Kapitel 24

Wie in einem dunklen Spiegel –

Hermione ging langsam zu ihrem Schreibtisch zurück. Sie würde jetzt nicht heulen. Schon gar nicht unter den wissenden und nicht eben freundlichen Blicken der alten Pince.

Sie setzte sich wieder und starrte auf die verschwimmenden Zeilen des Grindelwald-Buches. Harry hatte ja Recht, und sie selbst wollte auch endlich die Situation mit Ron klären, aber trotzdem –

Ich werde jetzt lesen, dachte sie grimmig. Lesen, bis meine Wache anfängt, genauso, wie ich es vorhatte.

Und unter Aufbietung aller Selbstbeherrschung tat sie das dann auch. Aber irgendwann ließen sich ihre Gedanken nicht länger bezwingen.

Ihr fiel wieder ein, worüber sie eigentlich mit Harry hatte sprechen wollen: Professor Harper. Ob er dasselbe dachte wie sie. Vorhin war sie bereits in der Krankenstation gewesen in der Hoffnung, mit ihr sprechen zu können, aber Madam Pomfrey hatte sie ziemlich ungehalten verscheucht. So hatte sie nur Ripley gesehen, die schlecht gelaunt auf einem Stuhl vor Harpers Krankenzimmer saß.

Schon seltsam, dass Harry nicht von selbst auf dieses Thema gekommen war! Worüber hatten sie überhaupt geredet, bevor er sich verabschiedet hatte? Über dieses dämliche Buch, weil sie wieder einmal von ihrer Leidenschaft für Bücher weggetragen worden war –

Und in der Stille sickerte langsam eine Erkenntnis in ihr Bewusstsein. Er hatte sich verabschiedet – Abschied genommen! Von wegen, ein bisschen hinlegen und ausruhen! Er wollte weggehen!

Was auch immer ihn dazu gebracht hatte, jetzt, gerade jetzt aufbrechen zu wollen – Nevilles Schicksal vielleicht oder die Gefahr, die der Schule zu drohen schien – jedenfalls hatte er beschlossen, sich unauffällig und vor allem allein auf den Weg zu machen. Zu ihm.

Hermione sprang auf. Wie konnte er das? Wollte er einfach das Schulgelände verlassen und Voldemort aufs Geratewohl suchen gehen?

Dann zuckten blitzartig mehrere Informationen in ihrem Kopf auf und verbanden sich zu einer weiteren Erkenntnis. Trelawneys wirres Gerede in der letzten Nacht – der dunkle Spiegel – Harpers Spiegel –

Da war sie schon im Treppenhaus.

Ohne einen weiteren Blick für irgendetwas rannte sie, bis sie vor Harpers Büro stand. Sie hatte auf einmal entsetzliche Angst, zu spät zu kommen. Eben wollte sie den Zauberstab heben und die Tür öffnen – da wurde sie schon von innen geöffnet. Fassungslos stand sie Professor Harper gegenüber.

"Ich dachte, Sie sind im Krankenflügel!"

"Miss Granger! Kommen Sie herein", sagte Harper, und erst jetzt wurde Hermione klar, dass sie besser geschwiegen hätte. Zumindest hätte Harper dann nicht gewusst, wer da vor ihrer Tür stand – vielleicht. Falls sie wirklich blind war. Ihr Aussehen war allerdings erschreckend genug.

Voller widerstreitender Gefühle betrat sie das Büro. Harper schloss die Tür und blieb in abwartender Haltung davor stehen.

Hermione sah sofort, dass der Umhang nicht länger vor dem Spiegel hing. Sie konnte kaum den Blick von dieser seltsamen Fläche wenden, die eigentlich gar nicht wie eine Fläche aussah, sondern eher wie das Innere einer Kugel. Aber ganz anders als bei dem ersten kurzen Blick, den sie damals zusammen mit Professor McGonagall darauf geworfen hatten, war diese Wölbung nun von langsamer, strudelnder Bewegung erfüllt, schien die bronzene Oberfläche sich in bewegte Schlieren aufgelöst zu haben.

"Harry war hier, oder?", fragte sie leise und sah wie gebannt hinein. "Er ist da durchgegangen."

"Ja", antwortete Professor Harper nur.

Und ehe sie selbst ganz begriff, was sie da tat, folgte Hermione ihm.

Einen Moment lang war sie sicher, dass Professor Harper sie zurückhalten würde, aber das tat sie nicht. So machte sie einen zögernden Schritt in die bronzene Tiefe hinein – fast erwartete sie, die zähe metallisch schimmernde Flüssigkeit (oder was immer es war) würde an ihr kleben bleiben – und schwebte in absoluter Dunkelheit. Von weitem glaubte sie noch Harpers Stimme zu hören, die ihr etwas nachrief. Lassen Sie sich nicht aufhalten, oder: Halten Sie sich nicht zu lange auf –

Aber sie konnte es nicht genau verstehen, denn andere Worte erfüllten die Dunkelheit wie der Klang einer tiefen Glocke.

Ein dunkler Spiegel – wie in einem dunklen Spiegel – dunklen Spiegel – von Angesicht zu Angesicht –

Während sie reglos im Dunkeln stand, versuchte sie sich zu erinnern, woher sie Trelawneys Worte kannte.

Flüchtig sah sie ihre Mutter vor sich – ihre Mutter, die an ihrem Bett saß und ihr aus einem Buch vorlas.

Ich muss verrückt sein, dachte sie dann. Ich bin durch einen Spiegel gegangen und habe keine Ahnung, wo ich hier bin und was ich jetzt tun soll und denke über irgendeinen Quatsch nach. Ich werde jetzt einfach weitergehen!

"Harry!", rief sie. "Harry, bist du hier?"

Es kam keine Antwort, aber das Dunkel lichtete sich. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber jedenfalls nicht, dass sie auf einmal in diesem dunklen Flur stehen würde, der ihr absurd vertraut vorkam. Da war eine Tür – die Tür zur Bibliothek!

Was sollte das? Wieso stand sie auf einmal wieder vor der Bibliothek, die sie eben erst verlassen hatte?

Garderobenhaken vor der Tür – waren die immer schon da gewesen? – und an einem erkannte sie voller Freude und Erleichterung Harrys Tarnumhang, den er über seinen schwarzen Winterumhang geworfen hatte, der zur Schuluniform gehörte.

Den sollte er hier aber lieber nicht hängen lassen, dachte sie, nahm den Tarnumhang vom Haken und steckte ihn ein. Das feine Material ließ sich so klein falten, dass er ohne Mühe in ihre Umhangtasche passte.

Dann öffnete sie die Tür, und die Bibliothek lag leer im fahlen Licht eines winterlichen Mittags vor ihr. Madam Pince musste irgendwo im Archiv sein. Hermione ging zu ihrem Lieblingstisch am Fenster und setzte sich gähnend.

