterer Todesser fesselte ihn, und so führten sie Hagrid in den Ring, aber sein Geschrei schallte weiterhin durch die Nacht, bis sie ihn direkt vor Voldemort stießen. Da sah er auf und verstummte.
Einen Moment lang schien jeder auf dem Platz den Atem anzuhalten. Dann, schneller als irgendjemand es dem riesenhaften, schwerfälligen Hagrid zugetraut hätte, kam er auf die Füße und stürmte gefesselt wie er war nach vorn.
"Snape!", brüllte er. "Du verdammter – verräterischer –"
Weiter kam er nicht. Voldemort hatte nur eine winzige Bewegung gemacht, aber Hagrid prallte wie vor eine unsichtbare Mauer und fiel zu Boden.
"Recht hast du, Hagrid!", schrie eine Stimme aus der Gruppe der übrigen Gefangenen. "Weg mit Snape!"
Andere fielen ein. Es war, als hätten Anspannung und Hass hier endlich ein Ventil gefunden.
Nott und Bellatrix ließen sie mit einem höhnischen Lächeln gewähren. Es war nur zu offensichtlich, dass Snape sich auch in den Reihen der Todesser nicht eben Freunde gemacht hatte.
Snape sah in die Dunkelheit, als ginge ihn das alles nichts an.
"Wir bringen die Letzten!", rief eine Todesserin, die mit einer Hand eine Gestalt in einem bodenlangen, hellen Kleid heranführte, das ebenso wie ihr langes, offenes Haar im Wind flatterte. Sie trug keinen Umhang und betrat den von Fackeln umschlossenen Ring ohne Anzeichen von Angst oder Erstaunen. Langsam ging sie zu den anderen und stellte sich neben George Weasley, der immer noch ohnmächtig gegen den Schweigezauber kämpfte.
"Luna!", flüsterte McGonagall entsetzt. "Wieso –"
"An dieses Gesicht erinnere ich mich", brach Voldemort sein Schweigen und sah Luna Lovegood an. "Passt ganz besonders gut auf sie auf!"
"Ja, Herr", sagte Bellatrix grimmig, die Luna ebenfalls nicht vergessen hatte.
"Eine beeindruckende Verteidigung, die ihr da aufgestellt hattet!", spottete Voldemort, als zwei Todesser den unter Schockzauber stehenden Professor Slughorn heranschweben und vor Voldemort zu Boden krachen ließen.
"Der da ist der Letzte. Hat oben am Hauptportal gestanden und sich vor meinen Augen in einen Garderobenständer verwandelt. Als der Schock ihn traf, verwandelte er sich wieder zurück!", rief einer der beiden, die ihn hatten schweben lassen.
"Slughorn war immer schon recht begabt", sagte Voldemort. "Und ein Hort überraschenden Wissens! Ich hoffe, ich habe später genug Zeit, diese Bekanntschaft aufzufrischen."
Dann wandte er sich endlich mit Anzeichen von Ungeduld dem Schloss zu.
"Wo bleibt Avery denn?"
In diesem Moment kam ein einzelner Mann zögernd und mit sichtlichem Unbehagen die Schlosstreppe herunter.
"Das Schloss ist leer!", sagte er. "Keine Schüler! Niemand!"
Hinter ihm erschienen nun auch andere aus Averys Trupp.
"Sie müssen das Schloss geräumt haben, mein Lord", wagte einer von ihnen noch einmal zu sagen, als sie bei Voldemort ankamen. Offenbar war er auf einen Zornesausbruch gefasst. Aber Voldemort blieb ruhig und ignorierte sogar McGonagalls erleichtertes Aufatmen.
"So. Darauf war ich vorbereitet. Avery soll noch einmal alle Räume durchsuchen, damit uns auch kein Versprengter entwischt."
Dann wandte er sich den Gefangenen zu und ließ den Blick seiner glimmenden Augen über sie gleiten.
"Wo ist Harry Potter?", fragte er dann mit eisiger Stimme.
Und zum zweiten Mal hielt jeder auf dem Platz den Atem an. Die Stille spannte sich bis ins Unerträgliche.
Dann sagte eine kühle Stimme vom Schlossportal her: "Harry Potter ist fort."
Moody und McGonagall fuhren herum. Vor der hell erleuchteten Eingangshalle zeichnete sich eine Gestalt wie ein Schattenriss ab.
