Kapitel 29

Per aspera ad astra –

Auf rauhen Wegen zu den Sternen

In der vergangenen Nacht hatte es zu regnen begonnen und seitdem nicht wieder aufgehört. Nebelfetzen zogen um die Turmspitzen, trieben in nassen Schwaden über den See und verhüllten die umgebenden Berge. Von den kahlen Zweigen der Bäume tropfte es unablässig. Hogwarts verwandelte sich in eine Schlammwüste, und die Wege wurden zu einem Matsch aus aufgeweichten Blättern. Filch würde eine Menge zu tun haben – vorausgesetzt, man fand die Entrückten jemals wieder. So dachte Harry trübe.

Er saß jetzt seit über einer Stunde an einer halbwegs geschützten Stelle am Seeufer, ganz in der Nähe von Dumbledores Grabmal. Hierhin hatte er sich vor dem Aufmarsch der Presse geflüchtet.

Der Tag war in einem Wirbel von Gerede vergangen. Während er tapfer versuchte, die Bilder in seinem Kopf von sich zu schieben, wollten anscheinend alle anderen nur reden.

Harry hatte Hermione noch am Abend davon erzählt, dass Dumbledore wieder erwacht war und mit ihm gesprochen hatte. Er war viel zu mitgenommen von den neuen Erkenntnissen, um sich noch wirklich darüber freuen zu können. In dürren Worten berichtete er ihr, was er über Snape erfahren hatte, und erstickte ihre Fragenflut mit einsilbigen Antworten.

Nach dem Frühstück hielt McGonagall dann eine kurze Rede, in der sie ihnen allen mitteilte, dass Snape weder ein Verräter noch der Mörder Dumbledores war. Dank eines Heiltrankes, den Professor Slughorn hergestellt hatte, hatte er die Nacht überlebt, aber weitere Prognosen wollten die Heiler nicht wagen. Für den Transport in ein besser ausgestattetes Hospital ging es ihm zu schlecht. Die anderen Schwerverletzten – alles Angehörige der Magischen Brigaden, die im Kampf mit den Todessern verwundet worden waren – befanden sich bis auf einen, der am Vormittag in ein Hospital im Norden des Landes verlegt wurde, auf dem Weg der Besserung.

Scrimgeour selbst und die Leute, die er zur Bewachung mitgebracht hatte, waren bereits am Nachmittag des Vortages wieder nach London zurückgekehrt. Nur sein überwiegend aus Auroren bestehendes Expertenteam war noch in Hogwarts geblieben. Die Suche nach den Entrückten ging fieberhaft weiter. Überall fielen sie über Welldones Apparate und konnten miterleben, wie seine Miene im Lauf des Tages immer verbissener wurde.

Außerdem befragten die Auroren die Überlebenden im Lauf des Tages dann erneut über jeden Aspekt der Ereignisse, und zwar diesmal jeden von ihnen einzeln.

Harry schwirrte der Kopf, als er danach auch noch zu Professor McGonagall bestellt wurde, die ebenfalls alles noch einmal ganz genau wissen wollte.

In der Zwischenzeit wurden alle verfügbaren Zeitungen gelesen; Posteulen brachten ständig neue Briefe von besorgten oder glücklichen Eltern, oder die Eltern rückten gleich selbst an. Sie brachten Nachrichten vom Geschehen im Land mit, die sofort begierig aufgegriffen wurden und mehr oder weniger entstellt die Runde machten.

Der Notwendigkeit nachgebend hatte Professor McGonagall für den späten Nachmittag eine Pressekonferenz in der Großen Halle zugelassen, und so konnte das staunende Häuflein Hogwartsbewohner beobachten, wie die Vertreter der Presse in ganzen Schwärmen gegen die Tore des Schlosses anstürmten. Harry und Hermione hatten dem Theater von einem Gangfenster aus zugesehen und Ausschau nach Rita Kimmkorn gehalten, als sie beide gleichzeitig auf der Treppe einen langen, feuerroten Schopf unter einem Regenschirm aufleuchten sahen.

