Kapitel 25
Die Figuren werden aufgestellt
Ron ging im Dunkeln, an Bill und George gelehnt, mit geschlossenen Augen, und dachte ganz kühl, ich werde nie wieder schlafen. Nie wieder. Ich fühle das.
Immer einen Fuß vor den anderen. Nicht stehen bleiben. Immer weiter, immer im Kreis. In einem ziemlich kleinen Kreis. Seine Füße, seine Beine waren bis zu den Knien hinauf nass und taub vor Kälte. Er hörte die unablässigen Schritte der anderen. Und das beständige Platschen von Wasser, bei jedem Schritt.
Pfützen. Das sind nur Pfützen, dachte er. Es hat geregnet, und ich gehe durch die Pfützen.
War das Wasser nicht schon höher als eben noch? Panisch wollte er innehalten, wollte spüren, ob es schon über seinen Fuß hinwegspülte. Aber Bill schob ihn weiter.
"Es steigt", stammelte Ron. "Oder? Das Wasser steigt doch?"
Der Klang seiner Stimme erschreckte ihn selbst.
"Nein, Ron", sagte Bill ruhig. "Das bildest du dir ein. Glaub mir, da war nur ein ganz winziger Riss. Es kommen nur Tropfen durch."
Aber Ron hatte die Augen schon geöffnet. Keuchend starrte er wieder in das grünliche Aquariumlicht, das sie alle umgab.
"Ich – kriege – keine Luft!"
"Ganz ruhig", sagte Bill und legte den Arm um seinen Bruder, was dem unter anderen Umständen furchtbar peinlich gewesen wäre. Jetzt aber half es sogar ein bisschen.
Sie waren in einem Aquarium. Genauer gesagt, in etwas wie einer gläsernen Luftblase inmitten eines ungeheuren Aquariums. In einer Blase mit abgeflachtem Boden.
Hier hinein waren sie aufgetaucht nach diesem unglaublichen, schon halb vergessenen Weg, der auf dem See von Hogwarts seinen Anfang genommen hatte. Die Todesser hatten alle Gefangenen auf einem ihrer Flöße versammelt, dann waren sie abgetaucht und hier wieder angekommen.
Das Wasser – falls es überhaupt Wasser war – umgab sie von allen Seiten. Sie hätten irgendwo unter dem Meer sein können. Wenn nicht – wenn nicht–
Er riss seine Gedanken ganz schnell zurück und starrte auf seine Füße. Auch der Boden war aus Glas, durch das man direkt in die dunkelnden Tiefen sehen konnte, die unter ihnen lagen.
Es war so eng hier, das sie nicht sitzen konnten, geschweige denn liegen. Also gingen sie. Sie gingen seit Stunden, glaubte Ron. Anfangs hatten sie einfach dagestanden und entsetzensstarr hinaus in die düsteren Fluten geblickt. Dann hatte irgendwer gesagt, dass es wahrscheinlich leichter sei, wenn sie in Bewegung blieben. Und seitdem gingen sie im Kreis, langsam, schlurfend, manchmal wie in Trance.
Seit Moody nicht mehr weitergekonnt hatte, war der Kreis nicht mehr ganz perfekt, sie mussten an einer Stelle immer ein Stück ausweichen, um nicht auf ihn zu treten. Wenn noch einer schlappmachte, würde es schwierig werden.
"Minerva –", hörten sie Moody krächzen. "Was ist mit ihr? Wo ist sie?"
"Er fragt das immer wieder", sagte Madam Pomfrey unnötigerweise.
Sie hörten es schließlich alle schon seit einer Weile. Sie hatten ihm erklärt, was sie über McGonagalls Verbleib wussten – dass Voldemort sie in Hogwarts mit sich genommen hatte – aber es schien nicht in Moodys vom Fieber umnebelten Kopf zu dringen.
"Ich fürchte, er ist ernsthaft krank", sagte Madam Pomfrey besorgt. "Er reagiert einfach nicht. Und ich habe gar nichts hier, womit ich ihm helfen könnte!"
"Na toll. Jetzt sitzen wir hier in der Falle mit dem besten alten Kämpfer, den wir kriegen konnten, und dann nimmt der seine jährliche Grippe", sagte George, der endlich wieder reden konnte.
"Schluss damit", sagte Bill scharf. "Wir müssen nachdenken. Was das hier alles soll. Wie wir Harry helfen können."
"Harry?", fragte Ron spöttisch. "Frag dich lieber, wie wir uns selbst helfen können!"
Bill warf ihm einen stirnrunzelnden Blick zu.
"Ich hab schon gemerkt, dass da was nicht stimmt zwischen euch", sagte er schließlich. "Was soll der Quatsch – gerade jetzt?"
"Er hat endlich erkannt, auf wessen Seite er wirklich steht, sonst nichts", sagte Ron giftig.
"Ach ja? Und ich dachte, er hätte was mit Hermione angefangen", warf Luna, die vor ihnen ging, unschuldig ein. "Ich dachte, du bist deshalb so sauer auf ihn."
Mehrere Köpfe drehten sich zu ihnen um.
"Na prima, das wurde auch Zeit! Ich dachte schon, die beiden kriegen nie mehr raus, wo sie hingehören", sagte Bill unerwartet. "Also ehrlich, Ron!"
"Was willst du denn damit sagen", fuhr Ron auf. "Hermione – sie und ich – also wir –"
"Komm schon, Ron! Wenn du das denkst, dann hast du dich einfach in was verrannt!", sagte Bill. "Die beiden gehören zusammen. Das hab ich immer schon gedacht."
Ron starrte finster auf Lunas langes Haar, das dicht vor ihm herabwallte.
"Vielleicht solltest du auch mal daran denken, was Ginny dazu sagen wird", sagte er. "Die weiß sicher noch nicht mal was davon!"
"Na, wehtun wird ihr das sicher. Aber sie wird damit klarkommen. Und du glaubst ja wohl nicht, dass sie keinen anderen findet, oder?", erwiderte Bill.
"Wird Zeit, dass du mal wie ein Mann denkst, Mann!", sagte George. "Wir haben andere Sorgen als deinen eingebildeten Liebeskummer!"
Ron war kurz davor, ihm einen Tritt zu verpassen. Für Minuten hatte er tatsächlich beinahe vergessen, wo er sich befand.
"Wo ist denn Hermione nun?", fragte Bill. "Vorhin hast du gesagt, du wüsstest was –"
"Sie – sie ist irgendwie in Harpers Büro – äh – verschwunden."
"Was soll das denn heißen?", fragte George.
"Da war so 'n Spiegel. Mit dem – also, damit war irgendwas Unheimliches. Ich glaub, sie ist – da reingegangen. Ja, Mann, ich weiß, wie das klingt. Aber ich hab sie sogar rufen hören – irgendwo da drin."
Nach Harry, dachte er bitter. Nach Harry.
Die anderen schwiegen, versuchten offenbar, sich einen Reim auf diese Information zu machen. Flüchtig sah Ron in die Gesichter von Dean und Seamus, die seltsam weit entfernt schienen. Obwohl sie jetzt seit Jahren Schlafsaalgenossen waren, schienen sie hier gar nicht richtig real zu sein.
Schritte, Schritte. Und das Wasser stieg doch! Und er hatte Durst. Und er fragte sich –
Er hatte nicht über Tonks sprechen können. Darüber, dass er versagt hatte. Dass er sie nicht in einen der Schutzräume gebracht hatte. Er machte sich schreckliche Sorgen um sie. Aber er hatte beschlossen, dass er die allein tragen würde.
"Wir sollten alle nachdenken, was wir tun können", sagte Bill schließlich noch einmal. "Jetzt. Hier."
"Machen wir uns nichts vor", ließ sich Slughorn dumpf vernehmen. "Das hier ist das Ende. Harry Potter ist sicher ein erstaunlicher junger Mann, und dass er den Angriff damals überlebt hat, nur mit einer Narbe – ich sage ja, erstaunlich. Aber das hier – nein, nein, sehen wir den Dingen ins Gesicht."
"Und was genau meinen Sie damit?", fragte Professor Sinistra angriffslustig. Sie ging neben ihm und hinkte leicht.
"Sehen Sie, ich bin sicher, dass er – äh – Voldemort – nun, äh, Dinge unternommen hat, um sich abzusichern, verstehen Sie? Ich meine, man kommt nicht einfach daher und spricht ein Avada, und der Dunkle Lord fällt tot um. So einfach ist das alles nicht", antwortete Slughorn, und das Seufzen, mit dem er diese Worte begleitete, war schon mehr ein Stöhnen. "Und ich – ich bin schuld –", hörten sie ihn murmeln.
