Kapitel 28

Von Angesicht zu Angesicht

Harry öffnete widerwillig die Augen. Sie schienen vor Müdigkeit in den Höhlen zu knirschen, und als er sich aufsetzte, glaubte er jeden einzelnen Knochen, jeden Muskel zu spüren.

"Was 'n los?", nuschelte er.

Dann war er mit einem Schlag wach, weil ihm einfiel, wo er war, was geschehen war – und wer er war. Er saß auf einem weiß bezogenen Messingbett, und irgendwas hatte sich gerade verändert. Richtig. Sie standen still.

Neben ihm saß Hermione, die grauenhaft aussah. Ihre sonst so plusterige Haarmähne hing jetzt in müden Strähnen um ihren Kopf, ihr Gesicht war so bleich, wie er es nie gesehen hatte, und unter ihren Augen waren dunkle, bläuliche Ringe.

Aber sie lächelte ihn an.

"Wir sind da", sagte sie.

Im schmalen Gang, der zwischen den Betten in seiner Reihe und denen gegenüber war, kamen jetzt die Leute nach vorne und strebten der Treppe zu, die hinunterführte. Sie waren schweigsam und sahen aus, als wüssten sie nicht so recht, wo sie waren und was sie hier eigentlich sollten. Harry verstand das ziemlich gut.

Sie vermieden es, ihn anzusehen. Sogar seine Zimmergenossen Dean und Seamus. Auch das konnte er verstehen.

Ich hab's gemacht, dachte er, und da war ein schreckliches Gefühl der Unwirklichkeit in seinem Magen, wie eine Übelkeit.

Sie waren im dritten Deck des Fahrenden Ritters, der sie irgendwann gegen Morgen an irgendeinem Hafen abgeholt hatte. Er konnte sich nur undeutlich erinnern, wie sie alle von diesem Schiff gekommen und in den Bus für gestrandete Hexen und Zauberer gestiegen waren. Nie hatte der gestrandetere Leute aufgenommen als sie!

Die nächtliche Fahrt auf dem Schiff hatte er dösend verbracht, in einem Zustand, in dem er sich nie sicher war, was Wirklichkeit und was Traum war. Einzelne Bilder tauchten aus dem Dunkel in seinem Kopf auf.

Ron, der neben ihm eingeschlafen war. Hermione, die mehrmals aufgestanden und weggegangen war.

Neville, der auf dem Boden lag und – wie Harry auch – in das bizarre grüne Funkeln hinaufsah, das nach und nach den ganzen Himmel überzog. Hermione, wie sie eine Decke über ihn breitete. Sie hatte immer wieder versucht, Harry etwas zu erzählen, aber er konnte sich nicht konzentrieren. Harper, die sich in ziemlich lautem Ton über etwas beschwerte. Anscheinend war Snape tot, so viel glaubte er verstanden zu haben. Bill, Moody, Slughorn und die Auroren, die da an Deck zusammengestanden und palavert hatten.

Und irgendwann hatte das Schiff angelegt, und sie mussten alle im Gänsemarsch hinaus- und in den wartenden Bus hineinsteigen. Danach war Ron verschwunden. Der Moment, für den ihre Freundschaft wieder aufgelebt war, schien vorübergegangen zu sein.

Jetzt war es immer noch früh am Morgen. Der Fahrende Ritter war mit Rücksicht auf die Verletzten nicht ganz so atemberaubend gefahren wie sonst, aber er hatte sie dennoch in Rekordzeit an ihr Ziel gebracht.

"Sonderfahrt nach Hogwarts beendet! Bitte steigen Sie aus. Die Fahrt endet hier", brüllte ein junger Mann, der nicht Stan Shunpike war.

Hogwarts!

Harry stand auf und versuchte, einen Blick durch das Fenster zu erhaschen.

Der Anblick war ernüchternd.

Um den Fahrenden Ritter herum hatte ein ganzer Trupp der Magischen Brigaden Aufstellung genommen. Und der Mann, der in ihrer Mitte stand und in kühler Ruhe zur Tür des Busses hinüberblickte, war –

"Das ist Scrimgeour!", sagte Hermione erstaunt. "Also ist der wirklich hier!"

"Wir haben Todesser an Bord, Miss Granger", sagte Slughorn, der sich eben an ihnen vorbei zur Treppe vorarbeitete. "Zwar nur verletzte, aber ich glaube kaum, dass der Minister jetzt auch nur den kleinsten Fehler riskieren will. Und dann haben wir natürlich auch –"

"Da isses! Un' ganz ohne Schnee!", rief Hagrid.

Harry sah ihn fragend an.

"Als er uns weggeführt hat, hat's wie wild geschneit", erklärte Hagrid. "Un' guck's dir jetzt an! Knallblauer Himmel, Sonnenschein!"

"Ein Septembertag, wie er sein sollte", sagte Slughorn. "Von den kahlen Bäumen einmal abgesehen."

Sie alle sahen jetzt hinaus, mit gemischten Gefühlen. Freude, zurück zu sein. Beklommenheit angesichts dessen, was sie nun erwarten mochte.

Unten ging endlich die Tür auf. Langsam stiegen die Leute hintereinander die Treppe hinunter und kamen blinzelnd und benommen hinaus ins helle Tageslicht.

Die Tür zum zweiten Deck war geschlossen. Hier lagen die Verletzten, bewacht von Leuten von den Magischen Brigaden.

Harry schluckte, als er endlich draußen auf dem grellgrünen Rasen stand.

Ja, da war das Schloss. Die Torflügel zwischen den beiden Säulen mit den geflügelten Ebern darauf standen weit offen. Dennoch blieben die Ausgestiegenen alle in einem Knäuel stehen, als wollten sie um keinen Preis die Gruppe verlassen. Die Gruppe, mit der sie Ereignisse verbanden, die sie fürs Erste nicht einmal würden mitteilen können.

Oder geht es nur mir so, fragte sich Harry, als er in die Gesichter seiner Mitschüler und Lehrer um sich herum blickte. Die waren schließlich noch alle Zauberer.

Insgeheim war er erleichtert, dass er Hogwarts überhaupt wahrnehmen konnte. Seit der letzten Nacht hatte wie eine emsige kleine Ratte die Angst in ihm genagt, sie könnten in Hogwarts ankommen – und er würde vor irgendeinem alten Gemäuer stehen bleiben, während die anderen lachend zu den festlich gedeckten Tischen der Großen Halle hineingingen.

Aber soweit er feststellen konnte, sah er Hogwarts genauso wie alle anderen.

Dann blickte er in die entschlossenen Gesichter der Männer, die sich um den Bus herum aufgestellt hatten, um die Todesser in Empfang zu nehmen.

"Hoffentlich gibt's jetzt was zu essen", sagte George neben ihm.

"Kannst du vergessen, Junge", knurrte Moody, der sozusagen von den Toten zurückgekehrt schien. "Kenne Scrimgeour! Der wird jetzt erst mal 'ne Rede halten, um uns genau unter die Nase zu reiben, was er so alles in Bewegung gesetzt hat!"

Als hätte er es gehört, kam der Minister zu ihrer Gruppe herüber, mit einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. Die musterten sie stattdessen scharf. Aber als sein Blick Harry erreichte, glitt er ganz schnell weiter.

Der weiß schon Bescheid, dachte Harry.

Hermione drückte seine Hand in der ihren.

"Willkommen zurück", sagte Scrimgeour langsam und ließ seinen Blick weiter über die zerfledderten Ankömmlinge gleiten.

Es war ihm nicht anzusehen, was er über den Anblick dachte, der sich ihm bot.

"Ich glaube, Sie alle werden sehnsüchtig erwartet. Mir ist bewusst, dass Ihnen jetzt nicht der Sinn nach langen Reden steht. Lassen Sie mich dennoch ein paar Worte sagen, die Sie alle interessieren dürften."

Dem stimmte zwar niemand zu, aber davon ließ sich Scrimgeour nicht bremsen.

"Nachdem ich informiert wurde, dass Hogwarts anscheinend verlassen war, bin ich gestern mit einem Expertenteam und dreißig Mann von den Magischen Brigaden hier eingetroffen. Was nicht ganz einfach war, wenn man die Situation bedenkt, in der sich das Land derzeit befindet.

Wir konnten die Versiegelung des Schlosses durchbrechen, Direktor McGonagall aus einer unangenehmen Lage befreien und erste Informationen über das Vorgefallene austauschen. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass Hogwarts völlig unversehrt zu sein scheint.

Abends erhielten wir dann die Nachricht von – nun, von Ihrer bevorstehenden Rückkehr. Und von dem, was in Azkaban geschehen ist. Ich muss Ihnen nicht sagen, dass da noch eine Menge Klärungsbedarf besteht. Aber selbstverständlich sind wir – äh – wir sind alle – unaussprechlich glücklich. Verwirrt, aber glücklich!"

Er räusperte sich. "Und jetzt sollten Sie erst einmal hereinkommen. Wir haben drei Heiler hergebeten, als wir erfuhren, dass es Verwundete gegeben hat. Die Krankenstation ist bereit."

In diesem Moment drängte sich jemand hinter ihm durch das Tor und rannte auf sie zu.

"Ron! George! Bill!"

"Und wie ich bereits erwähnte, werden Sie erwartet!", schloss Scrimgeour wieder mit diesem ein wenig zu berufsmäßigen Lächeln.

Da lag Molly Weasley bereits in Bills Armen. Als Fleur sie schließlich mit Gewalt von dort wegdrängte, griff Molly sich Ron. Den beiden Weasley-Damen folgten in gemäßigterem Tempo Fred – mit einem breiten, sehr schiefen Grinsen im Gesicht – und schließlich Arthur, der mit einem Taschentuch hantierte.

Damit war der Startschuss gefallen. Minutenlang liefen nun immer neue Wiedersehensszenen um Harry herum ab. Anscheinend waren Angehörige aller Ankömmlinge – und noch viele mehr – in Hogwarts erschienen. Nur auf Harry wartete natürlich niemand. Als er Hermiones Eltern herankommen sah, gab er ihre Hand frei und trat ein wenig zurück. Eine schreckliche Kühle beschlich ihn.

Wo sind die anderen? War er denn der Einzige, der sich das fragte?

Er wandte sich um und sah zu, wie die Verwundeten aus dem Bus getragen wurden. Madam Pomfrey ging mit ernstem Gesicht neben der Trage, auf der Luna immer noch wie in tiefem Schlaf lag. Hinter ihr her schwebten zwei weitere Tragen, und Harry erkannte Draco und seine Mutter auf den weißen Laken, zugedeckt bis zum Hals.

Der kommt nicht zu den Todessern, ging es ihm durch den Kopf. Aber irgendwie konnte er im Augenblick keinen Hass auf Malfoy empfinden. Er bekam immer noch eine Gänsehaut, wenn er nur an den Anblick seines Armstumpfes dachte.

"Neville!" Da war Nevilles Großmutter, leichenblass unter einem ihrer Ehrfurcht gebietenden Hüte. Sie war kurz davor, Neville in die Arme zu schließen. Aber er sah sie kaum an und grüßte nur mit einem widerwilligen Murmeln.

"Neville – was um Merlins Willen ist mit deinem Gesicht passiert!", fragte Mrs Longbottom heftig, vielleicht um ihre Verwirrung zu überspielen. "Hast du wieder irgendeinen –"

"Oh, wo ich Sie gerade sehe, Mr Longbottom –", rief Madam Pomfrey ihm im Vorübergehen zu. Sie ging neben den Tragen mit den vier Schwerverletzten. "Ich erwarte Sie dann später in der Krankenstation! Wir müssen uns unbedingt um Ihr Gesicht kümmern. Vergessen Sie's ja nicht! Sie wollen ja wohl irgendwann mal wieder unter Leute gehen können!"

Es gab tatsächlich ein bisschen Gekicher bei den Umstehenden. Neville selbst nickte nur und sah weiter in irgendwelche Fernen. Als seine Großmutter ihn energisch am Arm nahm und mit sich in Richtung Schloss ziehen wollte, machte er sich los und folgte ihr dann.

Scrimgeour stand indessen ganz vergessen vor diesem Durcheinander, obwohl er offenbar noch nicht ganz am Ende seiner Begrüßungsrede angekommen war. Aber der Flut, die da losgebrochen war, hätte er sich nicht entgegenstellen können, und da er ein kluger Mann war, versuchte er es auch gar nicht erst.

