Kapitel 23
Snape Busted
Draußen an der kalten Luft kam Ron schnell wieder ganz zu Bewusstsein. Macnair zerrte ihn grob die Treppe hinunter zu dem Ring, den die Fackelträger bildeten. Ron fühlte sich kraftlos vor Entsetzen. Wie hatte das alles so schnell so weit kommen können? Hatte er da eben wirklich Voldemort persönlich gegenübergestanden? Und Snape an seiner Seite – mit Harper?
Eine wilde Woge der Angst überrollte ihn.
Dumbledore! Ob der wirklich da oben in seinem Porträt schlief, während seine Schule von Todessern übernommen wurde? Auf einmal fühlte er die Sehnsucht nach ihm wie einen körperlichen Schmerz. Ihm war, als hätte allein seine Anwesenheit immer ausgereicht, sie alle vor dem hier zu schützen.
"Da rein mit dir!", sagte der Henker des Ministeriums kalt und stieß ihn in den Ring. Für einen Moment blendeten ihn die Fackeln, dann erkannte er Bill und stolperte auf ihn zu.
"Komm schon her", sagte Bill, und man konnte die Erleichterung, Ron zu sehen, in seiner Stimme hören. Er zog ihn zu sich und George und ließ seine Hand an Rons Arm, was dieser sehr tröstlich fand.
"Was ist mit George?", fragte Ron leise, als er das grimmige Gesicht seines Bruders sah.
"Ich konnt' ihm gerade noch einen kleinen Schweigezauber verpassen", sagte Bill. "Damit er sich mit seiner großen Klappe nicht noch mehr in Schwierigkeiten bringt."
George verdrehte die Augen und machte eine eindeutige Geste zu Bill hin. Ron war so glücklich, die beiden bei sich zu haben, dass er trotz allem beinahe gelacht hätte.
Um sie herum standen die Todesser schweigend und vielleicht sogar ein bisschen gelangweilt – der Job im Schloss wäre wohl interessanter gewesen, dachte Ron und sah sich vorsichtig um.
Vielleicht zwanzig Gefangene. Von den Lehrern schienen nur Slughorn und Sinistra hier zu sein, dann die vier Auroren, deren Namen er schon wieder vergessen hatte, Madam Pomfrey, Moody, der ganz bleich hinter Bill stand und anscheinend Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. Und irgendwas musste mit seinem magischen Auge passiert sein, denn da war nur noch eine leere Augenhöhle. Hagrid stand neben ihm und versuchte, nicht so auszusehen, als stütze er ihn tatsächlich. Ron erschrak, als er es sah.
Ein paar Mitschüler aus der siebten Klasse waren auch da. Ernie, Dean, Seamus. Zu seiner großen Überraschung war auch Pansy Parkinson bei ihnen, wohingegen er Blaise Zabini und Millicent Bulstrode, die doch am Morgen noch so großspurig getönt hatten, dass sie nicht in die Schutzräume gehen würden, vergeblich suchte. Und auch Parvati und Lavender fehlten. Er konnte es keinem übel nehmen. Er wäre selbst am liebsten in den Schutzräumen verschwunden.
Sie standen schweigend beisammen und sahen verstohlen in die Gesichter ihrer Wächter. Und dann entdeckte er Luna. Sie stand ganz für sich am Rand der Gruppe, in diesem absurden Kleid, in dem er sie vorhin noch in der Eingangshalle gesehen hatte.
"Luna!", rief er entsetzt. "Ich dachte – ich dachte –"
Natürlich hatte er gedacht, dass sie in die Schutzräume gegangen war! Einen Moment lang durchzuckte ihn der furchtbare Gedanke, dass Voldemort zu früh gekommen war – bevor die Schutzräume geschlossen worden waren –
"Ich w–wollte mit euch k–kommen", sagte Luna mit klappernden Zähnen. Der eisige Wind schlug ihr das Kleid um die Beine. Ron ging zu ihr hinüber.
"Nimm meinen Umhang", sagte er und zog ihn aus. "Ich hab noch 'n paar Pullover drunter."
Die Todesser störten sich nicht daran. Offenbar reichte es ihnen, dass ihre Zauberstäbe in einem säuberlichen Stapel dalagen und sie selbst um mehr als das Doppelte in der Überzahl waren.
Ron zog Luna mit sich zu Bill und George.
Er war sicher, dass er jetzt alle gesehen hatte, aber Tonks war nicht dabei. Er wusste nicht, ob ihn das beruhigte oder nicht. Und auch Harry war nicht hier.
"Wo ist –", begann er schließlich und sah in Bills angespanntes Gesicht. Aber er brachte es nicht heraus.
"Harry, meinst du?", ergänzte Bill, der sein Zögern für die Angst vor der Antwort hielt. Nicht für die Überwindung, die es ihn gekostet hatte, diese Frage überhaupt zu stellen. "Die Harper hat vorhin gesagt, er ist weg."
"Weg?"
"Ja. Scheint übrigens so, als hätte die hier für ihn gearbeitet, für Voldemort, meine ich."
"Also doch", sagte Ron bitter. "Sie war eben mit – mit V–Voldemort in ihrem Büro. Snape war auch dabei – er hat mir den Zauberstab abgenommen! Und McGonagall hatten sie dabei. Ich dachte, die Harper liegt halbtot in der Krankenstation –"
"Von da ist sie irgendwann heute Nachmittag abgehauen", mischte sich Luna ein. "Keiner hat was gemerkt, bis Madam Pomfrey zurückkam. Da lag Miss Ripley anscheinend schlafend vor Harpers Krankenzimmer. Und ihr Zauberstab und Harper waren weg. Professor McGonagall wollte gerade nach ihr suchen lassen, aber dann kam der Alarm. Ripley wollte direkt auf ihren Posten, da hab ich ihr meinen Zauberstab geliehen. Wisst ihr – sie war so verzweifelt, weil ihr das passiert war."
Ron, Bill und George hatten stumm zugehört.
Jetzt mischte sich Professor Slughorn ein, der mit einer Miene entrüsteter Ablehnung, die offenbar der gesamten Situation galt, dagestanden hatte.
"Auch Miss Granger vermisse ich. Ich weiß, dass sie nicht in die Schutzräume gegangen ist."
"Professor Flitwick hat bis zum letzten Moment auf sie gewartet, bevor er die Räume schließen musste", sagte Professor Sinistra empört. "Sie sollte die jüngeren Schüler begleiten. Aber sie ist da gar nicht erschienen."
"Ja, ich weiß", murmelte Ron.
Die Erleichterung darüber, dass die Versiegelung der Schutzräume noch gelungen war, war nur flüchtig. Stattdessen fühlte er wieder das Entsetzen, das ihn vorhin vor diesem zertrümmerten Spiegel erfüllt hatte, als er Hermiones Stimme gehört hatte. Hermiones Stimme, von irgendwo in Harpers Büro, wie sie fragend Harrys Namen rief. Natürlich. Und wie sich die Stimme langsam entfernt hatte. Ihn überlief es kalt. Es war – konnte sie in diesen Spiegel gegangen sein? Bevor er zerstört worden war, von wem auch immer?
Und dann war da auch noch Tonks –
Er war froh, dass im Moment niemand nach ihr fragte.
"Die anderen sind alle in die Schutzräume gegangen", murmelte Slughorn. "Dieser Filch hat sogar seine Katze mitgenommen."
Von Hagrid kam ein tiefes Seufzen, und auf einmal musste Ron an Nevilles Kröte denken. Trevor. Der saß sicher noch oben im Schlafsaal in seinem kleinen Terrarium. Ausgerechnet jetzt konnte er nicht mehr abhauen.
Verwirrt sah er etwas Weißes auf seinen Ärmel schweben. Er blickte auf.
"Es schneit", sagte Luna.
