Kapitel 26
Tabula Rasa
"Willkommen in der Goldenen Festung", sagte die Schattengestalt vor den hohen, von diffusem Licht erfüllten Fensterbögen und schwenkte den Zauberstab in einer weit ausgreifenden, theatralischen Geste.
Harrys Zauberstab schwebte in einem sanften Bogen durch die Luft und landete in Voldemorts anderer Hand.
Harry fühlte sich, als wäre ihm der Boden unter den Füßen weggerissen worden.
Das war's! dachte er panisch. Ich Idiot! Ich hab alles verdorben!
Gekonnt täuschen, wenn der Schnatz ins Blickfeld kommt – der Gedanke flatterte noch durch Harrys Hirn wie ein flügellahmer Vogel.
"Da ist er endlich: Harry Potter – der Erbe von Slytherin! Und er träumt von Quidditch – ist das alles, was dir einfällt, hier, in meinem Thronsaal? Deine Tage als Sucher liegen hinter dir, denke ich."
Harry war zurückgewichen, ohne den Blick von Voldemorts Gestalt zu nehmen.
"Ich habe dich erwartet", sagte Voldemort und kam langsam auf ihn zu. "Sicher hast du Verständnis dafür, dass ich deinen Zauberstab vorerst in Verwahrung nehmen muss."
Vorerst, dachte Harry panisch und verwirrt. Wovon redet er?
"Denn natürlich ist mir klar, wozu du hergekommen bist."
Voldemort stand nun vor ihm und betrachtete ihn mit einem Ausdruck, der wohl ein Lächeln sein sollte. Harry überlief es kalt.
"Ich bin überzeugt, Harry Potter, dass wir alle alten Missverständnisse zwischen uns klären werden. Bis dahin ist dein Zauberstab gut bei mir aufgehoben."
"Niemals", sagte Harry und konnte nicht verhindern, dass seine Stimme krächzte.
Hatte er denn wirklich gedacht, es würde so einfach sein? Einfach hereinmarschieren, seinen Spruch aufsagen und –
Aber jetzt – was sollte er jetzt tun?
"Du bist noch sehr jung, Harry", sagte Voldemort nachsichtig. "Du wirst noch lernen, dass sich die Dinge bisweilen ändern. Alle Dinge."
Noch immer dieses kalte Lächeln auf den unbeschreiblichen Zügen. Wie ein uraltes Reptil sah er aus. Verlebt, verbraucht, unendlich bösartig zugleich.
Eine Parodie auf ein menschliches Gesicht. Nichts mehr, was an den Tom Riddle erinnerte, der er einmal gewesen war.
War von diesem schon eine unterschwellige Bedrohung ausgegangen, so war das, was jetzt hier vor ihm stand, eine Gestalt aus einem Albtraum. Harry fühlte nach langer Zeit zum ersten Mal wieder seine Narbe, sie lag wie eine Zeichnung aus Eis auf seiner Stirn.
"Was wollen Sie von mir?", stammelte er atemlos.
Wenn doch nur Dumbledore hier gewesen wäre, bei ihm! Wie sollte er diesem Ungeheuer allein entgegentreten?
"Das ist die richtige Frage", sagte Voldemort und wandte sich um.
Sein Umhang – Harry sah jetzt, dass es ein vermutlich sehr kostbares Stück aus goldenem Brokat war – wehte mit langsamen Bewegungen hinter ihm, als er auf die Fensterwand des Saales zuging. Und da war auf einmal ein Thron zu sehen, ein breiter Sessel in Gold und Blutrot mit einer hohen, reich verzierten Lehne. Er stand auf einem Podest, zu dem mehrere Treppenstufen hinaufführten. Die Treppe war, wie das Podest selbst, aus schwarzem Stein.
Harrys Kehle war wie zugeschnürt, als er sah, wie Voldemort hinaufstieg und auf dem Sessel Platz nahm.
"Komm her", sagte er mit seiner leblosen Stimme.
Harrys Füße setzten sich wie von selbst in Bewegung und machten leise Geräusche auf dem Boden, der aus zahllosen geschliffenen Steinchen zusammengesetzt war – Schwarz, Weiß und Rot – und auf den man nicht lange blicken konnte, weil dann die Sicht verschwamm.
Mechanisch griff er nach seiner Brille und wischte darüber. Natürlich änderte das nichts. Er sah zu den riesigen Fenstern auf, in deren Bögen der Tag heraufdämmerte und den dunklen Thron davor mit einem bleichen Glanz umgab.
"Bleib da stehen", sagte Voldemort, und Harry sah, wie sich auf einmal der Boden neben ihm aufstülpte und sich etwas mit schlangenhaften Bewegungen herauswand. Wie betäubt sah er zu, wie da ein Becken aus glattem, nachtschwarzem Stein Gestalt annahm, ein Becken, das er aus dem Tagebuch von Regulus Black zu kennen glaubte.
"Was ich von dir will, Harry, war deine Frage. Nun, lass mich dir erst selbst eine Frage stellen. Ist dir eigentlich bewusst, welch großes Erbe du in dir trägst?"
"Sie meinen – meine Mutter –", murmelte Harry.
"Ja, ich meine deine Mutter! Die in direkter Linie von Salazar Slytherin abstammte. Eine Linie, der auch ich selbst entstamme."
"Ja", sagte Harry leise. "Ich weiß."
Der Gedanke durchzuckte ihn, dass das auch auf Tante Petunia und Dudley zutraf. Das war ihm mit allen Konsequenzen erst richtig bewusst geworden, als er die beiden in jenem Traum-Raum im Spiegelweg gesehen hatte.
"Und auch das Blut eines anderen großen Magiers fließt in dir. Weißt du auch das?"
Harry nickte. Überrascht sah er, dass Voldemort auf einmal ein Schwert in den Händen hielt.
"Das hier ist Godrics Schwert. Es gehört dir, seinem Erben, der in sich Gryffindor und Slytherin vereint! Ein gelungener Scherz des Schicksals, könnte man sagen."
"Wie kommt Gryffindors Schwert hierher?"
Und wo genau bin ich eigentlich, überlegte er verspätet.
"Ich habe es von Hogwarts mitgebracht", antwortete Voldemort. "Um es dir zu überreichen. Ein – Krönungsgeschenk, sozusagen."
Hogwarts! Er war also dort gewesen! Harry war es, als stürze er durch eine Falltür. Hermione! Ron! All die anderen!
Mit größter Mühe zügelte er seine Gedanken. Sah den schwirrenden Schnatz vor sich –
"Krönungsgeschenk?", wiederholte er, und da war Trelawneys Stimme wieder in seinem Kopf: Der Dunkle Lord sucht seinen Auserwählten, um ihn zu krönen!
Nein, dachte er.
"Ja, das ist die Antwort auf deine Frage", fuhr Voldemort indessen fort. "Ich werde dich nicht töten. Im Gegenteil, ich werde dich groß machen – dich krönen, könnte man sagen."
"Krönen? Mich? Was soll das alles?", fragte er schließlich und fühlte zu seiner Überraschung, dass er tatsächlich wütend wurde. "Ich glaube Ihnen nicht, dass Sie die Prophezeiung auf einmal vergessen haben! Ganz sicher nicht, nachdem Sie jetzt seit sechzehn Jahren versuchen, mich zu töten – nachdem Sie meine Eltern umgebracht haben –"
Voldemort hob gebieterisch die Hand, um Harrys Redefluss zu unterbrechen. Aber ihm war ohnehin der Faden gerissen.
"Aber du hast mich besiegt, Harry", sagte er mit diesem schrecklichen Lächeln. "Ich werde dich nicht töten – du hast gewonnen! Und was deine Eltern angeht – dein Vater ließ mir gar keine Wahl. Deine Mutter – sie hätte ich verschont! Aber sie wollte meine Gnade gar nicht. Das war die letzte der schwerwiegenden falschen Entscheidungen, die sie in ihrem Leben getroffen hat."
"Was für falsche Entscheidungen?", fragte Harry.
Die seltsame, unangenehme Vertrautheit, mit der Voldemort seine Mutter vor ihrem Tod angesprochen hatte, fiel ihm wieder ein.
"Nun, zunächst hat sie das falsche Haus gewählt – denn ich bin sicher, dass Hogwarts' alberner Hut sie für Slytherin vorgeschlagen hätte. Wie auch nicht, angesichts ihrer Vorfahren!", antwortete Voldemort. "Und dann wählte sie den falschen Mann."
"Was meinen Sie denn damit?", brach es empört aus ihm heraus.
Voldemort musterte ihn mit einem spöttischen Zug um die Mundwinkel.
"Ganz deines Vaters Sohn, wie? Und doch, sie gehörte zu einem anderen! Sie hat deinen Vater aus Angst gewählt, Harry! Aus Angst vor dem anderen."
"Sie hat meinen Vater geliebt", sagte Harry fest.
"Mag sein", erwiderte Voldemort nachlässig. "Es wird zu viel Wert auf diese Dinge gelegt. Jedenfalls hätte sie den anderen nehmen müssen – dann wäre vieles anders gekommen. Du und ich hätten uns vielleicht nie als Feinde gegenüberstehen müssen."