Für den Moment begnügte er sich also damit, die Männer von der Magischen Brigade zu Transport und Überwachung der verwundeten Todesser zu dirigieren, die nun aus dem Fahrenden Ritter geholt wurden. Nur einer von ihnen war so schwer verletzt, dass er nicht selbst gehen konnte.

"Keine schlechte Quote", hörte Harry den Minister zu einem seiner Leute sagen. "Wir haben insgesamt mehr als hundertzwanzig von ihnen festgenommen. Die Frage ist, wo wir sie unterbringen werden. Wie es aussieht, wird es eine Weile dauern, bis Azkaban als Gefängnis wieder zu nutzen ist. Überdies sind gerade wieder Stimmen laut geworden, die sich dafür stark machen, die Nutzung Azkabans als Gefängnis generell zu untersagen. Völliger Unsinn natürlich. Wo sollen wir mit diesen Herrschaften hier sonst hin, nicht wahr? Und dass es sich nicht auszahlt, mit ihnen zu weichherzig zu verfahren, ist ja auch nur allzu deutlich geworden."

Harry sah wieder zum Fahrenden Ritter, der eben seine letzten Fahrgäste ausspuckte. Zwei Auroren, die eine weitere schwebende Trage flankierten. Der dritte von ihnen führte Hekate Harper.

Als Scrimgeour sie sah, kam er zielstrebig auf sie zu.

"Williamson – McIntyre – Podmore – schön, Sie wohlbehalten anzutreffen. Und Ms Harper."

Er machte eine knappe Verbeugung in Harpers Richtung.

"Mainwaring hat mir bereits berichtet, was geschehen ist. Soweit er es selbst wusste", sagte Scrimgeour kühl.

Er wirkte so – so untadelig in seinem sauber gebügelten Umhang, mit dem wohlfrisierten Haar und dem frisch rasierten Gesicht. Harry musste ihn einfach anstarren.

Mainwaring – das war der vierte Auror, der bei ihrer Gruppe gewesen war und noch vom Hafen aus appariert war, um Scrimgeour auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen. Harry erinnerte sich vage, dass Hermione so etwas gesagt hatte.

"Eine überaus – wilde Geschichte, wie mir scheint."

Ein lautes Plopp! hinter ihnen ließ ihn heftig zusammenfahren. Der Fahrende Ritter war verschwunden.

"Nun ja. Wir haben ja genug Zeit, das in allen Einzelheiten zu prüfen. Im Moment bin ich – überaus zufrieden, dass es Ihnen gelungen ist, Snape aufzugreifen. Er wird selbstverständlich sofort dem Ministerium überstellt. Dort werden wir –"

"Das wird wohl kaum möglich sein", unterbrach ihn Harper kalt. "Der Mann liegt im Sterben. Es ist ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt. Wenn Sie ihn noch verhören wollen, rate ich Ihnen dringend, ihn in Hogwarts zu lassen und Ihren Heilern den Auftrag zu erteilen, ihn zu behandeln."

Scrimgeour wandte den kühlen Blick seiner bernsteinfarbenen Augen Harper zu.

"Hekate! Ich bin erfreut, zu hören, dass Ihnen der Vorgang der Wahrheitsfindung noch am Herzen liegt!" (Hat der wirklich 'der Vorgang der Wahrheitsfindung' gesagt, dachte Harry entgeistert.) "Umso mehr, als doch verschiedene Vorfälle – Sie betreffend – dringend der Klärung bedürfen. Ich nehme an, Sie stimmen mir darin zu?"

"Vermutlich haben Sie Recht", erwiderte Harper gelassen. "Und ich stehe Ihnen voll zur Verfügung. Aber wenn Sie Snape jetzt transportieren lassen, wird er sterben – und dann mache ich Ihnen einen Riesenskandal, darauf können Sie sich verlassen."

Scrimgeour musterte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

"Sie sollten sich vielleicht nicht ganz so weit aus dem Fenster lehnen, Hekate. Mainwaring teilte mir – unter anderem – mit, dass Sie – durch einen tragischen Unfall erblindet sind."

"So kann man's nennen", sagte Harper. "Sie können's auch als grobe Fahrlässigkeit bezeichnen."

"Er hat mir außerdem gesagt, dass es – übrigens im Kreis Ihrer eigenen Kollegen – Zweifel daran gibt, dass Sie wirklich blind sind", fuhr Scrimgeour fort.

"Ach ja?" Harper lachte. "Aber ich bin tatsächlich blind! Magische Vorgänge bilden die Ausnahme, die kann ich in gewissem Umfang wahrnehmen. Ich vermute, dass die Aussagen, auf die Sie anspielen, sich auf solche Vorgänge beziehen."

"Ohne Namen nennen zu wollen –"

"Hören Sie, Scrimgeour, können wir dieses Geplänkel vielleicht später fortsetzen? Ich laufe Ihnen nicht davon, ich versprech's. Aber jetzt gibt's doch ein paar Dinge, die wichtiger sind. Schicken Sie die Leute mit Snape in den Krankenflügel! Und ich selbst gäb' was für einen Kaffee!"

Scrimgeour betrachtete sie mit einem sauren Blick. Er hatte ohnehin schon die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf sich gezogen, und dasselbe galt für die Auroren mit der Trage, auf der Snape reglos lag.

"Also gut, Ms Harper. Später dann. Und Sie – bringen Sie Snape in die Krankenstation. Stellen Sie zwei Mann ausschließlich zu seiner Bewachung ab."

Also ist er doch nicht tot, dachte Harry und versuchte, nicht auf die Trage zu sehen, die nun an ihm vorbeischwebte.

"Scrimgeour – wenn Sie an den verschiedenen Wahrheiten interessiert sind, wenden Sie sich am besten an ihn dort – Bill Weasley", sagte Moody, der ganz in der Nähe stand. "Denke, der hat noch den klarsten Kopf von uns. Wird Ihnen alles sagen können, was Sie wissen wollen."

"Danke, Alastor. Das werde ich tun."

Er trat mit ein paar wohlgesetzten Schritten wieder vor die ganze Gruppe und erhob die Stimme.

"Wir werden jetzt auf weitere Formalitäten verzichten. In der Großen Halle wartet ein ausgiebiges Frühstück auf Sie. Kommen Sie. Sie sind wieder zu Hause."

oooOOOooo

Es hätte ein wunderbares Gefühl sein müssen, durch das Eichenportal hinein ins Schloss zu gehen – an den besten Ort der Welt zurückzukommen und ihn wider Erwarten nicht zerstört vorzufinden. Aber als sie die Eingangshalle betraten, liefen sie beinahe in ein merkwürdiges, großes Gerät hinein, das – wie zumindest Harry und Hermione feststellten – wie eine übergroße Stereoanlage aussah. In weitem Umkreis davon standen mehrere große Ständer mit schüsselartigen Aufsätzen, die in verschiedene Richtungen gedreht waren.

An dem großen schwarzen Kasten mit den vielen Knöpfen und Reglern machte sich ein Mann zu schaffen, der geschäftig aufsah, als sie alle um ihn herumtrudelten. Er trug einen Kopfhörer, den er nun absetzte, und eine Art gigantische Taucherbrille, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Lunas Gespensterbrille hatte und die er leider nicht absetzte. Hinter den runden, dicken Gläsern strahlten dunkelblaue Augen.

"Dorian Welldone – ein Mitarbeiter meines Expertenteams", stellte Scrimgeour ihn im Vorbeigehen vor. "Er arbeitet daran, Ihre verschollenen Mitschüler und Kollegen wieder zu finden."

"Wieso verschollen?", fragte jemand, aber er bekam keine Antwort.

Sie starrten den Mann an, nicht zu mehr als dumpfer Neugier imstande. Er hatte langes schwarzes Haar, das ihm in einem lockigen Pferdeschwanz über den Rücken hing. Sein Gesicht hatte sogar mit der verrückten Brille genau die richtige Mischung aus Verwegenheit und Empfindsamkeit, seine ausgewaschene Jeans saß genau richtig, und nicht einmal Harry wunderte es, dass die Mädchen – und Frauen – um ihn herum eine Spur zu lange hinsahen.

Welldone grüßte sie alle mit einem Lächeln, ohne aber seine Arbeit zu unterbrechen. Worin auch immer die bestehen mochte.

"Wie kommen Sie voran, Dorian?", fragte Scrimgeour.

"Könnte besser sein. Aber zumindest konnte ich schon eine ganze Menge Räume ausschließen. Sieht leider so aus, als wäre auch hier keine Spur zu finden", erwiderte dieser und wollte gerade die Kopfhörer absetzen, als aus diesen ein so lautes, scheußliches Knistern und Knacken ertönte, dass sie es alle hörten und Welldone sich das Ding mit schmerzverzerrtem Gesicht von den Ohren riss. Harry fühlte etwas wie einen kalten Luftzug im Gesicht, und für einen Moment war seine Sicht merkwürdig verschwommen.

Welldone sah sich suchend um und stöhnte dann genervt auf.

"Oh nein, nicht schon wieder der!"

Auch die Blicke der anderen waren alle an einem Punkt über den ersten Treppenstufen hängen geblieben. Harry stellte mit einem kalten Gefühl im Magen fest, dass sie offenbar alle etwas sahen. Etwas Bekanntes, wenn auch nicht unbedingt Erfreuliches. Nur er sah nichts.

Es war beinahe witzig mit anzusehen, wie alle Blicke nun gleichzeitig einen Bogen beschrieben und schließlich an der Decke der Eingangshalle hängen blieben.

Dann krachte etwas, und zwei der Schüsselständer kippten scheppernd auf den Steinboden.

"Verdammter Mist!", fluchte Welldone. "Können Sie den nicht irgendwie zur Vernunft bringen? Seit gestern hat er mir schon viermal den gesamten Aufbau zunichte gemacht!"

Harry hörte etwas, ganz von fern. Es hätte ein feines Zischen sein können. Aber er vermutete, dass es eine Stimme war. Als er aufblickte, merkte er verlegen und irritiert, dass ihn alle anstarrten, alle außer Welldone, der an seinem Kasten herumfummelte.

"Ja, genau!", stöhnte Welldone. "Junge, ich kenn deinen Vers jetzt! Verpfeif dich endlich!"

"Das ist Peeves. Unser Poltergeist", sagte Hermione entschuldigend. "Der findet so was witzig."

Sie nahm Harrys Hand. "Mach dir nichts draus", sagte sie gequält. "Du kennst ihn ja."

"Was – was hat er denn gesagt?"

"Hast du doch gehört! Vergiss es einfach. Er ist ein Miststück."

Er entzog ihr seine Hand. Die Kälte in seinem Magen breitete sich aus.

"Ich hab's nicht gehört, Hermione", sagte er. "Also, sag's mir!"

Jetzt starrte sie ihn an.

"Was meinst du damit? Er war doch laut genug –"

"Ich hab nichts gehört außer einem Zischeln. Und – sehen kann ich ihn auch nicht."

"Harry!"

Und da war es endlich, worauf er die ganze Zeit gewartet hatte: das Entsetzen und die Erkenntnis in ihrem Gesicht. Endlich fing sie an zu verstehen. Er konnte es nicht mit ansehen. Er starrte auf Welldones Haarmähne, in die er jetzt seine Brille zurückgeschoben hatte. Die hatte rote Spuren auf seiner edlen Nase hinterlassen.

"Ich kann nichts –"

"So!", zischte es in sein linkes Ohr. "Potty kann nichts mehr hören! Nichts mehr sehen! Armer Potty!"

Harry machte einen Sprung, der ihn beinahe in einen weiteren, noch intakten Schüsselständer geworfen hätte.

"Hau ab, Peeves!", schrie Hermione böse. "Komm, wir gehen."

Sie zog Harry mit sich in Richtung der großen Halle, wohin schon viele der anderen weitergegangen waren. Er ließ sich wehrlos mitziehen.

Ich bin ein Muggel, dröhnte es in seinem Kopf.

"Wie sind Sie eigentlich an der Schlange vorbeigekommen?", durchschnitt plötzlich Harpers Stimme das Chaos in seinem Kopf.