"Es gibt sicher einen Grund, warum er uns am Leben gelassen hat", sagte Bill nun ruhig. "Er braucht uns für irgendwas. Und ich schlage vor, dass wir uns jetzt alle darauf konzentrieren, herauszufinden, was das sein könnte. Anstatt über Dinge nachzudenken, die wir im Moment nicht ändern können."
"Ja", sagte Hagrid. "So is' es richtig."
Und dabei dachte er an das verzweifelte Jaulen von Fang, kurz bevor ihn der tödliche Strahl aus einem Zauberstab getroffen hatte, direkt vor seiner Hütte.
Er ging hinter Bill, Ron und George. Sie hörten ihn schon die ganze Zeit schnaufen; es war, als schäme er sich, dass er so viel von dem bisschen Platz einnahm, den sie hatten.
"Natürlich hat das einen Grund", ließ sich Luna vernehmen. "Er hat nicht mehr vor, Harry zu töten."
"Was?"
"Woher willst du das denn wissen?"
"Einerseits ist das ganz klar, denn sonst wären wir auch alle längst tot. Er braucht uns, um Harry zu manipulieren", sagte sie mit klarer Stimme.
"Und andererseits?"
"Andererseits – weiß ich das einfach. Ich träume, versteht ihr –"
Ron unterdrückte ein Stöhnen.
"Seit ich diese Verletzung hatte. Da sehe ich manche Sachen. Und vor allem – ihn. Er – braucht Harry."
"Was?"
"Noch eine Seherin! Nicht wieder das Innere Auge, Luna! Dazu ist die Lage zu ernst!"
"Wir sollten sie anhören!", sagte Slughorn scharf. "Meine Liebe – sagen Sie uns, was Sie gesehen haben!"
"Siehst du Hermione? Und Neville! Luna – kannst du sehen, was mit Neville ist?", fragte Ron drängend. "Irgendwas? Ist er –?"
"Nein, er lebt noch", sagte Luna leise. "Von Hermione weiß ich nichts. Aber Neville – den hab ich gesehen. Er – lag in einem Brunnen. Da war etwas – etwas über seinem Gesicht. Und Harry – den hab ich auch gesehen. Der Dunkle Lord – küsst ihn!"
Ron platzte mit einem verzweifelten Auflachen heraus, bevor er sich zurückhalten konnte.
"Küsst ihn?", fragte Slughorn verwirrt.
"Was soll das sein, so was wie ein Dementorenkuss?", sagte George.
"Ich weiß es nicht. Ich seh' immer wieder dieses Bild. Sie stehen unten an so 'ner Art Thron, dahinter sind riesige Bogenfenster. Und Voldemort küsst Harry auf die Stirn."
Luna sah ihn in ihren Träumen – Voldemort? Ron schauderte. Sie hatten ihn nicht wieder gesehen, und tief in ihm war, wie ein kleiner, glühender Knoten, die Angst vor dem Moment, in dem er hier erscheinen würde.
"Ich denke, Luna hat da eben etwas sehr Richtiges gesagt", brachte Bill sie schließlich von den Träumen wieder zurück zur Gegenwart. "Er hätte uns alle töten können, schon in Hogwarts. Dass er es nicht getan hat, das hat ganz sicher was mit Harry zu tun. Und wenn er ihn einfach töten wollte – töten könnte, dann bräuchte er uns gar nicht."
"Sie zweifeln doch wohl nicht ernsthaft daran, dass er uns töten kann, wenn er das will, oder?", sagte Slughorn.
"Jedenfalls scheint er es im Moment nicht zu wollen", antwortete Bill. "Ich vermute auch, dass er uns braucht, um Harrys Widerstand notfalls brechen zu können. Um ihn zu etwas zu bringen, das er anders nicht von ihm bekommen kann. Ich frage mich nur die ganze Zeit, was das sein könnte."
Ein wilder Schrei zerriss ihr eintöniges Dahinschlurfen. Sie fuhren alle zusammen.
"Da, seht doch! Da!", schrie Pansy Parkinson, die ganz außen dicht an der gläsernen Wand ging, und deutete auf etwas, das eben gegen diese Wand trieb.
"Das ist Ripley!", kreischte sie völlig außer sich. "Sie haben sie mitgenommen! Und zu den anderen hier getan!"
Ron fühlte eine eisige Hand über sein Rückgrat streichen. Der Schleier, den er mit Mühe vor seine Augen gelegt hatte, zerriss. Er sah wieder – sah wieder, was sie alle wirklich umgab. Grünliche Fluten, in denen weiße Gestalten trieben, reglos, mit offenen, silbrigen Augen. Manchmal bewegten sie die Hände langsam in den Strömungen, die da draußen herrschen mochten. Inferi! Und so viele! Sie waren wie Fische da draußen, ganze Schwärme von ihnen. Sie waren überall um sie herum!
Und als er jetzt in die Richtung sah, in die Pansy gezeigt hatte, erkannte auch er die Leiche von Esther Ripley, die von der Strömung gegen die Wand ihres Gefängnisses getrieben worden war und nun langsam, sich um sich selbst drehend, wieder davontrudelte.
Pansy kreischte immer noch und wehrte sich heftig gegen Madam Pomfrey, die sie zu beruhigen versuchte. Irgendwann ging ihr Schreien in lautes Weinen über. Ripley war inzwischen außer Sicht.
Die Stille senkte sich wieder über sie, hin und wieder von Moodys fürchterlichem Husten unterbrochen. Ron bildete sich ein, auch das leise Tropfen von Wasser zu hören, das durch einen haarfeinen Riss eben oberhalb ihrer Köpfe sickerte. Jedes Mal, wenn er an dieser Stelle des Aquariums vorbeikam, musste er auf den Riss starren, auf die Tropfen, die langsam dort an der Innenseite herunterrannen. Jedes Mal war er sicher, dass er sich verbreitert hatte.
Er dachte über Harry nach, über Hermione und über Voldemort. Hier, tief unter dem Meer oder wo auch immer sie sein mochten, konnte er sich fragen, ob er wirklich glaubte, dass Harry die Seiten gewechselt hatte. Nachdem er den Inferi ins Gesicht gesehen hatte, konnte er auch den Wahrheiten ins Gesicht sehen, die er in seinem Herz längst erkannt hatte.
Ich bin der Springer, dachte Ron irgendwo in einem Zwischenreich zwischen Wachen und Träumen. Ich darf sie alle überspringen –
Und vielleicht würde er das bei der nächsten Gelegenheit tun.
oooOOOooo
Hermione saß zusammengekauert in einer Ecke dieses schrecklichen Raums. Das atonale Summen war schon lange verstummt. Peter Pettigrew oder Wurmschwanz, den sie die längste Zeit unter dem Namen Krätze gekannt hatte, hatte sich auf einem kümmerlichen Lager nicht weit von der aufgespannten Schlange zusammengerollt und seitdem nicht mehr geregt. Sie vermutete, dass er schlief.
Ihr ganzer Körper war erstarrt in der Angst, sich durch irgendeine Bewegung zu verraten. Sie hatte nie zuvor eine solche Angst gehabt wie in den vergangenen Stunden. Immer noch konnte sie den tiefen Ton hören, der mehr ein Vibrieren als tatsächlich ein Klang war, und sie glaubte, dass er von diesem unheimlichen Gebäude selbst kam – was immer es sein mochte. Tapfer kämpfte sie die immer wieder aufwallende Panik herunter. Sie durfte jetzt nicht daran denken, was geschehen würde, wenn –
Sie musste sich konzentrieren. Sie musste Harry finden.
Wenn sie Recht gehabt hatten mit ihrer Interpretation von Trelawneys Worten, dann musste der Spiegel sie zu ihm geführt haben – zu Voldemort. Dann musste das hier der Ort sein, an dem sie ihm begegnen würden.
Sie atmete langsam ein und aus und wartete auf das Abebben der Panik, die sie wieder zu überrollen drohte. Flucht, schrie es in ihr. Nur weg von hier!
Dieser Ort – sein Geruch – die Ratten, die sie um Pettigrew herumhuschen sah, die Spinnen, die in allen Ecken saßen –
Und die ganze Zeit über, in der sie sich nicht zu bewegen wagte, wartete etwas in ihr darauf, dass der Staub, der hier überall lag, sich zu drehen begann, dass ein auf den ersten Blick harmlos aussehender Staubwirbel sich plötzlich als eine bösartige Präsenz enthüllen würde –
Eine Weile hatte sie wie fixiert auf die Staubflocken in den Ecken gestarrt, außerstande, den Blick abzuwenden.