Nein, dachte Harry verzweifelt. Ich will es nicht wissen! Ich will das nicht hören.
"Und zu guter Letzt", fuhr Voldemort fort, den das Thema nicht weiter zu interessieren schien, "zu guter Letzt hat sie den Tod gewählt anstatt meine Gnade! Ich hätte eine Erbin Slytherins wenn möglich verschont! Lily Evans hatte überall die Wahl! Aber sie hat sich immer wieder für die falsche Seite entschieden!"
"Sie ist gestorben, um mich zu beschützen!", rief Harry aus. "Und meinen Tod wollten Sie, seit ich auf der Welt bin. Obwohl ich doch angeblich von Slytherin abstamme!"
Voldemort sah ihn mit einem dunklen Blick an. Die Augen, die Harry selbst schon rot hatte glimmen sehen, wirkten jetzt erloschen und unwiderruflich kalt.
"Wie ich schon sagte, die Dinge ändern sich. Ja, ich habe viele Jahre lang versucht, zu verhindern, dass jene Prophezeiung in Erfüllung ging.
Ich habe sie begreiflicherweise so verstanden, dass du mich töten würdest. Trotz deiner kläglichen Schwäche und offensichtlichen Unterlegenheit wollte ich es nicht darauf ankommen lassen – du hattest immerhin mächtige Freunde.
Als ich erfuhr, dass wir dasselbe Blut haben, schien mir das meine Vermutung noch zu unterstützen, dass du, sobald du erwachsen genug sein würdest, meinen Sturz, meinen Tod planen würdest – vielleicht um der Erbe meiner Macht zu sein."
"Und was hat Sie von dieser Annahme abgebracht?", fragte Harry vorsichtig.
Draußen vor den Fenstern kam eben die Sonne blass zwischen den Spitzen zweier schroff aufragender Felsgipfel hervor. Das war alles, was er von der umgebenden Landschaft sehen konnte – wenn es überhaupt real war, nicht einmal dessen war Harry sich sicher. Das Licht, das sich nun hell in den Saal ergoss, machte es unmöglich, Voldemorts Gesicht zu erkennen, als dieser jetzt weitersprach.
"Ich habe begriffen, dass die Prophezeiung anders zu deuten ist. Ich habe Dinge erfahren, die mir zeigen, was das Schicksal eigentlich mit uns vorhat. Dass du – der vermeintliche Gegenspieler – nicht umsonst aus Slytherins Haus entstammst."
"Wie meinen Sie das?"
"Du und ich, wir sind vom selben Blut!", fuhr die alte Stimme fort. "Wir sind zu Größerem bestimmt als dazu, uns gegenseitig zu töten. Es gibt auch andere Möglichkeiten, Macht zu erben."
Voldemort erhob sich und stand Harry auf einmal gegenüber, auf der anderen Seite des Schlangenbeckens. Nie war Harry ihm so nahe gewesen. Nun konnte er ihn genau sehen. Da war eine Aura von Kälte, von unüberbrückbarer Fremdheit, die ihn umgab. Nichts, was einem Menschen etwas bedeutete, würde ihn je erreichen, fühlte er mit einem kalten Schauder.
"Du wirst mein Erbe sein", sagte Voldemort leise. "Schon einmal habe ich mich neu erschaffen. Nun werde ich in dir weiterleben. Du wirst mir deinen Körper überlassen, damit mein Geist diese zerfallende Hülle hier verlassen und eine neue, angemessenere Wohnung beziehen kann. Und dafür wist du all mein Wissen, meine Erfahrungen mit mir teilen dürfen."
"Warum ich?", stammelte Harry, völlig überrumpelt von dieser Wendung der Dinge.
"Wer wäre denn dafür besser geeignet als der letzte Slytherin?"
"Ich versteh das nicht", sagte Harry leise, verzweifelt bemüht, seine Verwirrung in den Griff zu bekommen. "Wie soll das denn überhaupt gehen?"
"Es gibt da einen uralten Zauber, der eben dies bewerkstelligt", erwiderte Voldemort. "Die größten Magier haben so über viele Jahrhunderte in ihren Nachkommen fortgelebt."
"Sprechen Sie etwa von diesen – diesen Königen der Finsternis?"
"Ich bin erfreut zu sehen, dass du nicht völlig ahnungslos bist, Harry Potter! Es ist wahrhaftig eine Menge aus dir geworden, seit du als Kind mein kostbares Tagebuch vernichtet hast", sagte Voldemort. "Umso eher wirst du die große Ehre und die Chance für dich selbst erkennen, die in meinem Vorhaben liegt!"
"Ja", sagte Harry langsam. "Die sehe ich wirklich."
Gekonnt täuschen, sagte eine Stimme in seinem Kopf drängend.
Aber war das nur Täuschung? Konnte es sein, dass etwas an diesem dunklen Angebot ihn tatsächlich ansprach?
Zu seiner Überraschung merkte Harry, dass die Vorstellung, das zweifellos überwältigende Wissen Voldemorts zu teilen, nicht ohne Reiz für ihn war.
Ich könnte ihn vielleicht besiegen, wenn er erst mal ein Teil von mir ist, ging es ihm dann durch den Kopf.
Aber würde er das riskieren? Er hat es früher nicht mal ertragen, auch nur in meine Gedanken hineinzuschlüpfen! Das ist der Grund, warum ich überhaupt noch lebe. Also ist das hier eine riesige Lüge! Dieser Zauber wird alles, was mich ausmacht, vernichten.
Vorsichtig sah er auf, in das verfallene Gesicht mit dem lauernden Ausdruck.
Er musste an das letzte Mal denken, als er durch Voldemorts Augen geblickt hatte. Durch die Augen des zehnjährigen Tom Riddle, um genau zu sein.
Ich könnte es jedenfalls nicht ertragen, die Welt durch seine Augen zu sehen, dachte er.
"Heute, Harry Potter", sagte Voldemort und streckte eine seiner bleichen, zerfurchten Hände mit den krallenartigen Nägeln aus, bis sie beinahe seine Brust berührte. "Alle deine Freunde werden Zeugen sein! Sie werden deine, unsere Macht erkennen. Und auch deine Feinde werden da sein. Und jetzt hast du Zeit, über meine Worte nachzudenken."
"Warum – warum sollte ich mich mit Ihnen verbünden?", brach es aus Harry heraus, bevor er sich bremsen konnte.
"Weil du keine Wahl hast – weil die Alternative dein Tod und der deiner Freunde ist, ich dir aber im Gegenzug ein reiches Leben, immense Macht, Erkenntnisse, Wissen biete", erwiderte er kalt. "Du wärst nur dumm, wenn du nicht wenigstens darüber nachdenkst!"
Er wandte sich von dem Becken ab und schien im Weggehen mit dem Boden zu verschmelzen.
oooOOOooo
Harry war allein. Sein Herzschlag dröhnte ihm in den Ohren, und er war noch immer atemlos, als wäre er gerannt.
Seine Hände berührten den schwarzen Stein des Beckens vor ihm und zuckten sogleich zurück. Die Glätte hatte etwas Lebendiges, irgendwie Ekelhaftes.
Er ging einfach weg von dem Becken und dem Thron, weiter hinein in diesen Saal, dessen Größe ihm überhaupt jetzt erst auffiel. Er bildete einen weiten Halbkreis mit der Fensterwand als Längsseite. Die Bögen der Decke wölbten sich so hoch über ihm, dass er sich an einen Dom erinnert fühlte. Die Tür, durch die er gekommen war, war verschwunden. Er stand inmitten einer riesigen Leere.
Was soll ich nur tun? fragte er sich verzweifelt und setzte sich schließlich einfach hin.
Er hatte Angst. Angst, die ihn zu überwältigen drohte. Angst um sich selbst, aber auch um Hermione und Ron. Er wagte nicht darüber nachzudenken, was Voldemort mit Hogwarts gemacht haben mochte. Hatten sie es noch rechtzeitig in die Schutzräume geschafft? Oder waren sie wirklich hier, wie er angedeutet hatte? Was war den Verteidigern passiert?
Er stöhnte. Nicht darüber nachdenken! Nicht jetzt!
Lieber über Voldemorts überraschendes und irgendwie irrsinniges Vorhaben nachdenken. Warum hatte er es eben nicht einfach hinter sich gebracht und diesen Zauber, von dem er da geredet hatte, durchgeführt? Er war doch hilflos genug gewesen. Warum hatte er ihm stattdessen diesen Vortrag gehalten und schließlich sogar noch so etwas wie – Bedenkzeit gegeben?
Er braucht meine Mitwirkung bei dieser Sache.
Das wusste er auf einmal so genau, als hätte es ihm jemand gesagt.
Das funktioniert vielleicht nur, wenn ich freiwillig mitmache oder so. Vielleicht stirbt sonst der Körper, auf den er seinen Geist übertragen will? Oder er wird verrückt, weil der andere Geist die ganze Zeit mit ihm im Kampf liegt?