Er sah Scrimgeour stehen bleiben und Harper mit einem triumphierenden Aufblitzen in den Augen fixieren.

"Und sehen Sie, Hekate, das ist genau die Art von Bemerkung, die Ihre Umwelt stutzig machen muss! Woher wissen Sie von der Schlange?"

"Was für eine Schlange? Wovon reden Sie eigentlich?", mischte sich Moody ein.

"Ich wollte damit eigentlich bis zu der Besprechung warten, die ich nach dem Essen angesetzt habe. Aber bitte.

Als wir gestern dieses Portal öffneten, jagte ein Geschöpf an uns vorbei, das uns zunächst wie ein böser Geist erschien – ein böser Geist, den wir aufgescheucht hatten. Es schien nicht menschlich, und es verschwand so schnell im Wald, dass wir es nicht stellen konnten. Als wir dann aber die Eingangshalle endlich betraten, fanden wir dort eine große Schlange vor – eine gewaltige Schlange. Sie war offenbar von einem anderen Tier in rasender Wut zu Tode gebissen worden und lag in ihrem Blut auf dem Boden.

Uns wurde rasch klar, dass uns dieser vermeintlich böse Geist vor einer ungleich größeren Gefahr bewahrt hatte, denn wir stellten fest, dass es sich bei der Schlange um einen Basilisken handelte, um ein glücklicherweise noch nicht ausgewachsenes Exemplar. Nach allem, was mir Mainwaring über die Vorgänge hier vor zwei Tagen berichtet hat, nehme ich an, dass dieses Tier absichtlich ausgesetzt wurde, um das Schloss zu bewachen, bis – bis sein neuer Herr Zeit gefunden hätte, hierher zurückzukommen."

"Und damit haben Sie verdammt Recht", sagte Harper leise.

"Demnach waren Sie dabei?"

"Ja. Und wie ich Ihnen vorhin ja schon mitteilte, kann ich magische Vorgänge in gewissem Umfang wahrnehmen. Nur, damit Sie sich nicht weiter wundern."

Harry fiel mit einem Mal auf, dass Ron totenbleich geworden war.

"Dieses Wesen – das in den Wald verschwunden ist – wie sah das denn aus?"

"Wie bitte?"

"Sah es aus – wie ein Werwolf – oder was?", fragte Ron, blass bis in die Lippen.

"Nun – ich denke –"

"Ja, das könnte man fast so beschreiben", mischte sich Welldone ein, der seine Brille und den Kopfhörer wieder aufgesetzt hatte. "Ich hielt es zunächst für einen Hund – eine Art Windhund oder dergleichen – bis auf diese merkwürdige Färbung des Fells. Es war – nun, es war feuerrot."

"Tonks", murmelte Ron tonlos, und Harry erschrak, auch wenn er nicht verstand, was da geschehen war.

"Sie werden uns nachher erleuchten, Mr – äh Weasley, nicht wahr? Ich erwarte Sie im Anschluss an dieses Frühstück alle zu einer Besprechung", sagte Scrimgeour in einem Ton, der deutlich machte, dass das keineswegs als unverbindliche Einladung gemeint war.

oooOOOooo

Die Große Halle! Er hätte nicht gedacht, dass er sie wieder sehen würde. Aber da war sie, und hier war er, und ging hinein, als käme er gerade aus dem Schlafsaal und wollte noch schnell eine Scheibe Toast hinunterschlingen, bevor er zur ersten Unterrichtsstunde hasten musste.

Die Tische waren gedeckt, und die Leute setzten sich, zögernd oder unbekümmert, je nach Temperament.

So wenige Leute! Trotz der Eltern waren sie ja nur so kläglich wenige!

Dann saß er da, neben Hermione und Fred, gegenüber von Hermiones Eltern, die Peeves' Auftritt offenbar so wenig mitbekommen hatten wie er selbst, aber nicht verwundert waren deshalb. Er sah Fred neben George sitzen und daneben Molly Weasley, die ihre Hände je um die Hand eines wiedergewonnenen Sohnes geklammert hatte. Bill nahm das mit einem Lächeln hin, den freien Arm um die immer noch schniefende Fleur gelegt. Ron saß ganz am Ende der Tafel neben seinem Vater, der schon die ganze Zeit so aussah, als versuche er erfolglos, etwas zu Großes herunterzuschlucken. Neben Ron war Neville, der nach wie vor mit verschwollenen Augen vor sich hin starrte und alle Gesprächsversuche seiner Großmutter einfach ignorierte. Vielleicht hörte er sie ja auch gar nicht.

Konnte das alles eigentlich wahr sein?

Vielleicht ist das nur ein Traum, und in Wirklichkeit liege ich auf einem Fußboden mit vielen kleinen bunten Steinchen und wache gleich auf und –

Er musste sich zusammenreißen. Das war die Wirklichkeit. Er war zurück in Hogwarts, sie alle waren zurück. Und da waren plötzlich herrlich duftende, gefüllte Schüsseln auf den Tischen, und Körbe mit frischem Toast und Kannen mit heißem Kaffee und Tee – und er konnte sie durchaus sehen.

Die Lehrertafel am Kopfende der Halle war leer. Alle Zurückgekehrten hatten sich an die Tische ihrer Häuser gesetzt, und die Eltern und sonstigen Angehörigen waren ihnen gefolgt.

Aber dann ging die Tür noch einmal auf, und herein kam – auf einen Stock gestützt, aber dennoch mit der ihr eigenen Aura energischer Autorität – Professor McGonagall. Die Gespräche verstummten. Während die Rückkehrer – mit der Ausnahme von Harper – nur gewusst hatten, dass McGonagall mit Voldemort im Schloss verschwunden war, hatten Scrimgeour und seine Leute sowie die Angehörigen, die seit gestern Morgen in Hogwarts eingetroffen waren, sie noch als Statue vor der Schule stehen sehen.

Als sie nun mit einiger Mühe durch die Halle zur Lehrertafel ging, begannen erst einige zu klatschen, dann brandete schließlich Beifall in der ganzen Halle auf, der noch eine ganze Weile anhielt, nachdem sie ihren Tisch erreicht und sich zu ihnen allen umgewandt hatte.

"Sie lebt!", keuchte Moody, der schräg gegenüber von Bill saß. "Sie hat's tatsächlich überlebt!"

Er brach in Husten aus, das im brausenden Klatschen unterging, und wischte sich das verbliebene Auge. Obwohl er über der leeren Augenhöhle inzwischen eine Augenklappe trug, wandte Harry den Blick ab.

Tränen, dachte er. Ich glaub, ich kann das nicht mehr länger ertragen. Tränen und kein Ende. Alle heulen sie ständig. Das ist doch irgendwie bekloppt.

Er hätte nicht sagen können, wieso er das so bekloppt fand. Er wunderte sich, dass er selbst anscheinend als Einziger nicht den geringsten Drang zu weinen verspürte.

Ich bin tot, daran liegt das, dachte er und unterdrückte ein Kichern. Sie haben das bloß noch nicht gemerkt.

Endlich ließ der Beifall nach, und Professor McGonagall sah sie alle mit einem strahlenden Lächeln an.

"Ich bin so glücklich, dass Sie alle wohlbehalten zurückgekehrt sind – fast alle. So glücklich und dankbar!" Nach einer Pause – in der offenbar auch sie mit den Tränen zu kämpfen hatte, wie Harry bemerkte – sprach sie schnell weiter, damit die allgemeine Rührung nicht überhand nehmen konnte.

"Ich bin sicher, dass wir alle zahllose Fragen haben, wichtige Fragen, die wir in den nächsten Wochen zu klären haben.

Es scheint unglaublich, dass wir alle, das Schloss und nicht zuletzt das ganze Land aus dieser fürchterlichen Lage befreit worden sind! Ich habe noch längst nicht alles gehört, was dazu geführt hat, und den meisten von Ihnen wird es nicht anders ergehen.

Aber heute soll uns die wichtigste Neuigkeit erst einmal genügen. Ich bin eigentlich nicht die richtige Person, sie Ihnen mitzuteilen, denn ich habe keinerlei Anteil daran gehabt. Aber lassen Sie es mich Ihnen trotzdem sagen: Voldemort ist bezwungen. Wir brauchen uns nicht länger zu fürchten!"

Die Stille in der Halle war so tief, dass Harry nicht zu atmen wagte.

Da waren sie wieder, die Bilder vor seinen Augen. Bezwungen, sagte sie, und die anderen saßen da, erstarrt in Ehrfurcht. Aber er sah Bellatrix Lestranges wahnsinnige Augen, bevor sie –

Und das kleine, faltige Gesicht dieses Babys –

Den feinen Nebel, der in das Medaillon geglitten war.

Sie begannen wieder zu klatschen, und diesmal dauerte es minutenlang. Harrys Blick suchte Harper. Sie saß da neben Slughorn und diesem Auror, Mainwaring, am Slytherin-Tisch. Reglos wie er selbst.

Unter Beobachtung, ging es Harry durch den Kopf. Kann man denen nicht verdenken.

Endlich konnte McGonagall fortfahren.

"Es gibt da so vieles, was ich – was viele von uns nicht verstehen. Dinge, die geklärt werden müssen und über die wir noch viel sprechen werden. Aber jetzt möchte ich nur denjenigen danken, die das zustande gebracht haben."

Wenn sie jetzt meinen Namen nennt, gehe ich, dachte Harry.

Aber McGonagall nannte keine Namen. Ihr Blick suchte und fand Harry und umfasste ihn mit einem Lächeln, aber sie sagte nichts weiter dazu. Ihr Gesicht wurde wieder ernst, als sie fortfuhr.

"Leider ist es uns bisher nicht gelungen, unsere Kollegen und Mitschüler, die in den Schutzräumen Zuflucht gesucht hatten, wieder zu befreien. Voldemort hat diese Schutzräume aus ihrer Verankerung gerissen, und es scheint möglich – dass diese Zuflucht ihnen zur Falle wurde. Aber ich vertraue fest auf das Team von Experten, das Minister Scrimgeour nach Hogwarts gebracht hat – und das übrigens auch mich aus einer Versteinerung befreien konnte – dass wir – unsere Freunde bald wieder bei uns haben werden."

Sie sagte es mit fester Stimme, aber die Tränen in ihren Augen straften die Zuversicht ihrer Worte Lügen.

"Ich wünsche Ihnen allen geruhsame Tage. Erholen Sie sich im Kreis Ihrer Familien, Ihrer Freunde. Alle Angehörigen sind herzlich eingeladen, erst einmal in Hogwarts zu verweilen. Wir haben den Gästetrakt geöffnet.

Und wenn wir die Entrückten zurückgeholt haben, lassen Sie uns wieder mit dem Alltag beginnen. Lassen Sie uns dankbar sein, dass das Böse eine Niederlage erlitten hat."

Und nach diesen Worten nahm sie an der Lehrertafel Platz, während erneut Beifall durch die Halle rauschte.

Mit einem Seufzen griff George nach einer großen Marzipantorte, die zwar nicht ganz passend, aber unwiderstehlich in der Mitte des Tisches prangte.

oooOOOooo

Was immer die Küchenelfen in die Getränke gemischt hatten – bei Harry hatte es gewirkt. Er erwachte erst wieder am nächsten Morgen, als vor den Fenstern des Schlafsaals goldenes Septemberlicht stand. Er fühlte sich so gut wie lange nicht, und als er sich da in seinem Bett streckte und wieder in die Decken kuschelte, erschien ihm auf einmal auch der Ausblick in die Zukunft nicht mehr so schlimm.

Irgendwas wird mir schon helfen, dachte er schläfrig und zufrieden und schlief noch einmal ein.

Diese Stimmung hielt an, bis er eine Stunde später am Frühstückstisch saß. Fred, George und Ron saßen auch dort.

Warum hat er mich nicht geweckt, überlegte er, und da war schon wieder ein erstes Flackern dieses kalten Gefühls von Fremdheit.

Die beiden waren in einen Stapel Zeitungen vertieft.

"Ist 'ne Menge passiert in letzter Zeit", sagte George undeutlich durch einen halben Toast.

"Der muss ja ein ganzes Heer gehabt haben", staunte Ron, der auf ein Foto starrte, auf dem eine Menge abenteuerlich ausgerüsteter, aber darum nicht weniger Furcht einflößender Gestalten zu sehen waren, die durch die Straße eines Dorfes stürmten.