Harry schluckte und hoffte, Hermione hätte es nicht bemerkt. Seit dem Morgen hatte er immer wieder darüber nachgedacht, was er zu Ginny sagen wollte, doch ihm fiel einfach nichts ein. Aber wenigstens waren diese Überlegungen, so unangenehm sie auch sein mochten, insofern nützlich, als sie seine Gedanken von dem ablenkten, was er am Abend zuvor in Dumbledores Denkarium gesehen hatte.

An der Pressekonferenz selbst wollte Harry auf keinen Fall teilnehmen. Also hatte er sich an einen Ort verdrückt, an dem er sich vor Rita und ihren Kollegen sicher fühlte: zu Hagrid, der ebenfalls mehr als genug von den Fragen hatte. Sie verbrachten einen ziemlich schweigsamen Nachmittag mit Tee und Keksen in der Hütte, in der Fang so deutlich fehlte.

Und Ron, dachte Harry. Ron fehlt hier auch!

Als er schließlich beim besten Willen keinen weiteren Tee mehr herunterbringen konnte, war er einfach ans Seeufer gegangen und hatte zugesehen, wie der düstere Tag in eine düstere Dämmerung überging. Obwohl er eigentlich darüber nachdenken wollte, wie es nun weitergehen sollte, hatte er dann stattdessen an Lupin gedacht.

An Lupin und an all die anderen, die ihn verlassen hatten.

An Sirius und Dumbledore – obwohl er mit Dumbledore ja wieder sprechen konnte. Und – an seine Eltern.

Der Gedanke daran, dass sie drei einmal eine glückliche Familie gewesen waren, wenn auch nur für kurze Zeit, war für ihn immer ein Trost gewesen. Aber jetzt erfüllte ihn dumpfe Trauer, wenn er an seine Eltern dachte. Wie glücklich konnten sie gewesen sein, wenn Lily – er konnte sie in seinen Gedanken nicht mal mehr "Mum" nennen – eigentlich einen anderen geliebt hatte? Oder las er da zu viel rein, in dieses Amulett, das sie in einem Bilderrahmen aufbewahrt hatte? Aber irgendwie wusste er, dass er Recht hatte. Er fing an zu verstehen, was er in seinem Gang durch den Spiegel gesehen hatte.

Sein Vater, der ihm früher so oft vor Augen gestanden hatte, war wie ausgelöscht, als sei er zusammen mit dem Tarnumhang – seinem letzten Geschenk an seinen Sohn – in Voldemorts Festung in Rauch aufgegangen. Was mochte er gewusst haben von seiner Frau? Diese Frage, die Harry sich schon in anderem Zusammenhang gestellt hatte, hatte nun einen weiteren Aspekt bekommen.

Und doch – er wusste, wusste einfach, dass seine Eltern einander geliebt hatten! Egal, wer oder was da sonst noch gewesen war, er war sich da ganz sicher.

Jetzt begann es wieder richtig zu prasseln, und die aufschlagenden Tropfen spritzten ihn unaufhaltsam nass. Außerdem war es inzwischen nicht mehr nur dämmrig, sondern dunkel.

Kimmkorn und Co. sind inzwischen sicher weg, dachte er. Sitzen wahrscheinlich in allen Kneipen von Hogsmeade beim Abendessen und kritzeln dabei in ihre Blöcke.

Er beschloss, sich wieder ins Schloss zu wagen und Hermione zu suchen, um von ihr etwas über die Presseheinis zu erfahren. Und um bei ihr vielleicht über die Bedrückung hinwegzukommen, die ihn in ihren Klauen hielt.

Also ging er die matschigen Wege entlang zurück und riskierte eben einen Blick in die Eingangshalle, als es hinter ihm heftig knallte. Beinahe wäre er auf seinen glitschigen Schuhen ausgerutscht, als er Dobby sah.

"Harry Potter! Sir!"

Oh nein, nicht schon wieder!

"Tschuldige, Dobby, ich hab jetzt grad gar keine Zeit!", sagte Harry, als er sich zu dem Hauself umwandte.

"Aber – Dobby muss Harry Potter was wirklich Wichtiges zeigen! Harry Potter sollte zuhören!"