Und wirklich, nach einer ersten versprengten Handvoll Flocken wirbelte auf einmal die ganze Luft voll davon. Ron starrte ungläubig in das weiße Treiben. Schnee? Bezwingend stürzten Bilder von Weihnachtsbäumen und Schneeballschlachten auf ihn ein, von Ferienstimmung und diesen behaglichen Stunden vor einem Kaminfeuer in der Dämmerung. Einen Moment lang war ihm geradezu schwindelig von der Unwirklichkeit der Szenerie, in der er sich stattdessen befand.
Konnte das denn hier die Wirklichkeit sein, standen sie tatsächlich schweigend zusammen wie eine Schafherde und warteten darauf, dass die Todesser sie abführten, wohin auch immer?
Er hatte in letzter Zeit oft daran gedacht, wie es wohl sein würde, wenn Voldemort tatsächlich Ernst machte und seine Leute nach Hogwarts schickte. Aber in seiner Vorstellung hatten wilde Kämpfe, Schreie, Feuer, hin- und herzuckende Zauber und Flüche dazu gehört. Blut und Tod vielleicht auch, aber daran wollte er jetzt nicht denken. Niemals aber hatte er sich ausgemalt, dass es so geschehen könnte, so still, so – demütigend. Dass sie einfach alle zusammengetrieben und abgeführt würden. Ohne ihre Zauberstäbe. Ohne Führung.
Vom Schloss her kam der letzte Suchtrupp zurück. Ohne weitere Gefangene.
"Da ist keiner mehr! Wir haben mehrere Investigatores ausgeschickt. Sie kamen alle allein zurück."
"Also los!", rief Bellatrix Lestrange. "Wir gehen zurück! Fesselt sie zu zweit aneinander!"
Die kleine Schar der Gefangenen musste in Zweierreihe zwischen den Todessern gehen. Einige Fackeln verloschen unter den Flocken.
"Was ist mit den Zauberstäben?", brüllte Nott durch das Schneegestöber.
"Die sollen wir dalassen. Für ihn", antwortete Bellatrix.
Sie gingen schnell durch die Wiese zum See hinunter. Ron schnürte sich die Kehle zu bei dem Gedanken daran, dass sie wahrscheinlich auf demselben Weg zurückkehren würden, den die Todesser gekommen waren. Durch den See ...
Kurz vor dem Ufer drehte er sich um und sah noch einmal zum Schloss zurück, das dunkel und verlassen in dem weißen Flockengewirbel da stand. Die Umrisse der Gewächshäuser – Hagrids Hütte weit hinten, schon fast am Waldrand – das komische Pavillonhäuschen mit dem Quallenbassin –
Hoch über allem stand mit seinem kalten, harten Glanz noch immer der grüne Totenkopf der Todesser.
Ron fragte sich, ob er Hogwarts jemals wieder sehen würde.
"Komm jetzt", sagte Bill neben ihm und zog ihn an der Fessel, die sie aneinanderkettete, mit sich.
oooOOOooo
In Dumbledores Büro standen Voldemort und Snape um den Schreibtisch und sahen zu, wie das Siegel Bogen um Bogen mit Schriftzeichen überzog. Es wurde kein Wort gesprochen.
McGonagall wandte die Augen nicht von den beiden Männern. Ganz allmählich wandelte sich die Fassungslosigkeit in ihren Zügen in Verzweiflung. Da war nichts mehr, was noch einen Trost, eine Hoffnung bot. Die leere Phönix-Stange mit der dunkelroten Aschenschale darunter schien das noch deutlicher zu sagen als der tief schlafende Dumbledore in seinem Goldrahmen.
Und dann endlich, nach einer Ewigkeit, wie ihr schien, rollte das Siegel aus und blieb liegen.
"Vierzehn Bögen Pergament", konstatierte Voldemort. "Eine Menge Arbeit für dich, Severus. Und sicher interessanter als die Tränke-Brauerei!"
Als Snape aufblickte, glaubte McGonagall einen Ausdruck von Wut und Ohnmacht im Gesicht ihres ehemaligen Kollegen zu sehen. Und da war noch etwas – Widerwillen? – als er die Bögen von Voldemort entgegennahm. Voldemort selbst steckte das Siegel ein.
Der Triumph ließ seine Augen leuchten. Er nahm Gryffindors Schwert wieder auf und warf noch einen Blick in den runden Raum. Lässig hob er die Hand mit dem Zauberstab, und mit einem leisen Klagelaut verstummten und erstarrten all die kleinen silbernen Instrumente auf den Tischchen. Jetzt erst war der Raum wirklich tot.
"Wir sind fertig hier. Fürs Erste", sagte er. "Zeit, in meine Festung zurückzukehren."
Minuten später traten sie vor das Eichenportal auf die Treppe hinaus. Schneeflocken waren in die verlassene, erleuchtete Eingangshalle geweht.
Hier blieb McGonagall plötzlich stehen.
"Ich werde nicht mit Ihnen kommen", sagte sie würdevoll. "Dies ist meine Schule. Ich werde sie nicht verlassen, um mit einer Bande von Mördern mitzukommen."
"Oh, das müssen Sie auch nicht. Ich brauche Sie nicht mehr", sagte Voldemort.
Snape, der schon auf der ersten Treppenstufe stand, wandte sich um und sah mit ausdrucksloser Miene zu, wie Voldemort den Zauberstab hob und –
Aber da hatte Harper schon mit ihrem Zauberstab eine rasche Figur in die Luft geschrieben. Ein, zwei Bögen entglitten Snapes Stapel, als er zusah, wie Professor McGonagall mit einem verwunderten Gesichtsausdruck zu erstarren schien, bis sie wie eine steinerne Statue direkt vor dem Hauptportal stand. Sacht sanken die Schneeflocken auf sie herab.
"Pass auf die Pergamente auf!", sagte Voldemort in scharfem Ton zu Snape, der sich rasch nach den Bögen bückte. "Und Hekate – du solltest nicht noch einmal zaubern, bevor ich dir den Befehl dazu gebe!"
"Verzeiht mir, Herr. Ich dachte, sie würde sich als Statue vor ihrer Schule recht gut machen."
Voldemort warf ihr einen bösen Blick zu, dann beschloss er offenbar, die Angelegenheit erst einmal auf sich beruhen zu lassen.
"Ich bin sicher, dass diese Idioten wieder irgendwen hier drin übersehen haben. Aber ich werde einen Wächter einsetzen, der gewissenhaft Wache halten wird, bis ich Zeit habe, mich Hogwarts gebührend zu widmen."
Und dann öffnete er die Faust und hatte etwas auf der Handfläche liegen, das Snape im ersten Moment nicht erkannte.
"Was ist das?", fragte er.
"Ein Zahn, Snape. Der Zahn eines Basilisken."
Er blies sacht darüber hin. Der Zahn begann sich zu regen, streckte sich, glitt von Voldemorts Hand herunter. Auf dem Boden angekommen war es schon eine kleine Schlange, die sich zielstrebig in die Eingangshalle schlängelte.
Er rief ihr ein paar gezischte Worte nach, die weder Harper noch Snape verstanden. Dann versiegelte er die Tür.
"Jetzt hat Hogwarts endlich wieder einen Hüter, wie er ihm zusteht. Ich glaube nicht, dass ihm sehr viel Lebendiges entgeht."
Dann ging er voraus. Harper ließ sich wieder von Snape führen, eine Aufgabe, die dieser nicht eben rücksichtsvoll erfüllte. Die Wiesen waren rasch weiß geworden, und hinter ihnen füllten sich ihre Spuren schnell wieder mit Schnee.
Sie kamen an dem Stapel Zauberstäbe vorbei, die verlassen im Schnee lagen. Voldemort schwenkte seinen Zauberstab darüber hin, und sie schrumpften und bündelten sich zu einem Päckchen, das nicht größer als eine Streichholzschachtel war. Das steckte er ein. Dann ging er weiter hinunter zum See, wo er am Ufer stehen blieb und einen Moment lang auf das schwarze Wasser hinabblickte. Snape glaubte etwas wie Unentschlossenheit in seiner Haltung zu bemerken.
Schließlich machte er eine ungeduldige Handbewegung.