"Ja", sagte Fred. "Aber er ist wohl nicht mehr dazu gekommen, sie sinnvoll einzusetzen. Das waren Übergriffe, um Panik auszulösen, so wie das da in diesem Fußballstadion, oder die Sache mit den Inferi in der U-Bahn. Insgesamt –"

"Ach, übrigens Inferi! Dieses Anti-Inferi-Spray sollten wir vom Markt nehmen", unterbrach ihn George. "Das war noch nicht ausgereift."

"Was soll das heißen?"

"Also, ich hab's ausprobiert. Hab einem 'ne volle Ladung verpasst. War gut, dass mir überhaupt noch einfiel, dass ich das Zeug in der Tasche hatte. Aber keine Rede von Auseinanderfallen oder Auflösen oder so. Der war gerade mal ein paar Sekunden abgelenkt."

"Hagrid hat mir eben gesagt, dass die Totengräber-Quallen sich in den letzten Tagen gegenseitig gefressen haben", sagte Fred und nahm sich noch einen Teller mit Ei und Speck. "Also ist es mit dem Gift fürs Erste sowieso vorbei."

Während Fred und George ins Fachsimpeln gerieten, sah Harry wieder vor sich, wie George auf einmal aus diesem Inferi-Ring ausgebrochen war. So war das also gewesen! Und dann war er losgerannt und gegen Hermione und Neville unter dem Tarnumhang geknallt, die sich vorsichtig in Richtung Harry vorangearbeitet hatten.

Er sah auf seinen Teller, auf den er eben eine Portion Cornflakes gefüllt hatte, und fühlte eine leise Übelkeit in sich aufsteigen. Wie konnten die beiden nur einfach so beim Frühstück darüber sprechen?

Ich werd' das nie vergessen, dachte er verzweifelt. Es wird nie mehr so sein wie früher.

Dann sah er Hermione auf den Tisch zukommen. Sie lächelte ihm entgegen und setzte sich neben ihn.

"Gibt's was Neues von Welldone? Hat er –", fragte sie sofort.

Ron schüttelte den Kopf. Das musste als Antwort genügen. Die Entrückten waren ein Thema, über das sie nicht sprechen konnten. Alle dachten daran und verloren still und leise die Hoffnung, dass sie wieder gefunden werden könnten. Aber aussprechen konnte es niemand. Da befasste man sich lieber ganz schnell mit etwas anderem.

Hermiones Blick fiel auf die Zeitungen, und augenblicklich war ihr Interesse gefangen. Sie saß neben ihm, verspachtelte mehrere Scheiben Toast und ackerte sich völlig gebannt durch die Zeitungen. Zu seiner Überraschung sah Harry, dass auch Muggelzeitungen dabei waren.

"He, habt ihr das gelesen?", fragte Ron plötzlich. "Diese komische Entrückung war auch in der Muggelwelt wirksam. Konnte keiner mehr rein oder raus aus dem Land. Die Muggel können sich das immer noch nicht erklären und – 'spekulieren über den Testeinsatz einer geheimen neuen Waffe'", zitierte er.

"Ja. Das haben meine Eltern mir auch erzählt", sagte Hermione, ohne die Nase aus ihrer Zeitung zu nehmen. "Frag mich, was der wohl vorhatte. Das ganze Land zu isolieren und dann seine Todesser überall auf die wichtigen Stellen zu setzen?"

"Denkst du, er hatte wirklich noch einen Plan?", fragte Harry leise. "Die Harper meinte, er hätte gar kein Ziel mehr gehabt. Wollte nur –"

"Habt ihr übrigens mitbekommen, dass Scrimgeour die Harper unter Bewachung stellen wollte?", unterbrach George ihn.

"Wundert mich nicht. Mir ist immer noch nicht klar, welche Rolle die eigentlich gespielt hat", sagte Ron mit vollem Mund.

"Er hat sie gestern nach der Besprechung noch über zwei Stunden verhört. Bill war auch dabei. Ich glaub, der hat sich für sie eingesetzt. Wollte nicht drüber reden. Aber jedenfalls ist die Harper noch hier. Hab sie eben mit Moody und McGonagall gesehen."

Harry wollte gerade etwas sagen, da fühlte er etwas Kaltes an seiner linken Schulter entlangstreifen und dann hörte er eine Stimme in sein Ohr zischen:

"Der Potty ist ein armes Schwein

der lässt ab jetzt das Zaubern sein!"

"Zieh ab, Peeves!", sagte George.

Stattdessen zischte es nun in Harrys anderes Ohr:

"Der Potty ist ein armer Tropf

der hat nur noch 'nen Muggelkopf!"

Dann erhoben sich sämtliche Toastscheiben von den Tellern und begannen um Harrys Kopf herumzuschwirren.

"Jeder hier weiß ganz genau

der Potty ist 'ne arme –"

"Jetzt reicht es, Peeves!", schrie Hermione. "Ohne ihn wär' keiner von uns mehr hier! Hau endlich ab!"

"Schon gut", sagte Harry und schlug die Toastscheiben um sich herum auf den Tisch und den Fußboden. "Ich gehe."

Und während die anderen ihm verwirrt und ein bisschen verlegen nachsahen, verließ Harry so würdevoll wie möglich die Große Halle.

Ich frag mich bloß, woher der das alles weiß, dachte er, trotz seiner Wut überrascht. Aber auch alle anderen schienen Bescheid zu wissen. Die Nachricht von seinem – konnte man das Missgeschick nennen? – schien sich auf geheimnisvolle Weise in Windeseile verbreitet zu haben.

"Harry, warte doch!", rief Hermione, die ihm nachrannte. "Du kennst doch Peeves. Nimm das nicht ernst. Alle hier – alle hier –"

Sie brach ab und nahm stattdessen seine Hand.

"Alle hier glotzen mich an", beendete Harry ihren Satz. "Und sie haben ja auch Recht. Ich gehör' nicht mehr hierher."

"Harry!"

Das klang fast wie der Auftakt zu den nächsten Tränen. Harry konnte es nicht mehr ertragen. Er wollte nur noch raus.

"Ich geh' ein bisschen spazieren. Willst du mitkommen?", fragte er brüsk.

Sie nickte.

Als sie in die Eingangshalle kamen, huschte etwas an ihnen vorbei, und Harry hörte wie aus weiter Ferne den Vers:

"Der Potty ist ein armer Hund

den hext kein Heiler mehr gesund!"

Dann knallte es plötzlich hinter ihm, und eine sehr gut vernehmliche Stimme rief ihm nach: "Mr Potter – Harry Potter, Sir!"

Er wandte sich stöhnend um.

"Nicht jetzt, Dobby! Nicht du auch noch. Mir reicht es gerade!"

Wieso kann ich den eigentlich sehen, fragte er sich mürrisch.

"Aber Mr Potter – Dobby hat etwas Wichtiges zu sagen! Peeves, lass Harry Potter sofort in Ruhe!", brüllte der Hauself mit einem Mal wütend und schüttelte die kleinen Fäustchen gegen Harrys Rücken.

"Potty ist ein armer Wicht

blies sich selber aus das Licht!",

hörte Harry es in seinem Nacken kichern. Dann krachte es, und Dobby neben ihm machte ein zufriedenes Gesicht.

"Später, Dobby", sagte Harry schnell und schlüpfte mit Hermione hinaus, bevor Dobby erneut loslegen konnte.

oooOOOooo

Sie liefen die breite Treppe hinunter. Hier und da sah man andere Leute über die Wiesen gehen, Angehörige, die immer noch warteten.

Harry und Hermione gingen schweigend nebeneinander her, bis sie sich unversehens bei den Gewächshäusern wiederfanden, genau an der Stelle, wo sie vor so langer Zeit, wie es ihnen schien, eine ihrer wenigen Stunden Zweisamkeit verbracht hatten.

Beide hatten die ganze Zeit überlegt, wie sie zurückfinden konnten in die Stimmung ihrer Verliebtheit. Sie sehnten sich danach, einander nahe zu sein und sich in die Geborgenheit fallen lassen zu können, die doch einmal zwischen ihnen bestanden hatte. Aber irgendwie war es, als fehlte ihnen die Kraft, das auszusprechen oder dem anderen mehr als nur die Hand zu geben.

Harry war ganz verzweifelt, weil er sich so leer und ausgehöhlt fühlte. Und was konnte er auch zu ihr sagen? Wer war er denn noch?

Hermione stand still neben ihm.

"Ich frag mich, was aus den Schluffern geworden ist", sagte Harry rauh, nur um das schreckliche Schweigen zu übertönen.

"Harry", sagte Hermione. "Ich – ich liebe dich. Bitte sag doch was zu mir."

"Ich bin ein Muggel", sagte er und fiel kichernd in ihre Arme.

Sie schlang beide Arme um ihn.

"Das war der erste Junge, den ich geküsst habe, auch", flüsterte sie an seiner Wange. "Da war ich fünf."

Und dann gab es erst mal ein paar Minuten lang nichts mehr zu sagen.

Schließlich setzten sie sich wieder auf die Stufe vor dem Nebeneingang, zwischen den beiden Gewächshäusern.

"Ich hab immer noch so vieles nicht kapiert", sagte Hermione. "Trotz dieser endlosen Besprechung gestern."

Harry ging es genauso. Im Anschluss an das Frühstück gestern hatte Scrimgeour darauf bestanden, dass sie sich alle im Klassenraum für Verteidigung versammelten, ohne die Eltern und anderen Angehörigen selbstverständlich. Dann mussten sie berichten und Scrimgeours Auroren – die schon erstaunlich gut informiert zu sein schienen – Rede und Antwort stehen.

Einzig Draco war davon vorerst verschont geblieben. Er lag auf der Krankenstation, mit etwas, das Madam Pomfrey als Schock und Unterernährung bezeichnete. Und Luna war natürlich auch dort, nach wie vor im Tiefschlaf. Aber alle anderen saßen an den Tischen, übermüdet, erschöpft und geschockt, und sahen sich etwas ausgesetzt, das man auch als Verhör hätte bezeichnen können. Die einzige Vergünstigung waren große Kannen mit Kaffee, Tee und was immer sie sonst trinken wollten.

Harry hatte mühsam das Wenige berichtet, das er wusste, und dabei die fürchterlichen Zimmer des Spiegelgangs wohlweislich ausgelassen. Er wollte nicht auch noch für verrückt gehalten werden. Erst da hatte er erfahren, dass Hermione ihm in diesen Spiegel gefolgt war. Auch sie hatte sich sehr kurz gefasst, was diesen Weg anging, und nur erwähnt, dass sie Harrys Tarnumhang von dort mitgenommen hatte.

"Wo hast du meinen Tarnumhang eigentlich gefunden?", fragte Harry jetzt.

"Er hing an einem Garderobenhaken. Im Gang vor der Bibliothek."

"Ich dachte, du –"

"Ja, ich weiß, es klingt verrückt. Aber als ich in den Spiegel ging – da kam ich irgendwie in die Bibliothek. Und da hab ich ein paar – komische Sachen gesehen. Dich und Ron – ihr seid auf Besen vor dem Fenster vorbeigeflogen. Ich – ich dachte, ihr wolltet euch gegenseitig umbringen. Du sahst so anders aus. Hattest sogar so 'ne Krone auf, mit – Zähnen drin."

Harry hätte gern gegrinst, aber das Grinsen gefror ihm sozusagen auf dem Gesicht. Es war so nahe dran gewesen – so nahe!

"Ich versteh das jetzt", murmelte sie, dicht an seinem Ohr. "Das Verrückteste war, dass mir irgendwie Harpers Stimme gesagt hat, ich sollte das Buch vor mir auf 'ner bestimmten Seite aufschlagen und nach der Anleitung dort meinen Zauberstab verhexen."

"Das ist wirklich verrückt."

"Das wirklich Verrückte ist, dass der Zauber überhaupt nicht in Armigers Buch drinsteht", sagte Hermione trocken. "Ich hab das gestern noch nachgeschlagen. Ich glaub, diesen Zauber gibt es gar nicht."

Darüber musste Harry nun doch lachen.

"Sag bloß, du warst noch in der Bibliothek? Nach dieser Endlossitzung!"

"Nee. Ich hatte das Buch bei meinen Sachen."