"Hekate!", sagte Voldemort. "Ich hatte dich früher erwartet!"
"Ja, Herr. Ich wurde aufgehalten."
McGonagall stöhnte, als Harper ein paar unsichere Schritte auf die Treppe zu machte.
"Verzeiht, wenn ich Euch nicht weiter entgegenkomme. Aber ich bin – blind."
Über Snapes Gesicht war ein Ausdruck jähen Erschreckens gegangen, als er Harper sah.
"Wir werden zu dir heraufkommen, meine Liebe", sagte Voldemort. "Und diese beiden hier werden uns begleiten. Bellatrix, du kommst auch mit. Du bist mir persönlich verantwortlich für diese beiden Gefangenen!
Nott, ihr wartet hier, bis Avery mit der Durchsuchung fertig ist. Dann bringt ihr die Gefangenen unbeschadet zur Festung. Los jetzt!"
Moody und McGonagall setzten sich zögernd in Bewegung, von Bellatrix mit ihrem Zauberstab in Schach gehalten.
"Wie konnten Sie nur!", rief McGonagall, als sie Harper erreichten.
"Wo ist Potter?", fragte Voldemort an Harper gerichtet.
"Er ist geflohen", antwortete sie mit einem Unterton der Belustigung. "Durch den Spiegel, mein Lord."
McGonagall zuckte zusammen, als Voldemort schrill auflachte.
"Gut! Und ich ahne auch, wo sich der Rest der Schüler befindet!"
Er durchmaß die verlassene Eingangshalle mit zielstrebigen Schritten und blieb vor der Abstellkammer stehen. McGonagall und Moody standen wie angewurzelt da und wagten nicht zu atmen.
"Ich habe diese Schule so gut gekannt, so viele ihrer Geheimnisse aufgedeckt! Ich kenne auch diese Räume – natürlich, denn zu meiner Schulzeit schwirrten noch gelegentlich Gerüchte über die letzte missglückte Entrückung herum. Kommt her!"
Snape, Bellatrix, Moody, McGonagall und Harper kamen ihm nach.
"Ihr habt sie entrückt, ja?", fragte er amüsiert. "Dann seht zu, was ich jetzt mache!"
Er hob den Zauberstab.
"Nein! Bitte, verschonen Sie doch wenigstens die Kinder!", rief Professor McGonagall. Bellatrix zischte sie an, und sie verstummte, aber ihre Augen fixierten Voldemort beschwörend.
"Diffindo!", sagte der und bewegte seinen Zauberstab, als sei er ein Messer, mit dem er etwas durchtrennen wolle.
Es gab einen Ruck, der die Fensterscheiben klirren und die Umstehenden taumeln ließ. Von der Abstellkammer schien ein starker Sog auszugehen – und dann war es vorbei.
"Ich habe die Verankerung gelöst", sagte Voldemort leichthin. "Sie werden nun eine lange Zeit schweben!"
In Professor McGonagalls Augen standen Tränen, als sie von Bellatrix zurück in die Eingangshalle getrieben wurden. Fassungslos sah sie in Snapes unbewegte Miene, als sie an ihm vorbeiging. Auf Moodys Gesicht war nur ohnmächtiger Zorn zu sehen.
"Sie bleibt hier", sagte Voldemort und wies auf McGonagall. "Bellatrix, ich überlasse es dir und Avery, den Transport der Gefangenen zu überwachen. Seht zu, dass niemand, wirklich niemand hier im Schloss zurückbleibt. Sollte mir noch jemand über den Weg laufen, wenn ihr fort seid, wird jemand dafür büßen müssen. Ist das klar?"
"Ja, mein Herr."
"Gut, dann kümmere dich um deine Aufgabe! Was gibt es denn noch?"
"Mein Herr, was ist mit – ihr?", fragte sie und deutete mit dem Kopf auf Hekate Harper, die eben langsam hinter Snape her in die Eingangshalle ging.
"Das solltest du mir überlassen", antwortete er kalt. "Wir haben hier noch zu tun. Nun geh!"
Bellatrix ging mit verdüsterter Miene, packte Moody hart und wollte ihn hinaus zur Treppe stoßen, als er endlich doch noch die Beherrschung verlor und ihr so vor die Knie trat, dass sie mit einem Aufschrei zusammensackte.
"Rühr mich nicht an, Miststück!", knurrte er und wurde dann wieder von einem Hustenanfall überwältigt.