Das Mittagessen hatte sie wie so oft schnell heruntergeschlungen, weil sie vor Verteidigung noch etwas hatte nachlesen wollen. Richtig, da lag ja auch schon Zauberstab und Magische Waffe aufgeschlagen, wie sie es zweifellos heute Morgen vor Verwandlung hier hatte liegen lassen. Sinn und Unsinn Magischer Waffen, hieß das Kapitel.

Sie gähnte wieder und streckte sich. Es war so still und einschläfernd hier, und der Hackfleischauflauf lag ihr schwer im Magen. Wie viele Mittagsstunden hatte sie schon so hier verbracht, ein bisschen schläfrig, aber fest entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen – nicht über den Büchern einzuschlafen – obwohl die warme, ein wenig staubige, nach Büchern duftende Stille der Bibliothek so sehr dazu einlud –

Ein lautes Klirren vor der Tür ließ sie aus ihrer Schläfrigkeit aufschrecken. Da war etwas hingefallen und zersplittert, und bestimmt würde Madam Pince jeden Moment aus dem Archivraum hervorgeschossen kommen und ein mächtiges Theater veranstalten.

Hoffentlich war das nicht Harry, der irgendwas kaputtgeschmissen hat, dachte sie. Er bringt es noch so weit, dass er Bibliotheksverbot kriegt.

In diesem Augenblick fing eine Bewegung vor dem Fenster, die sie aus dem Augenwinkel mitbekommen hatte, ihre Aufmerksamkeit. Sie drehte sich um und sah hinaus.

In dem blassen, silbrigen Licht, das durch das Grau des Himmels drang, konnte sie zwei Gestalten auf Besen ausmachen, die in großem Tempo hier am Fenster vorbeigeflogen waren und nun schon weiter Richtung See sausten.

Harry und Ron – haben die jetzt Quidditch-Training? überlegte Hermione überrascht. Da war doch was gewesen, weshalb Quidditch zur Zeit auf Eis lag –

Na ja. Sie setzte sich wieder, fest entschlossen, endlich mit der Arbeit zu beginnen.

Aber irgendetwas stimmte da doch nicht. Genau, die flogen ja überhaupt nicht auf dem Quidditchfeld! Hermione sah noch einmal hinaus, und richtig, da raste schon wieder ein Besen vorbei. Auf ihm hockte Ron, und sie konnte sehen, dass sein Gesicht verzerrt war vor Angst und Wut – oder sogar Hass?

Trotz des hohen Tempos wandte er sich immer wieder um.

Da kam auch schon der andere Besen hinterher. Richtig, das war Harry, der darauf saß. Sie wusste das, obwohl sein Gesicht unerklärlich anders aussah als sonst, es war sonderbar dunkel und voll wilder Entschlossenheit. Seine Augen konnte sie aus irgendeinem Grund nicht sehen. Aber auf seinem Kopf war etwas wie eine schmale Krone – und waren das etwa Zähne, die darin steckten?

Dann war er vorbei, und sie starrte den beiden verwirrt nach.

Sie verschwanden hinter den Zinnen eines Turms, und Hermione setzte sich grübelnd wieder an ihren Platz.

Und dann gellte draußen ein Schrei über die Schule, gefolgt von einem grellgrünen Blitz. Ihr eigener Schrei blieb ihr in der Kehle stecken; wie gelähmt vor Entsetzen starrte sie auf das vor ihr liegende Buch, wo sich ein dünner Staubwirbel erhob und zu drehen begann und dabei immer schneller und dichter wurde. Sie konnte den Blick nicht abwenden. Da materialisierte sich etwas – etwas, das sie kannte, das sie fürchtete – und sie konnte nichts dagegen tun.

"Wischen Sie doch mal den Staub von Ihrem Schreibtisch, Miss Granger", sagte eine kühle Stimme. "So können Sie doch unmöglich arbeiten!"

Professor Harper, dachte Hermione verwirrt, aber sie setzte sich und fegte den Wirbel, der kurz davor gewesen war, eine vertraute Gestalt anzunehmen, kurzerhand von ihren Büchern. Und er löste sich einfach auf.

"Gut so. Und jetzt schlagen Sie Seite zweihundert auf. Da erklärt Armiger, wie Sie Ihrem Zauberstab eine unauffällige Gestalt geben können – sie ist der Ansicht, dass er dann eine Magische Waffe durchaus ersetzen kann. Nun ja. Ich will hier nicht in diese Diskussion einsteigen, das würde zu weit führen – aber ich rate Ihnen, Miss Granger –", und plötzlich konnte Hermione sie auch sehen, nicht nur hören, "– ich rate Ihnen dringend, folgen Sie Armigers Anweisungen! In Ihrem Fall können sie sehr nützlich sein!"

"Der Schrei!", brachte Hermione heraus. "Wer von ihnen hat geschrien?"

"Niemand hat geschrien. Lesen Sie jetzt. Und dann beeilen Sie sich!"

Dann war Professor Harper verschwunden, und Hermione starrte auf Seite zweihundert von Wanda Armigers Buch und las mühsam die vor ihren Augen tanzenden Zeilen, die sie darüber aufklärten, wie sie ihren Zauberstab selbst verwandeln konnte. Sie versuchte den Spruch, der dort stand – und dann lag vor ihr auf dem Papier eine zweite Schreibfeder anstelle ihres Zauberstabs.

"Wow", sagte sie in die Stille der Bibliothek hinein und hatte für einen Moment tatsächlich vergessen, was sie Minuten zuvor draußen gesehen hatte.

"Ich schließe jetzt!", rief plötzlich Madam Pince, die mit hochrotem Kopf hereinkam. "Haben Sie nicht gehört, dass es da draußen einen Unfall gegeben hat? Wie können Sie da noch hier sitzen und lesen?"

Verwirrt und irgendwie schuldbewusst stand Hermione auf, griff nach der Schreibfeder, zu der ihr Zauberstab geworden war, und verließ die Bibliothek.

Im Flur war es sehr dunkel, und sie tastete sich mühsam voran, bis sie ein schwaches, rötliches Licht sah, das offenbar unter einer Tür hervorschien.

Ihr Herz schlug schwer und schnell, als sie vor der Tür stehen blieb. Da war ein fremder, tiefer Ton, nein, mehr ein Vibrieren, das sie bis in den Magen hinein spüren konnte und das von hinter der Tür kam.

Ich will da nicht rein, dachte sie verzweifelt. Wo bin ich hier? Und wo ist Harry?

Die Tür hatte keine Klinke. Sie griff nach der Schreibfeder.

Halt – ich sollte den Tarnumhang überziehen, dachte sie. Wer weiß, wo ich da rauskomme!