Sie strich unerwartet über die Narbe auf seiner Stirn.

"Sie ist jetzt viel blasser, weißt du", sagte sie beiläufig. Und fuhr nach einer kurzen Pause fort: "Es tut mir so furchtbar leid, dass wir den Tarnumhang da – da oben liegen gelassen haben. Ich kann dir gar nicht sagen wie sehr."

Harry seufzte. "Wer weiß, ob ich den noch gebrauchen könnte", murmelte er.

"Ich verstehe immer noch nicht, wie er da vor die Bibliothek kam – oder wo immer das nun wirklich war."

Harry seufzte noch einmal. Schließlich begann er zögernd von seinem Gang durch den Spiegel zu erzählen, brachte es aber nicht über sich, von den einzelnen Szenen zu sprechen, die er durch die Türfenster gesehen hatte.

"Dieser Spruch – von Trelawney, meine ich – mir ist endlich eingefallen, woher ich ihn kannte", sagte Hermione auf einmal. "Das war aus der Bibel. Meine Mum hat mir früher oft daraus vorgelesen. Als ich klein war. Sie mochte diesen Text besonders gern. Ich glaub, meine Eltern hatten den bei ihrer Trauung. 'Wir sehen jetzt nur undeutlich, wie in einem dunklen Spiegel – dann aber von Angesicht zu Angesicht.' Das ist ein Text, in dem es um die Macht der Liebe geht."

"Von Angesicht zu Angesicht? Das hat die Trelawney doch auch gesagt, oder?"

Hermione nickte.

"Was mag wohl noch kommen?", fragte sie nachdenklich. "Von Angesicht zu Angesicht, meine ich?"

"Findest du nicht, wir haben genug gesehen? Also, mir reicht es für den Rest meines Lebens", erwiderte Harry.

"Ja", sagte sie, und ihr Blick streifte Harry scheu.

Über die Ereignisse in Voldemorts Thronsaal hatten sie nicht gesprochen, nicht sprechen können. Auch gestern hatten sie zu diesem Thema soweit es ging die anderen reden lassen. Hagrid, Slughorn, George, Ron. Und Harper. Bill. Vor allem diese beiden.

Als Harper in knappen Worten berichtete, was mit Voldemort geschehen war und wie, war Neville zusammengeklappt. Einer von Scrimgeours Leuten hatte ihn hinausgeführt. Später, als sie noch einmal nach Luna sehen wollten, hatte auch Neville im Krankensaal gelegen und geschlafen.

Harry erinnerte sich mit einem unangenehmen Frösteln an die Unruhe, die dort geherrscht hatte. Die Heiler hatten mit ernsten Gesichtern in Pomfreys Büro herumgestanden. Im Vorbeigehen hatten sie gehört, wie sie darüber berieten, ob Snapes Bein amputiert werden müsse. Auch Narcissa Malfoys Zustand schien ihnen Sorgen zu machen. Harry hatte ihr ausgemergeltes Gesicht auf dem Kissen des Krankenbettes gesehen und war ziemlich sicher, dass er sie nicht wieder erkannt hätte. Die Wachen, die am Vortag hier postiert gewesen waren, hatte Scrimgeour schließlich auf den Protest der Heiler hin – die hatten sich beschwert, dass sie ständig im Weg seien und es dort ohnehin nichts zu bewachen gebe – zähneknirschend wieder abgezogen.

"Aber ich hab das Gefühl, dass da noch mehr mit gemeint war. Nicht – das Angesicht des – des Bösen. Verstehst du?", sagte Hermione jetzt.

"Ich soll mit Dumbledore sprechen!", fiel es Harry da auf einmal ein. "Erinnerst du dich, was Luna gesagt hat?"

Hermione blickte skeptisch drein. "Sie war nicht ganz bei sich. Ich würd' da nicht zu viel drauf geben, Harry."

"Egal. Ich muss sowieso mit ihm sprechen. Irgendwann muss er doch auch mal aufwachen, in diesem Porträt."

"Willst du ihn fragen, ob – ob –"

"Ob das rückgängig gemacht werden kann, meinst du? Dass ich wieder zaubern kann?"

"Na ja. So in etwa."

Harry lachte freudlos.

"Nein. Ich bin sicher, dass das nicht geht. Ist es so schlimm für dich?"

"Nein", sagte sie leise. "Aber für dich. Ich komm' damit klar."

Sie waren aufgestanden und gingen langsam wieder auf das Schloss zu.

"Ich weiß noch nicht mal, was das für mich bedeutet", sagte Harry nachdenklich. "Ich weiß nur, dass –"

Er brach ab. Dass ich hier nicht mehr hingehöre, hatte er sagen wollen. Aber er brachte es nicht über die Lippen.

"Harry, da ist noch was. Morgen – kommt Ginny nach Hogwarts. Bill hat mir das gestern noch gesagt."

Sie sahen sich an.

"Ja", sagte er schließlich. "Das ist okay."

Eine kleine Welle von Zärtlichkeit und Bedauern lief über ihn hinweg, als er sie plötzlich wieder vor Augen hatte. Hermiones verwirrten und nicht ganz glücklichen Blick bekam er gar nicht mit. Er hatte den Arm um sie gelegt und nicht vor, sie in nächster Zeit loszulassen. Egal, wer sie so sehen mochte.

oooOOOooo

Der Tag verging gemächlich. Am Vortag hatte er es dank Scrimgeours Planung nicht mehr geschafft, in die Eulerei zu gehen und nach Hedwig zu sehen. Das tat er nun und war sehr froh, dass sie wohlbehalten da war und ihn auch noch erkannte.

Eine Weile tauchte Harry in der vertrauten und tatsächlich beinahe fröhlichen Gesellschaft der Weasleys unter, wenn er auch merkte, dass Ron Abstand zu halten schien. Auch Hermione kam zu ihnen, nachdem ihre Eltern sich wieder verabschiedet hatten. Sie waren ja Muggel und fühlten sich wahrscheinlich trotz der besonderen Möglichkeiten, die McGonagall extra für diese Gelegenheit eingerichtet hatte, nicht sehr behaglich in Hogwarts.

"Und vor allem müssen sie in ihre Praxis zurück", erklärte Hermione, während sie sich in einen freien Sessel setzte.

Sie ließen sich von den Weasleys berichten, was außerhalb von Hogwarts in den vergangenen Tagen vorgefallen war, und versuchten, möglichst allen Fragen über ihre eigenen Erlebnisse auszuweichen. Schließlich saßen sie alle im Gemeinschaftsraum und hörten Musik.

Das Gefühl der Entfremdung, das Harry schon so oft beschlichen hatte – genau besehen hatte es ihn nicht mehr verlassen, seit er den Tabula-Rasa-Zauber mit all seinen Konsequenzen entdeckt und als seinen Weg erkannt hatte – dieses Gefühl wurde hier in dem Raum, der sein eigentliches Zuhause gewesen war, übermächtig. Und dann auch noch die Musik. Es war unerträglich.

Er stand auf und murmelte etwas von einem Gespräch, zu dem ihn Professor McGonagall gebeten habe. Hermione sah ihn fragend an, und er erwiderte den Blick bittend. Sie schien zu verstehen, denn sie ließ ihn gehen.

oooOOOooo

Es wurde langsam Abend, als er vor McGonagalls Büro stand. Die Zeiten der heimlichen Ausflüge unter dem Tarnumhang sind vorbei, dachte er zynisch.

"Was gibt es denn, Harry?", fragte Professor McGonagall mit besorgtem Blick. Sie hatte bisher darauf verzichtet, ihn zu sich zu bestellen und die ganze Geschichte von ihm zu hören. Sollte er sich lieber erst noch ein Weilchen ausruhen. Und jetzt kam er von selbst an?

"Ich wollte nur fragen, ob Sie mich vielleicht – in Professor Dumbledores altes Büro lassen könnten", sagte er.

Sie sah ihn fragend an.

"Ich – ich muss einfach sehen, ob er mit mir sprechen kann!", erklärte Harry mit einem Unterton der Verzweiflung. "Verstehen Sie, es ist wirklich wichtig."

"Ja, das verstehe ich schon, Harry. Aber ich fürchte, er ist immer noch nicht ansprechbar. Ich war selbst heute Mittag noch oben."

"Bitte! Lassen Sie es mich versuchen!"

"Ich werde Sie begleiten", sagte sie entschlossen und ging dann energischen Schrittes voran. "Was für ein Glück, dass ich meinen ersten Zauberstab immer aufbewahrt habe. Es ist schon vierzig Jahre her, dass er einen Riss bekam und unzuverlässig zu werden begann. Aber wenigstens habe ich jetzt überhaupt noch einen."

Harry folgte ihr und überlegte, dass sie vermutlich annahm, er wolle Dumbledore um Hilfe bitten. Aber das hatte er gar nicht vor. Er war überzeugt, dass der Verlust seiner magischen Fähigkeiten endgültig war. Er hatte jedoch mindestens eine dringende Frage an Dumbledore.

Er war froh, dass sie niemandem begegneten. Das Schloss war trotz der Gäste immer noch geisterhaft leer. Und selbst die Porträts schienen zu verstummen, wenn er in Sicht kam. Er wunderte sich immer wieder, dass ihm selbst nichts verändert schien; es schien nichts zu fehlen hier, er konnte – von Peeves mal abgesehen – alles so wahrnehmen wie früher. Irgendwie hatte er erwartet, dass sich die Gemälde für seine Augen nun nicht mehr bewegen würden. Oder dass die Treppen stillstehen würden.

Aber das stimmt nicht, dachte er. Alles ist wie immer. Nur ich bin nicht mehr in diesem Bild. Sie sind perfekt ohne mich. Sie kommen prima klar ohne den Helden. Ich komme nicht mehr in ihrer Welt vor, aber ihr scheint nichts zu fehlen.

Seine Gedanken wollten sich wieder verwirren, wie so oft in den letzten zwei Tagen.

Stumpf versuchte er, sich nur auf den Weg in den siebten Stock zu konzentrieren. Auch er hatte keine große Hoffnung, dass Dumbledore in seinem Porträt endlich erwacht war.

McGonagall sagte ein Passwort, woraufhin sich der Wasserspeier zur Seite bewegte und die spiralige Treppe dahinter freigab.

Seltsam beklommen stieg Harry hinter ihr hinauf.

Ich hätte nicht mal mehr die Tür öffnen können, dachte er.

Oben im kreisrunden Büro herrschte tiefes Dämmerlicht.

Professor McGonagall ließ einige der kleinen Lampen aufleuchten. Dann standen sie beide da und blickten sich schweigend um.

Harry war so lange nicht mehr hier gewesen.

Fawkes fehlte natürlich. Und da war ein Brett über dem Porträt dieses Zauberers, der immer die mäkeligen Kommentare losgelassen hatte. Das überraschte ihn. Na ja, der konnte ja immer noch in sein Porträt am Grimmauldplatz umziehen, fiel es Harry ein. Falls das immer noch da hing ...

Und – ja, all die kleinen Geräte, die zu Dumbledores Lebzeiten zur heiteren Geschäftigkeit dieses Raums beigetragen hatten, schwiegen nun. Eines von ihnen schien sogar völlig zerstört zu sein.

Und da war er. Professor Dumbledore im goldgerahmten Porträt hinter seinem ehemaligen Schreibtisch. Er schlief und sah sehr friedlich aus.

Die Stille in diesem Büro hatte etwas Endgültiges. Harry fühlte, wie es in ihm aufkochte. Es war tatsächlich so, dass sich ihm die Haare sträuben wollten. Seine Fäuste ballten sich wie von selbst.

"Hier ist einiges vorgefallen. Als ich das letzte Mal –", setzte McGonagall an.

Harry hatte ihre Worte nicht einmal gehört. Er war zu dem Porträt hinter dem Schreibtisch gegangen und stand nun zitternd davor.

"WACHEN SIE ENDLICH AUF!", brüllte er auf einmal so laut, dass er die Spucketröpfchen auf den Bilderrahmen fliegen sah. Es war ihm egal.

"Aber Mr Potter – ich muss doch –"

"Wachen Sie auf, Professor Dumbledore!", brüllte Harry, nicht ganz so laut wie beim ersten Mal.