Irgendwann hatte sie sich etwas entspannt. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit der Schlange zu. Ob das wohl Nagini war, Voldemorts Schlange, von der Professor Dumbledore angenommen hatte, dass sie ein weiteres Horcrux war? Zumindest war sie sicher untergebracht …
Hermione fragte sich, ob sie wohl sie selbst und ihre Angst wittern konnte.
Auf jeden Fall muss ich jetzt hier raus, dachte sie entschlossen. Ich will wissen, wo ich hier bin. Und immerhin habe ich meinen Zauberstab und den Tarnumhang.
Der Harry allerdings jetzt wohl fehlen würde, wurde ihr da auf einmal klar. Das entschied die Sache. Sie musste ihn finden, und zwar so schnell wie möglich.
Leise stand sie auf und bewegte sich langsam auf die Tür zu. Ihr Herz schlug so laut, dass sie Angst hatte, die Schlange würde doch noch auf sie aufmerksam werden. Aber sie kam unbemerkt zur Tür – und hinaus.
Schwer atmend stand sie auf einem düsteren, schmutzigen Gang. Das trübe Licht reichte kaum aus, den Weg bis zur nächsten Biegung zu erleuchten. Aber es war zumindest niemand zu sehen. Sie atmete tief ein und machte sich auf den Weg.
Es stank hier, nach Schmutz und so, als ob hinter diesen grauen Wänden irgendetwas verweste. Diesen Gedanken schob sie schnell beiseite.
Hinter der Biegung des Ganges kam sie zu einer Treppe, und da waren endlich auch Fenster. Sie blieb auf der Treppe stehen und sah durch die Fensterseite staunend auf eine ganz und gar unerwartete Umgebung hinaus.
Sie musste sich in einer riesigen Anlage befinden. Da draußen im Abendlicht waren verschachtelte Höfe und Treppen zu sehen, hinter denen sich hohe Gebäudeflügel und Türme erhoben. Alles in einen blassgoldenen Nebel gehüllt, so, als wäre es nicht ganz wirklich. Durch diesen Nebel hindurch konnte sie ganz schwach die Umrisse wuchtiger dunkler Mauern beängstigend hoch aufragen sehen. Das war eine Festung!
Und wenn es hier drin auch noch so sehr nach Verfall aussah – da draußen war davon nichts zu bemerken. Das waren imposante, ja, beängstigende Bauten. Sie machten nur allzu deutlich, dass Voldemort sich auf der Höhe seiner Macht befinden musste.
Was können wir gegen ihn schon ausrichten, dachte sie verzagt. Wenn doch nicht mal Professor Dumbledore ihn besiegen konnte! Und wie soll ich Harry hier jemals finden – immer vorausgesetzt, er ist überhaupt hier!
Weitergehen, ermahnte sie sich. Wenn er hier ist, ist er vermutlich ein Gefangener – wenn er nicht schon –
Nein. Das nicht. Das durfte einfach nicht sein.
Aber die Tränen, die schon die ganze Zeit hinter ihren Augen zu drängen schienen, ließen ihr Blickfeld verschwimmen.
Wenn ich doch nur nicht allein wäre!
Tränenblind setzte sie ihren Weg fort, immer weiter hinab. Unten in einer Festung musste es Kerker geben. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und erstarrte dann mitten in der Bewegung. Da war jemand unten auf der Treppe!
Es war ein Hauself! So leise wie möglich folgte sie ihm. Er eilte in einen Korridor hinein, der mit einem dunkelroten Teppich ausgelegt war. Wie ein Hotelflur, ging es ihr durch den Sinn. In einem ziemlich vernachlässigten Hotel.
Der Hauself klopfte nun hart an eine Tür.
"Ja?", rief eine unwirsche Stimme von drinnen, die Hermione bekannt vorkam, die sie aber in diesem Moment nicht einordnen konnte.
Der Elf öffnete die Tür, und Hermione huschte so nahe heran, wie sie es eben wagte.
"Was gibt es denn?", fragte die Frau, die drinnen auf einem prunkvollen Bett mit einem Baldachin lag. Hermione erkannte mit jähem Schrecken Bellatrix Lestrange. Sie war in ein schimmerndes, nougatfarbenes Gewand gekleidet, dessen tiefer Ausschnitt mit Goldstickerei verziert war. Über die Schultern fiel ihr wieder üppig gewordenes schwarzes Haar.
Der Hauself winkte ihr nur, ihm zu folgen.
"Stummes Pack!", murmelte sie unwillig. "Nie weiß man, was los ist!"
Sie griff nach einem zum Kleid passenden, transparenten Umhang und stand auf.
Hermione sah ihr fasziniert entgegen, als sie dem Hauself aus dem Zimmer und durch den Flur folgte. Als sie an ihr vorbeigingen, hielt sie den Atem an und schloss sich den beiden an.
Stumme Hauselfen? fragte sie sich empört. Konnte sie den Weg zu Voldemort denn nicht allein finden? Und sicher war er es doch, der auf diese Weise nach ihr schickte.
"Wohin soll es denn gehen?", fragte auch Bellatrix. "Wieder in die Kerker?"
Der Hauself nickte und hielt ihr dann einen Zettel hin, auf dem anscheinend eine Anweisung geschrieben stand.
"Na schön", sagte sie nach einem Blick auf die Notiz, durch diese Aussicht offenbar mit der Störung ihrer Abendruhe versöhnt.
Auf dem nächsten Treppenabsatz kam ihnen ein Mann im schwarzen Umhang entgegen, ebenfalls von einem Hauselfen geleitet, der sich nun aber rasch entfernte.
Hermione hatte auch diesen Todesser schon einmal gesehen. Damals im Ministerium, bei der Jagd auf die Prophezeiung.
"Auch auf dem Weg zum Kerker?", fragte Bellatrix.
"Vermutlich. Aus diesen dämlichen Kerlen kriegt man ja nichts raus."
"Wir sollen ihn wieder zum Herrn bringen. Unseren Prinzen!", sagte sie mit spöttischem Lächeln und zeigte ihm den Zettel, während sie weiter die Treppen hinabliefen.
Und dann endete ihr Weg auf einmal abrupt vor einer Wand. Hier schien es nicht weiterzugehen. Aber der Hauself klopfte in einem schnellen Rhythmus gegen die Mauer.
Die Wand glitt ein Stück zur Seite. Dahinter lag Düsternis, die von rötlichem Licht flackernd erhellt wurde. Zögernd folgte Hermione den anderen durch die Öffnung, unsicher, ob sie jemals wieder hinausfinden würde –
Grob in Stein gehauene Treppen führten weiter hinunter, in regelmäßigen Abständen von Fackeln beleuchtet, die in Haltern an der Wand steckten.
Hermione hallten Bellatrix' Worte durch den Kopf. "Unseren Prinzen" hatte sie gesagt. Konnte sie damit Harry gemeint haben? Es passte jedenfalls zu Trelawneys Worten. Ihr Herz raste. Vielleicht war Harry ja wirklich hier.
Sie hatten die Treppen nun endlich hinter sich gelassen und standen in einem dunklen Gang mit niedriger Decke. Zu beiden Seiten gingen schwere Türen ab.
Bellatrix und der andere waren nicht länger auf die Hilfe des Elfen angewiesen. Zielstrebig gingen sie zu einer Tür am Ende des Ganges.
"Lästig, diese Magie-Sperren, was?", fragte der Mann, als er sich mühsam daranmachte, mit den Händen mehrere schwere Balken und Schlösser zu entfernen, die die Tür verschlossen.
"Das muss noch das alte System sein, hier unten", murmelte Bellatrix, die mit den Gedanken offenbar woanders war. Hermione konnte sogar in diesem Licht erkennen, wie ihre Augen glänzten.
Sie freut sich, dachte sie angewidert. Sie ist ganz scharf darauf, den Insassen dieses Kerkers zu quälen!
Plötzlich hoffte sie inständig, dass es nicht Harry war. Es mochte lächerlich sein, aber der Gedanke, Harry in der Gewalt dieser Frau zu wissen, machte ihr in diesem Augenblick fast noch mehr Angst als der Gedanke an Voldemort selbst.
Sie presste sich in eine Nische schräg gegenüber der Kerkertür, die der Todesser jetzt endlich aufgewuchtet hatte.
Zu ihrem fassungslosen Entsetzen gab das, was sie für eine feste Mauer gehalten hatte, mit einem Mal nach, und sie fiel einfach hindurch. Im letzten Moment konnte sie ihren Schrei ersticken, und dann schlug sie auch schon hart auf dem Steinboden auf.