Sie zerrte den Umhang aus der Tasche und warf ihn über. Dann richtete sie die Feder auf die Tür – wobei sie sich ziemlich blöd vorkam – und flüsterte: "Alohomora!"

Die Tür öffnete sich nicht. Stattdessen glitt etwas wie ein schwarzer Schleier von einer großen, ovalen Öffnung und gab den Blick auf einen düsteren, lang gestreckten Raum mit niedriger Decke frei. Sie schlüpfte hindurch, und ein Blick zurück zeigte ihr, was sie erwartet hatte: Sie war aus einem Spiegel herausgetreten, der ganz ähnlich wie der von Professor Harper aussah.

Zu ihrer Überraschung hörte sie ein leises, atonales Summen vom anderen Ende des Raumes her. Als sie hinsah, hätte sie beinahe aufgeschrien.

Da hing eine große Schlangenhaut, aufgespannt wie ein Zeltdach und an Ketten befestigt. Ein Mann mit beinahe kahlem Kopf war dabei, diese Haut mit einem Tuch abzuwischen. Dabei summte er unglaublicherweise vor sich hin. Dann sah sie, dass der Kopf der Schlangenhaut immer wieder nach dem Mann zu schnappen versuchte.

Das ist keine Haut, das ist eine lebendige Schlange, dachte sie voll Entsetzen. Und den Mann kenne ich doch –

Er wandte ihr jetzt das Profil zu.

Das ist Wurmschwanz! Peter Pettigrew!

Sie blieb wie erstarrt stehen.

Wo war Harry?

oooOOOooo

Harry hatte den Schritt in den Spiegel gemacht und verlor augenblicklich den Boden unter den Füßen. Er schwebte in tiefer Dunkelheit und wusste einige sinnverwirrende Sekunden lang nicht mehr, wo oben und unten war. Er schloss die Augen, unfähig, sich zu bewegen, voller Panik, in irgendeine Tiefe zu stürzen.

Irgendwie war er so sicher gewesen, dass der Weg durch den Spiegel direkt zu Voldemort führen würde, und Professor Harpers Verhalten hatte ihn darin noch bestärkt. Aber nur Schwärze – es war, als wäre er ins Nichts gefallen. War das eine Falle? Hatte die Harper ihn hier reingehen lassen, um ihn für immer aus dem Weg zu haben? Was mochte sie gerade in Hogwarts anrichten? Er musste die anderen vor ihr warnen!

Er musste sofort zurück!

Panisch sah er sich um, aber da war ringsum nichts als Schwärze.

Ich muss versuchen, Boden unter die Füße zu kriegen, dachte er grimmig.

Da berührte seine ausgestreckte Hand mit einem Mal eine Wand. Unendlich erleichtert fühlte er im selben Moment auch Boden unter den Füßen. Und Licht – ein schwaches Licht, das von irgendwo oben kam – ja, da war – ein kleines Fensterchen, und darunter konnte er eine Treppe erkennen.

Er stand ganz still. Etwas an diesem Ort kam ihm absurd vertraut vor.

Dann drehte er langsam den Kopf nach links, und er wusste, was er sehen würde, bevor er es tatsächlich sah.

"Hallo, Harry! Das wird aber auch Zeit!", grüßte ihn der große, weißhaarige Mann aus dem goldgerahmten Porträt. "Leg deinen Umhang ab, deine Mutter wartet schon mit dem Essen!"

"Und wie ich Lily kenne, ist es wieder versalzen", sagte die Frau im roten Kleid neben ihm mit einem Grinsen.

Harry starrte seine Großeltern fassungslos an.

"Was macht ihr –? Wie bin ich hierher –?"

"Du solltest noch die Haustür schließen", sagte Alexander Potter und deutete auf die offene Tür, durch die das helle Tageslicht in den Hausflur fiel. Harry war so perplex, dass er ohne ein weiteres Wort ging und die Tür schloss.

"Er stellt sich immer so an wegen der Tür!", sagte seine Großmutter.

Jetzt sah Harry, dass von dem kleinen goldenen Anhänger an ihrer Halskette Blut herabtropfte. Sie hatte seinen Blick bemerkt.

"Ach, lass nur, das ist nichts! Nur ein bisschen Blut, weiter nichts! Für das hässliche Ding hätte er mich bestimmt nicht umbringen müssen! Ich hätt's ihm auch so gegeben!", sagte sie.

"Artemis! Das ist ein –"

"– uraltes Familienerbstück, ja, ja, ich weiß, Alexander! Deshalb trag ich's doch auch. Aber ein Schnatz mit Löwenmähne – ich bitte dich!"

Er küsste sie.

"Wie konnte ich nur eine derart respektlose Person heiraten!", murmelte er.

"Weil sie respektlos genug war, dich zu fragen!", antwortete sie trocken.

"Harry! Harry, bist du hier?", hörte Harry eine Stimme von irgendwoher rufen.

"Da, Lily wartet auf dich. Geh jetzt lieber, sonst lässt sie das Essen auch noch anbrennen!", sagte Artemis Potter.

Harry fühlte sich völlig betäubt. Aber viele Jahre Dursley'scher Disziplin bewirkten, dass er seinen Umhang tatsächlich abnahm und an den Garderobenhaken hängte. Das leichte Gewebe des Tarnumhangs warf er darüber. Dann ging er zu der Tür, die, wie er wusste, ins Wohnzimmer führte, und öffnete sie zögernd,

Diesmal war hier kein Staub zu sehen. Der Raum war zwar dämmrig, aber der Tisch in der Ecke bei der Küchentür war für drei Personen gedeckt, und ihm war, als könne er durch die geschlossene Küchentür gebratenes Hühnchen riechen.

Dann sah er vor dem einen der beiden Fenster die Silhouette einer Frau. Sie lehnte an der Scheibe und sah in regloser Versunkenheit hinaus, in einen hellen Sommertag, wie Harry überrascht erkannte. Von dem satten Sonnenlicht drang nichts in dieses Zimmer. Man sah durch das Fenster wie in eine andere Welt. Eine Wiese mit hüfthohem Gras unter einem hellblauen Sommerhimmel mit ein paar weißen Wölkchen. Harry konnte sogar Schmetterlinge sehen, und wie der Wind die Gräser bog.

Er ging auf das Fenster zu, und begriff, dass das da draußen nicht die wirkliche Welt war. Das war irgendein Land des Wahns. Wenn er das Fenster öffnete und nach draußen kletterte, würde er sich für immer dort verlieren. Das wusste er so genau, als hätte es ihm jemand gesagt.

Die Frau drehte sich um. Einen Moment hatte Harry Angst davor, wie sie wohl aussehen mochte. Doch Lily Potter sah noch sehr jung aus.