Und um seine Mitwirkung zu gewährleisten, hatte er Harrys Freunde herbeigebracht. Ja, allmählich gab das alles einen Sinn!
Und er war entwaffnet. Warum hatte er nur nie darüber nachgedacht, wie er es anstellen könnte, dass er seinen Zauberstab behielt? Nie bedacht, dass die Entwaffnung doch sicher das Erste sein würde, das Voldemort tun würde!
Aber die Antwort war nicht schwer. Seit er diesen Zauberspruch in dem alten Tränkebuch entdeckt hatte – diesen verdammten Zauber, den Snape ihm da zugespielt hatte – hatte er an nichts anderes mehr denken können als daran, das möglichst schnell hinter sich zu bringen. Bevor ihn der Mut verließ. Bevor seine Entschlossenheit ins Wanken geraten konnte –
Dann der Gang durch den Spiegel – diese Horrorbilder – wann hätte er vernünftig nachdenken sollen?
Plötzlich hielt er inne. Hastig durchwühlte er seine Taschen. Da war das Amulett seiner Mutter – und sonst nichts! Das Medaillon war fort! Professor Harper hatte es also doch noch geschafft, es ihm wegzunehmen.
Und der Tarnumhang – den hatte er selbst weggehängt. An die Garderobe im Haus seiner Eltern!
Er lachte bitter auf. Ja, er war ausgetrickst worden, auf der ganzen Linie. Er hatte nichts mehr in den Händen als das Amulett seiner Mutter, dessen scharfe Kanten in seine Handfläche schnitten.
Andererseits – das Medaillon wäre hier jetzt sicher eine weitere Gefahr gewesen. Wer weiß, was die Harper damit vorhatte. Das Messer hatte sie ja wohl auch zerstört.
Schließlich saß er dann einfach da, ganz allein in dieser unheimlichen, bedrohlichen Stille. Sah den Sonnenstrahlen zu, die über den Boden wanderten und die Muster aus Steinchen immer wieder zu verändern schienen –
Wann hatte er zuletzt geschlafen? Eine ungeheure Müdigkeit überkam ihn.
Ich werde doch wohl nicht jetzt einschlafen? Jetzt – und hier –!
Aber da waren ihm die Augen schon zugefallen.
oooOOOooo
"Mann, hab ich einen Hunger", sagte Neville.
"Pst!"
"Hier ist doch sowieso niemand!", erwiderte Neville. "Wir gehen jetzt schon seit Stunden hier rum, und alles, was wir sehen, sind Ratten und Spinnen."
"Und Treppen und Türen", ergänzte Hermione seufzend und blieb stehen.
Sie hatte längst die Orientierung verloren. Diese Keller bildeten ein Labyrinth, da war sie inzwischen sicher. Aber so lange man ging, musste man nicht nachdenken.
In den vergangenen Stunden hatte sie Neville alles berichtet, was geschehen war, nachdem er von den Dementoren weggebracht worden war. Er hatte interessiert zugehört, schien aber nicht verängstigt zu sein. Das wunderte sie und tröstete sie zugleich. Der Neville, mit dem sie hier durch die Gänge irrte, war entschlossen und so sicher, dass sie es schaffen würden – irgendwie cool. Sie selbst fühlte sich alles andere als cool. Immer wenn sie anhielten und darüber nachdachten, welche Richtung sie nun einschlagen sollten, wallten die Verzweiflung und das Gefühl, kostbare Zeit zu verlieren, wie eine graue Woge in ihr auf.
"Ich frag mich, warum die Dementoren uns nicht weiter verfolgt haben", sprach sie jetzt aus, was sie schon eine Weile beschäftigte.
"Keine Ahnung", sagte Neville und rieb vorsichtig an den Beulen in seinem Gesicht. Hermione konnte nicht hinsehen. "Vielleicht denken die, dass wir ihnen hier drin sowieso nicht entkommen."
Er wühlte in den Taschen seiner schon lange wieder getrockneten Jacke.
"Hast du noch irgendwas zu essen?", fragte er schließlich.
"Nee." Sie konnte im Moment nicht mal ans Essen denken.
"Ich hätte im Honigtopf was mitgehen lassen sollen", murmelte er stirnrunzelnd. "Hätt's ja später bezahlen können."
"Das wär' doch in diesem Wassertank sowieso kaputtgegangen."
"Ich würd' jetzt auch zermatschte –"
"Shh! Hör mal –"
Er hatte die Stimmen im selben Moment gehört wie sie, und sie kauerten sich rasch an die Wand. Wenn sie saßen, verdeckte der Tarnumhang sie jedenfalls noch eben so.
Die Stimmen kamen näher – zwei Männer, die ein paar knappe Sätze wechselten – dann gingen sie vorbei –
"Das war hinter der Mauer!", flüsterte Hermione. "Sie müssen im Nachbargang sein – der, gegen den wir uns eben entschieden haben!"
Neville nickte.
"Wir müssen hinterher! Das ist unsere einzige Chance, hier wieder rauszufinden."
Sie rannten los, zurück zu der Abzweigung, die sie eben hinter sich gelassen hatten, dann in den parallel verlaufenden Gang hinein und – da sahen sie die Männer ein Stück weiter vor ihnen. Sie huschten so nahe heran, wie sie es irgend wagten.
"Hätt' nicht gedacht, dass er die noch mal da rausholen würde", sagte der eine gerade. "Nachdem Lucius – und der Junge –"
Hermione erkannte seine Stimme. Es war derselbe Mann, dem sie in die Kerker gefolgt war – vor Stunden – oder gestern –
"Irgendwas braut sich da zusammen", sagte der andere vorsichtig. "Hoffentlich können wir danach wieder von hier verschwinden. Diese Festung – also, hier ist es doch ziemlich –"
Der andere murmelte etwas Zustimmendes.
"Diese Keller! Ich hasse das hier. Dass dieser Elf immer wieder andere Eingänge öffnet. Immer muss man sich wieder neu zurechtfinden."
Der Gang gabelte sich in vier verschiedene Richtungen, und die beiden schlugen nach kurzer Beratung einen davon ein, der sich nach wenigen Metern auf eine Treppe öffnete, die an ihnen vorbei nach unten führte.
"Wenigstens verändert sich hier unten nichts. Hast du gemerkt – oben –"
"Ja", unterbrach ihn der andere knapp. "Wir sollten lieber nicht drüber reden."
"Dir ist doch klar, wo wir hier eigentlich sind, oder?", fragte der eine Todesser, und Hermione wartete mit klopfendem Herzen auf die Antwort.
"Wie könnte mir das entgangen sein", erwiderte der andere sarkastisch. "Hab lang genug hier drin gesessen."
Gesessen? dachte Hermione. Kann es sein, dass das hier – ja, natürlich! All die Kerker – und die Auroren haben ja auch vermutet, dass Voldemort sich dahin zurückgezogen hat, weil niemand mehr dahin durchkam – wir sind in Azkaban!
Als sie den Fuß der Treppe erreicht hatten, erkannte Hermione den Gang wieder, durch dessen Wand sie nach unten in Nevilles Gefängnis gestürzt war.
"Und Snape? Bleibt der hier unten?", fragte der Todesser, der beim letzten Mal nicht dabei gewesen war.
"Ich hab gehört, dass der Dunkle Lord ihn woanders eingesperrt hat. Klang ziemlich – endgültig."
"Na ja. Ist nicht unsere Sache. Holen wir einfach die Malfoys."
Hermione und Neville, die sich wieder in eine Mauerecke gequetscht hatten – wobei sie darauf achteten, die Mauer möglichst nicht zu berühren – sahen einander mit weit aufgerissenen Augen an.
"Die Malfoys!", flüsterte Neville, als hinten im Gang die Tür mit einem Krachen aufgewuchtet wurde.
"Und Snape! Wieso sind die hier gefangen?", flüsterte Hermione zurück.
Sie warteten angespannt darauf, dass die Todesser mit ihren Gefangenen wieder auf den Gang traten. Ein seltsamer, widerwärtiger Geruch kam in einer langsamen Welle durch die geöffnete Kerkertür auf den Gang hinaus.
"Verdammt, wie sollen wir die hier rauf kriegen?", keuchte der eine Todesser, der eine leblose Gestalt auf den Gang hinausschleifte.
"Mobilcorpus!", sagte der andere, und die Gestalt schwebte ihnen voran und an Neville und Hermione vorbei.
Sie trug ein unaussprechlich schmutziges Kleid und war anscheinend bewusstlos. Der Kopf mit dem langen, verfilzten Haar war ihr auf die Brust gesunken und schwang grotesk hin und her. Hermione hatte große Mühe, Narcissa Malfoy wieder zu erkennen, Dracos unangenehme, arrogante und unnahbare Mutter.
Und danach kam Draco selbst, er taumelte immerhin auf seinen eigenen Füßen, von dem einen Todesser am Arm gepackt. Aber sein Gesicht war ausdruckslos, als nehme er nichts mehr wahr.
Fassungslos sahen Neville und Hermione ihren ehemaligen Mitschüler vorbeigehen. Dann bemerkten sie, dass seine rechte Hand fehlte, und Hermione fühlte Schock, Entsetzen und etwas wie Ekel. Mit aller Gewalt drängte sie die Bilder zurück, die auf sie einstürmen wollten.