"Dieser See ist ein gutes Versteck, eines der besten von Hogwarts", sagte er. "Nicht wahr, Hekate?"
"Ja, mein Lord", antwortete sie leise.
"Und jetzt hebe die Schirmzauber auf, Severus, damit wir hinauskönnen. Ich will apparieren und nicht noch einmal diesen lächerlichen Weg nehmen!"
oooOOOooo
Im dunklen Innenhof der Festung blieben sie vor einem schlanken Turm stehen, dessen Spitze sie von hier unten nicht erkennen konnten. Snape hatte ihn nie zuvor gesehen, aber er wunderte sich längst nicht mehr über die baulichen Besonderheiten der Festung.
Vor dem schmalen Tor stand Bellatrix Lestrange, und neben ihr ein Hauself.
"Ich habe alle Kerzen angezündet, mein Lord", sagte sie beflissen.
"Sind die Gefangenen untergebracht?"
"Ja, Herr, genauso, wie Ihr es angeordnet habt. Der Elf hat uns geführt", fügte sie mit sichtlichem Ärger hinzu.
"Hol Crabbe und Macnair", sagte Voldemort zu dem Elf. "Du wirst hier mit ihnen Wache halten, Bellatrix. Und jetzt lass uns eintreten. Los, Snape, du gehst als Erster."
Sie gab die Tür frei und warf Snape und Harper, die ihm folgten, einen bösen Blick zu. Als Voldemort eingetreten war, schloss sie das Tor von außen wieder.
Der Turm schien nur aus einer Wendeltreppe zu bestehen, die sich eng und steil in unabsehbare Höhe hinaufschraubte und Snape flüchtig an das Gewinde im Innern einer Seeschnecke erinnerte.
Sie stiegen und stiegen, aber diese Treppe schien kein Ende nehmen zu wollen. Die Enge, die seltsam dichte Atmosphäre und ein schwerer Geruch, der tatsächlich etwas Organisches hatte, legten sich beklemmend auf Harper und Snape. Ein paar Kerzen, die hier und da in Haltern an der Wand steckten, waren die einzige Lichtquelle. Snape fragte sich, warum sie nicht einfach hinaufapparierten, aber er glaubte die Antwort zu ahnen.
Endlich stand er mit schmerzenden Beinen unvermittelt vor einer Tür.
"Mach sie auf, Snape", sagte Voldemort.
Snape öffnete, und da war nur Dunkelheit. Er machte ein paar Schritte in den Raum hinein und stieß an eine Kante. Zugleich sah er – durch den Fußboden, wie er überrascht feststellte – viele kleine Lichtpunkte. Mit einem plötzlichen Schwindelgefühl griff er nach der Kante, die sich nach glatt geschliffenem, massivem Holz anfühlte.
Dann kam Voldemort durch die Tür, einen Kerzenleuchter in der Hand, den er von der Wand genommen hatte, und Snape sah, wie Harper sich bis zu dem Gegenstand vortastete, an dem er selbst Halt gefunden hatte.
Es war ein großer, dunkler Tisch, der auf einem seltsam gewundenen, verbogenen Bein stand, das unangenehm nach etwas ehemals Lebendigem aussah, einer knorrigen Wurzel, einer Schlange oder dem Bein irgendeiner unglücklichen Kreatur. Es lief in eine Art Kralle aus. Zwei Stühle standen auf gegenüberliegenden Seiten an dem Tisch.
Mehr gab es nicht in diesem Raum. Er war kreisrund, und als Snape sah, wie sich das Kerzenlicht auf den Wänden spiegelte, begriff er plötzlich, dass sie in einer gläsernen Halbkugel standen, dass er durch den Fußboden tief unten die Lichter der Festung und vermutlich des Heerlagers im äußeren Hofring sehen konnte. Durch die Wölbung war nur das Schwarz des Nachthimmels zu sehen.
Kein Schnee hier, über der Goldenen Festung.
"Ein Zimmer, das wie geschaffen ist zum konzentrierten Arbeiten, nicht wahr?", fragte Voldemort, dem Snapes Unbehagen nicht entgangen war. "Und jetzt setz dich, Severus, und fang an. Morgen früh will ich den Text sehen."
"Ich habe den Schlüssel nicht, Herr", sagte Snape leise und legte die Pergamentrollen auf die dunkle Platte des Schreibtisches.
"Das kannst du mir nicht erzählen", erwiderte Voldemort kalt und stellte den Kerzenleuchter dazu. "Du solltest jetzt vernünftig sein und meinen Zorn nicht weiter reizen. Überschätze deine Bedeutung nicht! Jetzt, da ich das Siegel endlich besitze, werde ich auch den Schlüssel zur Entzifferung herausfinden, darauf kannst du dich verlassen. Ich gebe dir jetzt zum letzten Mal die Möglichkeit, es freiwillig zu tun."
Snape stand immer noch wie unentschlossen vor dem Tisch.
"Setz dich endlich!"
Er gehorchte.
"Ich weiß, dass du den Schlüssel hast. Wir beide wissen das. Wir wissen, wer du bist, nicht wahr, Hekate? Erzähl es ihm!"
Harper stand immer noch vor dem anderen Stuhl und hielt sich an dessen Lehne fest.
"Sie sind der Enkel von Septimus Prince", sagte sie langsam. "Ich habe Spuren seiner Arbeit in Padua gefunden, die ziemlich sicher darauf hinweisen, dass er dieses Buch – dieses Siegel besaß und damit umgehen konnte."
"Und ganz sicher hat er sein Wissen doch an seine Nachfahren weitergegeben, nicht wahr?", fügte Voldemort hinzu.
"Meine Mutter hat mir früher Texte dieser Art gegeben, das ist richtig", sagte Snape. "Sie wollte wohl sehen, wie ich damit zurechtkomme – ob ich so gut bin wie ihr Vater, vermute ich."
"Den Schlüssel, Snape!"
"Er hatte sich diese Texte alle selbst erarbeitet", fuhr Snape fort, ohne sich unterbrechen zu lassen. "Er hatte eine Methode zur Entschlüsselung gefunden."
"Nun ja, wenn man bedenkt, dass Julius Tumble durch einen dreisten Diebstahl an das Siegel gekommen ist, ist es verständlich, dass er keinen Schlüssel dafür besaß", sagte Harper gelassen.
"Aber Septimus hatte ihn!", sagte Voldemort. "Er hat ihn seiner Tochter gegeben. Eileen Prince war überzeugt, die rechtmäßige Besitzerin dieses Siegels zu sein! Und in diesem Wahn hat sie dich erzogen, Snape."
"Wie ich schon sagte, sie wollte herausfinden, ob ich ein würdiger Nachfolger bin", sagte Snape mit einem Unterton bitteren Spotts. "Meine Mutter war – sie hatte diese Idee, ich könnte – ich könnte etwas von seinem Geist in mir haben – er hatte sich verbrannt – nur zwei Tage nach meiner Geburt –"
"Und?"
"Sie hat mir den Schlüssel nie gegeben."
Voldemort gab ein schlangenhaftes Fauchen von sich.
"Dann wirst du eben arbeiten, bis du die Texte entschlüsselt hast! Ich bin sicher, dass du – mit dem richtigen Anreiz – deinem genialen Großvater nicht nachstehen wirst!"
"Es gibt vermutlich – mehrere Schlüssel für die verschiedenen Texte. Wenn man einen hat, wird es leichter, die übrigen herauszufinden. Aber es braucht trotzdem Zeit", sagte Snape zögernd. "Als Junge habe ich einige kleinere Texte entschlüsselt. Seitdem habe ich nicht mehr damit gearbeitet."
"Es fällt mir schwer, das zu glauben! Andererseits – vielleicht – tief in deiner Seele bist du ein Feigling, Snape! Du hattest das alles an der Hand – aber du hast nie gewagt, sie wirklich nach der Macht auszustrecken, die du hättest haben können! Stattdessen hast du dir dieses kostbarste aller Güter einfach abnehmen lassen, von einem alten Mann, der die schwarze Magie verabscheute – der stattdessen an Altweiberzauber glaubte!"