Sie ist ja nur ein paar Jahre älter als ich! dachte Harry.

"Harry!", sagte sie und lächelte ihn an.

Obwohl das alles nur ein verrückter Traum sein konnte, hatte Harry auf einmal einen dicken Kloß in der Kehle. Sie sah ihn immer noch an, und dann zog sie seinen Kopf mit beiden Händen sanft zu sich und küsste ihn auf die Stirn.

"Wie schön, dass du da bist!", sagte sie glücklich. "Wir können gleich essen!"

Ihre Augen –

Sie ließ ihn los, ging zu dem anderen Fenster, durch das man in einen ganz normalen Garten mit einer Bank und einer Schaukel sehen konnte, und öffnete es.

"James! Harry ist da! Komm rein, wir können essen!"

Dann drehte sie sich noch einmal zu Harry um und lächelte ihm zu. Sie sah ihn an, als wolle sie sich seinen Anblick einprägen, und Harry streifte der Gedanke, dass er sie wahrscheinlich auf ganz dieselbe Weise ansah. Dann verschwand sie in der Küche.

Harry warf noch einen Blick durch das Fenster, vor dem sie gestanden hatte. Der Wind strich über das lange, blühende Gras.

Vielleicht bin ich ja tot, ging es Harry durch den Kopf. Das würde einiges erklären –

Sein Blick fiel auf die Tür, durch die er hereingekommen war. Jetzt herrschte tiefes Dunkel dahinter. Er ging hin und öffnete sie ganz. Er hörte flüsternde Stimmen, aber niemand war zu sehen. Vor ihm lag eine dunkle Kellertreppe aus schwarzem Stein.

Ich muss da runter, dachte er. Bevor ich zum Mittagessen gehe, muss ich erst noch in den Keller.

Trotzdem ging er nur zögernd die ersten Stufen hinunter, bis die Treppe eine Biegung machte. Dann sah er, dass sie sich immer tiefer in die Dunkelheit hinunterschraubte. Ein kränkliches Glimmen, das aus den nass schimmernden Mauern und der Treppe selbst zu kommen schien, war die einzige Lichtquelle hier. Es reichte aus, um die schwarzen Spinnweben in den Ecken der Mauer zu sehen und hier und da auch den dunklen Klumpen eines ihrer Bewohner. An manchen Stellen war ein grünlicher Belag auf dem Stein, wie Moos oder eine Flechte.

Und die ganze Zeit über das Gewisper vieler Stimmen.

Harry ging langsam weiter, immer auf der Hut, aber außer Spinnen, Feuchtigkeit und Moder war hier nichts. Es war kühl, und manchmal wurden die Stimmen etwas lauter, so dass er fast glaubte, Worte verstehen zu können.

Irgendwann stand er dann unten am Fuß der Treppe. Vor ihm lag ein schmaler Gang, aus demselben nassen, schwarzen Stein wie die Treppe. Vor seinen Füßen huschte eine Ratte davon. Irgendwo hörte er Wasser tropfen.

Und jetzt?

Er stand da im Halbdunkel und hörte sein Herz schlagen. Er hatte Angst.

Ist das hier jetzt der Weg zu – ihm?

Mit einer schweißfeuchten Hand griff er nach seiner Hemdtasche und hörte das Knistern dort. Er nahm das Blatt, das er aus dem Tränkebuch gerissen hatte, heraus und versuchte noch einmal, sich die Worte darauf einzuprägen. In diesem Licht war die winzige Schrift kaum zu entziffern, aber Harry stellte fest, dass die Zeilen ohnehin in sein Hirn eingebrannt zu sein schienen, auch der Zauberspruch selbst, der zwar in einer ihm unbekannten Sprache, aber zumindest in normaler Schrift abgefasst war. Das beruhigte ihn ein wenig, und er steckte das Blatt wieder ein.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass von diesem Gang zu beiden Seiten Türen abgingen. Er näherte sich der ersten Tür und sah, dass ein rundes Fenster in sie eingelassen war, wie ein Guckloch.

Auf einmal wurde ihm bewusst, dass das Stimmengewisper verstummt war. Wer immer geflüstert hatte, schien jetzt darauf zu warten, dass er etwas tat.

Harry sah durch das Fensterchen.

Bei dem Anblick, der sich ihm bot, fühlte er sich in die Wohnung zurückversetzt, die er eben verlassen hatte.

ooOoo

Da ist das Wohnzimmer, und auf dem von Sonnenlicht überfluteten Teppich hockt sein Vater vor einem großen Picknickkorb, in den er gerade eine Flasche Wein packt. Ein Baby mit einem wilden schwarzen Haarschopf kniet neben ihm und versucht, die eben eingepackten Sachen – Harry kann eine Dose mit Sandwiches und mehrere Äpfel sehen – wieder herauszunehmen.

"Jetzt hör schon auf, Harry!", lacht sein Vater und nimmt ihm den Apfel wieder weg. "So kommen wir nie mehr raus!"

Das Baby gibt auf und versucht stattdessen, den Deckel des Korbes zu schließen. Weil sein Vater einen Moment nicht hinsieht, gelingt es ihm, und der Weidendeckel fällt krachend auf James' Finger.

"Au! Harry, lass das!"

Und er zieht das Baby vom Korb weg und kitzelt es durch.

Als der kleine Harry quiekend nach Luft japst, ruft James laut die Treppe hinauf: "Bist du endlich fertig, Lily? Komm runter, wir wollen los!"

Harrys Blick scheint mit dem Ruf die Treppe hinauf ins Obergeschoss zu fliegen.

Da steht Lily in der Badezimmertür; sie trägt ein graues Kleid, das oben am Hals zerrissen ist. In der Hand hält sie einen Kamm und versucht, mit wütenden Strichen ihr völlig verwirrtes Haar auszukämmen. Dann lässt sie den Kamm sinken und lehnt sich an die Tür. Ihr Gesicht ist bleich und tränenüberströmt, und sie ruft hilflos zu James hinunter: "Es tut mir leid, aber es ist unmöglich! Siehst du denn nicht, dass da ein Gewitter aufzieht? Es ist unmöglich! Unmöglich!"

Erst jetzt sieht Harry, dass sie mit ihrer anderen Hand, die zur Faust geballt ist, etwas Blutiges an sich gepresst hält.

ooOoo

Harry wandte sich von dem Fenster ab, einen Moment lang wirklich dankbar für den dunklen Gang, in dem er sich befand. Was sollte das? Wo war er hier?

Seine Mutter hatte eigentlich etwas ganz anderes gesagt, aber er hatte sie verstanden.