Sekundenlang verharrte sie wie gelähmt, rechnete damit, dass jeden Moment Bellatrix' Gesicht oben in der schmalen Öffnung erscheinen würde, durch die sie gefallen war. Aber anscheinend hatte niemand ihren Sturz gehört oder gesehen. Der Raum, in dem sie sich befand, war still und auf den ersten Blick leer. Als sie sich vorsichtig bewegte und den Tarnumhang wieder fest um sich zog, stellte sie erleichtert fest, dass sie sich nichts gebrochen oder verstaucht hatte.
Irgendwie war es hier unten heller. Und kalt – sehr kalt. Sie sah sich um.
Es war ein runder Raum, in den von oben verblassendes Tageslicht einfiel. Sie blickte zur Decke auf. Aber da war keine. Stattdessen sah sie in eine Art Kamin hinauf, an dessen Ende – weit, weit oben – ein kleiner, kreisrunder Ausschnitt des Abendhimmels sichtbar war.
Die Wände dieses Kamins waren ganz mit tiefem Schwarz ausgekleidet, es erschien fast wie eine Polsterung aus Stoff. Oder – Federn? Der Anblick bereitete ihr ein Unbehagen, das sie nicht erklären konnte.
Sie stand auf. Da war etwas hinter ihr, neben der Stelle, an der sie aufgeprallt war. Sie erschrak, als sie erkannte, dass dort ein Körper lag. Er regte sich nicht, hatte ihren Aufschlag offenbar nicht bemerkt und war deshalb wahrscheinlich –
Hermione riskierte einen weiteren Schritt auf den Körper zu und fuhr dann entsetzt zurück. Der Mann war auf jeden Fall tot, und das schon länger. Die Kälte in diesem Raum musste ihn konserviert haben, denn sie konnte das eingeschrumpfte, fahle Gesicht noch erkennen. Auch ihn hatte sie damals im Ministerium gesehen. Der Tote, der dort mit zerschlagenen Knochen lag, war Rodolphus Lestrange. Hermione sah jetzt auch die Spuren von eingetrocknetem Blut, die zu ihm führten. Ob er durch die Kaminöffnung oben gefallen war? Und hatte sich dann mit letzter Kraft zur Wand geschleppt, vielleicht in der Hoffnung, zu einer Tür zu finden.
Sie schauderte. Es gab eine Tür, sie konnte sie auf der gegenüberliegenden Seite erkennen. Jetzt fiel ihr Blick zum ersten Mal auf die Mitte des Raums. Da war etwas in den Fußboden eingelassen.
Zögernd kam sie näher. Es war ein großes, rundes Becken, und sie beugte sich schließlich darüber.
Dunkles Wasser war darin. Darüber eine feine Eisschicht. Und unter dieser sah sie –
Sie zuckte zurück, schlug beide Hände vor den Mund, und so stand sie da, sekundenlang, keuchend, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. Dann kniete sie nieder und berührte die Eisschicht.
Es war Nevilles Gesicht, das sie darunter mit offenen Augen ansah. Schluchzend zerschlug sie das Eis und sah Nevilles Körper in tiefer Stille auf dem Rücken liegen. Das schwarze Wasser schwappte sacht über sein Gesicht, das von hässlichen Beulen entstellt war.
"Neville!", schluchzte sie und berührte seinen Arm.
"Noelle hat mich nicht geküsst, oder?", sagte er, wie aus einem Traum erwachend.
Hermione schrie auf und taumelte zurück. Über ihnen war ein Rascheln zu hören, aber in dem Moment kümmerte sie das nicht.
"Neville! Oh Neville, ich dachte, du bist tot!"
Sie legte einen Arm um ihn und zog ihn unter Aufbietung aller Kräfte aus dem seltsamen Brunnen.
Triefend fiel er neben ihr auf den Boden.
"Du hast unter dem Wasser gelegen! Da war sogar eine Eisschicht drüber!", rief sie, immer noch weinend.
"Ja. Das hab ich auch gemerkt. War komisch, weil ich gar nicht gefroren hab."
"Aber wie konntest du da denn atmen?"
"Keine Ahnung", sagte er hustend.
"Kannst du aufstehen? Warte, ich helf' dir!"
"Danke. Ist gut, wieder im Trockenen zu stehen!"
Mit einem neugierigen Blick studierte er seine weißen, etwas aufgedunsenen Hände. Die Haut war sehr schrumpelig.
"Dir scheint's aber gar nicht so schlecht zu gehen!", stellte Hermione überrascht fest.
Er sah sie nachdenklich an.
"Ich versteh's auch nicht. Sie haben mich hierher gebracht und da reingeworfen. Ich konnt' mich nicht bewegen, und ich bin fast gestorben vor Angst. Vor allem, als – als er dann hier war", schloss er flüsternd, und jetzt flackerte die Angst über sein Gesicht.
"Es stimmt also", flüsterte sie ebenso wie er, "das hier ist – sein Ort?"
Neville nickte. "Glaub schon. Er – er hat nichts zu mir gesagt. Hat mich nur angesehen. Aber als er wieder weg war – irgendwann war's wie Schlafen mit offenen Augen. Ich – ich fühl mich richtig ausgeschlafen!", sagte er und schien jetzt doch selbst überrascht.
Ein weiteres raschelndes Geräusch, weit über ihnen, lenkte seine Aufmerksamkeit ab.
"Wir müssen hier raus!", flüsterte er. "Solange die Wächter schlafen!"
"Welche Wächter? Was meinst du?", fragte sie angsterfüllt.
Neville zeigte nach oben. Sie folgte seinem Blick, aber sie konnte nichts außer den schwarzen Wänden dieses merkwürdigen Kamins erkennen.
Dann sah sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung.
"Schnell, komm jetzt! Sie wachen auf!"
"Wer denn?", fragte sie, während sie sich von ihm mitziehen ließ.
"Da oben! Siehst du sie denn nicht? Die Dementoren! Die – die hausen da, da an den Wänden!"
Und endlich erkannte sie, was es mit dieser schwarzen Auspolsterung der Schachtwände auf sich hatte –
Mühsam erstickte sie einen Aufschrei, packte Neville an einem seiner tropfnassen Ärmel und zog ihn unter dem Tarnumhang zu der Tür. Zitternd riss sie die Schreibfeder hervor und flüsterte: "Alohomora!"
Die Tür ging tatsächlich auf, und sie huschten hindurch. Hermione nahm sich die Zeit, sie mit einem Colloportus! zu verschließen, bevor sie weiterliefen.
Hinaus in die unheimlichen Gänge, aber vor allem weg, weg von den Dementoren! Dabei glaubte sie nicht daran, dass sie das noch retten konnte. Sie waren hier in den Kerkern eingesperrt, das war ihr klar, denn Bellatrix und der andere waren mit ihrem Gefangenen sicher längst fort.
Hermione geriet ins Rennen, und erst, als Neville zu keuchen begann, hielten sie schließlich an und blieben atemlos in einem Winkel stehen. Sie waren niemandem begegnet, nicht einmal einem dieser allgegenwärtigen Hauselfen.
"Das – das waren Dementoren?", fragte sie in einem Ton, den man nur als kreischendes Flüstern bezeichnen konnte.
"Ja, die haben mich doch nach hier gebracht!"
"Haben sie dir denn gar nichts getan? Ich meine – den Dementoren-Kuss – haben sie irgendwie versucht, dir das Hirn rauszusaugen?"
"Äh – ich weiß es nicht", sagte er ratlos. "Sie waren da. Viele. Und ich hab diese Kälte gefühlt. Aber mehr nicht. Ich glaub, sie haben mich in Ruhe gelassen."
Hermione starrte ihn fasziniert an. Das musste Harry unbedingt irgendwann einmal hören.
"Und was ist mit deinem Gesicht passiert?", fragte sie dann.
"Wieso?"
"Na, all die Beulen! Die musst du doch fühlen! Ich dachte, Madam Pomfrey hätte das Geschwür geöffnet!"
"Hat sie ja auch!"
Neville befingerte sein Gesicht. Hermione war kurz davor, die Geduld mit ihm zu verlieren.
"Da müssen noch welche von den Nistlingen drin geblieben sein", sagte sie. "Und die haben sich richtig schön verteilt."
Neville verzog das Gesicht.