Snape schwieg und starrte auf die Tischplatte.
"Also, ich werde dir den nötigen Anreiz geben. Du weißt, welcher dieser Texte mich am meisten interessiert. Finde ihn und entschlüssele ihn! Und wenn ich ihn morgen früh nicht habe, werde ich dich von da an stückweise an die Inferi verfüttern! Ich bin ganz sicher, du wirst es dir überlegen!"
Er beugte sich zu Snape und sah ihm ins Gesicht.
"Du hast dich für zu schlau gehalten, Severus! Ich sagte dir ja, es ist immer gut, über die Ängste der Menschen Bescheid zu wissen! Was sagtest du, sei deine größte Angst – ein vergessenes Grab?" Er lachte böse. "Wie wäre es, wenn du gar kein Grab bekommst? Nun, ich werde dich jetzt deiner Arbeit überlassen. Und versuche gar nicht erst, auf dumme Gedanken zu kommen! In diesem Raum, in diesem Turm ist Magie aller Art nicht wirksam. Ich habe lange daran gearbeitet, denn ich wusste, eines Tages würde ich ihn brauchen, und zwar wahrscheinlich für dich."
Er ging zur Tür.
"Aber wenn ich mir dich jetzt so ansehe, frage ich mich, ob das überhaupt nötig war, ob ich dich nicht doch überschätzt habe. Ich lasse Hekate hier – sie ist zwar blind, aber ich bin sicher, dass niemand genauer auf dich und diese Texte aufpassen würde!"
Dann ging er hinaus.
oooOOOooo
Die Tür fiel mit einem endgültigen Krachen ins Schloss.
"Da wären wir also! Endlich – unter uns", sagte Harper ironisch, während sie beide den verklingenden Schritten auf der Wendeltreppe nachlauschten. "Zeit für eine gute, ungestörte Unterhaltung."
"Meinen Sie? Ich habe zu tun. Wenn Sie noch irgendetwas für ihn ausspionieren sollen, warten Sie damit bitte, bis ich hier fertig bin."
Harper setzte sich ihm gegenüber an den Schreibtisch. Der ruhige Schein der Kerzenflamme spiegelte sich in ihren verschleierten Augen. Er musterte die Brandspuren in ihrem Gesicht mit einem langen Blick.
"Dumbledore und seine kleinen Maschinchen", sagte er dann wider Willen interessiert. "Wer hätte gedacht, dass einmal eins so Amok laufen würde! Sagen Sie mir, was Sie damit angestellt haben? Oder lassen Sie es mich gleich so formulieren: Sagen Sie mir, woher Sie diese Verletzungen wirklich haben?"
"Wollen Sie mich heilen?", fragte sie belustigt.
"Warum nicht? Vielleicht kenne ich ja ein Mittel dagegen! Wenn Sie mir sagen, was Ihre Blindheit verursachte?"
Harper griff stattdessen schweigend nach einem der Pergamente und strich mit den Fingern darüber.
"Das muss schrecklich für Sie sein, nicht wahr?", fragte Snape. "Sie endlich in der Hand zu halten – und nicht mehr lesen zu können!"
Sie strich den Bogen sorgfältig glatt.
"Demnach wissen Sie es also", sagte sie dann leise.
"Natürlich. Glauben Sie etwa, ich habe ihm diese rührende Onkel-Nummer abgekauft, damals? Glauben Sie wirklich, ich habe angenommen, dass Lord Voldemort bei Ihnen plötzlich seinen Familiensinn entdeckt haben soll? Nein, ganz sicher nicht!"
"Nein. Nicht Sie. Da haben Sie Recht", sagte sie ruhig.
"Die interessantere Frage ist doch, woher wissen Sie es denn? Und seit wann?"
"Er hatte mich auf die Spur dieses Buches gesetzt, als ich noch kaum mit der Schule fertig war. Dann kam Padua –"
"Wo mein Großvater geforscht hatte, ja."
"Richtig. Dass allerdings Sie mit Septimus Prince verwandt sind – das habe ich erst viele Jahre später herausgefunden – in diesem Jahr erst, um genau zu sein."
"Sie suchten also das Siegel des Siebten für den Dunklen Lord. Dem vermutlichen rechtmäßigen Besitzer vor langer Zeit gestohlen, von meinem geldgierigen Vorfahren Tumble, der sich eigentlich nur bereichern wollte."
"Das amüsiert mich daran übrigens immer wieder. Dass nicht ich es bin, die von einem skrupellosen Dieb abstammt, sondern Sie."
"In der Tat", sagte Snape trocken. "Sehr amüsant. Ich erinnere mich, dass Sie in der Schulzeit mit Ihren Diebereien für ein gewisses Aufsehen gesorgt haben. Aber was brachte Sie denn nun auf die – nun, persönliche Spur?"
"Sehen Sie, meine Mutter hat mir nicht viel von sich erzählt – aber ein paar Dinge doch. Unter anderem, wie er sie mit Jeremiah Harper zusammengebracht hatte. Irgendwann begriff ich, dass das einen Sinn gehabt haben musste für ihn. Dass es Teil seiner Manipulationen war. Was er tatsächlich bezweckte, habe ich aber erst vor ein paar Jahren begriffen."
"Ja, Ihr Vater –! Dass Amy Benson, Voldemorts persönliche Dienerin, sich überhaupt so nahe mit einem anderen Menschen einlassen durfte – das hat mich sofort misstrauisch gemacht. Jeremiah Harper, nur ein Gärtner – und ein Squib."
"Ein Squib aus einer ganz besonderen Familie", sagte Harper kühl. "Ihr Vorfahre hat da wirklich gründliche Arbeit geleistet mit seinem Fluch! Jeremiah war Lennart Johansens Enkel, und noch bei ihm war dieser Fluch voll wirksam. Er hatte keine Ahnung, was Voldemort von ihm wollte."
"Es mag ja lange gedauert haben, aber schließlich ist seine Rechnung doch aufgegangen, nicht wahr?", sagte Snape. "Sie haben ihn genau dahin geführt, wo er hinwollte. Und jetzt – das Siegel – es gehört Ihnen."
"Sie meinen, Sie würden es mir einfach geben, immer vorausgesetzt, Sie bekommen es jemals wieder in die Hand?", fragte sie spöttisch. "Nachdem Sie deshalb gemordet haben?"
"Oh, dieser Besitz war mir nie eine Freude, um die Wahrheit zu sagen. Er hat meine Familie nicht gerade glücklicher gemacht!"
Harper richtete ihre Augen genau auf sein Gesicht, als könnte sie ihn sehen.
"Warum, Snape? Warum wenden Sie die Macht nicht an, die es Ihnen verleiht?"
"Das ist ein altes Zauberbuch, Hekate", erwiderte er sanft. "Kein Allheilmittel, kein Wunderwerk! Es macht seinen Besitzer nicht einfach so zum König der schwarzen Magie!"
"Und doch ist er seit Jahrzehnten dahinter her, wie hinter nichts anderem!"
"Ja, weil er die Unsterblichkeit sucht und man diesem Buch nachsagt, dass es ein – Rezept dafür enthält!"
Er lachte schnaubend.
"Und – ist das so?", fragte sie.
"Ja, das ist wirklich so", sagte er kalt. "Slytherin hatte da ganz Recht. Aber wie Sie gehört haben, ist es verschlüsselt, und ich habe diesen Text selbst nie gesehen. Ich habe also noch einiges zu tun in dieser Nacht und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich nun arbeiten ließen!"
"Ich würde Ihnen ja meine Hilfe anbieten, aber –"
"Sie haben doch schon genug getan, Hekate", sagte er mit einem bösen, spöttischen Funkeln in den Augen. "Ihnen ist doch hoffentlich klar, dass Sie Ihrem Grab viele Schritte näher gekommen sind, als Sie ihn zu dem Siegel führten?"
"Und Sie – wissen Sie nicht, dass Sie hier gerade an Ihrem eigenen Grab schaufeln?", gab sie mit einem Lächeln zurück.