"Und dann? Wohin mit ihnen, wenn wir erst mal hier raus sind?"
"Schätze, oben wird er uns schon rufen. Oder es wartet wieder einer unserer stummen Freunde auf uns."
"Die werden apparieren!", flüsterte Hermione Neville zu. "Wir müssen unbedingt Draco oder seine Mutter irgendwie berühren, damit sie uns mitnehmen!"
So vorsichtig und so schnell wie möglich folgten sie den Gefangenen und ihren Aufsehern die düsteren Stufen hinauf.
oooOOOooo
Es wurde so kalt. Er musste unbedingt aufstehen und das Fenster schließen – die Bettdecke wieder über sich ziehen – aber er fühlte sich wie gelähmt –
Mit einem Schlag war er wach. Seine Brille war verrutscht, so dass er zuerst nur einen schattenhaften Umriss in düsterem Gold vor sich sah. Hastig setzte er sich auf, rückte die Brille zurecht und war mit einem Ruck, der wie ein Schlag in den Magen war, zurück in einer albtraumhaften Gegenwart.
Das Licht hatte sich verändert – vor den hohen Fenstern stand nun die Dämmerung, und der Saal war in das flackernde Licht zahlreicher Fackeln getaucht, die dicht nebeneinander an den Wänden steckten. Direkt bei Harry brannte außerdem eine große Feuerschale, die den Thron, das schwarze Becken und alles im Umkreis hell erleuchtete.
Auf seinen Unterarmen hatten sich die Kanten der Mosaiksteinchen des Bodens eingeprägt, auf dem er geschlafen hatte. Geschlafen! Wie hatte er nur einschlafen können!
"Aufwachen, Harry Potter", sagte die kalte Stimme.
Voldemort sah auf ihn herab, und auf einmal kippte die Panik wie eine Riesenwelle über Harry. Er keuchte, schluckte, wollte sich gleichzeitig übergeben und aufspringen und wegrennen, egal, was dann passieren mochte – nur weg, weg von diesem Albtraum!
Er hustete krampfhaft und sah nun mit panisch aufgerissenen Augen, dass sich vor dem weiten Halbkreis der Wände die Todesser aufgestellt hatten. Schweigend, reglos standen sie da, in schwarzen Kapuzenumhängen und mit Masken vor den Gesichtern, weit genug entfernt, dass er niemanden erkennen konnte, und doch fühlte er, dass alle ihre Blicke auf ihn gerichtet waren. Er sah überrascht, dass jeder von ihnen seinen Zauberstab vor sich auf dem Boden niedergelegt hatte.
Sie dürfen hier nicht zaubern! Er hat Angst, dass sie mich treffen könnten! Seinen kostbaren neuen Körper beschädigen könnten!
Er sprang auf die Füße.
"Es ist so weit", sagte Voldemort. "Meine Leute sind hier, natürlich. Du wirst verstehen, dass sie diesen Wechsel mit eigenen Augen miterleben müssen."
Ja, und auch, dass du eine große Show daraus machen willst, dachte Harry und versuchte, sein wild schlagendes Herz wieder in einen erträglichen Rhythmus zu zwingen. Das ist die Entscheidung. Jetzt darf ich nicht versagen!
Das war kein hilfreicher Gedanke. Immer noch schien sein Gesichtsfeld im Tempo seines Herzschlags zu pulsieren, als Voldemort sich jetzt von ihm abwandte und zu seinem Thron ging.
Denk an Quidditch, dachte Harry. Das ist ein Spiel. Ich muss den Schnatz kriegen. Diesmal muss ich ihn auf jeden Fall kriegen.
Mit Mühe wandte er den Blick von den beängstigenden schwarzen Gestalten.
Er sah zu dem Thron hin, auf dem Voldemort jetzt Platz genommen hatte.
Das war doch unmöglich! Da stand – Professor Harper! Unten am Fuß der schwarzen Treppe, so reglos wie die Todesser. Keine Fesseln oder andere Hinweise darauf, dass sie unfreiwillig hier sein könnte! Allerdings lag vor ihr kein Zauberstab auf dem Boden. In der schwarzen Gestalt neben ihr vermutete Harry Bellatrix Lestrange, ohne dass er hätte sagen können, woher er diese Gewissheit nahm, denn sie trug Kapuze und Maske wie alle anderen außer Harper.
Na gut, dachte Harry. Die Harper gehört also wohl doch dazu. Ich denk da jetzt nicht weiter drüber nach.
In kaltem Entsetzen fragte er sich, was er überhaupt noch tun konnte. Ohne Zauberstab – umringt von ein paar hundert Todessern –
Die pompöse Feierlichkeit dieses schweigenden Aufmarsches hier schüchterte ihn ungemein ein. Und das ist auch genau, was er bezweckt, sagte es in seinem Kopf. Er ist sich seiner Unangreifbarkeit so gewiss und will dich das spüren lassen.
Er hat doch auch allen Grund, sich sicher zu sein, oder?
An der gegenüberliegenden Wand, da, wo er selbst den Saal durch eine Tür betreten hatte, apparierten jetzt zwei weitere Todesser, die zwei groteske Gestalten mit sich führten. Als sich die schweigende Reihe der Todesser öffnete, um sie durchzulassen, erkannte Harry den Taumelnden, den der eine am Arm gepackt hielt. Draco Malfoy!
"Bringt sie her, nah genug, dass wir sie im Auge behalten können", sagte Voldemort, und als sie näher kamen, konnte Harry auch sehen, dass die andere Gestalt Dracos Mutter sein musste. Und Draco – ihm fehlte eine Hand! Mit Grausen sah Harry den Armstumpf, der aus seinem zerfetzten Hemdärmel herausragte.
"Zwei Plätze für die Gäste!", sagte Voldemort.
Dann standen da unweit des schwarzen Beckens zwei Sessel, auf die die Malfoys jetzt mehr gestoßen wurden, als dass sie sich selbst setzten.
Harry sah, wie Mrs Malfoy gegen die Lehne sank, anscheinend nicht mehr imstande, ihre Umgebung überhaupt wahrzunehmen. Draco hingegen starrte Harry mit ungläubiger Miene an, als frage er sich, ob er träume. Harry glaubte einen Moment lang, eine Bewegung neben Draco gesehen zu haben – aber da war nichts.
"Sehr schön", sagte Voldemort. "Dann fehlen nur noch die Gäste von Hogwarts."
Er hob den Zauberstab und riss ihn mit einem Ruck nach oben. Ein unterdrückter Aufschrei ging durch den Saal, als etwas wie eine große gläserne Kugel aus dem Fußboden in dem weiten Raum zwischen den Todessern und den Malfoys brach. Für einen Moment schien sie zitternd in der Luft zu schweben, dann verlor sie ihre Form, und klatschend ergoss sich eine Flut von Wasser und Körpern auf den Stein. Bleiche, ineinander verknäuelte Körper, die sich, einmal auf dem Boden angekommen, langsam und wie blind voneinander weg bewegten, dabei aber in einem fest umrissenen Kreis zu bleiben schienen.
Inferi, dachte Harry voller Ekel und Entsetzen. Sie erinnerten ihn an ein Gewimmel aus weißen Maden.
Erst dann erkannte er, was sie bewachten, und das Herz sank ihm endgültig.
In der Mitte dieses Rings aus Inferi stolperten und kauerten eine ganze Reihe seiner Schulkameraden und Lehrer. Das mussten die sein, die Hogwarts ganz zum Schluss noch verteidigt hatten – bedeutete das, dass die anderen es noch in die Schutzräume geschafft hatten? Sie waren weit genug entfernt, dass Harry ihre Mienen nicht genau erkennen konnte, und dafür war er dankbar.
Er konnte Bill sehen, und bei ihm George und – Ron. Voller Angst suchte sein Blick Hermione – aber sie war nicht dabei! Das war ein Trost. Dann war sie vielleicht wirklich in die Schutzräume gegangen. Wenigstens das! Und doch durchzuckte die Sehnsucht nach ihr einen Moment lang sein Herz. Sie noch einmal sehen zu können!
Denk an den Schnatz, meldete sich die Stimme in seinem Kopf eisern. Das ist ein Spiel. Du musst gewinnen!
"Meine Todesser, willkommen! Hört jetzt, wozu ich euch heute herbeigerufen habe!", begann Voldemort in diesem Augenblick zu sprechen, und seine Stimme tönte durch den ganzen riesigen Raum. "Bevor wir unseren Feldzug fortsetzen, möchte ich, dass ihr den großen Wandel miterlebt, dem ich mich heute unterziehen werde."
Es herrschte atemlose Stille. Erst jetzt wurde Harry wirklich bewusst, dass er fast den ganzen Tag verschlafen haben musste, denn durch die Fenster fielen nun wie zum Spott noch ein paar letzte schräge Strahlen dunkelgoldenes Abendlicht.