Für einen Moment stand die kleine Gruppe wie versteinert über die Halle verteilt.
"Ferula!", sagte Voldemort ebenso lässig wie vorher das Diffindo. Fesseln umschlangen nun auch Moodys Beine, so dass er nur noch kleinste Schritte machen konnte. "Steh auf, Bella! Und bezähme dich ein bisschen – erweise einem alten Kämpfer ein wenig Respekt!"
Und damit schien er das Interesse an seinen Gefangenen vorerst verloren zu haben. Während Bellatrix sich keuchend aufrappelte und Moody hinaus zu den anderen führte, wandte er sich an Harper, die abwartend am Fuß der Treppe stand.
"Und nun zu dir, Hekate. Hast du gefunden, was du suchen solltest?", fragte er begierig.
"Nein, mein Lord. Noch nicht", antwortete Harper. "Ich denke aber, ich habe alles von Belang gründlich abgesucht – mit Ausnahme von Dumbledores Büro. Es war eines seiner Geräte, das mich verletzt hat. Danach – war es mir nicht mehr möglich."
Ein Schatten des Unmuts glitt über sein Schlangengesicht.
"Ich will den Spiegel sehen!", sagte er dann überraschend.
"Ich fürchte, der ist zerstört! Potter muss es getan haben, nachdem er hineingegangen ist."
"Wo ist er?"
"Ich werde Euch hinbringen", sagte Harper.
"Snape, sieh zu, dass sie sicher vorankommt!"
Snape griff mit sichtlichem Widerwillen nach Harpers Arm.
"Also ins Büro beim Raum für Verteidigung, nehme ich an", sagte er säuerlich.
"Ganz richtig", antwortete Harper mit dem Anflug eines Lächelns, streifte seine Hand ab und legte stattdessen ihre Hand auf seinen Arm. "In Ihr altes Büro!"
Wenige Minuten später standen sie vor der Tür. Snape öffnete sie.
Von draußen fiel ein Abglanz des Fackelscheins unruhig in den kleinen Raum und füllte ihn mit bewegten Schatten. Trotzdem sahen sie alle sofort, dass jemand vor dem Schreibtisch stand.
Ron schien sie nicht gehört zu haben, obwohl das kaum möglich war. Er stand da auf einem knirschenden Teppich aus unzähligen schimmernden Splittern. Nur ganz langsam wandte er sich zu ihnen um und sagte mit einer Stimme, als spreche er aus einem Traum heraus: "Sie ist da reingegangen, oder?"
"Lumos!"
Die eisige Stimme Voldemorts und das plötzlich aufflammende Licht schienen Ron endlich zu wecken. McGonagall sah, wie schlagartig das nackte Entsetzen in sein Gesicht trat. Er wich zurück, den Zauberstab gegen die Eintretenden gestreckt.
"Expelliarmus!", sagte Snape ruhig.
Während Rons Zauberstab über den Boden außer Reichweite rollte, kam das Leben zurück in ihn.
"Sie!", keuchte er und sprang vor.
"Viele Freunde scheinst du hier nicht zu haben, Snape", sagte Voldemort, als auch Ron, wie vorhin schon Hagrid, von einer unsichtbaren Wand abzuprallen schien. Er trat hinaus in den Korridor und rief mit einer seltsam durchdringenden Stimme nach Macnair, der nur Sekunden später neben ihm erschien.
"Ihr habt mich gerufen, Herr?"
"Hier ist noch einer! Nimm ihn mit und pass gut auf ihn auf. Ich brauche ihn noch!"
Macnair, der in den vergangenen Jahren als Scharfrichter für Magische Kreaturen beim Ministerium gearbeitet hatte, nahm den benommenen Ron in Empfang und schleifte ihn hinaus.
"Also gut. Der Spiegel ist tatsächlich zerstört", sagte Voldemort.
Er machte mit dem Zauberstab eine sanfte, wellenförmige Bewegung zu dem Rahmen hin, der noch immer mit einigen Splittern darin an der Wand hing, und die anderen sahen, wie er schmolz und in bronzenen Tropfen an der Wand herab rann. Auch die Splitter am Boden schmolzen und vereinten sich zu einer Lache um den Schreibtisch.