"Mein Grab ist längst ausgehoben", sagte er hart. "Und nun lassen Sie mich arbeiten. Ich habe keine Zeit mehr für Konversation."
Er beugte sich endlich über die eng beschrifteten Pergamentbögen. Allein die Menge der Texte machte es ziemlich unwahrscheinlich, dass er den richtigen bis zum Morgen auch nur gefunden haben würde.
Und dann war lange Zeit nichts mehr zu hören als das gelegentliche Rascheln eines Pergaments und immer wieder das Kratzen von Snapes Feder, wenn er sich eine Notiz machte.
Es war kalt in dem gläsernen Raum. Irgendwann begann Snape sich zu fragen, ob die Kerze überhaupt lange genug brennen würde. Harper erhob sich und begann auf und ab zu gehen.
"Warum tun Sie das?", fragte sie auf einmal. "Warum geben Sie ihm das Rezept für die Unsterblichkeit?"
"Haben Sie ihn nicht gehört?", fragte er höhnisch. "Glauben Sie, ich möchte als Futter für seine Kreaturen enden?"
"Ach, machen Sie mir doch nichts vor", erwiderte sie verächtlich. "Macht es für Sie wirklich einen solchen Unterschied, wie Sie sterben?"
Snape blieb ihr die Antwort schuldig.
"Sagen Sie mir doch noch eines – da wir gerade vom Sterben sprechen!", begann Harper plötzlich, "Sagen Sie mir, wie es war, Regulus Black zu ermorden. Einen harmlosen, eitlen, ziemlich naiven Jungen, jünger als Sie selbst. Wie haben Sie das gemacht? Ihm in einer dunklen Straße aufgelauert? Haben Sie selbst das Messer geführt?"
Snape war zusammengezuckt und kauerte nun mit brütendem Blick über seinem Pergamentbogen. Seine Hand hatte sich fest um die Feder geschlossen. Der Angriff war völlig überraschend gekommen.
"Oder nein – ich denke nicht, dass Sie sich wirklich die Hände schmutzig gemacht haben. Das ist nicht Ihr Stil, nicht wahr? Sie töten mit dem Zauberstab, und Sie bevorzugen wehrlose Opfer – dumme Jungs, alte Männer, Hilflose –"
"Was wollen Sie damit sagen?", fragte Snape mit zusammengebissenen Zähnen.
"Eigentlich wollte ich nur etwas von Ihnen wissen."
"Glauben Sie doch nicht, dass ich auf diesen alten Trick reinfalle, Hekate. Sie versuchen mich zu provozieren, damit ich etwas preisgebe. Ich bitte Sie!"
"Na ja, es funktioniert meistens ganz gut", sagte Harper mit einem Grinsen. "Wissen Sie, ich spüre immer mehr, dass diese Blindheit mich schärfer sehen lässt – mit dem Inneren Auge –"
"Oh bitte!", schnaubte Snape. "Ist das nicht unter Ihrem Niveau? Wollen Sie nicht mit dem Blödsinn aufhören und mich weitermachen lassen? Wenn Sie wirklich etwas wissen wollen, dann versuchen Sie es doch mal mit einer einfachen Frage! Wenn Sie Glück haben, kriegen Sie sogar eine Antwort."
"In Ordnung. Die Gelegenheit ist günstig, niemand kann uns hören, nicht wahr? Also, was haben Sie damals mit Lily Potter besprochen, im November 1980 in der Winkelgasse?"
"Wie bitte!"
Endlich blickte er auf, und für einen Moment zeigte seine Miene ganz unverhüllt seine Gefühle, Überraschung und Erschrecken und noch etwas anderes, das nicht leicht zu deuten war.
"Regulus Black hat Sie beide dort gesehen. Was haben Sie miteinander besprochen? Er hatte Angst, der Dunkle Lord könnte Ihnen dieselbe Aufgabe gestellt haben wie ihm selbst."
Snape lachte bellend auf. "Was haben Sie damit zu schaffen? Und was sollte das heute noch bedeuten?"
"Sagen wir, ich versuche – den menschlichen Faktor an dieser Geschichte herauszufinden", erwiderte sie ernst. "Ich habe Sie selbst dort gesehen, Severus! Und anscheinend ein paar Minuten, bevor Regulus aus dem Buchladen kam, wenn Sie verstehen, was ich damit sagen will!"
Er starrte sie schweigend an. Endlich sagte er: "Da wurde nichts von Bedeutung gesagt. Es war – eine zufällige Begegnung, mehr nicht. Es hat nichts mit all dem hier zu tun."
"Ich setze Ihnen ganz schön zu, was?", fragte Harper boshaft. "Und Sie können mich nicht mal zum Schweigen bringen hier! Ich meine, Sie könnten sich zwar die Ohren zuhalten und vor sich hin-"
"Es reicht!", zischte er. "Seien Sie jetzt endlich still!"
"Was denken Sie – werden wir diesen Raum noch einmal verlassen?", fragte sie nach einem langen Schweigen.
"Oh ja", antwortete Snape bitter. "Ich ganz bestimmt!"
oooOOOooo
Wurmschwanz wäre beinahe ganz in das eiskalte, strudelnde Seewasser gefallen, als er, von Voldemort am Kragen gepackt, neben ihm in den Vorraum jener verhassten Höhle apparierte. Er fing sich im letzten Moment und schnappte keuchend nach Luft, so kalt war das Wasser, das ihnen hier immer noch bis über die Knie reichte.
Die Flut strömte mit Macht herein und klatschte an die Felswände, während sie vor der Wand standen, hinter der sich die große Höhle verbarg. Das einzige Licht kam von Voldemorts Zauberstab.
"Blut, Wurmschwanz! Einfach ein bisschen Blut – darin bist du doch jetzt schon geübt!", sagte Voldemort ungeduldig.
Er hielt die mit Sternbildern besetzte Metallkugel in einer Hand.
"Aber Herr –"
Voldemort machte mit dem Zauberstab eine scharfe, ungeduldige Bewegung zu Pettigrew hin. Dieser schrie auf und hielt sich den Arm.
"Reib es auf die Wand", sagte Voldemort kalt. "Schnell!"
Zitternd streifte Wurmschwanz den zerschnittenen Ärmel seines Umhangs zurück, wo ein tiefer Schnitt auf seinem Unterarm klaffte. Dunkel floss das Blut aus der Wunde. Er hielt seine zitternde Hand dagegen gepresst, dann hob er sie und strich das Blut über die Höhlenwand.
Ein silberner Bogen wurde im Fels sichtbar, dann wurde darin ein Durchgang frei, indem der Fels dort einfach verschwand.
Auch Wurmschwanz begriff sofort, dass etwas nicht stimmte. Etwas war nicht so, wie es sein sollte. Mit schwer klopfendem Herz stand er neben seinem Herrn in tiefstem Nachtdunkel. Es war, als würde das schwache Licht seines Zauberstabs davon einfach verschluckt.
Man konnte die Größe dieser Höhle mit irgendeinem Sinn erspüren, und auch, dass es Wasser war, was sich hier in unabsehbarer Weite vor ihnen erstreckte. Aber diese schwere, erstickende Dunkelheit –
Voldemort neben ihm machte eine heftige Bewegung. Wurmschwanz glaubte, dass er einige Schritte in die Höhle hineinging. Dann wurde die lastende Stille von einem Wutschrei zerrissen, wie Wurmschwanz ihn nie zuvor gehört hatte. Das Echo warf ihn von Wand zu Wand, es war, als wolle er nie mehr enden. Wurmschwanz' Fassung war dahin. Er wandte sich um und wollte blindlings den Weg zurückrennen, sich in das eisige Seewasser stürzen und hinausschwimmen – alles, nur nicht hier bleiben –! Aber stattdessen schlug er hart auf den rauhen Felsboden, weil ein Lähmzauber seine Beine getroffen hatte.
"Lumos!", kreischte Voldemort, und augenblicklich flammten unter der gewölbten Felsendecke fackelartige Lichter auf.