"Schon einmal habe ich meine körperliche Existenz neu geschaffen, aus Blut, Knochen und Staub", fuhr Voldemort fort. "Dieser Körper aber ist nun verbraucht. Darum werde ich mir heute mithilfe eines uralten, ehrwürdigen Zaubers eine weitere Existenz erschaffen! Der letzte Erbe des großen Salazar Slytherin – Blut von meinem eignen Blut – wird meinen Geist in sich aufnehmen, so dass ich von heute an in seinem Körper fortleben werde."
Die Todesser standen zwar still an ihren Plätzen, aber Harry entging nicht, dass einige von ihnen erstaunte Blicke wechselten.
"Dieser letzte Erbe ist ein junger Mann, den wir seit Jahren gejagt haben. Harry Potter – der heute die krönende Aufgabe seines Lebens antreten wird.!"
Harry konnte das überraschte Aufatmen, das durch die Reihe von Voldemorts Leuten ging, geradezu hören. Jetzt wurde getuschelt, und die befremdeten Blicke blieben nicht länger versteckt. Voldemort selbst aber sah zufrieden in die Runde.
Er genießt das, dachte Harry. Seine Willkür und ihre Verwirrung!
Er brachte es nicht über sich, zu den Gefangenen von Hogwarts hinüberzusehen. Zu seinen Freunden, die sich nun endgültig von ihm verraten fühlen mussten –
"Aber mein Lord!", wagte die Todesserin neben Harper einzuwerfen, und Harry hörte, dass er Recht gehabt hatte: Es war Bellatrix Lestrange. "Potter ist Euer größter Feind! Seit seiner Geburt – die Prophezeiung sagte Euch, dass er die Macht besitzt, Euch zu besiegen –"
"Ganz recht, Bellatrix", unterbrach er sie in drohendem Ton. "Diese Macht besitzt er, und er wird sie heute zeigen! Ja, er wird mich heute besiegen, denn sein Körper wird weiterleben, während der meine sterben wird!"
Nein! dachte Harry und fühlte, wie der Boden unter seinen Füßen zu schwanken schien. Das ist die Prophezeiung, der zweite Teil, den er nicht einmal kennt! Und der eine muss von der Hand des anderen sterben, denn keiner kann leben, während der andere überlebt – oh nein! Und dass er mich als Ebenbürtigen kennzeichnen wird, hat Dumbledore auch falsch gedeutet! Ich bin verloren! Wir sind alle verloren!
"Wir haben das viele Jahre lang falsch verstanden", fuhr Voldemort mit dunklem Triumph fort. "Auch mir wurde erst vor kurzem klar, dass der letzte Slytherin für eine andere Aufgabe bestimmt ist, als einfach zu sterben – für eine würdigere Aufgabe.
Ihr werdet Zeugen dieses alten Zaubers sein, der meine Macht mit Harry Potters Körper verbinden wird. Ihr alle, meine Todesser – ebenso wie seine Freunde!"
Was kann ich denn nur tun? dachte Harry verzweifelt, als Voldemort auf das zusammenstehende Grüppchen von Hogwartsleuten deutete. Er wird sie einen nach dem anderen sterben lassen, wenn ich nicht mitmache!
"Aber außer seinen Freunden sind auch seine Feinde hier – kleine Feinde, wie die Malfoys dort – oh ja, ich weiß Bescheid darüber – größere Feinde, wie Greyback und meine gute alte Freundin Bellatrix Lestrange –", sagte Voldemort und wandte sich dann abrupt an Harry. "Aber das sind – kleine Fische, nicht wahr, Harry Potter? Nichts gegen den, den du wirklich aus tiefstem Herzen hasst! Und wer könnte das wohl sein –?"
"Snape –", murmelte Harry wie in Trance. "Er ist hier –?"
"Ganz recht. Severus Snape, der deine Eltern verraten hat, der – übrigens entgegen meinem Befehl – Dumbledore ermordet hat! Her mit ihm!"
Er machte eine herrische Bewegung mit der Hand, als wolle er jemanden herbeiwinken, und dann taumelte plötzlich eine dunkle Gestalt aus dem Nichts heraus in die Reihe der Todesser hinein, stolperte, einen Arm über die Augen gelegt, wie blind auf Voldemort zu. Nicht weit vom Schlangenbecken entfernt blieb er schwankend stehen, offenbar außerstande, die Hand von den Augen wegzunehmen. Er wirkte entkräftet und desorientiert.
"Es war dunkel in seiner Zelle", erklärte Voldemort kalt. "Sieh mich an, Snape!"
Stattdessen knickten ihm die Beine ein.
"Auf die Füße, Snape!", zischte Voldemort. "Versuche gar nicht erst, sein Mitleid zu erregen. Es wird dir nicht gelingen!"
Snape versuchte, aufzustehen. Als er endlich die Hand von seinen Augen nahm, konnte Harry sein Gesicht sehen und hatte im ersten Moment Schwierigkeiten, darin den Snape wieder zu erkennen, den er kannte. Das war das Gesicht eines Tieres. Totenbleich und verzerrt, die Zähne in stummer Anstrengung verbissen. Das Haar klebte ihm in wirren, nassen Strähnen im Gesicht, und er versuchte nicht einmal, es wegzustreichen. Die schwarzen Augen, hasserfüllt auch jetzt, stierten zwischen den Strähnen hindurch. Als ihr Blick Harry traf, fuhr dieser unwillkürlich zurück.
Da war er also endlich! Zum ersten Mal seit der Nacht des Mordes stand er Snape wieder gegenüber.
In den Monaten seit Dumbledores Tod hatte sich sein Hass viel stärker auf ihn konzentriert als auf Voldemort selbst. Er hatte wütende Träume gehabt, in denen er ihn leiden und auf schmerzvollste Art sterben ließ. Träume, aus denen er schweißgebadet erwacht war, mit geballten Fäusten und zusammengebissenen Zähnen, zitternd vor Hass. Snapes Miene, als er den tödlichen Fluch auf Dumbledore geschleudert hatte, hatte sich in sein Hirn gebrannt – und tief in sein Herz.
Vielleicht war es leichter, ihn zu hassen, den er so viele Jahre gekannt hatte, der ihn schikaniert hatte, den er als boshaft, undurchschaubar, schließlich als verräterisch und mörderisch kennen gelernt hatte.
"Snape, der ebenso dich wie auch mich selbst verraten hat! Unser heimlicher Prinz! Und seht ihn euch jetzt an!", sagte Voldemort voller Spott. "Hast du endlich doch begriffen, wer der Stärkere ist? Du hast hoch gespielt, Severus, und dann doch verloren! Du kanntest nur das eine Ziel, insgeheim immer mehr Macht und Wissen anzusammeln. Hättest du dich denn irgendwann hervorgewagt, um dich wirklich mit mir zu messen? Du, der du doch all die Jahre im Besitz einer der kostbarsten magischen Schriften überhaupt warst! Welche Sicherheiten wolltest du denn noch in der Hand haben, bevor du zugeschlagen hättest?"
Snape kauerte am Boden, und Harry konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Er hatte also irgendwelches Geheimwissen – das erklärte einiges! Vermutlich kam auch der Tabula-Rasa-Zauber aus dieser Quelle! Und nun sollte er, Harry, die Dreckarbeit für ihn erledigen! Und wie Snape nur zu gut gewusst hatte, konnte er es nicht einmal ablehnen, weil es sich genau mit seinen eigenen Plänen deckte!
Harry kam sich zu allem anderen auch noch auf zynische Weise ausgespielt vor. Der Hass auf Snape quoll in ihm auf wie das Wasser eines vergifteten Brunnens. In diesem Moment wollte er ihn sterben sehen und Voldemort dafür zujubeln, dass er ihn der gerechten Strafe zugeführt hatte.
Als hätte er es gespürt, wandte Voldemort seine glimmenden Augen lauernd Harry zu.
"Ich schenke ihn dir, Harry Potter", sagte er. "Ich überlasse die Bestrafung dieses Verräters dir!"
Harry fühlte ein Aufflammen wilden Triumphes. Snape hatte verloren! Was machte es in diesem Moment, dass es Voldemort selbst war, der ihn Harry sozusagen auf dem silbernen Tablett überreichte?
"Aber zuvor will ich noch eine Antwort, Snape", sagte Voldemort eisig. "Wo ist das Medaillon?"
Snape, der endlich auf die Füße gekommen war und nun schwankend vor ihnen stand, schüttelte nur den Kopf.
"Du Dummkopf", sagte Voldemort leise. "Crucio!"
Harry hatte selbst erlebt, was dieser fürchterliche Fluch mit einem Menschen machte. Er sah, wie es Snape wieder hintenüber zu Boden riss, wo er sich vor Schmerzen wand. Die Stille im Saal dauerte an, und Harry versuchte, seine Ohren vor den Schreien zu verschließen, die diese Stille jetzt jeden Moment zerreißen würden. Das geschah aber nicht, und Snape blieb schlotternd liegen, als der Fluch endlich nachließ.
Voldemort betrachtete ihn verächtlich.