Und endlich, endlich hob Dumbledore den Kopf von seinem karierten Sofakissen und sah Harry verschlafen an. Er tastete nach seiner Brille, setzte sie wieder richtig auf und lächelte Harry dann an. Ein Lächeln, bei dem Harry das Gefühl hatte, die Sonne gehe nach langen Monaten der Dunkelheit endlich wieder auf. Nur nicht für ihn.

"Harry! Wie schön, dich zu sehen!"

"Schön? Schön finden Sie das?", schrie Harry, immer noch ganz außer sich. "Wissen Sie eigentlich, was hier alles abgelaufen ist, als Sie da geschlafen haben?"

"Also, Mr Potter, das reicht jetzt –"

"Ein unglaubliches Benehmen!", zischte es hinter dem Brett hervor.

"Ich habe nicht geschlafen, Harry. Na ja, jedenfalls nicht nur, weißt du. Ich habe versucht, dich zu begleiten. Aber ich konnte dir nicht überallhin folgen. Es tut mir wirklich leid, Harry", sagte Dumbledore, ohne sich um McGonagall oder Phineas Nigellus zu kümmern. "Es gibt noch eine Menge, von dem du mir berichten musst."

Harry war entwaffnet. Es war ja letztlich auch so egal. Es war ja alles gelaufen.

"Aber jetzt bin ich – wach", sagte Dumbledore mit einem feinen Lächeln. "Und ich bin sehr, sehr froh, dich zu sehen. Und Sie, Minerva! Gerade auf euch habe ich gewartet. Es gibt eine Sache, die ich euch unbedingt zeigen muss. Minerva, würden Sie so freundlich sein, das Denkarium aus dem Schrank dort zu nehmen? An jenem – unglückseligen Abend habe ich noch etwas extrahiert."

Er brach ab und blickte einen Moment grübelnd vor sich hin.

"Extrahiert? Eine Erinnerung? Damals, als –", begann McGonagall.

"Genau. Und jetzt überlege ich, wo ich den Flakon hingetan habe. Es ging alles so schnell damals. Moment. Ich schickte Harry den Tarnumhang holen – richtig, da fiel mir ein, ich sollte diese Sache für alle Fälle noch hier lagern. Dann habe ich noch – jetzt weiß ich es wieder. Harry, siehst du das Paket da oben, in dem Fach unter dem Hut?"

"Phoebe's Phantastisches Phönixfutter?", fragte Harry und kam sich wie ein lispelnder Idiot vor.

"Ganz recht. Da drin muss der Flakon sein. Sieh doch bitte mal nach."

Harry öffnete den Pappkarton und wühlte zwischen großen Nüssen und Körnern, bis seine Finger einen kleinen, kantigen Gegenstand umschlossen. Er zog ihn heraus, und es war tatsächlich ein kleiner Glasflakon.

"Gutes Versteck", sagte Harry und wischte Nussmehl von dem Glas, bevor er es Professor McGonagall reichte.

"Das fand ich auch", sagte Dumbledore zufrieden. "So, und jetzt seht euch diese Erinnerung bitte sehr gut an. Es ist meine eigene, und das Gespräch, das sie zeigt, wurde einige Zeit vor jenem Abend geführt, an dem wir zu der Höhle aufbrachen."

"Höhle?", fragte McGonagall.

"Harry wird Ihnen das alles noch erzählen. Von dort kamen wir zurück, als hier die Todesser eingedrungen waren."

Harry sah Professor McGonagall zu, wie sie den Flakon öffnete und seinen Inhalt in das Denkarium goss.

"Ich weiß nicht –", begann er zögernd, "ich weiß nicht, ob ich da überhaupt noch was drin sehen kann."

Die beiden sahen ihn an, und vor dem Mitgefühl, das er in ihren Augen lesen konnte, senkte er den Blick.

"Du kannst, Harry", sagte Dumbledore dann. "Du kannst selbst keine Magie mehr bewirken. Aber natürlich kannst du sie sehen."

"Auch die Muggel können unsere Magie sehen, Harry", sagte McGonagall. "Wenn sie das nicht könnten, wäre eine ganze Abteilung des Ministeriums arbeitslos!"

"Peeves konnte ich nicht sehen!"

"Ein Geist ist nicht direkt – Magie. Und dann ist Peeves auch ein Poltergeist. Vielleicht wollte er einfach nicht, dass du ihn siehst?"

Darüber musste Harry erst einmal nachdenken. Schließlich stellte er sich neben McGonagall an das Denkarium und sah hinein in die weißen Wirbel, die sich langsam klärten und durchsichtig wurden –

ooOoo

Er stand neben Dumbledore am Waldrand. Es dämmerte eben, ein dünner Abendnebel hing über der Wiese, und es roch nach Frühsommer.

"Severus! Kommen Sie raus! Sie sind doch hier irgendwo", rief Dumbledore über den Waldpfad.

Tatsächlich erschien wenige Sekunden später Snape, der ihnen missmutig entgegenblickte. Er trug ein verschlossenes Glas in einer Hand, in dem eine violette, schillernde Flüssigkeit heftig Blasen warf, als wolle sie sich gegen das Eingeschlossensein wehren. Was immer er gemacht hatte, war offenbar nicht ganz nach seinen Vorstellungen abgelaufen. Seine Kleidung war über und über mit lilafarbenen Tropfen gesprenkelt, und ein feiner Schauer davon musste auch quer über sein Gesicht gesprüht sein. Er sah sehr sauer aus, als ihm auf einmal Dumbledore gegenüberstand.

"Guten Abend, Severus", sagte der freundlich. "Störe ich gerade?"

"Ja. Aber das hier ist sowieso misslungen. Was gibt es denn?", fragte Snape mürrisch und wischte sich über das Gesicht.

Das Ergebnis war nicht unbedingt eine Verbesserung, und Dumbledore verbiss sich ein Lächeln.

"Eigentlich gibt es einen ernsten Anlass", sagte er dann. "Ich glaube, ich habe den Ort gefunden, von dem Sie gesprochen haben. An einer – sagen wir – überraschenden Stelle. Ich werde bei nächster Gelegenheit versuchen, hineinzugelangen."

Snape betrachtete finster die Flecken auf seinem Umhang und sah Dumbledore dann abwartend an.

"Ich möchte, dass Sie vorbereitet sind", sagte Dumbledore. "Wenn Sie Recht haben und dort eine Falle auf mich wartet, ist es sehr gut möglich, dass ich hineintappe. Mal ganz davon abgesehen, dass es Fallen gibt, in die man hineinlaufen muss, um weiterzukommen – bin auch ich nicht unfehlbar, wie Sie wissen."

Aber Snape lächelte nicht.

"Vielleicht sollten Sie das besser nicht tun", sagte er schließlich. "Das letzte Mal sind Sie knapp genug davongekommen."

"Ja. Dank Ihnen", sagte Dumbledore nachdenklich und sah unwillkürlich auf seine schwärzlich verfärbte Hand. "Und das ist der eigentliche Grund meines Besuchs. Das letzte Mal hat es mir die Hand gefressen. Was geschehen wäre, wenn Sie nicht rechtzeitig da gewesen wären, will ich lieber gar nicht wissen. Aber wie wir beide wissen, neigen diese Objekte dazu, sich denjenigen einzuverleiben, der sie nicht schnell genug zerstören kann."

Sie schwiegen beide, und auch Snape blickte nun mit Widerwillen auf Dumbledores zerstörte Hand.

"Hören Sie, Dumbledore, ich bin mir nicht mehr sicher – ob ich das tun kann, was Sie da von mir erwarten", sagte Snape plötzlich.

"Sie haben sich dazu bereit erklärt, und ich würde sagen, dass es jetzt zu spät für einen Rückzieher ist!"

"Meinen Sie nicht, dass Sie da ein bisschen viel für selbstverständlich halten? Das ist doch wohl etwas, das ich selbst entscheiden muss!"

"Nein, Severus, das ist eine Sache, die wichtiger ist als wir beide! Und das sollten Sie lieber nicht vergessen!"

"Sie können mich nicht dazu zwingen", sagte Snape bockig.

Dumbledore machte einen Schritt auf ihn zu. Harry war überrascht, ihn wirklich wütend zu sehen.

"Kommen Sie mir jetzt nicht mit solchen Empfindlichkeiten, Snape! Es steht einfach zu viel auf dem Spiel!"

Mit zornigen Augen standen sie einander gegenüber.

"Ich – kann das nicht!"

"Wenn das Schlimmste eintritt, müssen Sie es tun, Severus! Sie dürfen auf keinen Fall zulassen, dass er mich lebendig unter seinen Einfluss bekommt."

"Wie können Sie so etwas überhaupt von mir verlangen?", brach es auf einmal aus Snape heraus. "Meinen Sie, weil ich einmal – gemordet habe – kriege ich das sicher auch noch mal hin? Ist es das, was Sie denken?"

"Bis zu diesem Moment wusste ich nicht einmal sicher, ob Sie wirklich Blut an den Händen haben! Aber ja, wenn Sie mich so fragen – ja, ich denke, wenn Sie schon einmal aus welchen Gründen auch immer getötet haben, dann sollten Sie es gewiss in diesem Fall können, in dem Sie schließlich genau wissen, was auf dem Spiel steht!"

Snape wandte sich ab.

"Vermutlich habe ich das verdient", zischte er und setzte nach einem Moment des Schweigens hinzu: "Und vermutlich haben Sie sogar Recht."

"Lassen Sie nicht zu, dass es Besitz von mir ergreift, Severus", sagte Dumbledore nach einer Weile leise. "Wenn ich es nicht mehr kann, müssen Sie es vernichten. Und sei es, indem Sie mich töten!"

Snape blickte in den dunkelnden Wald zurück.

"Ich werde es nicht zulassen", sagte er schließlich.

"Ich danke Ihnen. Ich weiß, was ich Ihnen aufbürde. Und glauben Sie mir, es tut mir leid."

ooOoo

Harry riss den Kopf zurück und fand sich auf dem Boden von Dumbledores Büro wieder.

"Nein!", keuchte er. "Nein! Das kann doch nicht sein! Das kann doch gar nicht stimmen."

Neben ihm stand Professor McGonagall reglos und sah Dumbledore an.

"Sie hätten ihm das nicht zumuten dürfen", sagte sie leise.

"Ich hatte keine andere Wahl, Minerva. Harry wird Ihnen alles berichten, was er über Voldemorts Horcruxe weiß. Dann werden Sie verstehen."

Harry stand auf. Er konnte immer noch nicht fassen, was er eben gehört hatte.

"Sie haben ihn gebeten, Sie zu – töten?", stieß er schließlich hervor. "Also das –"

"Nicht mich, Harry! Das Horcrux. Er sollte das Horcrux vernichten, falls es unrettbar Besitz von mir ergriffen hätte."

"Aber das hatte es doch gar nicht – wie sollte es denn – das Medaillon war doch nicht mal echt!"

"Harry, nicht das Medaillon. Es war der Trank! Ich hatte schon so eine Ahnung, als ich feststellte, dass ich an das Medaillon nur gelangen konnte, indem ich die Flüssigkeit trank. Du erinnerst dich, es gab keine andere Möglichkeit, auch nur hineinzufassen."

Harry nickte. Wie hätte er das je vergessen können!

"Als ich dann trank – es war entsetzlich! Da endlich begriff ich, worin die Falle bestand! Dass er geplant hatte, mich auf diese Weise hilflos neben dem Becken mit seinem anderen Horcrux darin niederzustrecken, unfähig, mich zu bewegen oder mich noch irgendwie gegen ihn zu wehren. Ich habe Dinge gesehen, während ich diesen Trank leerte – unaussprechlich! Es durfte nicht geschehen!

Ich konnte fühlen, wie die bösartige Präsenz seines Seelenteils mich auszufüllen begann und darum kämpfte, die Kontrolle zu gewinnen. Glücklicherweise war ich nicht allein, und glücklicherweise hatte er nicht damit gerechnet, dass ich deine Hilfe – die Hilfe eines noch nicht einmal fertig ausgebildeten Zauberers – haben würde. Du hast mich dazu gebracht, diesen ganzen Trank zu leeren, so dass wir das Medaillon an uns nehmen konnten. Dann hast du mir geholfen, von dort wegzukommen, so dass er nicht einmal ahnte, dass jemand in seine Falle gegangen war. Als er hörte, dass ich in Hogwarts gestorben war, muss er sich sicher gewesen sein, dass seine Horcruxe dort in der Höhle noch unberührt waren.