"Du bleibst!", schrie er dann. "Was ist hier passiert?"
Er machte einige schnelle Schritte hinunter zu dem dunklen, stillen Spiegel des Wassers.
Die Dunkelheit –! Wurmschwanz begriff.
Es war dunkel gewesen, als er diese Höhle das letzte Mal gesehen hatte, ja, aber nicht völlig dunkel. In der Mitte des Sees hatten sie ein grünliches Licht zurückgelassen – auf der Insel, an die er nur mit einem Schaudern denken konnte.
"Es ist – verloschen", sagte Voldemort leise. "Hoffe, Wurmschwanz, hoffe, dass es nicht fort ist!"
Wurmschwanz wurde ohne sein Zutun stolpernd hinter Voldemort her gestoßen, als dieser mit hastigen Schritten den schmalen Uferstreifen entlangging. Seine Beine fühlten sich immer noch taub an.
"Bitte, Herr – lasst mich – ich gehe freiwillig mit –"
Aber Voldemort beachtete ihn gar nicht. Sein Blick war unverwandt auf die Mitte des dunklen Wassers gerichtet, wo sich, im Licht der Fackeln nun erkennbar, eine flache kleine Insel abzeichnete.
"Das ist nicht möglich", sagte Voldemort. "Niemand hätte wieder von da fortgekonnt! Nicht – danach! Also, wer liegt jetzt dort? Wen werden wir jetzt da finden?"
Ohne Vorwarnung hielt er an, stieß Wurmschwanz hart zurück, als der in ihn hineintaumelte, und griff in die Luft. Da war die Kette in seiner Hand.
Er ließ sie durch seine Hand gleiten. Gespenstisch stieg das kleine Boot aus dem Wasser auf und glitt still auf sie zu.
Als es ans Ufer stieß, zerrte Voldemort es herauf und sah hinein, als könne er dort irgendwelche Spuren der Benutzung erkennen. Aber es war nichts als ein kleines, leeres Boot. Mit einem Fauchen wirbelte er den Zauberstab dagegen, und es zerfiel zu schwarzem Staub, der auf der Oberfläche des Wassers lag und dort in winzigen, sanften Wellen davon glitt.
"Aber Herr –", jammerte Wurmschwanz. "Wie wollt Ihr nun zur Insel übersetzen?"
"Idiot!", zischte Voldemort. "Habe ich je dieses Boot gebraucht, um dahin zu gelangen? Es war allein für ihn bestimmt – für Dumbledore!"
Und dann stand er auch schon auf der Insel.
Wurmschwanz beobachtete mit namenloser Angst die hohe, schwarze Gestalt, wie sie ein paar Schritte zu dem Becken machte, von dem er wusste, dass es dort stand. Er duckte sich schon in Erwartung des nächsten Ausbruchs dicht auf den feuchten, rauhen Felsboden. Seine Finger krallten sich an den Stein, aber vergebens. Er fühlte sich hinweggerissen und schlug mit einem Wimmern auf einem anderen Steinboden auf, der glatt und schwarz war.
"Mit wem hast du darüber geredet?", zischte ihn die tonlose Stimme an.
Voldemort sah auf ihn herab, sein Gesicht war von rasendem Zorn verzerrt, die roten Augen loderten.
"M–mit niemandem, Herr! Oh Herr, seid gnädig – ich habe nie etwas gesagt – ich wusste doch auch gar nichts – nicht, Herr –"
Der Rest seiner Worte ging in einem Schmerzenslaut unter, als er von unsichtbaren Peitschenhieben getroffen wurde. Aber schlimmer, weit schlimmer war der glühende Schmerz, der sich in seinen Kopf bohrte und der aus Voldemorts Augen über ihn zu kommen schien.
Dann war es auf einmal vorbei. Voldemort wandte den Blick ab, und Wurmschwanz lag sekundenlang still auf dem Boden, einfach nur dankbar dafür, dass er für einen Moment kaum mehr als das Brennen der Hiebe spürte.
"Es ist fort!", sagte Voldemort, und alles, was Wurmschwanz in diesem Moment begriff, war, dass er es nicht mehr würde tragen müssen. Das Medaillon war fort, dieses Ding, das ihn für so viele Jahre in einer Weise geknechtet hatte, dass er seine Existenz selbst als Ratte nie hatte vergessen können.
"Der Trank ist geleert, und das Medaillon ist fort", murmelte Voldemort in fassungsloser Wut. "Wie kann das sein? Niemand hätte diesen Trank trinken und noch fliehen können! Nicht einmal Dumbledore! Es war weit mehr als nur Schlangengift – weit mehr als nur ein Trank der lebenden Toten! Es war der mächtigste Zaubertrank, der je gebraut worden ist! Ich selbst habe ihn dazu gemacht! Und jeder, der ihn getrunken hätte, wäre dort niedergesunken und liegen geblieben, bis ich ihn gefunden hätte – wäre MEIN gewesen in einer Weise, in der nicht einmal Amy Benson, nicht einmal du, Wurmschwanz, mein Eigen bist!"
Mit einem Wutschrei ließ er das leere, erloschene Becken zersplittern. Dann fiel sein Blick auf ein kleines Gefäß, das dicht am Fuß des Beckens gelegen hatte. Ein kleiner kristallener Kelch, dessen Rand zerbrochen war, als sei er achtlos weggeworfen worden. Oder, dachte Wurmschwanz bang, als hätte jemand in größtem Schmerz seine Zähne in den Rand verbissen –
Voldemort hob ihn auf, und das Fackellicht brach sich funkelnd in dem geborstenen Kristall. Wie seltsam, dachte Wurmschwanz, beinahe fröhlich sieht das aus, hier am dunkelsten Ort dieser Welt –
"Dumbledore –!", zischte Voldemort. "Er war es, ich weiß es, ich kann es spüren! Und wer sonst hätte auch hierher finden können! Nur er, den ich durch Snape hierher gelockt habe! Niemand sonst hätte dieses Boot gefunden als er, mein alter Lehrer, der sich für so unendlich weise und unbesiegbar hielt!"
Seine Stimme war immer lauter geworden, bis er schließlich schrie vor Wut. "Niemand hätte diesen Trank trinken können, niemand hätte es auch nur gewagt! Und doch – er ist durch Snapes Hand gestorben, in Hogwarts! Wie kann das sein? Wie konnte er zurückkehren, nachdem er meinen Trank in sich hatte?"
Wurmschwanz hatte die Augen geschlossen und kauerte stumm am Boden. Seinen Herrn hatte eine fürchterliche Niederlage getroffen, so viel begriff er. Dunkel ahnte er, was das Medaillon für ihn bedeutete – und dass es sicherer für ihn selbst war, wenn er jetzt möglichst nicht bemerkt würde. Das war gar nicht so einfach, denn er schlotterte am ganzen Leib. Und im tiefsten Innern war er auch überzeugt, dass es egal war, weil sein Leben ohnehin verwirkt war. Niemand würde es überleben, Zeuge einer solchen Niederlage Lord Voldemorts zu sein, da war er sicher.
Voldemort stand immer noch da, den Kelch in der Hand, finster auf das schwarze Wasser starrend.
"Jemand muss ihm geholfen haben", sagte er. "Ich weiß nicht, wie, aber ich habe eine Vorstellung davon, wer das gewesen ist. Ich werde es aus Snape herausbekommen, und wenn ich dieses Wissen aus ihm herausschneiden muss!"
Die Art, wie er den Namen seines alten Schulkameraden aussprach, ließ Wurmschwanz erzittern.
"Aber warum Snape – warum hätte er ihm helfen sollen? Er hat ihn getötet!", platzte es aus ihm heraus, bevor er es verhindern konnte.
"Ganz richtig. Und ich fange gerade an, noch einmal über seine Gründe dafür nachzudenken", sagte Voldemort, und nie hatte seine Stimme schlangenhafter geklungen. "Der Trank ist verloren. Aber das Medaillon werde ich wiederbekommen."
oooOOOooo
"Sie kommen", sagte Harper mit schläfriger Stimme.