Schräg gegenüber lag eine weitere Tür, auch sie mit einem runden Guckloch darin. Auf einmal wusste er, woran ihn diese Türen erinnerten. Er hatte so etwas schon in Filmen gesehen, da waren es Gänge von Gefängnissen gewesen, die solche Türen mit Gucklöchern hatten. Oder Irrenhäuser.

Obwohl er Angst vor dem hatte, was er möglicherweise durch das nächste Fenster sehen würde, wusste er genau, dass er hindurchsehen musste.

ooOoo

Ein Saal, der fast so aussieht wie die Krankenstation in Hogwarts. Ein bisschen trister vielleicht. Es ist dämmrig hier drin, irgendwo brennt ein schwaches Licht. Als Harry an der Bettenreihe entlang streift, sieht er in der Dunkelheit hinter den hohen Fenstern Schnee fallen. Nur das letzte Bett der Reihe ist belegt.

Er weiß nicht genau, was er hier drin ist, nur ein frei beweglicher Blick vielleicht. So gleitet er leise zu diesem letzten Bett, neben dem die Lampe brennt. Da liegt ein winziges, dunkelhaariges Baby. Es hat leise vor sich hin gewimmert, aber als es die Bewegung wahrnimmt, beginnt es zu schreien. Es ist nackt und schreit und schreit, wie ein kleines Tier.

"Sie sollten ihm etwas anziehen, er friert!", sagt Harry zu der stillen Gestalt, die mit einem ausgestreckten Arm neben dem Baby liegt. "Und ich glaube, er hat auch Hunger!"

Aber die Gestalt antwortet nicht. Harry beugt sich über sie und fährt zurück. Die Frau starrt mit toten, dunklen, leeren Augen an die Decke. Ihre Brust ist eine blutige Wunde. Harrys Blick wandert wie magisch angezogen zu dem Nachttischchen neben dem Bett. Da steht ein Teller, auf dem in einer blutigen Pfütze ein Herz liegt. Es könnte irgendein Fleischklumpen sein, aber er weiß, dass es ein Herz ist.

Die Tür wird geöffnet, und eine Krankenschwester in einer altmodischen Tracht kommt herein. Sie bewegt sich mit einer selbstgewissen Resolutheit, die Harry auch von Madam Pomfrey kennt, und wirft nur einen Blick auf das Bett.

Dann nimmt sie den Teller mit dem Herz und schüttelt den Kopf.

"Sie hätte sich wirklich etwas mehr bemühen können", murmelt sie und geht wieder, ohne den schreienden Säugling zu beachten.

Als sie hinausgeht, verstummt das Baby, und für einen Moment kann Harry hören, dass draußen alle Glocken läuten. Neujahrsläuten in London, denkt er, ohne genau zu wissen, woher er das weiß.

Er würde das Baby gern zudecken, aber er bringt es nicht über sich, die Decke der Toten zu berühren. Ihn graust es, und er will sich davonschleichen. Als sein Blick noch einmal auf das Baby fällt, stellt er fest, dass es ihn mit weit geöffneten dunklen Augen ansieht. Sein Blick folgt ihm durch den Gang und hinaus –

ooOoo

Harry stand vor der Tür und keuchte, als sei er gerannt. Gänsehaut überzog seinen ganzen Körper. Er wollte nicht weitergehen. Er wollte zurückrennen, hinauf in die Wohnung seiner Eltern. Und doch – etwas zog ihn unwiderstehlich weiter, zur nächsten Tür.

Langsam setzte er Fuß vor Fuß, sah eine riesige Spinne davonhuschen. Das ließ ihn flüchtig an Ron denken.

Da war sie. Die nächste Tür.

Zögernd näherte er sich dem Fensterchen, atmete tief ein und sah hindurch.

ooOoo

Zuerst blendet ihn helles Sonnenlicht, das schräg in den Raum fällt. Er kneift die Augen zusammen, und als er sie wieder öffnet, findet er sich an einem vertrauten Tisch wieder. Überrascht stellt er fest, dass er im Tränkeunterricht sitzt.

Da liegen seine Hausaufgaben, die diesmal vollkommen richtig sind, wie er weiß, denn er hat sie von Hermione korrigieren lassen. Trotzdem hat Snape sie eben mit einem wütenden Knall vor ihn hin auf den Tisch geschlagen.

"Potter! Habe ich Ihnen nicht schon mehrfach gesagt, Sie sollen endlich diese Augen rausnehmen?", sagt Snape kalt. "Das sind nicht Ihre! Aber Sie müssen sich ja immer mit fremden Federn schmücken, nicht wahr? Bis morgen schreiben Sie mir hundertmal ‚Warum habe ich überlebt?'"

Und knallt eine Schreibfeder auf Harrys Hausaufgaben.

"Hiermit", sagt er mit einem bösen Blick.

Harry weiß augenblicklich, dass es die Feder von Professor Umbridge ist, die die Worte wieder blutig in seine Hand ritzen wird. Schwerfällig greift er danach und zögert dann doch. Snape ist vor seinem Tisch stehen geblieben und wartet offenbar darauf, dass er mit dem Schreiben anfängt.

Als Harry aufblickt, sagt Snape mit eisiger Stimme: "Fünfzig Punkte Abzug für Gryffindor!"

Aber seine Lippen zittern, und unter dem höhnischen Lächeln ist sein Gesicht tränennass.

ooOoo

Nein, stöhnte Harry, als er sich vor der Tür wiederfand. Ich will das nicht sehen. Ich will das nicht wissen! Mir reicht's!

Von weit, weit oben drang ein Klirren an seine Ohren.

Das war meine Mum. Sie hat das Essen fallen gelassen.

Er lauschte hinauf, aber da war nichts mehr zu hören.

Ich muss weiter, dachte er. Ich muss hier irgendwann mal rauskommen. Ich könnte einfach an den Türen vorbeigehen. Wer zwingt mich, hineinzusehen?

Er versuchte es. Aber wie entschlossen er auch geradeaus weiterging, seine Schritte führten ihn unweigerlich zum nächsten kleinen Fenster.

Schließlich sah er ein, dass er nicht hinauskommen würde, wenn er nicht in jeden Raum hineingesehen hatte. So einfach war das.

Da war sie. Die nächste Tür. Die hatte er irgendwo schon einmal gesehen. Ergeben blickte er in das Guckloch vor ihm.

ooOoo

Er findet sich selbst – schwebender Blick oder was auch immer – auf einem kurz geschorenen, sommergrünen Rasen wieder. Die Luft ist salzig, als sei die See nicht fern. Um ihn herum spielen überall Kinder, die ziemlich hässliche graue Kittel tragen und überhaupt seltsam altmodisch aussehen. Trotzdem ist er sicher, dass er sie schon einmal gesehen hat.