"Ich glaube, du weißt es tatsächlich nicht. Nicht, dass es jetzt noch wirklich von Bedeutung wäre. Nun dann, Snape! Steh auf und stirb wenigstens wie ein Mann und nicht wie der kriechende Verräter, der du zeit deines Lebens gewesen bist", sagte er schließlich.
Dann wandte er sich mit einem grausamen Lächeln Harry zu.
"Ich überlasse es dir, dies zu Ende zu führen. Töte ihn!"
"Ich – ich hab keinen Zauberstab", krächzte Harry schließlich.
"Oh, natürlich. Vergib mir meine Unachtsamkeit. Hier ist dein Zauberstab. Verwende ihn gut!"
Harry konnte es kaum glauben. Er hatte seinen Zauberstab zurück! Jetzt – jetzt war der Moment endlich gekommen!
"Verwende ihn weise, Harry Potter!", sagte Voldemort leise warnend und streckte seine Hand zu den Gefangenen aus.
Harry verstand. Er verstand nur zu gut. In hilflosem Zögern sah er zu, wie Snape langsam auf die Knie kam und ein weiteres Mal versuchte, aufzustehen.
Was sollte er nur tun? Konnte er es denn riskieren, mit diesem Zauberspruch zu beginnen, solange Voldemort nicht nur seinen eigenen Zauberstab trug, sondern auch seine Freunde in seiner Gewalt hatte?
Oh, warum hatte er nur nicht vorher darüber nachgedacht, wie er die Sache schließlich tatsächlich ausführen sollte!
Sein Blick fiel auf Snapes Hände, die eine, mit der er sich abzustützen versuchte, und die andere, die er immer wieder schützend vor seine Augen hielt. Was der Anblick seines verhassten Gesichts nicht vermocht hatte, bewirkte die Hilflosigkeit seiner Hände – mit einem Mal hatte Harry eine Reihe völlig ungerufener Bilder vor Augen.
Er versuchte sie zu vertreiben, aber es gelang ihm nicht. Der Junge, dem er mehrfach begegnet war, in Dumbledores Denkarium, in der Szene in Slughorns Unterricht, die er durch den Wahrtraumsaft gesehen hatte, zuletzt in diesem furchtbaren Spiegelgang – dieser Junge war auf einmal viel realer als der Lehrer, der ihn schikaniert hatte, der Verräter, der kaltblütige Mörder – das konnte nicht sein – durfte nicht sein –
Harry schüttelte den Kopf, als könnte das die Erinnerungen vertreiben.
"Was zögerst du?", fragte Voldemort, der ihn misstrauisch ansah. "Hast du Angst, einen tödlichen Fluch auszusprechen? Es gibt so viele andere Möglichkeiten! Ich werde dir zeigen, was ich meine!"
Und damit winkte er den Inferi, die er offenbar allein durch seine Geisteskraft so weit in Schach gehalten hatte, dass sie die Gefangenen in ihrer Mitte nur angeknurrt hatten. Auf diesen Wink hin wandten sich jetzt einige von ihnen von den Gefangenen ab und begannen, auf Snape und Harry zuzukriechen.
Harry fühlte, wie seine Eingeweide sich verkrampften. Er empfand einen unaussprechlichen Ekel vor diesen Kreaturen, die ihn so sehr an jene Höhle erinnerten und an Dumbledores entsetzlichen Opfergang, der dort seinen Anfang genommen hatte.
Auch in Snapes Augen trat ein Ausdruck des Entsetzens, als er die bleichen Gestalten auf sich zukommen sah. Harry konnte geradezu sehen, wie er dagegen ankämpfte, nicht einfach davonzulaufen. Und dann –
Voldemort machte eine unwillige Bewegung mit seinem Zauberstab und zischte einen harschen Zauberspruch. Die Inferi stürzten sich auf Snape, so schnell und so plötzlich, wie Harry es nie von ihnen erwartet hätte.
"Nein!", schrie Snape, der stolperte und stürzte. "Nein, nein! Nicht das!"
Am Rand seines Gesichtsfeldes nahm Harry wahr, wie unter den Gefangenen Unruhe entstand. Da war George, der irgendetwas rief – dann die Hand gegen den ausgedünnten Ring der Inferi ausstreckte – und hinausstürmte. Ihm folgten Bill und Ron auf dem Fuß. Sie kamen nicht weit, denn George prallte scheinbar mitten in der Luft gegen ein Hindernis und stürzte. Gleichzeitig wurde da am Boden etwas sichtbar, das vorher nicht da gewesen war –
Harry konnte nicht fassen, was er da für einen Sekundenbruchteil sah – war das wirklich Hermione gewesen!
Sein Blick wurde wieder abgelenkt, weil in diesem Moment die Meute der Inferi über Snape herfiel, der sich zusammenkauerte und sie mit den Händen abzuwehren versuchte. Aber sie packten ihn unerbittlich.
Harry sah entsetzensstarr zu. Sie werden ihn bei lebendigem Leib auffressen! dachte er.
Da verbissen sich schon zwei von ihnen in Snapes linkes Bein. Er trat um sich, aber es war vergeblich.
Harry starrte mit weit geöffneten Augen hin. Er sah das Blut, das aus Snapes aufgerissenem Bein strömte, er sah sein verzerrtes Gesicht, die Verzweiflung, mit der er diese Schreckgestalten abzuwehren versuchte.
Ja, er hatte Mitleid! Das konnte nicht die Strafe sein, nicht einmal für Snape! Tat denn keiner etwas? Sahen sie alle einfach nur zu? Harper – was war mit der? Selbst wenn sie nichts sehen konnte, musste sie doch genug von dem mitbekommen, was geschah! Und die hatte doch auch das Medaillon! Warum stand sie nur da und ließ das geschehen?
Snape schrie.
Sein Schreien war schlimmer als alles, was Harry je gehört hatte. Dennoch wusste er später nie mehr, ob er sich wirklich zu dem entschlossen hatte, was er dann tat. Er erinnerte sich nur, dass er auf einmal das Gesicht seiner Mutter vor sich gesehen hatte, ein junges, lachendes Gesicht voller Leben und Liebe.
"Expecto patronum!", schrie er und hob seinen Zauberstab. "Expecto patronum!"
Silbernes Licht brach machtvoll aus seinem Zauberstab und lenkte alle Aufmerksamkeit auf ihn. Er hörte Voldemort wütend zischen, aber da war der Patronus schon auf dem Weg zu Snape, der inzwischen unter einem Haufen zappelnder Inferi verschwunden war. Sie wanden sich mit grässlichen Lauten unter dem gleißenden Licht, das von dem Patronus ausging, und versuchten, davonzukriechen.
Der Patronus beugte sich über Snape und stieß ihn an. Mit letzter Kraft klammerte Snape sich an ihm fest, und das silberne Tier preschte mit ihm davon, dicht an Bellatrix und Harper vorbei, auf die Fenster zu – und mit einem krachenden Klirren hindurch, wobei ein Schauer von Scherben in weitem Bogen über dem Boden niederging.
Das alles war eine Sache von Sekunden gewesen. Sie standen in fassungslosem Schrecken da, auch die Gefangenen und die Todesser, von denen drei eben den ausgebrochenen Weasley-Brüdern nachgesetzt hatten, als das Erscheinen des Patronus alles gelähmt hatte.
"Expelliarmus!", zischte Voldemort, und dann war Harry den Zauberstab wieder los. Für immer, wie ihm nur allzu bewusst war. Er hatte seine einzige Chance vertan – und das ausgerechnet für Snape!
Das ist das Ende, dachte er. Jetzt wird er mich töten.
Voldemort kam mit glühenden Augen auf ihn zu.
"Du Narr! Was hast du getan?"
Seine lange, dünne Hand griff nach Harry und packte ihn. Er konnte die Wut in seinen Augen funkeln sehen. Aber er sah auch, wie er diese Wut bezwang.
"Du wirst noch viel lernen müssen, Harry Potter!"
"Mein Lord! Seht hier! Das fiel eben zu Boden, direkt vor meine Füße!", rief Harper in diesem Augenblick. "Ich hörte es aufschlagen. Vermutlich hat er es verloren!"
Voldemort ließ Harry los, und beide blickten auf das goldene Ding in Harpers Fingern.
"Das Medaillon Eurer Mutter. Mit dem Ihr meine Mutter zu Eurer Dienerin gemacht habt", sagte Harper ruhig. "Ihre Fürsorge war das, was in Eurem Leben der Liebe am nächsten kam. Aber jetzt – Ihr lebt in einer Nacht ohne Aufblick! Wozu diese Nacht noch ins Unendliche dehnen?"
Während ihre Worte noch wie ein Urteil in der Stille standen, geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Voldemort streckte den Zauberstab nach dem Medaillon aus, um es herbeizuzaubern.
Und aus dem Handgemenge, das da zwischen den Weasleys und den drei Todessern entstanden war, brach jemand aus und jagte in wilden Sprüngen durch das Gewimmel der Inferi auf Harry zu.
Es war Ron. Er hielt etwas in seiner Hand. Es war das Rennen seines Lebens, und das wusste er auch. Das war der Moment, für den er Harrys Freund geworden war, der wie ein Keim schon in ihrer ersten Begegnung damals im Hogwarts-Express gelegen haben musste.