Und hier in Hogwarts konnte Snape dann leicht erkennen, dass tatsächlich eingetreten war, was wir befürchtet hatten. Dann hat er getan, worum ich ihn gebeten hatte."

Daraufhin herrschte erst einmal Totenstille.

"Sie wollen sagen – dass er – dass Snape – kein Verräter und Mörder ist? Dass er auf Ihre Anweisung gehandelt hat?", fragte McGonagall.

"Aber wieso soll dieser Trank ein Horcrux gewesen sein? Sie haben nie von einem Trank-Horcrux gesprochen!", stieß Harry gleichzeitig hervor.

Irgendwie war er nicht bereit, diese ungeheuerliche Wendung der Dinge einfach hinzunehmen.

"Richtig, Harry, ich hatte Nagini selbst in Verdacht. Aber er hat es schlauer angefangen. Vermutlich brauchte er die Schlange noch. Vielleicht scheute er auch davor zurück, etwas Lebendiges zum Horcrux zu machen. Also hat er aus ihrem Gift ein Trank-Horcrux hergestellt."

Harry setzte sich einfach wieder auf den Boden. Das war alles zu viel. Die Szene aus dem Spiegelgang stand auf einmal wieder vor seinen Augen. Dumbledore, wie er diese Schlange aß – Stück für Stück, bis zum letzten Bissen. Und wie er dann nach einem Fläschchen Avada Kedavra verlangte –

"Ich muss das unbedingt den Kollegen mitteilen. Und Scrimgeour. Albus, Snape liegt schwer verletzt in der Krankenstation, und alle sind überzeugt, dass er Voldemorts erster Mann ist. Wenn er überlebt, wird Scrimgeour ihn vor Gericht stellen, und er wird verurteilt werden!"

"Das ist der Grund, weshalb ich Ihnen das gezeigt habe. Weshalb ich diese Erinnerung überhaupt konserviert habe. Sie müssen dafür sorgen, dass die Wahrheit bekannt wird, Minerva."

"Ich mache mich sofort auf den Weg", sagte McGonagall entschieden.

"Einen Moment noch, bitte.Ich habe da noch eine weitere Sache, die Harry sich unbedingt ansehen sollte. Minerva, wenn Sie mal in dem Geheimfach in der Schale von Fawkes nachsehen würden – wenn ich mich recht erinnere, lautet das Passwort – lassen Sie mich nachdenken – ja, wahrhaftig, es war Einstellungsgespräch."

McGonagall griff nach der dunkelroten Steinschale, die unter der Stange von Fawkes stand, und drehte sie in den Händen.

"Im Boden, Minerva", sagte Dumbledore, der ihr zusah, und unterdrückte ein Gähnen.

McGonagall berührte den Boden der Schale mit dem Zauberstab und sagte laut und deutlich, wenn auch nicht ganz ohne Ironie: "Einstellungsgespräch."

Es zischte, und einige dampfende, dunkelrote Tropfen fielen von der Schale auf den Fußboden. Aber tatsächlich sprang ein kleines Fach auf.

"Wirklich, Albus, der Humor Ihrer Passwörter erschließt sich mir immer noch nicht", sagte sie trocken, während sie ein winziges gläsernes Röhrchen aus dem Fach herauszog. "Ist es das?"

"Das ist es, Minerva. Und was das Passwort angeht – in diesem Fall ist das eine simple Inhaltsangabe. Nun, wie Sie sicher ahnen, handelt es sich auch hier um einen Gedankenfaden für das Denkarium. Würden Sie so lieb sein und Harry helfen, damit er sich die Sache ansehen kann? Sie ist – sozusagen ausschließlich für ihn bestimmt."

"Ich werde das für Potter vorbereiten, Albus. Und dann – ich denke, ich sollte diese – diese ungeheuerliche Sache den Kollegen schnellstens mitteilen."

"Ganz recht. Vielleicht ist es sogar am besten, sie das selbst sehen zu lassen. Damit alle Zweifel ausgeräumt sind."

McGonagall nickte und öffnete dann das Röhrchen, das den Gedankenfaden enthielt.

Harry hatte die ganze Szene stumm verfolgt. Er konnte immer noch nicht fassen, was er da eben erfahren hatte, und hörte förmlich, wie in seinem Kopf reihenweise die Gedanken einstürzten. Er bezweifelte, dass er noch eine weitere Offenbarung verkraften konnte.

"Harry, ich habe das vor allem für dich aufbewahrt. Ich hatte von Anfang an vor, es dich eines Tages sehen zu lassen. Aber dieser Tag schien mir dann in immer weitere Ferne zu rücken. Nun, sieh es dir an. Ich bin sicher, dass du – nach allem, was jetzt hinter dir liegt – wissen wirst, was du daraus machen kannst", sagte Dumbledore, und Harry stand endlich auf.

Zögernd trat er an das Becken, in dem jetzt wieder eine silbrig schimmernde Substanz wirbelte und wogte. Er wartete, bis die Wirbel sich legten und die gläserne Stille sich einstellte, durch die hindurch man in die Erinnerungen eines anderen hineinfallen konnte. Er war nicht sicher, ob er das überhaupt noch einmal wollte.

Als er sich umsah, hatte Professor McGonagall das Büro schon verlassen und Dumbledore betrachtete ihn aus seinem Porträt hinaus.

"Du solltest das wirklich sehen, Harry", sagte er schließlich. "Es ist sicher nicht angenehm. Aber es gibt Wahrheiten, denen man gegenübertreten muss. Von Angesicht zu Angesicht, wenn ich das mal so auszudrücken darf."

Davon hab ich genug gehabt, wollte er protestieren. Sie haben keine Ahnung, wie viel davon ich in letzter Zeit gehabt habe!

"Wessen Erinnerung ist das?", fragte er stattdessen.

"Meine eigene."

"Also gut", sagte Harry mit einem Seufzen, beugte sich über das Becken und blickte in gläserne Tiefen –

ooOoo

Er sank in einen düsteren Flur – nicht schon wieder! dachte er verzweifelt. Neben ihm war Dumbledore, und es tröstete ihn, dass er ihn sehen konnte, als habe er ihn mitgenommen auf diesen Ausflug, anstatt dass er durch Dumbledores Augen sehen musste. Aber der Dumbledore, der da neben ihm stand, war offenbar in großer Eile. Und in Sorge, wie Harry an seinem ungewohnt angespannten Gesicht sehen konnte.

"Es muss da oben sein", murmelte er und schlug mit seinem Zauberstab gegen die Decke über sich. Eine Falltür klappte heraus und gab eine hölzerne Leiter frei, die vor ihre Füße fiel. Dumbledore verlor keine Sekunde und stieg die Leiter hinauf durch die Luke. Harry folgte ihm zögernd und betrat einen düsteren, staubigen Dachboden, durch dessen einziges, halb blindes Fensterchen eben genug Tageslicht drang, dass man das Gerümpel sehen konnte, das unter den schrägen Wänden gestapelt war.

Dumbledore stürmte mit großen Schritten über die knarrenden Holzdielen.

Altersgeschwärzte Balken verliefen quer unter dem Dach. Und ganz hinten, offenbar so weit weg von dem Fenster wie möglich, lag ein umgestoßener Hocker.

"Diffindo!", rief Dumbledore.

Mit drei Schritten war er bei der dunklen Gestalt, die von einem der Balken herabhing. Sie schwang noch langsam hin und her. Als Dumbledore sie erreichte, hatte sich der Knoten der Schlinge schon gelöst und ihr Opfer frei gegeben. Es fiel krachend auf den Boden.

"Hab ich mir's doch gedacht! Severus! Severus, mein Junge!", sagte Dumbledore sanft, als er sich über ihn beugte. "Was ist das für ein Unsinn? Dachtest du wirklich, dass du so davonkommen könntest?"

Während der Mann am Boden keuchend nach Luft rang, fuhr Dumbledore zu niemand bestimmtem fort: "Na ja, wenn ich's mir recht überlege, hättest du es auch beinahe geschafft."

Er packte Snape – einen ziemlich jungen Snape, kaum älter als der, der Harry hinter der letzten Tür des Spiegelgangs begegnet war – und zog ihn recht grob vom Boden auf. Er beobachtete, wie er langsam und widerwillig zu sich kam.

"Warum haben Sie mich nicht in Ruhe gelassen?", stieß Snape endlich krächzend hervor und fing an zu husten.

"So geht das nicht", erwiderte Dumbledore ernst. "Du kannst nicht einfach davonlaufen."

"Ich kann nicht weiterleben damit."

"Betrachte es als – Buße", sagte Dumbledore hart.

Und endlich sah Snape ihn an, überrascht und höhnisch.

"Buße? Macht sie das wieder lebendig?"

"Nein. Aber dich vielleicht."

Darauf konnte Snape nichts erwidern. Sein leerer Blick glitt durch den Raum, ohne irgendwo hängen zu bleiben.

"Ich wollte das nicht", flüsterte er schließlich. "Verdammt, wenn sie es mir doch nur gesagt hätte – wenn sie mir doch nur gesagt hätte, wie alt ihr Sohn ist – ich dachte, er wäre schon älter – sie war doch schon zwei Jahre verheiratet – oh verdammt, verdammt! Ich hab das nie gewollt! Ich hab es nicht gewusst! Ich hab doch nicht gewusst, dass diese Prophezeiung auf die beiden zutraf!"

Harry stand da wie angewurzelt und hörte dem wilden Gestammel zu.

"Wenn ich doch nur rechtzeitig da gewesen wäre!", schrie Snape auf einmal. "Ich hätte es verhindert!"

Er griff sich an den Hals, an dem die Schlinge dunkle Male hinterlassen hatte.

"Ich weiß", sagte Dumbledore leise. "Sie sind verraten worden. Nicht nur von dir. Und doch scheint es, dass die Welt dadurch jetzt von ihm befreit ist."

"Was schert das mich", sagte Snape. "Lily ist tot."

Dumbledore sah ihn an, aber es schien, dass Snape alles gesagt hatte, was er zu sagen hatte.

"Also gut", sagte Dumbledore mit einem Seufzen. "Voriges Jahr wolltest du in Hogwarts als Lehrer anfangen. Ich vermute, du hattest einen entsprechenden Befehl –"

Snape nickte langsam.

"– denn offen gestanden fällt es mir schwer zu glauben, dass ausgerechnet du diesen Beruf ergreifen willst", fuhr Dumbledore mit einem verhaltenen Lächeln fort. "Also – heute biete ich dir den Posten an."

"Was?", fragte Snape fassungslos. "Nach allem, was Sie jetzt wissen?"

"Dass du für Voldemort arbeitest, habe ich schon gewusst, bevor du mich letzte Woche gewarnt hast", sagte Dumbledore.

"Wie wollen Sie mir denn je vertrauen? Wie wollen Sie sich darauf verlassen, dass meine Loyalität wirklich Ihnen gilt?", fragte er zynisch.

Dumbledore sah ihn nur ruhig an mit seinen milden blauen Augen, die dennoch so scharf sehen konnten.

"Du kannst seinen Leuten sogar weiterhin Informationen liefern", sagte er schließlich. "Das wird dich auch vor ihrem Misstrauen schützen."

"Und Ihnen soll ich wohl umgekehrt Informationen über ihr Tun und Lassen geben, richtig?", fragte Snape bitter. "Ich weiß nicht, ob mir das passt."

"Ob es dir passt?", wiederholte Dumbledore mit scharfer Betonung.

"Ich – will ihn töten", brach es aus Snape heraus.

"Nun, vorerst sieht es so aus, als sei er ziemlich vernichtet."

"Er ist nicht tot", sagte Snape verächtlich.

"Ich neige dazu, dir zuzustimmen. Auch wenn ich noch nicht genau weiß, was da eigentlich gestern geschehen ist zwischen ihm und dem Jungen."

Snape wandte sich mit einer heftigen Bewegung von ihm ab.

"Ich werde ihn töten", zischte er. "Eines Tages werde ich ihn töten."

"Aber dazu braucht es mehr als die hitzköpfige Tat eines Verzweifelten, Severus", sagte Dumbledore ruhig und hielt ihm die Hand hin, um ihm beim Aufstehen zu helfen. Nach einem Zögern ergriff Snape sie und stand unsicher auf.