Wäre Hermiones Denken nicht von Angst, von schierem Entsetzen und Schlaflosigkeit umnebelt gewesen, hätte sie sicher die Verbindung zwischen diesen beiden Phänomenen – Nevilles seltsamer Unbeschadetheit einerseits und seinen Nistlingsbeulen andererseits – hergestellt. So aber stand sie nur da, leicht schwankend unter dem Tarnumhang, der für sie beide einfach zu klein war, und versuchte, über ihre nächsten Schritte nachzudenken. Stattdessen fiel ihr die Nacht ein, in der sie und Harry unter diesem Tarnumhang in die von Mondlicht übergossene Landschaft hinausgelaufen waren –
Die Nacht, in der Harry und sie sich endlich geküsst hatten.
Die Nacht, die mit Lupins Tod geendet hatte –
Sie zwang sich zur Konzentration. Was sollten sie jetzt tun? Was konnten sie jetzt tun? Wie konnten sie auch nur aus den Kerkern herausfinden – wenn doch offenbar nur die Hauselfen selbständig hineingelangen konnten? Und wie sollten sie Voldemort jemals entkommen, in seiner eigenen Festung oder was immer das hier auch sein mochte?
Aber eigentlich wusste sie genau, dass sie ihm gar nicht entkommen würden, dass sie im Gegenteil hier waren, um ihm endlich gegenüberzutreten.
Harry war jedenfalls deshalb durch den Spiegel gegangen, so viel war ihr klar. Er musste irgendetwas entdeckt oder erkannt haben, das ihm zeigte, dass die Zeit reif war für diesen Weg. Irgendwo unterhalb ihres Denkens rätselte sie schon die ganze Zeit darüber, was der Auslöser gewesen sein mochte. Er hatte sie belogen mit etwas, das er während ihres letzten Gesprächs gesagt hatte. Irgendetwas –
"Ich will Harry finden", sagte sie schließlich leise.
"Klar", erwiderte Neville. "Und ich will – ihn finden. Und diese Frau! Die meine Eltern – du weißt schon –"
Hermione nickte.
"Sie ist hier. Ich weiß es", sagte Neville finster.
"Ja, ist sie. Ich hab sie eben noch gesehen. Ein Stockwerk höher, sozusagen. Im Moment ganz außer Reichweite, glaub ich", fügte sie schnell hinzu, als sie Nevilles alarmiertes Gesicht sah.
Dann standen sie schweigend nebeneinander, beide in düstere Gedanken versunken.
"Wie bist du eigentlich hierher gekommen, Hermione?", fragte Neville auf einmal. "Und was ist das für eine komische Feder, mit der du eben die Tür geöffnet hast? Eine Magische Waffe?"
"Ja. So ähnlich", sagte sie, und da war ihr, als erwache sie aus einem Traum.
Es war, als sei eine milchige, verzerrende Linse vor ihren Augen weggenommen worden. Die Dinge hatten plötzlich wieder klare Konturen. Sie sah vor sich den schmuddeligen Kerkergang mit dem Rattendreck in den Ecken, die Treppe, die sich ganz hinten abzeichnete. Sie sah den beuligen Neville neben sich.
Mit einem Mal konnte sie auch die Umrisse der Aufgabe erkennen, die sie hier zu erfüllen hatte.
oooOOOooo
Draco Malfoys Stimme war längst verstummt; vermutlich hatte ihn der Auftritt einen großen Teil seiner Kraft gekostet, denn er saß jetzt schon eine ganze Weile reglos und stumm in einer Ecke seines Käfigs.
Snape hatte lange versucht, die Handschellen, von denen eine überraschend aufgesprungen war, als die Lestrange seinen Käfig ins Wasser hatte stürzen lassen, auch von seinem linken Handgelenk zu lösen, aber es blieb vergeblich. Inzwischen waren seine Kleider getrocknet, und es war genug Zeit gewesen, um das lästige Zittern in den Händen loszuwerden. Eigentlich war es beinahe eine Erleichterung, dass die Fronten jetzt zumindest etwas klarer waren. Das machte es jedenfalls leichter, mit gewissen Dingen abzuschließen und den Kopf für das Wesentliche freizubekommen.
Er schloss die Augen und begann nachzudenken.
Also ein Trank war es gewesen, da in der Höhle. So etwas hatte er schon vermutet. Sehr schlaue Idee. Wahrscheinlich mit einem Sperrzauber gesichert, so dass er nur durch Trinken geleert werden konnte. Und das Medaillon – doch sicher dasselbe, das Voldemort damals der Benson vom Hals gerissen hatte – das hatte er vermutlich in diesen Trank gelegt. Wirklich, eine schlaue Falle. Tödlich sicher, wenn der Gegner nur fest genug entschlossen war, an das Ding heranzukommen.
Aber dann hatte Dumbledore ihm doch noch einen Strich durch die Rechnung gemacht. Höchstwahrscheinlich hatte er Potter mitgenommen – und Voldemort hatte ein weiteres Mal den Fehler gemacht, den Jungen nicht ausreichend in Betracht zu ziehen. Den Jungen und seine Loyalität. Und sein unverschämtes Glück, natürlich.
Er fragte sich, ob Dumbledore vorher gewusst hatte, was es mit diesem Trank auf sich hatte. Er hätte es gern geglaubt, aber das Bild von Dumbledore, wie er begriff – begriff, während er trank – dieses Bild, das ihn schaudern ließ, hielt seine Vorstellungskraft hartnäckig gefangen.
Und es blieb natürlich die Frage, was mit dem Medaillon dann geschehen war. Konnte es sein, dass Potter es jetzt hatte? Oder hatte die Harper auch da ihre Finger im Spiel? Ein gewisses Interesse daran durfte man bei ihr voraussetzen. Und schließlich hatte sie, wenn man ihr glaubte, Potter als Letzte gesehen. Er war durch den Spiegel in ihrem Büro gegangen. Und da Voldemort diese Information zufrieden gestellt hatte, war wohl anzunehmen, dass dieser Spiegel ihn auf irgendeine Weise hierher bringen würde. Direkt in die Falle. Blieb zu hoffen, dass Potter wenigstens wusste, was er tat.
Snape versuchte, die Bewegungen unten im Wassergraben – vielleicht einen halben Meter unterhalb des Käfigbodens – zu ignorieren. Der Anblick machte ihn wieder auf den Schmerz in seinem linken Arm aufmerksam, wo ihn einer der Inferi verletzt hatte. Egal jetzt. Er konzentrierte sich wieder auf die drei Personen, von denen das weitere Geschehen abhing. Voldemort. Harper. Und natürlich – Potter.
Hekate Harper – die brütete jetzt irgendwo in der Festung zusammen mit Voldemort über dem Zaubertext, der im Moment seine, Snapes, Lebensversicherung für die nächsten Stunden, vielleicht einen weiteren Tag darstellte. Er glaubte zu wissen, was Voldemort mit Potter vorhatte, und fragte sich zum ungezählten Mal, ob dem das Glück auch diesmal wieder so hilfreich wie üblich zur Seite gestanden hatte, so dass ihm alles Notwendige in die Finger gefallen war.
Dieses Warten! Nichts mehr tun zu können, als hier in der stinkenden Dunkelheit zu sitzen und zu warten!
Snape lehnte den Kopf an das Käfiggitter. Der Durst begann ihn zu quälen, und er merkte, wie er allmählich das Zeitgefühl verlor.
Irgendwann war der Durst dann überwältigend geworden, und er hatte sich überwunden und hastig eine Handvoll Wasser aus dem Graben geschöpft. Nachdem er es getrunken und das meiste davon unter Dracos höhnischen Kommentaren wieder von sich gegeben hatte, dämmerte er eine Weile vor sich hin, während seine Gedanken sich zunehmend verwirrten und in grelle, unverständliche Träume übergingen.
"Mutter! Mutter – jetzt sag doch was!"
Er schreckte auf, als er Malfoys Stimme immer drängender sprechen hörte.
Es wurde wieder dunkel hinter dem schmalen Luftschacht hoch oben in der Mauer.
"Was ist mit deiner Mutter, Draco?", fragte er schließlich.
"Was geht Sie das an?"
"Wann hat sie zuletzt etwas getrunken? Sie muss trinken!"
"Denken Sie, das weiß ich nicht? Sie nimmt aber nichts!
"Wenn du willst, dass sie die nächsten Tage überlebt, musst du sie zum Trinken bringen, Draco! Flöße es ihr ein!"
"Verdammt! Wenn Sie so oberschlau sind, versuchen Sie es doch mal! Sie haben es doch vorhin selbst wieder ausgekotzt!"
Snape durchsuchte noch einmal seine Taschen. Die Handschelle, die immer noch um sein Handgelenk hing, machte das nicht gerade leichter. Endlich hatte er gefunden, was er suchte.