Da ist eine kleine Gruppe von drei Kindern, alle um die sechs, sieben Jahre alt, die seine Aufmerksamkeit fesselt, weil er das Mädchen kennt. Sie spielen mit einem Kaninchen, einem kleinen, flauschigen Etwas, das eine Menge mehr Fröhlichkeit und Verspieltheit ausstrahlt als die Kinder selbst.

"Oh, Billy, lass mich doch auch mal!", bettelt das Mädchen mit dem braunen Lockenschopf.

Der Junge, den sie mit Billy angeredet hat, lässt sich kichernd das Kaninchen über den Bauch laufen, fängt das Tierchen dann und vergräbt sein Gesicht in das weiche, graue Fell.

Harry muss lächeln. Er kann das Fell geradezu unter seinen Fingern fühlen, so flauschig sieht es aus. Dann fällt sein Blick auf einen Jungen, der einige Meter entfernt an einer Schuppenwand lehnt und die Gruppe beobachtet. Er ist vielleicht zehn Jahre alt und ziemlich groß. Und sehr gut aussehend, daran können nicht einmal die Einheitstracht der Kinder und das straff gescheitelte und an den Kopf geklatschte schwarze Haar etwas ändern. Um seinen Mund liegt ein verächtlicher Ausdruck, aber in den dunklen Augen kann Harry auch Verwirrung erkennen und schließlich Ärger.

Harry fühlt eine eisige Kälte in den Eingeweiden, als der Junge sich von dem Schuppen abstößt und mit gelangweilten Schritten zu ihnen herüber kommt.

"Tom! Hast du schon Billys neues Kaninchen gesehen?", fragt das Mädchen, das noch immer jede Bewegung des Tieres mit einem verlangenden Gesichtsausdruck verfolgt. "Er hat's im Dorf geschenkt gekriegt."

"Ja, hab ich", antwortet Tom gedehnt.

Und plötzlich sieht Harry durch seine Augen.

Das Bild scheint sich zu verändern, vielleicht, weil die Farben plötzlich unwichtig und fahl werden. Das Grün des Rasens, das starke Gold der Nachmittagssonne, das ist alles verblasst, wie ausgewaschen. Er sieht drei kleine graue Wesen, die ziemlich gleich aussehen und mit irgendeinem vollkommen reizlosen Fellbündel spielen und mächtig Aufhebens deshalb machen. Harry kann nicht verstehen, wieso. Der Anblick des Kaninchenfells, der eben noch beinahe seine Fingerspitzen gekitzelt hat, löst jetzt überhaupt keine Empfindung mehr in ihm aus.

Er ist verwirrt, weil er einfach nicht versteht, warum die Kinder mit diesem Fellbündel so ein Theater veranstalten, warum sie kichern und knuddeln und herumschmusen. Das graue Fell sieht stumpf aus und das kleine Tier irgendwie lächerlich, ja sogar ärgerlich in seiner Art, da so herumzurennen.

"Was findet ihr bloß an dieser kleinen Ratte?", fragt er schließlich im Bewusstsein seiner Überlegenheit. Schließlich ist er der Älteste hier.

"Das ist doch keine Ratte!"

"Kaninchen sind Ungeziefer, Stubbs, hat dir das noch keiner gesagt? Noch nie was davon gehört, dass die beinahe ganz Australien kahl gefressen haben? Na, dann sag ich's dir jetzt! Glaub mir, da jagen sie Kaninchen und spießen alle auf, die sie kriegen können, und die Aufgespießten stellen sie dann zur Abschreckung für die anderen auf ihren Weiden auf!"

Die Kinder sehen ihn mit schreckgeweiteten Augen an, und endlich kann Harry etwas wie Farbe in dem Bild erkennen, das er vor sich hat. Ihr Entsetzen scheint die Szene dunkel pulsieren zu lassen, ihr eine Art von Wärme zu geben.

Er ist wieder Herr der Situation.

"Mann, seid ihr blöde Gören. Spielt bloß weiter, ich hab was Besseres zu tun!"

Tom wendet sich zum Gehen, aber Harry fühlt eine Idee wie ein kleines Feuer in seinem Kopf aufflammen. Er wird dieses Kaninchen morgen aufhängen, am Balken im Schlafsaal, ganz nah bei Billys Bett.

Die Vorstellung lässt Wärme durch seinen Körper strömen, und er lächelt. Er hat die Macht, Leben zu nehmen, und die Entschlossenheit, es zu tun, wenn es ihm passt. Eigenschaften, die all den anderen fehlen. Und er kann noch viel mehr! Er fühlt sich lebendig und wirklich.

Die Vorstellung, zu töten und dieses Innehalten, diesen Bruch im Leben der anderen hervorzurufen, ihr Entsetzen, ihre Hilflosigkeit mit anzusehen, das alles gibt seinen Gedanken für den Rest des Nachmittags wilde, aufregende Farben.

Sie sind wie Signalfeuer in der seltsam flachen, farblosen Welt ohne Reize, in der er sonst konturlos dahintreibt. Eine Welt, von der bei aller Ödnis doch ständig eine geheime Bedrohung auszugehen scheint.

Nein, denkt Harry verzweifelt. Ich will hier raus! Raus aus diesem Kopf! Bitte!

ooOoo

Er stand vor der Tür, und es schüttelte ihn. Eine Kreatur von einem anderen Stern –!

Eine dunkle Seele, sagte eine kühle, ruhige Stimme in seinem Kopf. Blind geboren.

"Bitte", flüsterte Harry in den dunklen, leeren Korridor. "Was soll das denn alles? Was bedeutet es? Und wie komm ich hier wieder raus?"

Aber es kam keine Antwort. Also weiter, zur nächsten Tür.

Er sah hinein und schrie auf, und mit diesem Schrei schien er hineinzufliegen, wo er auf einem Stuhl an einem kleinen, mit weißem Tuch bedeckten Tisch landet.

ooOoo

Ihm gegenüber sitzt der Grund für seinen Aufschrei.

Professor Dumbledore lächelt ihn an.

"Harry, wie schön, dass du einem alten Mann beim Essen Gesellschaft leisten willst!"

Richtig, da steht ein Teller vor Dumbledore. Darauf liegt eine kleine, aufgeschlitzte Schlange, von der er mit Messer und Gabel Stücke abschneidet und isst.

"Sie lebt noch!", schreit Harry.

Die Schlange zuckt und windet sich und stößt mit den Zähnen immer wieder auf Dumbledores Hand zu.

"Ja, das hatte ich befürchtet", sagt Dumbledore, aber er fährt fort, Gabel um Gabel davon zu essen.

Harry starrt ihn an und sieht mit namenlosem Entsetzen zu, wie ihm das lange, prachtvolle weiße Haar in Strähnen ausfällt und sich das vertraute, gütige Gesicht mit Geschwüren überzieht, die aufbrechen, bis sich das Fleisch in Fetzen von den Knochen zu schälen beginnt.