Harry konnte Ron grinsen sehen, als er da auf ihn zurannte. Dann geriet er in die Blutlache, die Snape hinterlassen hatte, kam ins Rutschen, verlor das Gleichgewicht und fiel, fiel –
"Hier, fang! Fang, du Blödmann!", schrie Ron mit einem wilden Lachen und schleuderte im Fallen etwas auf Harry zu. "Es ist eine Waffe, verstehst du, eine Waffe!"
Das grüne Aufzucken aus Voldemorts Zauberstab verfehlte ihn nur um Zentimeter und schlug zischend in den Boden, dass die Steinchen des Mosaiks nach allen Seiten flogen, während Ron der Länge nach hinknallte.
Harry konnte sehen, was da auf ihn zugeflogen war, aber er begriff es nicht. Es war kein Schnatz, wie er einen verrückten Moment lang gedacht hatte, es war eine Schreibfeder. Noch im Flug jedoch, während sie sich wirbelnd immer wieder überschlug, verwandelte sie sich, und als er sie fing, war es ein Zauberstab. Hermiones Zauberstab, wie er verwirrt erkannte.
Diesmal zögerte er nicht. Er wandte sich in wilder Entschlossenheit Voldemort zu, der mit dem Fluch gegen Ron die entscheidende Sekunde verloren hatte.
"Expelliarmus!", kreischte Harry, und Voldemorts Zauberstab flog in weitem Bogen davon. Das Wort war noch nicht verklungen, da brüllte er los, bezwang sich mühsam, setzte in erzwungener Ruhe noch einmal an und sprach dann mit lauter, klarer Stimme gegen Voldemort gewandt den Zauberspruch, den er sich so erbittert eingeprägt hatte, dass er ihn vermutlich noch im Sterben hätte aufsagen können.
Der Tabula-Rasa-Zauber bestand aus acht kurzen aramäischen Worten. Eine einzige Zeile in winziger Schrift.
Voldemort sprang mit einem Aufschrei seinem Zauberstab hinterher, aber Harry ließ sich nicht ablenken. In seiner Konzentration bekam er nicht einmal mit, dass Bellatrix Lestrange, die Harper gepackt hatte, diese losließ und stattdessen mit erhobenem Zauberstab auf ihn zustürzte. Der Fluch, den sie ihm entgegenschleuderte, hätte ihn ohne Zweifel auch getroffen, wenn nicht plötzlich ein kleiner, fast kahler Mann wie aus dem Boden gewachsen vor ihr gestanden und sie zu Fall gebracht hätte.
Kaum war das geschehen, schrumpfte er auch schon wieder zusammen, und dann jagte eine Ratte in wildem Zickzackkurs über den Mosaikfußboden auf den Thron zu, unter dem sie verschwand.
Seit der Patronus durch das Fenster gebrochen war, waren nur Sekunden vergangen, und die Todesser, in reichlicher Entfernung, standen noch immer wie erstarrt.
Das letzte Wort des Zauberspruchs war verklungen, und Harry hielt atemlos inne. Die Stille, die folgte, war so tief, dass er Zeit genug hatte, sich zu fragen, ob er sich wohl versprochen hatte – bei diesem wichtigsten Auftritt seines Lebens versagt hatte wie ein Schüler bei einer Theateraufführung –
Voldemort starrte ihn an. Mit einer seiner spinnenartigen weißen Hände hatte er seinen Zauberstab eben noch wieder ergreifen können. Jetzt sank die Hand ganz langsam herab. Der Zauberstab entfiel ihr und rollte über den Boden.
Harry konnte den Blick nicht von Voldemorts Gesicht wenden. Er hatte das Gefühl, dass er dies schon einmal erlebt hatte. Wie in Zeitlupe veränderte es sich zu einer Maske der Panik, der nackten Angst. Die glimmenden Augen verloschen zu schwarzen Löchern. Der reptilienartige Mund verlor das Starre, während er sich zu einem Schrei öffnete, der ihn aber nie mehr verließ. Das Gesicht schien vor Harrys Augen zu schmelzen wie eine Maske aus weißem Wachs.
Harry keuchte vor Entsetzen.
Lord Voldemort sank in die Knie.
Dann fiel er vornüber wie eine Puppe. Sein Kopf schlug neben seinem Zauberstab auf. Zugleich ging ein gewaltiger Ruck durch die ganze Festung, etwas, das sich anfühlte wie eine unsichtbare, unhörbare Detonation.
Das einzige Geräusch, das zu hören war, war ein seltsam misstönendes, knirschendes Knacken. Es kam von dem Medaillon, das Harper immer noch in der Hand hielt. Der Deckel war aufgesprungen, und ein bisschen feine Asche stäubte heraus, leuchtete für einen Augenblick in einem letzten schräg einfallenden Sonnenstrahl auf und verging dann noch im Fallen zu Nichts.
ooOoo
Da endlich wurde die Stille von gellenden Schreien zerrissen. Bellatrix Lestrange stürzte sich schreiend wie eine Wahnsinnige über den am Boden Liegenden.
"Herr! Oh Herr!", wiederholte sie immer wieder, während sie Voldemort vom Boden zu zerren versuchte und es schließlich schaffte, ihn in ihre Arme zu ziehen.
Aber er starrte nur reglos zur Decke. Bellatrix mühte sich hilflos, ihn wieder zu sich zu bringen. Als das vergeblich blieb, wandte sie ihr verzerrtes, verzweifeltes Gesicht Harry zu.
"Du!", spuckte sie aus. "Du halbblütiges Stück Dreck! Was hast du getan! Ihm, der Millionen solcher kleinen Schwachköpfe wert war! Hätte er doch nur die Welt von Schmutz wie dir befreien können!" Das Schluchzen zerriss ihre Sätze. "Oh mein Herr! Verlasst mich nicht! Lasst mich nicht allein zurück!"
Ihr lautes Weinen war erstaunlicherweise immer noch das Einzige, das in diesem riesigen Saal zu hören war. Es war, als stehe die Zeit still – als seien alle außer diesen beiden eingefroren.
Sie begann zu schreien, als sei der Schmerz, den sie empfand, nicht mehr zu ertragen. Ihre Hände krallten sich in ihr Haar, und Harry sah voller Entsetzen, wie sie es in Strähnen ausriss. Mit einem Mal sprang sie auf, als hätte sie einen Entschluss gefasst. Sie packte ihren eigenen Kopf mit beiden Händen, und das Letzte, was Harry von der lebendigen Bellatrix Lestrange sah, waren ihre lodernden Augen, die ihn voller Wahnsinn ansahen. Sie riss ihren eigenen Kopf mit einem so heftigen Ruck zur Seite, dass jeder das grausame Knacken hören konnte, mit dem ihr Genick brach. Sie taumelte noch ein paar Schritte, dann brach sie zusammen.
Harrys Magen wollte sich umdrehen.
Das kann gar nicht wahr sein, dachte er verzweifelt. So was geht gar nicht!
Er war so außer sich, dass er die Gefahr um sich herum nicht einmal wahrnahm. Bellatrix' schrecklicher Auftritt hatte die Erstarrung, in der sie alle sich befunden hatten, endlich gesprengt. Viele der Todesser griffen jetzt nach ihren Zauberstäben und stürmten auf sie zu. Zu Harrys Glück waren ihnen die versprengten Inferi im Weg, die nun herrenlos umherkrochen, nur noch ihrem dumpfen Trieb nach lebendigem Fleisch folgend. Die Gefangenen, die sie bewacht hatten, waren inzwischen alle aus ihrem Kreis entkommen und hatten die kleine Gruppe um das Schlangenbecken erreicht. Sie stellten sich um sie herum, bereit, Harry auch unbewaffnet gegen die Todesser abzuschirmen.
Harry aber stand nur da und starrte auf den goldenen Umhang, der das Einzige zu sein schien, was von Voldemort übrig geblieben war. War er selbst ebenso zu Nichts zerstäubt wie sein Horcrux?
In diesem Moment schlug etwas Riesiges quer durch den Saal, gefolgt von wilden Schreien und allgemeinem Tumult. Verwirrt sah Harry, dass nicht weit von ihm etwas wie eine gigantische weiße Schlange auf dem Boden aufgeschlagen war.
Und sei es, dass sie den Fackeln zu nahe gekommen oder, was wahrscheinlicher war, von den Zaubern der Todesser getroffen worden war – jedenfalls fing sie Feuer, noch während er hinsah.
Er begriff erst viel später, dass dies ihre Rettung gewesen war, denn es stoppte die Todesser, die sie sonst unweigerlich erreicht hätten. Stattdessen wichen sie wieder zurück, schreiend, immer wieder ängstlich nach oben blickend.
Er sah ihre Zauber wie farbige Blitze kreuz und quer durch den Raum zucken. Es berührte ihn nicht.
Was ist mit Voldemort?
Dann endlich sah Harry, was zwischen den steifen, schimmernden Stofffalten des Umhangs am Boden lag.