"Hier, nimm eine davon und zerteile sie. Gib sie ihr, sie soll sie kauen. Nicht mehr als eine halbe!"
"Behalten Sie Ihr Gift, Mann! Sie glauben doch wohl nicht, dass ich meiner Mutter was gebe, das von Ihnen kommt!"
"Sei vernünftig, Draco! Das ist kein Gift, jedenfalls nicht in dieser Dosierung! Es wird ihr helfen. Ich werfe es rüber, fang es auf!"
"Ich hab gesagt, behalten Sie's!"
"Draco – nicht!", mischte sich da überraschend Narcissa selbst ein. Ihre Stimme war kaum hörbar, aber beide Männer fuhren zusammen.
"Du solltest was trinken, Mutter", sagte Draco heiser.
"Severus, bist du das? Bist du noch hier?"
"Ja. Und ich gebe Draco Recht. Du musst trinken, Narcissa."
"Hat er dich auch eingesperrt? Warum?"
"Das ist nicht so wichtig. Ich werfe Draco jetzt einige Nistlingsbeeren zu, er soll eine zerteilen, und du zerkaust die Hälfte. Danach wird es dir besser gehen, und du kannst etwas trinken."
"Ich mach das –"
"Still, Draco, tu, was er sagt. Er weiß, was er tut."
"Oh ja, daran zweifle ich ja auch gar nicht", sagte Draco zynisch.
"Jetzt tu endlich, was wir dir sagen", sagte Snape kalt. "Benimm dich nicht wie ein bockiges Kind."
"Mutter – er hat – er hat Vater umgebracht! Er hat's selbst zugegeben!" Dracos Stimme überschlug sich fast.
"Ich habe es gehört", flüsterte Narcissa. "Hat Lucius – hat er gelitten, Severus?"
"Nein – soweit man so was sagen kann", antwortete Snape leise.
"Und das ist nicht besonders viel, wenn man selbst noch nicht gestorben ist, oder?" Draco stand wieder gebeugt an der Seite des Käfigs, die Snape zugewandt war. Seine Augen waren voller Hass. "Also, dann werfen Sie Ihr Zeug schon rüber, Mann!"
Snape tat es, und im dritten Anlauf gelang es Draco, zwei der kleinen Beeren aufzufangen.
"Nur eine halbe, Draco! Sie sind extrem stark, vor allem im getrockneten Zustand."
"Die fühlen sich nicht gerade trocken an!"
"Ja, weil sie zusammen mit mir in den Graben gefallen sind", erwiderte Snape säuerlich. "Und beim nächsten Mal solltest du besser fangen. Du hast fast meinen gesamten Vorrat ins Wasser fallen lassen."
Draco gab seiner Mutter eine sorgfältig zerteilte Nistlingsbeere.
"Draco, hatte dein Vater jemals einen kleinen Pokal in seinem Geheimversteck in Verwahrung, golden, mit eingraviertem Dachs?"
"Das sag ich Ihnen doch nicht!"
"Es ist wichtig, versuch dich zu erinnern!"
"Warum sollte ich Ihnen helfen, Mann? Und wieso sollte das für Sie noch wichtig sein? Sehen Sie sich doch mal an, wo Sie gelandet sind! Ihre Zeiten als Voldemorts Günstling sind ja wohl vorbei! Und die als Schülerschinder sowieso", sagte Draco höhnisch.
"Ich denke, ich komme auf jeden Fall noch einmal für eine Weile hier raus – oder ich müsste mich sehr irren –"
"Schön, dass Sie noch Hoffnung haben!"
"Die hast du auch noch, sonst lägst du längst am Boden und würdest dich weigern zu trinken, so wie sie", sagte Snape kühl. "Nicht mit dem Untergang kokettieren, Draco! Das ist was für kleine Mädchen. Also, hatte dein Vater nun diesen Pokal oder nicht?"
Draco schwieg.
"Ja, Severus. Den hatte er", meldete sich stattdessen Narcissas krächzende Stimme. "Übrigens fühle ich mich wirklich etwas besser."
"Warum hilfst du ihm noch, Mutter?", fuhr Draco auf. "Was weißt du, was der für dunkle Pläne hat? Ob er hier nicht auch zum Ausspionieren ist?"
"Sehr gut, Draco, du lernst also doch noch dazu", sagte Snape spöttisch. "Weißt du, was aus dem Pokal geworden ist?"
"Bellatrix hat ihn vor einigen Wochen abgeholt. Sie – sie hat gesagt, er wolle ihn zurückhaben. Ich konnte sie nicht hindern, ihn mitzunehmen. Natürlich nicht."
Dann war seine Vermutung also wohl richtig.
oooOOOooo
Sie hörten die Schritte und Stimmen erst unmittelbar bevor die schwere Kerkertür aufgewuchtet wurde. Bellatrix Lestrange und Nott kamen herein. Das Licht ihrer Zauberstäbe, so schwach es auch war, blendete ihre Augen.
"Achte auf deine Gesundheit, Draco", sagte Snape leise.
"Soll das ein Abschied sein?", fragte Draco höhnisch zurück.
"Ganz recht. Und pass auf deine Mutter auf."
In diesem Moment hatten die beiden Todesser die Winde erreicht, mit der man die Käfige der Gefangenen vom Graben weg auf den festen Boden herüberkurbeln konnte.
"Raus da! Der Herr will dich sehen! Und ich warne dich, du solltest dich jetzt lieber höflich benehmen!", sagte Bellatrix, während Nott Snapes Käfig an der Kette zum Felsboden des Kerkers herüberzog. Snape fiel auf, dass sie ein ziemlich prunkvolles und gewagt ausgeschnittenes Kleid trug – ein seltsamer Anblick hier.
Sie fesselte ihm die Hände wieder zusammen.
"Tja, Severus – so schnell kann es gehen, was? Der Prinz ist schließlich doch noch im Kerker gelandet", spottete sie. "Und so gefällst du mir besser. Entspricht deinem wahren Selbst viel mehr." Sie lachte. "Für mich bist du immer der feige kleine Schisser geblieben, der sich nicht mehr auf seinen Besen getraut hat, nachdem er einmal abgeworfen wurde!"
"Während du nach wie vor alles reitest, was dich nicht schnell genug abwerfen kann, nicht wahr, Bellatrix?", erwiderte er sarkastisch und ließ seinen Blick vielsagend über ihre Aufmachung gleiten.
Er sah den dunklen Hass in ihren Augen auflodern, als sie zuschlug.
"Hüte deine Zunge, Snape!", giftete sie.
"Aber unbedingt, Bella", murmelte er, während er sich mühsam auf den Füßen hielt.
Als er zurückblickte in die Düsternis des Kerkers, sah er Draco, der am Gitter des Käfigs stand und mit brennenden Augen seine Tante betrachtete, die ihn nicht einmal wahrzunehmen schien.
oooOOOooo
Und dann ging es wieder hinauf, hinauf, hinauf. Hinauf bis zu dem Zimmer, das wie eine gläserne Blüte auf dem schlanken Turm ruhte, zu dem Zimmer, in dem Magie nicht angewendet werden konnte.
Es war, als hätte er den Raum eben erst verlassen. Er sah Harper vor der Wand aus Glas stehen, hinter der die Abenddämmerung allmählich in Dunkelheit überging. Auf dem Tisch lagen immer noch die von dem Siegel beschrifteten Pergamente. Und da war Voldemort. Er stand neben dem Schreibtisch und hielt einen der Bögen in der Hand, als Snape hereingeführt wurde.
"Du hattest Zeit, dich auf die Entschlüsselung zu besinnen", sagte Voldemort kalt. "Hier ist eine Feder. Setz dich und schreib mir den entschlüsselten aramäischen Text und die Übersetzung auf."
Snape warf Harper einen Blick zu. Sie stand reglos da und schaffte es, völlig unbeteiligt auszusehen. Mit großem Interesse stellte er fest, dass sich die Haut um die Brandwunden in ihrem Gesicht zu verfärben begann.
"Setz dich", zischte Voldemort, und Snape wurde grob weiter gestoßen und fand sich neben dem Stuhl wieder.
"Du hast eine Stunde. Danach verlierst du die linke Hand, mein Freund. Danach hast du eine weitere Stunde, bis du einen Fuß loswirst. Ich hoffe, du hast das Schema begriffen."
"Ja, Herr", antwortete Snape leise und setzte sich.
"Gut. Denn du wirst mir diesen Text geben, und wenn von dir nichts mehr außer deinem Kopf und deinem rechten Arm übrig bleiben sollte!"
Er wandte sich Harper zu.