Auch Snape hatte sie gehört. Schritte auf der Wendeltreppe, schnelle, entschlossene Schritte, und eindeutig von mehreren Personen.
Um die gläserne Wölbung lag das fahle Grau des Himmels kurz vor der Morgendämmerung. Sonst konnte er nichts sehen.
Als die Tür mit einem Krachen aufgerissen wurde, legte er die Feder aus der Hand und sah den Hereinkommenden entgegen.
Sie waren zu dritt, Voldemort, Avery und Bellatrix, die die Tür wieder schloss und mit einem hämischen Gesichtsausdruck davor stehen blieb.
"Snape!", schrillte Voldemorts zornentbrannte Stimme durch den Raum. "Du bist es gewesen! Du hast mich verraten!"
Snape war aufgestanden und hielt seinem Blick mit aller Gelassenheit stand, die er aufbringen konnte. Harper hatte sich nicht gerührt.
"Mein Herr, ich weiß nicht –"
"Schluss! Schluss damit, Snape!", zischte Voldemort außer sich vor Zorn.
Voldemort kam auf ihn zu, alle tänzelnde Munterkeit dieser letzten Wochen war aus seinem Gebaren verschwunden. Sein Gesicht war dunkel vor Wut, aber er zwang sie nieder und sprach schließlich leise, voll kaltem Hass.
"Die Höhle! Du bist dort gewesen mit Dumbledore! Du hast ihm geholfen!"
"Nein, mein Lord! Ich habe die Höhle seit damals, seit vielen Jahren nicht mehr betreten. Ich hätte es gar nicht gekonnt ohne Eure Erlaubnis!", erwiderte Snape ruhig.
"Schweig!", herrschte Voldemort ihn an. "Belehre du mich nicht über meine eigenen Zauber! Ich hatte dir aufgetragen, ihn mit Andeutungen zu dieser Höhle zu lenken – stattdessen hast du ihn nach dort begleitet und –! Du musst es gewesen sein. Ich weiß noch nicht, wie du es gemacht hast, aber sei versichert, ich finde es heraus! All deine Künste werden dir jetzt nicht mehr helfen! Bellatrix!"
Sie war sofort an seiner Seite und lächelte Snape mit funkelnden Augen an, in denen so viel hasserfüllter Triumph stand, dass er ihren wilden Herzschlag beinahe hören konnte.
"Fessle ihn!"
Und weil sie in diesem Raum keine Magie verwenden konnte, band sie ihm die Hände mit gewöhnlichen Handschellen auf den Rücken. Er ließ das mit ironischer Miene über sich ergehen.
"Mein Lord – bedenkt, dass ich es war, der Dumbledore getötet hat. Warum hätte ich ihm bei irgendetwas helfen sollen?"
"Das wissen wir beide doch ganz genau, Snape, oder?", flüsterte Voldemort. "Du hast ihn das Medaillon für dich holen lassen! Du hast ihn das Becken leer trinken lassen! Du wusstest – ahntest ... Und dann hast du ihn getötet! Wo ist es?"
"Ich habe es nicht, Herr. Ich beschwöre Euch, glaubt mir! Ich habe es nie in den Händen gehabt und nicht einmal gewusst, dass es sich in der Höhle befand! Und ich war nie mehr in der –"
"Schweig! Sei endlich still! Es war Dumbledore, der den Trank getrunken hat, da bin ich sicher – und das konnte ihm nur mit deiner Hilfe gelingen. Wurmschwanz, natürlich, der wusste davon. Aber er war es nicht. Ich habe ihn sehr gründlich ausgeforscht."
Nun stand er so dicht vor Snape, dass dieser das Reptiliengesicht mit den wimpernlosen Schlangenaugen und dem lippenlosen Mund überdeutlich sehen konnte, ebenso wie er einen leisen Geruch nach Verwesung wahrnehmen konnte. Voldemorts lange, dünne Gestalt überragte ihn um mehr als Haupteslänge. Langsam hob er eine seiner spinnenartigen Hände und packte Snape vorne am Umhang.
"Es ist vorbei, Snape", sagte er leise.
Snape trat schweigend einen Schritt zurück und schüttelte die Hand ab.
"Bellatrix! Nimm seinen Zauberstab! Und dann fort mit ihm!"
Bellatrix riss Snape den Zauberstab aus dem Ärmel. Ihr Blick war ein einziges Frohlocken.
"Wir sprechen uns noch, mein Freund", sagte Voldemort nun ruhiger. "Aber zuerst wirst du die Kerker meiner Festung kennen lernen. Du wirst dort interessante Gesellschaft vorfinden. Ich habe jetzt erst noch wichtigere Dinge zu erledigen, als mit dir abzurechnen."
Dann griff er nach den Bögen auf dem Tisch.
"Wie weit bist du hiermit gekommen?"
"Ich denke, ich habe den entsprechenden Zauber eben gefunden, Herr", sagte Snape. "Aber ich konnte ihn noch nicht entschlüsseln."
"Nicht? Nun, dann wird eine Weile im Kerker dir sicher auf die Sprünge helfen! Und bis dahin wird sich Hekate daran versuchen, nicht wahr?"
"Wenn Ihr das wünscht, mein Lord, und wenn Ihr jemanden findet, der mir die aramäischen Zeichen vorliest."
"Das werde ich selbst tun", sagte er. Dann wandte er sich noch einmal an Snape. "Sieh zu, dass dir etwas einfällt, Snape. Du bist immerhin weiter gekommen, als ich vermutet hatte. Ich frage mich – ja, ich frage mich wirklich, ob du vielleicht gewusst hast – aber das kann nicht sein. Es war dein erbärmlicher, kleiner Hass auf den alten Mann, der dich ihn töten ließ. Aber sollte ich je einen anderen Grund entdecken, Snape –"
Snape sah in die rot glimmenden Kreise seiner Augen mit den senkrechten Pupillen und fühlte, wie ein Schauder über seinen Rücken rann. Er sah den Tod in diesen nicht menschlichen Augen. Einen Tod, der schlimmer war als alles, was er sich ausmalen konnte, und in diesem Moment wusste er zum ersten Mal, dass Voldemort Recht gehabt hatte: Er konnte ihn zerbrechen.
"Und denk genau darüber nach, wo das Medaillon sein könnte."
"Ich habe es nicht. Und ich bin nie mehr in der Höhle gewesen, seit der Nacht, in der ich –"
Ein scharfer Schlag traf Snape quer über das Gesicht und hinterließ eine weiße Strieme, die sich rasch mit feinen Bluttröpfchen füllte.
"Du wirst deinem Herrn nicht noch einmal widersprechen, Snape!", zischte Bellatrix und ließ die Hand wieder sinken.
"Wirklich, Severus, du solltest wissen, wann du den Mund halten musst! Du kennst doch Bellas böses Temperament. Und was das Medaillon angeht – ich bin ziemlich sicher, dass du mir bald sagen wirst, wo du es hingebracht hast, nachdem Dumbledore tot und aus dem Weg war."
"Los jetzt", sagte Avery und packte Snape am Arm.
In der Tür erschienen nun auch Macnair, Crabbe und Nott, absurderweise von einem Hauself mit einer angedeuteten Verbeugung hereingeleitet.
"Folgt dem Elf", sagte Voldemort. "Er wird euch zu den Verliesen führen. Und dann sperrt ihn ein, zu den anderen Verrätern."
oooOOOooo
Nachdem sie Treppen um Treppen in die Tiefe hinuntergegangen waren, hatte einer von ihnen ein schweres Tor geöffnet. Ein paar Schritte weiter, und Snape stand im Dunkel und versuchte etwas zu erkennen. Der Gestank legte sich lähmend auf seine Sinne. Ein harter Stoß traf ihn in den Rücken und riss ihn von den Füßen. Weil er sich mit den Händen nicht abfangen konnte, stürzte er aufs Gesicht. Nasser, glitschiger Stein. Als Macnair ihn grob wieder auf die Füße zerrte, schmeckte er Blut.