Es war ein Baby. Nackt und so winzig, als sei es neugeboren. Eigentlich sah es sogar eher aus wie ein Ungeborenes.
"Nein!", stöhnte er. "Nein!"
"Wo ist er? Harry, ist er tot?"
Das war Neville. Er fiel beinahe über Bellatrix' Körper. Sein Gesicht war dunkel vor Wut. Harry hatte ihn noch nie so gesehen.
"Er soll sterben! Sie ist tot, jetzt ist er auch dran!", kreischte er außer sich. "Wo ist er?"
Harry sah ihn fassungslos an. Er wehrte sich nicht einmal, als Neville ihm den Zauberstab aus der Hand riss und ihn wild durch die Luft schwenkte.
Dann sah auch Neville, was von Voldemort übrig geblieben war. Er stockte mitten in der Bewegung.
"Das – das ist ein Trick!", sagte er schließlich und hob den Zauberstab. "Avada –"
"Halt", sagte Harry kraftlos. "Neville, nicht!"
"Dann mach du's doch endlich!", brüllte Neville wieder los. "Er ist ein Mörder! Deine Mum! Dein Dad! Und so viele andere!"
Aber er zögerte, obwohl er den Zauberstab auf den kleinen Körper gerichtet hielt.
Harry sah das Baby an, dessen dunkle Augen blicklos zur Decke gerichtet waren.
"Nein", sagte er leise, und dennoch war seine krächzende Stimme weithin zu hören. "Das ist – das ist – ein Baby!"
Jemand war zwischen ihn und Neville getreten. Es war Harper.
"Das ist nur ein Bild, Harry", sagte sie leise. "Ein Bild, in das sich der letzte verbliebene Teil seiner Seele hüllt. Ich kann es auch sehen."
"Aber es ist nicht zufällig – es ist – wahr. Ich – habe ihn schon einmal so gesehen."
"Nein, zufällig ist es sicher nicht", sagte Harper.
Schweigend starrten sie alle auf den winzigen Körper. Noch einmal war es so, als stehe die Zeit still.
"Was soll also mit ihm geschehen?", fragte Harper schließlich.
"Sperrt ihn ein", sagte Harry.
Deckt ihn zu, hatte er eigentlich sagen wollen. Oder hatte er das sogar gesagt?
Harper nahm Nevilles Hand, die den Zauberstab noch immer auf das Baby gerichtet hielt. Harry sah, wie ihre Lippen sich bewegten.
Ganz langsam löste sich das Bild des Kindes auf. Ein silbriger Nebel war alles, was übrig blieb. Er glitt in das geöffnete Medaillon in Harpers anderer Hand.
Sie schloss es mit einer endgültigen Bewegung und hielt es Harry hin.
Er schüttelte den Kopf, ohne zu bedenken, dass sie das nicht sehen konnte. Er begriff, es war vorbei, war endlich geschehen. Aber er konnte nichts fühlen außer einer großen Leere und einem vagen Unbehagen, das irgendwie vom Boden unter seinen Füßen aufzusteigen schien.
Neville ließ den Zauberstab fallen und begann haltlos zu weinen.
Harry ließ sich auf den Mosaikboden sinken. Alle Kraft hatte ihn verlassen. Er saß einfach da und schlug die Hände vors Gesicht.
"Harry!"
Da war Hermione! Sie kniete neben ihm und schlang die Arme um ihn. Er klammerte sich an sie. Nie wieder loslassen müssen! Sie redete mit ihm, aber er verstand nichts.
Schließlich drangen andere Stimmen zu ihm durch.
"Harry! Hermione! Wir müssen hier raus!"
Das war Bill. Harry fühlte sich an den Schultern gepackt und auf die Füße gerissen.
"Los, kommt schon!", brüllte Bill drängend. "Irgendwas passiert hier! Kommt endlich!"
Harry ließ Hermione nicht los, die mit einem Aufschrei auf ihren Fuß trat. Er war vorhin umgeknickt, als George über sie und Neville gestolpert war.
Stumpf blickte Harry um sich herum. Voldemorts Thronsaal hatte sich in ein Chaos aus Flammen und schreienden, flüchtenden Menschen verwandelt. Er sah brennende Inferi überallhin kriechen und das Feuer immer weiter verbreiten.
Er konnte die Hitze der Flammen fühlen, ohne noch einen Sinn für die Gefahr zu haben, die sie bedeuteten.
Da war ein unheimliches Ächzen, das aus den Wänden zu kommen schien und sogar die Schreie übertönte, die den Saal erfüllten. Und er fühlte, dass etwas mit dem Fußboden nicht stimmte. Er schien ungewöhnlich nachgiebig – und wo waren die Steinchen – das hier sah doch aus wie – wie farbige Schuppen –
Bill riss ihn mit sich. Neben ihm war Ron und stützte Hermione, deren Hand Harry immer noch fest umklammert hielt.
Vertraute Gesichter in diesem Untergang. Harry sah sie wie im Traum.
Da war George – mit einem ganzen Armvoll Zauberstäbe! Er verteilte sie an die anderen, während ein hysterisches Grinsen in seinem Gesicht stand.
"Das sind unsre!", rief er immer wieder. "Er hatte sie bei sich!"
Vor den hohen Fenstern drängten sich jetzt Todesser und Hogwartsschüler gleichermaßen, ohne im Augenblick an etwas anderes zu denken als an Flucht.
Harry sah, wie die Wände in sich zusammensanken. Aus der Decke mit dem, was er bisher für steinerne Spitzbögen gehalten hatte, sackte ein weiteres weißes, schlangenartiges Gebilde peitschend auf die Fliehenden hinab. Schreiend rannten sie weiter. Harry sah es klatschend auf den Boden aufschlagen, mit einem krank machenden, schmatzenden Geräusch. Ein entsetzlicher Gestank stieg davon auf.
Diesmal sah er die Saugnäpfe an der Unterseite.
"Das sieht aus wie ein riesiger Krakenarm!", sagte er in überraschtem Ton wie ein Kind, während Bill und Ron ihn und Hermione weiter auf die Fenster zu zerrten.
Unter ihren Füßen knirschten Glassplitter, die weit über den Boden verstreut lagen und, noch während er hinsah, stumpf und grau wurden und sich an den Rändern aufbogen.
"Da raus?", fragte Harry verwirrt und trat an die Kante des Fußbodens, wo große, gläserne Zacken des Fensters noch bis in Brusthöhe aufragten. Hier hatte sein Patronus eben die Scheibe durchbrochen.
"Halt!", brüllte Ron und packte ihn.
Aber Harry hatte genug gesehen. Schwindelnd taumelte er gegen Bill zurück. Jenseits der zersplitterten Scheibe war ein Abgrund. Er hätte nicht sagen können, wie hoch sie hier waren, aber er konnte tief unten in der hereinbrechenden Dunkelheit eben noch die Felsen sehen, den gebogenen Umriss einer Insel, auf der diese Festung offenbar gebaut war und gegen deren steinige Ufer die See in heftigen Wellen anrannte.
"Wo sollen wir denn hin?", fragte Hermione dicht bei ihm.
Er fühlte sie in seinen Armen. Er sah in angstvolle nussbraune Augen, die er liebte. Aber er konnte nicht mehr helfen.
Die Szenen um ihn herum zogen zusammenhanglos wie zersplitterte Bilder an ihm vorbei.
Pansy Parkinson, die den willenlos schlurfenden Draco mit sich zog. Sie kamen keuchend bei ihnen an, dicht gefolgt von Madam Pomfrey und Neville, die Narcissa Malfoy mit sich schleiften. Slughorn ächzte hinter ihnen her, verzweifelt die Funken erstickend, die auf seinen Umhang gefallen waren. Hagrid, der Mad-Eye Moody stützte.
Ein weiterer bleicher Fangarm stürzte von oben herab, eine breite Lücke in der Decke hinterlassend, durch die sie den grauen Abendhimmel sehen konnten. Er schlug in bedrohlicher Nähe auf und begrub zwei Todesser unter sich. Ein dritter disapparierte im letzten Moment, bevor der Arm auch ihn erwischen konnte.
Dann fing auch dieser Fangarm Feuer. Die Hitze bedrängte sie nun in starken Wellen. Luna, die Harper am Arm führte, bewegte sich durch dieses Inferno, als gehe sie das alles gar nichts an.
"Wir müssen apparieren!", rief Harper ihnen zu. "Anders kommt man hier nicht raus!"
"Ich kann nicht", kicherte Harry. "Hab auch gar keinen Zauberstab!"
Die Fensterwand riss auf und regnete in spröden Splittern auf sie nieder, während ein Schwall kalter Seeluft in ihre Gesichter schlug. Gleichzeitig gab der Boden unter ihren Füßen endgültig nach.
Hermione stolperte und war nicht mehr in seinem Arm. Er schrie nach ihr, aber das ging in dem vielstimmigen Aufschrei unter, der durch den Raum gellte. Der Fußboden sackte ein, sie drohten zu stürzen, und ein Flammenmeer brandete von der Mitte des Saales her auf.
"Apparieren, Harry!", schrie Bill ihn an. "Halt dich an mir fest!"