"Und jetzt hinauf in den siebten Stock!", befahl Voldemort.
oooOOOooo
Voldemort, Snape, Harper und McGonagall stiegen die Treppen hinauf und immer weiter hinauf, durch die gespenstisch leere Schule bis hin zum siebten Stock, wo Voldemort ohne Zögern auf den Wasserspeier zuging.
"Hier ist es. Ich erinnere mich gut. Soweit ich weiß, hatte er immer ein Passwort für diesen Eingang zu seinem Büro."
Er wandte sich um zu Professor McGonagall und sah sie erwartungsvoll an.
"Wie lautet es zur Zeit?"
Sie schwieg.
"Antworte!"
"Antworten Sie", sagte Snape leise. "Ihr Schweigen nützt niemandem."
"Also?"
"Quaffel", sagte sie schließlich tonlos.
Der Wasserspeier glitt zur Seite, die spiralige Wendeltreppe wurde sichtbar, die selbst in dieser Düsternis noch Heiterkeit ausstrahlte, jene besondere, beschwingte Heiterkeit, die an Dumbledore selbst erinnerte. Aber keiner der vier hatte dafür jetzt Sinn.
Sie stiegen hastig hinauf in den kreisrunden Raum, in dem es dämmrig und still war.
"Lumos!", sagte Snape, und verschiedene kleine Lampen leuchteten auf. Der sanft erhellte Raum mit seinen kleinen, silbernen Instrumenten hier und da auf storchbeinigen Tischen war so, als hätte Dumbledore ihn eben erst verlassen. Die kleinen Maschinen sirrten und drehten sich immer noch unermüdlich.
Die Porträts hatten geschlafen, aber als das Licht anging, erwachte Phineas Nigellus und musterte mit hochgezogenen Augenbrauen die merkwürdige Versammlung.
"Da sind Sie ja wieder. Unglaublich!", sagte er zu Harper. "Ich hoffe doch, man wird Sie zur Rechenschaft ziehen!"
Und sein strafender Blick glitt von ihr zu einem kleinen Haufen von geschmolzenen Schrauben und Drähten, der auf einem Tischchen unter dem Fenster lag. Auch auf dem Boden darum herum lagen überall Metallspäne verteilt.
Dann erst sah er Voldemort, und die Worte, zu denen er schon angesetzt hatte, erstarben ihm auf den Lippen.
"Sie waren das also!", sagte McGonagall empört zu Harper.
Snape blickte mit einem seltsamen Ausdruck auf die Überreste von Dumbledores Gerät.
Voldemort aber ging, offenbar unwiderstehlich angezogen, auf das goldgerahmte Porträt hinter dem Schreibtisch zu.
"Da bist du nun, alter Freund", sagte er zu der arglos schlafenden Gestalt Dumbledores. "Ich habe immer gewusst, dass ich eines Tages hier in diesem Büro stehen würde, ohne auf deine Einladung warten zu müssen. Deine Schule gehört jetzt mir, alter Mann. Deine Schüler habe ich eben ins Nichts geschickt. Harry Potter hat sich schon von selbst auf den Weg zu mir gemacht! Und du – du schläfst!"
"Wie immer Sie über Dumbledore denken mögen, Sie sollten ein wenig Respekt vor einem verstorbenen Schulleiter zeigen!", rief Phineas Nigellus empört.
Blitzschnell wandte sich Voldemort um, und mit einem lauten Klapp! schlug eine Art Fensterladen vor dem Porträt zu.
Voldemort strich mit der Hand über die Vitrine, in der Gryffindors Schwert lag, und sie hörten ein Knirschen, als sich ein haarfeiner Riss durch das Glas zog. Dann fiel die Vitrine in zwei Hälften geschnitten zu Boden und zerschellte in tausend Splitter. Voldemort nahm das Schwert an sich.
"Ich denke, ich werde es bald seinem wahren Erben überreichen", sagte er und wandte sich endlich an Snape. "Jetzt hast du freie Hand! Worauf wartest du noch? Finde mir dein Buch!"
McGonagall sah überrascht zu Snape hin, der sich daranmachte, die Schränke zu öffnen und die Regale durchzusehen. Voldemort trat ans Fenster und sah hinaus. Von hier oben konnte er die Lichtpunkte der Fackeln sehen, die sich eben zurück zum See hin bewegten.
Harper stand mit vor der Brust verschränkten Armen neben der goldenen Stange, auf der in besseren Tagen Fawkes gesessen hatte, und schien Snapes Suche mit dem Gehör zu verfolgen.