"Wie gefällt dir das, zur Abwechslung mal dein eigenes Blut zu schmecken?", keuchte Crabbe und schlug ihm ins Gesicht. "Das war für Lucius! Du widerlicher kleiner Schleimer!"
"Vorsichtig, Crabbe!", warnte Avery. "Pass auf, was du sagst!"
"Aber Recht hat er doch!", sagte Nott. "Hat seinen eigenen Freund einfach abgeschlachtet! Du bist ein Schwein, Snape, Abschaum! Hab nie verstanden, wie sich irgendwer mit dir abgeben konnte! Du widerst mich an!"
"Und jetzt rein da mit ihm!", giftete Bellatrix.
Snapes Augen hatten sich an das Dämmerlicht gewöhnt, und er sah den groben Käfig, der an einer Kette an der Decke des Gewölbes befestigt war und den Bellatrix herangezogen hatte. Sie packten ihn, der von dem Sturz und dem Schlag benommen war, und stießen ihn in den Käfig. Dabei blieb eine Seite seines Umhangs am Riegel hängen und zerriss. Etwas fiel heraus auf den feuchten Steinboden.
"Deinen Zauberkram brauchst du jetzt nicht mehr, Snape! Und das hier auch nicht!", sagte Macnair und warf den zerrissenen Umhang weg.
Das schwache Licht seines Zauberstabs fiel auf den kleinen Gegenstand, der aus der Umhangtasche gefallen war. Er sah aus wie ein flacher, gemaserter Stein, der an einer Seite abgebrochen war. Aber als Macnair mit seinem Stiefel darauf trat, zerbröselte er wie Holz.
Bellatrix schlug die Käfigtür zu und gab dem Käfig einen Stoß, so dass er dahin zurückschwang, wo er zuvor gehangen hatte. Dort schaukelte er eine Weile Schwindel erregend hin und her, und Snape taumelte gegen eine der Gitterwände und versuchte sich mit seinen auf den Rücken gefesselten Händen daran festzuhalten. Dieses Gefängnis war nicht einmal hoch genug, dass er darin aufrecht stehen konnte.
"Gute Unterhaltung!", rief Nott. "Genieße deinen Aufenthalt hier, denn wenn der Dunkle Lord wieder Zeit für dich hat, wird dir das hier wie ein Erholungsurlaub vorkommen."
"Merkt ihr eigentlich nicht, wem ihr da dient?", keuchte Snape, der heftig gegen die Übelkeit ankämpfen musste. "Seht ihr nicht, dass seine Macht dem Ende zu geht? Dass er ein Popanz ist, der am lebendigen Leib verfault – und es nicht einmal selbst bemerkt?"
Weiter kam er nicht, denn da packte Bellatrix mit einem wilden Aufschrei die Kette, an der der Käfig aufgehängt war.
"Wie kannst du es wagen, so über deinen Herrn zu sprechen?", kreischte sie und ließ den Käfig abstürzen.
Er klatschte auf dunklem Wasser auf – der Quelle des Gestanks, wie Snape vermutete – und dann sank er in die Tiefe.
Er kauerte sich zusammen und hielt die Luft an. Seine weit geöffneten Augen sahen die Kreaturen, die in der Dunkelheit bleich um die dünnen Stangen des Käfigs trieben – wie sie allmählich aufmerksam wurden auf den Eindringling – sich um den Käfig zu drängen begannen – tote Hände durch die Gitter streckten und an ihm zerrten – er konnte den Atem nicht länger anhalten – purpurne Blasen trieben vor seinen panischen Augen vorbei – füllten mehr und mehr von seinem Gesichtsfeld – ein reißender Schmerz am linken Arm – dann ein Übelkeit erregender harter Ruck nach oben – da war wieder Luft zum Atmen –
Er spuckte Wasser, füllte dann gierig seine Lungen mit Luft, hörte Bellatrix kreischende Stimme überhaupt nicht, atmete nur so viel er konnte von der stinkenden Luft des Kerkers ein und blieb in der Ecke seines schwankenden Gefängnisses sitzen.
Irgendwann begriff er, dass die Todesser gegangen waren, dass nur noch ein schwacher Lichtschein von irgendwoher in den Kerker drang. Ein Lichtschein, in dem er sah, dass –
"Snape!", krächzte eine Stimme rechts von ihm. "Haben sie Sie endlich erwischt!"
Er wandte den Kopf in die Richtung der Stimme und sah eine abgerissene Gestalt in einem Käfig ganz wie seinem. Sie stand gebeugt an den Gittern und starrte ihn aus tief in den Höhlen liegenden Augen heraus an. Ihre Kleidung war zerfetzt und unglaublich schmutzig. Das helle Haar stand in verfilzten Büscheln um den Kopf. Das einstmals kindliche Gesicht war kaum noch wieder zu erkennen.
"Sie sollten sich sehen!", sagte Draco Malfoy mit einem heiseren Geräusch, das, wie Snape Sekunden später begriff, ein Lachen sein sollte. "Der große Beschützer! Voldemorts bester Mann! Sie sehen aus wie eine Wasserleiche."
"Draco!"
"Genau. Ihr Schüler. Ihr Schützling."
"Wo ist deine Mutter?"
"Sehen Sie doch mal genau hin", sagte Draco in ätzendem Ton, aber seine Stimme blieb schwach.
Snape sah in den Käfig, der neben dem seinen aufgehängt war. Da war noch ein Lumpenbündel zu erkennen. Dann sah er Narcissas langes Haar, das durch die Gitterstäbe des Bodens fiel und über dem schwarzen Wasser hing.
"Was ist mit ihr?", fragte er hastig.
"Sie spricht schon lange nicht mehr. Seit sie meinen Vater geholt haben", antwortete Draco, und seine Stimme klang brüchig und ging dann in bellendes Husten über. "Die Verpflegung hier ist nicht so gut, wissen Sie. Und wenn wir Durst haben, müssen wir uns das Wasser selbst mit der Hand schöpfen. Aus dem Graben hier unten."
Snape fühlte, wie das Würgen wieder in seine Kehle steigen wollte. Die Kälte hier drang jetzt langsam durch seine nasse Kleidung. Das Haar klebte ihm triefend im Nacken und im Gesicht. Die Wärme an seinem linken Arm fühlte sich dagegen fremd und irgendwie erschreckend an. Erst, als er danach tasten wollte, bemerkte er, dass eine der Handfesseln unter Wasser aufgesprungen sein musste. Warme, klebrige Feuchtigkeit an seinem Arm. Also hatte ihn doch einer erwischt. Stückweise – wie Voldemort gesagt hatte.
"Was ist mit deinem Arm?", fragte er Draco.
"Er ist um eine Hand kürzer, oder was meinen Sie?", sagte Draco zynisch. "Sie haben doch zugesehen. Es ist ganz gut verheilt. Offenbar will er noch nicht, dass ich sterbe. Was ist mit meinem Vater?"
Snape lehnte sich mit einem unterdrückten Stöhnen an das Gitter zurück.
"Er ist tot", sagte er.
"Dann geht es ihm besser als uns!", sagte Draco nach einer Pause mit zitternder Stimme. "Wie hat er es getan?"
"Nicht er", sagte Snape müde. "Ich war es. Ich habe ihm die Kehle durchgeschnitten."
Draco schrie auf.
"Das haben die eben also gemeint! Sie dreckiges Schwein! Ich hasse Sie! Ich bringe Sie um, wenn ich hier jemals rauskomme, das schwöre ich Ihnen!"
Snape ließ ihn schreien und toben.
Er tastete in den Taschen seiner Weste, dann seines Hemdes nach dem vertrauten Umriss. Endlich fanden seine zitternden Finger die kleine Glasflasche. Er entkorkte sie mit Mühe, ließ die Kapseln in seine Handfläche rollen und betrachtete sie eine Weile. Dann ließ er sie langsam eine nach der anderen in die schwarze Tiefe des Grabens fallen.
Er würde sie nicht mehr brauchen. Keine einzige von ihnen.