"Hekate! Sieh zu, dass er bei der Sache bleibt. Und lass dich nicht verwirren, wenn er sich zu Hetzreden gegen mich aufschwingen sollte", sagte er drohend und mehr an Snape als an Harper gerichtet. "Oh ja, mein Freund, natürlich weiß ich Bescheid! Glaubst du wirklich, du könntest mich in meiner eigenen Festung hintergehen? Eine Stunde, Snape!"
Dann verließ er den Raum, der umständlich wieder abgesperrt wurde. Sie hörten die Stimmen und Schritte ihrer Bewacher draußen auf der Wendeltreppe.
Snape griff zur Feder. Es war wohl Absicht, dass niemand seine Handfesseln geöffnet hatte. Es würde kein Vergnügen sein, so schreiben zu müssen.
Sie hätte es herauskriegen müssen, dachte er. So schwierig war es nicht. Selbst, wenn er ihr die Zeichen einzeln vorlesen musste – in all der Zeit hätte sie es schaffen müssen.
"Keinen Erfolg gehabt?", fragte er spöttisch.
"Treiben Sie's nicht zu weit, Professor", erwiderte Harper. "Meinen Sie nicht, Sie haben hoch genug gepokert?"
Blieb außerdem die Frage, wieso Voldemort nicht selbst –
Er begann schweigend, den Text nach dem Schlüsselwort, das er bereits am Morgen vermutet hatte, aufzulösen, und stellte mit großer Erleichterung fest, dass sich der krause Buchstabensalat zu einem geordneten, lesbaren Text gruppieren ließ. Und endlich hatte er den klaren Beweis dafür vor sich liegen, dass er Recht gehabt hatte mit seiner Vermutung. Er wusste nun mit Sicherheit, was Voldemort plante.
"Ist Potter schon angekommen?", fragte er schließlich.
"Sie sollten wirklich weitermachen, Severus", sagte Harper ernst.
"Wie Sie meinen. Vielleicht gelingt es mir ja, die ursprüngliche Versform angemessen wiederzugeben –", murmelte er.
Hekate Harper konnte nicht anders, sie lachte laut auf.
Snape sah sie überrascht an. Dann senkte er den Blick wieder auf seinen Pergamentbogen.
Die haben das natürlich längst selbst entschlüsselt, dachte er auf einmal mit einem Anflug von Panik. Das hier ist ein Test – oder doch so eine Art Gegenprobe. Oder hat sie es rausbekommen – und diese Tatsache für sich behalten? Konnte es sein, dass sie das gewagt hatte?
Aber wie auch immer, er hatte ohnehin nicht vor, in dieser Sache ein falsches Spiel zu treiben.
Und natürlich hatte er nicht mehr viel zu verlieren. Noch einmal musterte er aufmerksam die Brandwunden in Harpers Gesicht. Ja. Die Haut dort schien zu verdorren. Er hatte so etwas schon einmal gesehen.
Das änderte einiges –
Wenn er nur etwas über ihre Motivation gewusst hätte!
"Sie sollten sich übrigens nicht noch mal mit – äh – Dumbledores kleinen Geräten befassen. Das könnte dann leicht das Letzte sein, das Sie tun", sagte er leise. "Soweit ich weiß, ist gegen diese Art von Verletzungen nur ein einziges Heilmittel bekannt. Und auch das stoppt nur den Prozess, macht ihn aber nicht rückgängig. Sie finden das Mittel übrigens hier in diesen Aufzeichnungen. Ich kenne es zufällig seit vielen Jahren."
Er blätterte durch die Pergamentbögen, während Harper reglos zugehört hatte.
"Manchmal ist ein solches Risiko eben unumgänglich", sagte sie schließlich ebenso leise wie er. "Und was das Mittel angeht – ich werde es wohl kaum herstellen können."
"Es gab eine ganze Reihe davon. Von diesen kleinen – Instrumenten, meine ich. Nach meiner Schätzung sind jetzt aber nur noch zwei unbeschädigt", sagte Snape leichthin.
"Ich finde es sehr interessant, dass Sie mir das mitteilen."
"Wie Sie schon sagten – manchmal muss man eben ein Risiko eingehen", sagte er und fügte mit der Andeutung eines Lächelns hinzu, "Und das wird umso leichter, je weniger man zu verlieren hat."
"Sie sollten sich jetzt wieder um Ihre Verse kümmern, Severus", sagte sie, und in ihrer Stimme schwang ein Unterton von Bedauern mit.
"Üben Sie eigentlich noch immer Ihr altes Hobby aus?", fragte er.
"Gelegentlich. Wenn es sich nicht vermeiden lässt."
"Sollten Sie in nächster Zeit einmal ein Museum besichtigen – es gibt da ein Objekt, das Ihre Aufmerksamkeit verdient", sagte Snape, während er über sein Pergament gebeugt dasaß und winzige Buchstaben darauf kritzelte. "Sie erkennen es an der interessanten Tierdarstellung, die darauf eingraviert ist."
"Ich werde die Augen offen halten", sagte sie spöttisch.
"Verdammt", fluchte er. "Ich hatte es tatsächlich vergessen – für einen Moment –"
"Ich werde trotzdem darauf achten. Augen sind nicht alles bei dieser – Tätigkeit."
Dann herrschte eine Weile Schweigen.
Snape fragte sich, wie viel die Wachen, die zweifellos draußen vor der Tür postiert waren, von ihrem Gespräch mithören konnten. Und was sie davon verstehen würden.
"Sie sind fertig damit, oder?", fragte Harper schließlich, als sie das Kratzen der Feder eine Weile nicht mehr gehört hatte.
"Ja."
"Würden Sie es mir vorlesen?"
Er schwieg einen Moment. Sie will überprüfen, ob ich zu derselben Lösung gekommen bin wie sie, dachte er.
"Wenn Sie meinen", sagte er dann. "Also: Der Zauber nennt sich einfach Übergang. Der Text lautet ungefähr:
"Blut vom eignen Blute, nimm auf den Geist
der in gebrechlicher Hülle haust!
Biete Wohnung ihm voll Ehrfurcht
Wissen und Weisheit des Alters empfange dafür.
Reiche sie weiter, bereichert durch dich selbst
von Generation zu Generation."
"Das klingt eigentlich nach einem ganz sinnvollen Arrangement", sagte Harper schließlich. "Wenn man sich nicht auf Bücher und Bibliotheken verlassen will, heißt das."
"Es ist eine geistige Vergewaltigung", erwiderte Snape kalt.
"Natürlich. In letzter Konsequenz ist es das", sagte sie langsam. Unbewusst strich sie mit der Hand über eine der verletzten Stellen in ihrem Gesicht. "Wissen Sie, Snape, ich bewundere Ihren Mut zur – Leidenschaft", sagte sie dann ganz unerwartet. "Ihr Hass, Ihr Wille zur persönlichen Freiheit, ja, sogar Ihre Ressentiments – Sie rennen gern mit dem Kopf gegen Mauern, oder?"
"Was soll das?"
"Es ist nur so, dass Sie mich überrascht haben. Ich hatte etwas anderes erwartet", sagte sie nachdenklich. "Ich selbst hatte diesen Mut übrigens nie. Den Mut zur Leidenschaft – und noch viel weniger zur Liebe zu irgendetwas – Vergänglichem."
"Glauben Sie mir, die menschliche Komödie verfolgt man besser als Zuschauer", erwiderte er sarkastisch.
Gleichzeitig hörten sie die Stimmen draußen vor der Tür.
"Wie es scheint, ist Ihre Stunde um", sagte Harper. "Ich hoffe, Sie haben Ihr Blatt tatsächlich so gut gespielt, wie Sie vorgeben!"
Da wurde die Tür auch schon geöffnet, und Voldemort trat ein. Nott und Avery flankierten den Ausgang hinter ihm.
Voldemort kam mit schnellen Schritten zum Schreibtisch, blieb neben Snape stehen und streckte wortlos die Hand aus. Snape gab ihm den Pergamentbogen, an dem er gearbeitet hatte.
Er nahm es und überflog es.
"Sehr schön, mein Freund. Diesmal hast du also nicht versucht, mich zu betrügen. Oder vielleicht hast du auch einfach die Zwecklosigkeit dieser Absicht erkannt?"
Seine Augen glühten auf, als er den Text noch einmal las.
"Blut vom eignen Blute!", sagte er mit einem unheimlichen Lächeln. "Ja, ich ahnte schon lange, dass es darauf hinauslaufen würde! Leider gibt das deinem Schicksal nun eine endgültige Wendung, mein Freund. Deine letzte Rolle wird weniger umfangreich und bedeutsam ausfallen, als ich es einmal geplant hatte."