"Professor Dumbledore! Professor Dumbledore!", will er schreien, aber seine Stimme ist kaum mehr als ein Hauch.

"Ja, ja, ich weiß, mein Junge, kein schöner Anblick, nicht wahr?", sagt Dumbledore, unglaublicherweise immer noch lächelnd. "Ein paar Finger hätte ich ja gegeben – aber das hier ist wirklich ziemlich unbekömmlich. Ich brauche jetzt dringend einen kräftigen Schluck!"

"Oh bitte – Sie müssen aufhören – Sie werden sterben!"

Aber Dumbledore spießt auch das letzte Stück der Schlange auf und isst es.

"Obwohl – wenn ich es recht bedenke –", sagt er dann, während er Messer und Gabel sorgfältig zurück auf den Teller legt, "hier kann wohl nur noch eine Radikalkur helfen! Hast du ein Fläschchen Avada Kedavra dabei, Harry?"

Harry kreischt.

ooOoo

Er fand sich vor der Tür wieder, zusammengekauert auf dem Boden sitzend, die Arme um die Knie geschlungen. Ein trockenes Schluchzen schüttelte ihn, mit dem er eine ganze Weile nicht aufhören konnte.

Entsetzen und Kummer waren überwältigend. Eben erst hatte er bemerkt, wie sehr ihm Dumbledore fehlte, wie sehr er sich danach sehnte, ihn um Rat und Erklärungen bitten zu können. Und dann musste er erkennen, dass Dumbledore ihm das nicht mehr geben konnte. Dass er allein war.

Allein in diesem furchtbaren Korridor.

Ich kann nicht weiter, dachte er, als er endlich wieder aufsah. Ich kann einfach nicht in noch so ein Fenster hineinsehen.

Hatte ihm nicht ohnehin irgendjemand gesagt, dass dieser Weg nichts für ihn sei – für ihn, der so gar nichts von Okklumentik verstand?

Dieser Jemand hatte Recht gehabt.

Willst du wirklich jetzt aufgeben? dachte er dann. Das hier ist noch nicht mal Voldemort. Es ist dein eigenes Hirn, das dich in den Wahnsinn treiben will! Denk an was Glückliches! Denk an – an Hermione! Du willst sie wieder küssen, wenn das alles hier vorbei ist! An Quidditch – wie du mit Ron zusammenspielst – und Ron ist wieder dein Freund! An Hogwarts vor den Weihnachtsferien!

Er beruhigte sich tatsächlich ein bisschen. Er drängte die aufsteigende Angst um Hermione und Ron zurück und stand auf. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass sich der Geruch hier verändert hatte. Es roch nicht länger nach Moder und Schimmel, sondern nach Verwesung.

Als er weiterging, sah er, dass er sich der vorletzten Tür des Ganges näherte. Es war eine schwere, niedrige Tür aus dunklem Holz, die fugenlos zu schließen schien. Und natürlich war auch in sie ein kleines Fenster eingelassen, mit einem schweren Gitter davor.

ooOoo

Es ist so düster in dem Raum, dass sich seine Augen erst daran gewöhnen müssen. Die einzige Lichtquelle ist eine Kerze, die auf einem runden, schmutzigen Tisch steht. Um den Tisch herum sitzen – Harry erkennt es mit stockendem Atem – Tante Petunia und Dudley, die mit Draco Malfoy und seiner Mutter eine Partie Karten spielen.

Flüchtig versuchen Harrys Augen, Einzelheiten des Raumes zu erfassen. Es scheint ein Kerker zu sein, mit nassem, dunklem Steinboden und einem schwarzen Graben im Hintergrund. Und hängen da – Käfige von der gewölbten Decke?

Die vier sitzen jedenfalls vorn im Raum, auf Stühlen, und scheinen die erbärmliche Umgebung gar nicht zu bemerken. Harry kann in ihre Karten sehen, muss aber erkennen, dass sie alle leer sind.

Dann fällt ihm auf, dass die vier zwar gut gekleidet sind, aber eingefallene, ausgehungerte Gesichter haben, mit fiebrig glänzenden, tief in den Höhlen liegenden Augen.

"Ich setze einen Fuß", sagt Tante Petunia entschlossen.

"Ich gehe mit und erhöhe um ein Herz", sagt Narcissa Malfoy mit schwacher Stimme.

"Ich hab aber solchen Durst!", mault Dudley. "Können wir nicht darum spielen, wer Wasser schöpfen muss?"

Die anderen zucken zusammen, und Harry sieht Entsetzen in ihren Augen aufflackern, ohne es zu verstehen. Dann bemerkt er fassungslos die Gier in den Blicken der Malfoys, als sie den fetten Dudley mustern.

"Das macht jeder selbst, Fettkloß!", sagt Draco scharf. "Und jetzt nenn endlich deinen Einsatz! Du hast doch genug zu setzen!"

Tante Petunia wirft ihm einen beinahe hysterischen Blick zu und rückt näher an Dudley heran. Aber ihre Stimme ist nur ärgerlich, als sie nun an Narcissa gewandt sagt: "Und das alles nur, weil wir ihn in diesen Treppenschrank eingeschlossen haben! Dass er aber auch immer gleich so übertreiben muss!"

Narcissa antwortet ihr, und jetzt sieht Harry, dass ihr Kopf kahl rasiert ist.

"Oh, das hier ist gar nicht seine Anordnung! Dieses Urteil kommt von ganz oben!"

Und sie legt eine ihrer leeren Karten auf den Tisch und fährt dann im Ton gepflegter Konversation fort: "Wie ich gehört habe, stammen Sie ja selbst aus höheren Kreisen. Sie müssen meinen Aufzug schon entschuldigen, es ist sonst nicht meine Art, Gäste so zu empfangen. Also, ich setze."

Und zu Harry Entsetzen legt sie ein blutiges Herz auf den Tisch.

Draco hebt seinen rechten Arm, an dem die Hand fehlt.

"Ich habe schon gesetzt!", ruft er und bricht in schrilles Gelächter aus.

ooOoo

Harry flüchtete zurück in seinen Körper, fort aus diesem Verlies. Tante Petunia – Mums Schwester! Sie und Dudley sind ja auch seine Verwandten! Wie lange hatte er nicht mehr an die Dursleys gedacht, sie waren seinem Sinn regelrecht entfallen. Konnte es sein, dass sie tatsächlich in einem Verlies saßen – zusammen mit Draco und seiner Mutter?

Zum ersten Mal, seit er durch diesen Korridor ging, begann er nachzudenken. Irgendwas musste das alles doch zu bedeuten haben. Er war sicher, dass Hermione einen Sinn in diesen Räumen mit ihren – ihren Szenarien entdeckt hätte.