"Severus, was immer er gegen Sie in der Hand hat – überlegen Sie doch bloß, was Sie da tun! Mit wem Sie sich verbündet haben!", sagte Professor McGonagall plötzlich. "Hogwarts war auch Ihre Schule – Dumbledore war Ihr Freund, er hat Ihnen immer vertraut!"
Snape hielt nicht einmal inne bei der Durchsuchung der Schreibtischschubladen.
"Severus, hören Sie mich an! Sie müssen doch –"
Weiter kam sie nicht. Snape fuhr herum und blitzte sie mit einem bösen Blick an.
"Silencio!", zischte er, und McGonagall verstummte abrupt.
"Vielleicht –", ließ sich nach einer langen Weile Harpers kühle Stimme vernehmen, "vielleicht sollten wir das einmal ganz wörtlich nehmen: das Siegel des Siebten."
Voldemort wandte sich um.
"Was meinst du damit, Hekate?"
"Vielleicht sollten wir nicht nach einem Buch suchen. Sondern nach einem Siegel. Wie Ihr wisst, habe ich viele Museen auf der Suche nach Hinweisen auf dieses Buch durchsucht. Vor einigen Monaten entdeckte ich eine Scherbe mit einer aramäischen Aufschrift, die zwar mehrere Zeilen lang, aber dennoch völlig unverständlich war, genau wie die Dokumente, die Ihr bereits kanntet. Die Aufschrift war eindeutig durch den Abdruck eines Siegels entstanden. Und Bagoas hat in Mesopotamien gelebt – einem Land, in dem eine bestimmte Art von Siegeln eine sehr lange Tradition hatte."
"Das Rollsiegel!", sagte Voldemort. "Natürlich!"
Snape wurde blass, was keinem der anderen entging.
"Du hast also doch versucht, mich zu hintergehen!", sagte Voldemort, aber es schien ihn beinahe zu belustigen. "Such jetzt weiter – und zwar nach einem kleinen, zylinderförmigen Gegenstand, wie du sehr genau weißt!"
Einen Moment lang standen sie alle still. Dann blickten sie plötzlich alle zugleich auf Dumbledores kleine silberne Instrumente.
Und wie gegen seinen eigenen Willen kniete Snape sich neben einen der Tische und streckte die Hand nach dem Gerät darauf aus, das dort munter vor sich hin paffte. Etwas wie eine winzige Dampfmaschine schien mehrere kleine Pendel in Bewegung zu halten. Eines von ihnen sah aus wie eine längliche, silberne Röhrenperle. Er hielt den Mechanismus mit der Hand an und löste die Perle dann von dem fein ziselierten Schaft, auf dem sie gesteckt hatte. Einen Moment lang hielt er sie auf der Hand, dann war Voldemort neben ihm und nahm sie an sich.
"Erstaunlich, Snape! Für jemanden, der angeblich nicht einmal wusste, wovon ich spreche, meine ich", sagte er und betrachtete den Silberzylinder.
Er war nur wenige Zentimeter lang und von einem Netz winziger, fein herausgearbeiteter Schriftzeichen übersät.
"Das ist es also! Das Siegel des Siebten. Klein genug, um es um den Hals zu tragen!"
Er schloss die spinnenartige Hand fest darüber und ging dann mit raschen Schritten zum Schreibtisch. Dort suchte nach einem Bogen Pergament. Als er keinen fand, zauberte er einen aus der Luft herbei und breitete ihn auf dem Tisch aus.
Dann öffnete er die Hand und legte mit sichtlicher Überwindung das Siegel auf den Tisch.
"Komm her, Snape", befahl er knapp. "Beweise mir jetzt lieber deine Bereitschaft zur Mitarbeit. Sonst müsste ich denken, dass du daran nicht länger interessiert bist. Setz es in Gang!"
Snape kam zum Schreibtisch. Seine Miene war völlig ausdruckslos, als er das Siegel mit seinem Zauberstab berührte.
Und während Hekate Harper mit geschlossenen Augen neben der Phönix-Stange lehnte, verfolgten die drei anderen gebannt, wie sich der kleine Silberzylinder in Bewegung setzte, langsam über das Pergament rollte und dabei Reihe um Reihe von altertümlichen Schriftzeichen auf dem Bogen hinterließ.