"Natürlich muss der Zauberspruch auf Aramäisch gesprochen werden", sagte Snape, als hätte er Voldemorts Worte gar nicht gehört.
"Versuchst du wieder, deinen Herrn zu belehren, Schulmeister?", fragte Voldemort spöttisch. "Falsch, Severus, ganz falsch! Denn heute werde ich dich etwas lehren!"
Er winkte Nott mit einer kleinen Handbewegung herbei.
"Fessle ihm die Hände wieder auf den Rücken und bring ihn nach unten", sagte er und wandte sich dann an Harper. "Hekate, Avery wird dich in dein Zimmer führen. Folgt dem Hauself!"
"Ja, Herr", sagte sie.
Avery kam zögernd näher und nahm mit sichtlichem Widerstreben ihren Arm, um sie zu führen.
Währenddessen hatte Nott Snapes Hände befreit und sie dann auf dem Rücken erneut gefesselt.
"Gar kein Fluchtversuch, Snape?", fragte er höhnisch, als er ihn mit offenkundigem Vergnügen die steile Wendeltreppe hinunter vor sich her stieß. "Beinahe schade!"
Snape hatte längst bemerkt, wie sehr es Voldemort zuwider war, jemanden zu berühren oder sich gar auf ein Handgemenge einzulassen – und dazu hätte es in dem Raum, in dem Magie unmöglich war, ja vielleicht kommen können. So stolperte er also vor Nott her und wartete unten mit ihm zusammen darauf, dass Voldemort ihn wieder in Empfang nahm. Hier, wo er ihn wieder mit dem Zauberstab in Schach halten konnte.
Es war inzwischen ganz dunkel geworden, und hoch über der Goldenen Festung konnte er in den Abgründen zwischen den Wolkenbänken tatsächlich ein paar Sterne im Nachthimmel sehen. Fremde Welten, denen es gleichgültig war, was hier geschah. Die Nachtluft war sehr kalt.
"Genug, Nott, du kannst gehen. Er wird mich begleiten. Ich habe eine ganz besondere Zelle für ihn", sagte Voldemort, als er im Dunkel vor ihnen auftauchte. "Los, Snape."
Und was hätte er tun sollen? Ohne Zauberstab, die Hände auf dem Rücken gefesselt – in einer Festung, in der sich die Räume beständig veränderten, so dass niemand die Orientierung wahren konnte?
Er ging also neben Voldemort her und folgte ihm durch stille Höfe. Im Vorbeigehen hörte er einmal das Wasser des Springbrunnens fallen – selbst das ein eintöniger Laut ohne Leben und Heiterkeit. Er atmete dankbar die frische Luft, solange er es noch konnte, und versuchte nicht darüber nachzudenken, was ihn nun erwartete. Nicht der Tod, noch nicht, da war er sicher. Aber auf einmal schien ihm das ein geringer Trost zu sein.
Als sie eben die Mauer, die den tropischen Garten umgab, hinter sich lassen wollten, blieb Voldemort auf einmal stehen. Er griff hinauf in die Büschel von Pflanzen, die sich über die Mauer drängen wollten, und pflückte eine Blüte, die in der Dunkelheit schimmerte.
Es war eine Lilie. Er hob sie lässig, als wolle er ihre Schönheit betrachten. Aber über die weiße Blüte hinweg blickten seine Augen mit kaltem Triumph Snape gerade ins Gesicht.
"Was immer du noch vor mir verbirgst, Snape – sei versichert, ich werde es erfahren! Du wirst es gegen die tauben Wände anschreien, bevor ich mit dir fertig bin! Wurmschwanz mag ein unzulänglicher Diener sein, aber er war immer ein guter Beobachter. Ich habe seine Erinnerungen viele Male durchstreift und dabei hier und da Hinweise aufgelesen, deren volle Bedeutung ich möglicherweise nicht sofort erkannt habe", sagte er und musterte Snape voll Spott, in den sich jedoch auch eine Spur Neugier mischte. "Kann es wirklich sein, dass eine so zarte Blume dich gebrochen hat, mein Prinz?"
Und er schloss seine Faust um die Blüte und ließ die weißen Blätter durch seine fahlen, klauenartigen Finger zu Boden fallen. Dort lagen sie, beraubt aller Schönheit und Lebenskraft. Aber Snape schien es, dass sie in Anmut gefallen waren, in einer Anmut, der bloße Grausamkeit nichts anzuhaben vermochte.
"Warum, Snape? Auch du bist ein Meister deiner Kunst, und ich hätte vielleicht noch weitere Aufgaben für dich gehabt – möglicherweise. Warum hast du deine Macht nicht genutzt?"
Snapes Blick ruhte immer noch auf der zerfetzten Blüte, die auf dem dunklen Boden zwischen ihnen lag. Er blieb die Antwort schuldig.
Voldemort machte eine ungeduldige Handbewegung.
"Ich werde es herausfinden", sagte er leichthin und setzte seinen Weg fort.
Es ging wieder hinauf, zuerst über die Außentreppen, dann führte der Weg zurück ins Innere der Festung, wo ihm erneut die Anzeichen des Verfalls auffielen, insbesondere in einem der ehemals prächtig ausgestatteten Korridore, in dem sämtliche Spiegel, die die Wände bedeckten, gesprungen waren. Wenn Voldemort es wahrnahm, so interessierte es ihn jedenfalls nicht weiter.
Schließlich öffnete er eine Tür, und zu Snapes verzweifeltem Erstaunen fand er sich in eben dem Museum wieder, auf das er vor weniger als einer halben Stunde noch Harper hatte aufmerksam machen wollen. Mit langen Schritten ging Voldemort durch die grausige Ausstellung seiner Taten und öffnete dann den kleineren Raum dahinter, in dem sich seine ganz eigene Sammlung von Objekten befand. Die er inzwischen ohne Zweifel durch das Siegel des Siebten bereichert hatte.
Da war der Pokal – so nah! Snape versuchte, die hilflose Verzweiflung, die ihn angesichts des Horcruxes – möglicherweise des letzten, das Voldemort tatsächlich noch in der Hand hatte! – erfasste, nicht nach außen dringen zu lassen.
"Komm schon!", sagte Voldemort kalt. "Von hier gibt es kein Entkommen mehr für dich."
Dann berührte er mit dem Zauberstab die hintere Wand dieses Tresorraums. Eine schmale Tür wurde sichtbar. Als sie sich öffnete, war dahinter nur tiefe Dunkelheit.
"Dein Privatgemach, Snape. Das letzte, das du je brauchen wirst! Bis zu deinem letzten Auftritt morgen bist du hier gut untergebracht."
Er winkte mit der Hand, die grausame Parodie einer Einladung.
Snape machte ein paar zögernde Schritte. Er konnte nichts außer Schwärze erkennen. Aber da waren Geräusche – Stimmen –
Eine namenlose Angst stieg in ihm auf. Etwas ging von dieser geöffneten Tür aus, das ihn im tiefsten Innern packte; weit unterhalb aller Denkfähigkeit griff die Angst nach seinen Instinkten.
"Du hast also doch Angst, Severus", sagte Voldemort leise. "Ich habe es gewusst. Komm! Du kannst noch viel über dich und deine Ängste erfahren!"
Snape fühlte sich vorwärts gestoßen, obwohl sein Hirn, sein ganzer Körper nur nach Flucht schrie. Als er in der Türöffnung stand, verweigerten seine Füße jeden weiteren Schritt. Er wandte sich zu Voldemort um, der ihn mit rot glimmenden Augen beobachtete.
"Bitte!", sagte er tonlos und mit tauben Lippen.
"Geh!", sagte Voldemort.
Snape stürzte über die Schwelle ins Bodenlose.
Voldemort schloss die Tür. Dann verschwand er.
oooOOOooo
In einem Saal viele Stockwerke höher wellte sich der Mosaikboden wie die Oberfläche eines Teiches, als Voldemort aus ihm heraus Gestalt anzunehmen schien.
Es war ein überhoher Saal, dessen Decke sich zu einander überkreuzenden Spitzbögen wölbte. Seine eine Seite bestand ganz aus riesigen Bogenfenstern, hinter denen die Nacht eben langsam einer blassen Dämmerung wich.
Voldemort durchschritt den Saal und blieb vor den Fenstern stehen. Dann blickte er reglos zur gegenüberliegenden Wand hinüber, in der sich schimmernd eine gläserne Tür abzeichnete. Im Dämmerlicht wirkte sie beinahe wie ein großer Spiegel.