Wie in einem dunklen Spiegel, dachte er bitter, allerdings! Trelawney hatte verdammt Recht, was das angeht. Was hat sie noch weiter gesagt? Dann aber von Angesicht zu Angesicht, oder so ähnlich? Na, dafür wird es jetzt aber auch wirklich Zeit.

Entschlossen ging er auf die letzte Tür zu und sah ohne Zögern durch das Fensterchen.

ooOoo

Und da sitzt er in der Bibliothek von Hogwarts – ausgerechnet! Vor ihm liegen mehrere aufgeschlagene Bücher. Das können nur Hermiones sein – und klar, er wartet ja auch auf sie!

Aber da kommt plötzlich jemand anders an seinen Tisch. Ein Junge, den er kennt, zu langes, strähniges schwarzes Haar, bleiches Gesicht, Augen, die nicht eisig sind, sondern nur sehr dunkel. Er zieht einen Stuhl heran und setzt sich rittlings darauf, so, dass er Arme und Kopf auf die Lehne stützen kann.

"Also, Potter, wir sollten mal reinen Tisch machen, findest du nicht?"

Harry fährt zusammen und sieht in diese Augen, die er kennt, in denen er aber noch nie diesen Funken von Humor gesehen hat. Einen kleinen, schwarzen Funken, aber immerhin.

"Hast du etwa Angst, Potter?", fragt sein Gegenüber grinsend. "Du musst natürlich wirklich dazu entschlossen sein – und bereit für die Konsequenzen! Dann ist alles eine Frage des richtigen Zeitpunkts, oder? Und du musst gekonnt täuschen – das ist wie beim Quidditch. Wenn du den Schnatz entdeckt hast, lässt du das den gegnerischen Sucher ja auch nicht merken."

"Seit wann verstehst du denn was von Quidditch?", platzt es aus Harry heraus, ehe er es verhindern kann.

"Ich wollt's in einer Sprache sagen, die du verstehst, Potter", erwidert sein Gegenüber mit einem Hauch Verachtung in der Stimme. "Es ist nämlich verdammt wichtig, dass du's kapierst. Und jetzt beeil dich lieber, sonst kommst du wieder mal zu spät!"

Und weg ist er.

Harry versucht zu erkennen, wohin er verschwunden ist.

ooOoo

Da stand er auf einmal in tiefer Dunkelheit.

Tabula Rasa, ging es ihm durch den Kopf. Reinen Tisch machen! Das findet der auch noch witzig!

Bitterkeit quoll in ihm auf. Und er war auch nicht schlauer als zuvor.

"Okay, und das war's jetzt wirklich mit den Türen?", fragte er in die Stille des Korridors hinein. "Kann ich jetzt endlich hier raus?"

Da war das Stimmengewisper wieder. Er glaubte, tatsächlich leises Gekicher zu hören. Und er sah, dass er wieder im Kellergang war, am Fuß einer Treppe, die nach oben führte.

Da geht's endlich raus, dachte Harry mit Erleichterung und neuer Anspannung zugleich. Neugierig drehte er sich noch einmal um, um zu sehen, woher er gekommen war.

Der Korridor mit seinen Türen war nicht mehr zu sehen. Stattdessen sah er auf die bronzene Wölbung eines Spiegels, der eben hoch genug war, einen Menschen durchzulassen.

"Was soll das?", fragte er noch einmal verwirrt.

Aus dem Gewisper löste sich eine Stimme, die er kannte, und endlich konnte er Worte verstehen.

"Die Liebe ist eine furchtbare Macht", hörte er Professor Slughorn erstaunlich nüchtern sagen. "Sie macht uns zu Mördern und Verrätern. Bei allen großen Verbrechen spielt sie eine entscheidende Rolle. Sie ist wie ein gigantischer Mahlstrom, der alles mit sich reißt, was ihm zu nahe kommt."

"Du erinnerst dich vielleicht an den Raum in der Mysteriumsabteilung, von dem ich dir erzählt habe?", fragte Dumbledore nahezu gleichzeitig. "Der Raum, der immer verschlossen ist? Ich sagte dir, dass er eine Kraft enthält, die wunderbarer und schrecklicher ist als der Tod, als die menschliche Intelligenz, als die Kräfte der Natur –"

"Die Macht, die der Dunkle Lord nicht kennt –", murmelte Harry wie im Traum.

"Richtig", erwiderte Dumbledores Stimme. "Was glaubst du, würdest du sehen, wenn du hineinsehen könntest?"

"Einen – dunklen Spiegel?", fragte Harry in die Stille hinein.

Es kam keine Antwort mehr.

Die Augen seiner Mutter – Dumbledores Lächeln – Narcissa Malfoys blutiges Herz – und das Herz auf jenem blutigen Teller – ja, selbst Snapes schrecklich verbogene Verzweiflung –

Und daneben die flache, tote Welt, die er durch fremde Augen gesehen hatte –

Da muss ich hin, dachte er mit einem Erschauern und wandte sich von dem Spiegel ab. Langsam begann er die Treppe hinaufzusteigen.

oooOOOooo

Es wurde heller. Das Licht drang milchig durch ein Rechteck, das er weiter oben sehen konnte. Noch ein paar Stufen, und dann stand er davor. Eine weitere Tür, aber diese hier war ganz aus einem neblig geschliffenen Glas. Sie hatte eine Klinke, und Harry wusste, dass er sie einfach nur öffnen musste. Schließlich tat er es.

Vor ihm breitete sich eine weite Fläche aus, die aus schwarzen und weißen Feldern bestand und auf den ersten Blick leer schien. Dann sah er überlebensgroße schwarze Figuren, die über dem Rand der Ebene heraufkamen und sich stumm und bedrohlich näher schoben.

Ein Schachbrett –

Ein Turm war in sein Blickfeld gerückt. Aber das diffuse Licht fiel so auf ihn, dass Harry nicht erkennen konnte, welche Farbe er hatte.

Du musst unbedingt die Tür hinter dir schließen! erklang es drängend in seinem Kopf.

Er gab der gläsernen Tür einen Stoß, so dass sie ins Schloss fiel.

Als er sich wieder umsah, erkannte er, dass er in der Wirklichkeit zurück war, in einem großen Saal mit schwarzweißem Mosaikfußboden, in dem auch einzelne rote Tupfen zu sehen waren. Vor den hohen Bogenfenstern, aus denen die gegenüberliegende Wand bestand, zeichnete sich eine große, dünne Gestalt gegen das Licht ab, die er nur wie einen Schattenriss wahrnehmen konnte. Aber die kalte Stimme, die ihn nun ansprach, erkannte er sofort.

"Harry Potter! Endlich!", sagte Lord Voldemort. "Willkommen in der Goldenen Festung!"