Dann ging er zu dem Gerümpel unter der Dachschräge hinüber. Harry sah, dass dort erst kürzlich etwas über den staubigen Boden geschoben worden sein musste. Snape zog eine alte Truhe unter einem Tisch hervor, öffnete den Deckel und nahm etwas heraus, das so klein war, dass es in seiner Hand verschwand.

"Professor Dumbledore – Sir!", sagte er heiser. "Das hier – das sollten Sie an sich nehmen. Ich glaube, Sie wissen, was das ist."

Auf Snapes Hand lag ein länglicher, silberner Gegenstand, der aussah wie eine große zylinderförmige Perle. Eine feine Kette lief durch die Bohrung.

Harry hatte keine Ahnung, was das sein sollte, aber Dumbledore blieb abrupt stehen. Es war einer der seltenen Augenblicke, in denen Harry ihn wirklich überrascht sah. Er schien zu zögern, ob er den Gegenstand überhaupt berühren sollte.

"Bist du dir da auch sicher, Severus?", fragte er schließlich leise.

"Ja. Verwahren Sie es irgendwo – irgendwo, wo es niemand findet."

"Das werde ich tun", sagte Dumbledore und nahm die Silberperle mitsamt der Kette aus Snapes Hand. "Und jetzt komm mit, fort von hier."

Bevor Snape die Truhe wieder schloss, entnahm er ihr noch einen Zauberstab. Dann schob er sie zurück unter den Tisch und ging an Harry vorbei.

Dabei fiel sein Blick auf etwas, das direkt vor Harrys Füßen lag. Es lag schon die ganze Zeit über dort, und Harry hatte den Blick kaum davon abwenden können, nachdem er es einmal entdeckt hatte.

Snape bückte sich hastig, hob es auf und steckte es mit einer verstohlenen Bewegung ein. Dumbledore betrachtete immer noch die Silberperle und gab vor, nichts gesehen zu haben. Und Harry wünschte, er hätte den Gegenstand, der nun in Snapes Hemdtasche steckte, tatsächlich nie gesehen. Aber das hatte er, und er wusste auch, was das war. Es war die Hälfte einer Amulettfrucht. Das Gegenstück dazu steckte in seiner eigenen Tasche.

ooOoo

Harry hob den Kopf. Mit geschlossenen Augen stand er da und wartete, bis sich der Boden von Dumbledores Büro wieder fest unter seinen Füßen anfühlte.

"Harry?"

Er öffnete die Augen und sah Dumbledore an.

"Verstehst du jetzt, warum ich ihm vertraut habe?"

Harry nickte schwach.

"Was war das – diese Perle?"

"Ein altes Siegel – ein magischer Gegenstand, der schon eine ganze Weile in seiner Familie weitergegeben worden war. Er enthielt die Aufzeichnung uralter schwarzmagischer Texte. Vielleicht das gefährlichste Buch, das je in unserer Welt geschrieben wurde."

"Ich verstehe", murmelte Harry. "Das Tabula Rasa – das hatte er daher. Und Voldemort – hatte er diesen bescheuerten Zauber auch daraus, den, mit dem er mich – deshalb brauchte er Snape – wie ist Voldemort denn bloß an das Ding gekommen?"

"Tabula Rasa?", fragte Dumbledore mit einem kleinen Lächeln. "Hat er es so genannt? Sehr passend."

"Sie kennen es also."

"Ja."

"Er hat es mir zugespielt. In seinem alten Tränkebuch. Warum – warum haben Sie mir nie davon erzählt?", stellte Harry endlich die Frage, wegen der er eigentlich in das Büro gekommen war.

"Ich hätte das vielleicht irgendwann noch getan. Wenn ich wirklich keinen anderen Weg mehr gesehen hätte."

Harry sah ihn nur an.

"Danke", sagte er schließlich ganz leise. "Dass Sie mich – schonen wollten."

"Harry – ich möchte dir noch sagen – du weißt sicher, warum ich diesen Zauber nicht selbst anwenden konnte –?"

"Ja. Weil Sie Grindelwald – getötet haben."

Dumbledore nickte.

"Aber – ich möchte dir noch etwas sagen. Ich war immer erleichtert, dass – dass ich mich nicht selbst vor diese Entscheidung gestellt sah. Verstehst du? Ich bin mir nicht sicher – wie ich mich entschieden hätte. Und deshalb habe ich jetzt nicht einmal das Recht, zu sagen, dass ich unendlich stolz auf dich bin. Ich danke dir, Harry."

Harry senkte den Blick.

"Ich muss jetzt gehen", flüsterte er schließlich.

oooOOOooo

Er hastete aus dem Büro, die Wendeltreppe hinunter in die stillen, verlassenen Gänge. Jetzt bloß niemandem begegnen! Er sah von weitem, wie Professor McGonagall mit den Auroren und den Kollegen, die zur Zeit im Schloss waren, die Treppen hinaufkam und Dumbledores Büro zustrebte.

Er rannte die nächste Treppe hinunter.

Meine Mutter! dachte er. Es war nicht nur so, dass Snape sie angeschmachtet hat. Nein, sie hat ihn auch geliebt. Das ist so –!

Weitere Stufen. Seinetwegen hätte diese Treppe noch ein paar Kilometer weiter nach unten führen können.

Das ist das, was mich am meisten geschockt hat von all dem, dachte er ungläubig. Nicht, dass er Dumbledore nicht wirklich ermordet hat. Nicht dieses Horcrux. Nicht, dass Dumbledore ihn praktisch vom Strick geschnitten hat und wirklich guten Grund hatte, nicht an seiner Loyalität zu zweifeln. Nein, sondern dieses blöde Amulett. Und was es bedeutet.

Eine ganze Reihe von Einzelheiten, die er in den letzten Wochen erfahren hatte, setzte sich jetzt endlich zu einem passenden Bild zusammen.

Er wunderte sich nicht einmal, dass er sich schließlich doch auf der Treppe wiederfand, die zum Krankenflügel führte. Seine Füße sträubten sich gegen jeden Schritt, aber er begriff, dass er gehen musste. Er überholte Professor Slughorn, der eine Phiole mit einer farblosen Flüssigkeit in der Hand hielt. Neben ihm ging Professor Harper die Stufen hinauf.

Schon wieder dieses Krankenzimmer. Wenigstens lag Snape nicht im Krankensaal. Harry stand vor der Tür, die Hand an der Klinke, als Madam Pomfrey aus ihrem Büro kam.

"Mr Potter, was wollen Sie?", fragte sie.

"Ich muss zu Snape – äh, Professor Snape."

"Sie können ihn jetzt nicht stören", sagte sie barsch. "Es geht ihm nicht gut."

Harry fühlte, wie er wütend wurde.

"Das hat Sie vorletzte Nacht nicht gekümmert! Als Sie ablehnten –"

"Sie brauchen mich nicht an meine Pflichten zu erinnern, Mr Potter! Jetzt ist er mein Patient. Und Sie verschwinden jetzt von hier!"

"Das werde ich nicht. Ich werde da reingehen und mit ihm sprechen!"

Madam Pomfrey sah ihn bitterböse an, aber er hielt ihrem Blick stand.

"Also gut, Mr Potter", sagte sie schließlich giftig. "Er wird ohnehin nicht reden. Ich mache Sie allerdings darauf aufmerksam, dass Sie das auf eigene Verantwortung tun."

"Was meinen Sie damit?"

"Wir wissen nicht, ob er die Nacht überleben wird. Es muss das Gift dieser Inferi sein. Ich glaube, so was nennt man ausgleichende Gerechtigkeit", sagte sie.

"Ich muss jedenfalls mit ihm reden. Ihm etwas geben. Es ist wirklich wichtig. Professor Dumbledore –"

Harry brach ab. Er konnte jetzt nicht darüber sprechen, dass Dumbledore erwacht und erreichbar war.

Er schob sich durch die Tür und ging einfach in das Krankenzimmer hinein – dasselbe Zimmer, in dem er vor kurzem Lupin hatte sterben sehen.

Es war dämmrig da drin, denn draußen wurde es dunkel, und hier stand nur eine kleine Lampe neben der Tür. Harry blieb stehen und warf einen Blick auf die reglose Gestalt, die auf dem Krankenbett lag.

Als er zögernd näher kam, sah er, dass Snapes weit offene Augen zur Zimmerdecke gerichtet waren. Harry hätte nicht sagen können, ob er wach war, ob er irgendetwas wahrnahm.

"Professor Snape? Können Sie mich hören?"

Keine Reaktion.

Was will ich hier eigentlich? fragte Harry sich panisch. Aber irgendwie gab es kein Zurück mehr.

"Ich – ich habe etwas, das Ihnen gehört. Ich will es Ihnen zurückgeben."

Die Stille zog sich hin, bis Harry überzeugt war, dass Snape ihn nicht gehört hatte. Er wollte eben wieder zur Tür gehen, als ihn ein Keuchen herumfahren ließ.

"Behalten Sie es", röchelte Snape kaum hörbar. "Ich brauch' – kein Buch mehr."

Es dauerte einen Moment, bis Harry begriff, dass Snape von seinem Tränkebuch sprach. Dem Buch des Halbblutprinzen.

"Nein, nicht das Buch!", sagte er dann. "Es ist –"

Aber er konnte es nicht aussprechen. Schließlich legte er das Amulett neben Snapes Hand auf die Bettdecke. Snape tastete danach und fegte es dabei auf den Boden. Harry hob es wieder auf, und nach einem Moment der Überwindung bog er Snapes verkrampfte Finger auf und legte das Amulett hinein.

"Das gehört Ihnen", murmelte er. "Irgendwie."

Snapes Finger krallten sich um das kleine Objekt. Es war nicht zu erkennen, ob er wusste, was es war. Seine schwarzen Augen waren immer noch völlig blicklos.

"Es ist –", setzte Harry noch mal an, aber da unterbrach ihn die tonlose, angestrengte Stimme.

"Woher? Hatte es verloren."

"Nein. Es ist – ihres – ihres, verstehen Sie. Ich hab es gefunden, in ihren Sachen. Sie hat es verwahrt." Er sprach hastig, denn es waren die unangenehmsten Worte, die er je hatte aussprechen müssen. "Es war nur, weil sie entdeckte, dass sie – na ja, Slytherin-Blut hat. Deshalb hat sie – hat sie sich zurückgezogen. Sie hatte einfach Angst. Aber sie – sie hat es immer aufbewahrt. Sie hat Sie – geliebt."

Snape wandte das Gesicht ab.

"Dumbledore hat Ihr Gespräch mit ihm aufbewahrt, für das Denkarium, verstehen Sie. Das über die Horcruxe", sagte Harry plötzlich. "Alle werden erfahren, warum Sie Dumbledore getötet haben. Dass Sie eigentlich nicht ihn getötet haben, sondern das Horcrux. Es tut mir leid – dass ich Sie missverstanden habe."

Dann verließ er hastig den Raum.

Vor der Tür stand Madam Pomfrey, die offenbar gerade zur Tat hatte schreiten und ihn herausholen wollen.

"Ich hoffe, Sie haben nicht –"

Weiter kam sie nicht. Von drinnen hörten sie einen Schrei, der bewirkte, dass es Harry kalt über den Rücken lief.

"Was haben Sie gemacht!", fragte Pomfrey entsetzt und riss die Tür auf.

Aber Harry wollte nichts mehr sehen, nichts mehr hören. Er ließ sich an die Wand des Korridors zurücksinken und schloss die Augen. Er war am Ende.

Er hörte, wie Madam Pomfrey wieder aus dem Zimmer herauskam und die Tür schloss.

"Was ist mit ihm?", fragte Harry, ohne die Augen zu öffnen. "Stirbt er?"

"Nein. Ich glaube, er weint", sagte sie empört. "Hören Sie, Mr Potter, ich mag es nicht, wenn man meine Patienten aufregt. Er mag ein Mörder sein. Aber im Augenblick ist er mein Patient, und ich bin für ihn verantwortlich. Tragen Sie Ihre persönlichen Gefechte mit ihm aus, wenn er den Krankenflügel verlassen hat. Und jetzt gehen Sie – he!"

Harry rannte.