Das war ein ganz neuer Ton für Dobby. Er sah richtig empört aus. Harry war ehrlich erstaunt. Und dann entdeckte er ausgerechnet in diesem Augenblick Ginny! Sie ging aus der Großen Halle in Richtung Treppenhaus, und an ihrer Seite war Ron! Auch das noch.

"Ich muss wirklich weiter, Dobby – bitte, erzähl's mir später!"

Und damit wollte er davonhasten, den beiden Rotköpfen hinterher – oder auch vor ihnen weg, da war er sich nicht ganz sicher. Aber es wurde ohnehin nichts draus.

"Wenn Harry Potter jetzt nicht mit Dobby kommt, geht Dobby zu Professor McGonagall!", schimpfte der Hauself in einem Ton los, den Harry ihm niemals zugetraut hätte. Außerdem stampfte er auch noch mit einem Fuß auf!

"Äh – das wäre vielleicht auch besser so", erwiderte Harry. "Die kann dir sicher eher helfen, denn die kann noch zaubern!"

Dobbys große Fledermausohren wurden dunkelrot.

"Harry Potter darf nicht böse sein mit Dobby! Aber es ist wirklich ganz furchtbar wichtig! Und Dobby will – Dobby möchte – Dobby würde es vorziehen, wenn zuerst Harry Potter sich das mal ansehen könnte –"

"Schon gut", sagte Harry ergeben. "Ich komm ja schon."

Ginny und Ron waren auf der Treppe verschwunden, ohne zu zeigen, ob sie ihn gesehen hatten oder nicht.

Während er Dobby die Treppen hinunter folgte, schimpfte der Hauself die ganze Zeit vor sich hin. Harry hörte immer nur die lauteren Spitzen dieses Monologs, meistens von einem erschreckenden Krachen begleitet, weil Dobby zur Selbstbestrafung immer wieder seinen Kopf gegen das Treppengeländer schlug.

"Warum hört nur niemals keiner auf Dobby ... ein freier Hauself ... hätte längst jemand nachsehen müssen ... Dobby ist ein schlechter ... ein böser ... wird sich heute Abend mit dem Bügeleisen verbrennen ..."

Harry seufzte. Wo wollte Dobby jetzt noch hin? Es ging in die Kerker hinunter! Und dann plötzlich erkannte er den Gang, in dem sie sich befanden. In Haltern an den Wänden steckten lange, dünne, schwarze Kerzen, von denen nur jede zweite brannte und mit ihrer hellblauen Flamme ein unheimliches Licht verbreitete. Das war der Gang, durch den er vor Jahren zusammen mit Hermione und Ron zur Todestagsfeier des Fast Kopflosen Nick gegangen war! Was konnte Dobby hier nur wollen?

Er wollte gerade fragen, als der Elf eine schmale Tür zu seiner rechten Seite öffnete und ihn in eine kleine Kammer führte. Im bläulichen Licht eines Kerzenleuchters mit weiteren schwarzen Kerzen konnte Harry mehrere Paare schwerer Eisenringe erkennen, die an den Mauern befestigt waren. Sonst war hier anscheinend Gerümpel untergebracht, ausrangierte Tische und Stühle, spinnwebüberzogene Regale mit alten Büchern und Papieren. Ein stechender, fauliger Geruch lag in der Luft, und ein weiterer Rundblick zeigte Harry die Quelle: Eine Schale mit verschimmeltem Obst stand auf einem der Tische, als habe sie jemand dort als Dekoration hingestellt.

"Hier ist es", sagte Dobby mit einer Mischung aus Stolz und Furcht. "Dobby hat es zufällig gefunden, als er Peeves verfolgte."

Peeves? Ja, das sah nach einem Ort aus, an dem der Poltergeist wahrscheinlich Gefallen fand.

"Was ist nun hier?", fragte Harry fröstelnd.

"Da oben", sagte Dobby und zeigte auf eine ganze Batterie von Flaschen, die auf dem obersten Bord eines Regals aufgereiht standen.

Offenbar hatte hier jemand seine Leidenschaft für das Sammeln ausgefallener Flaschen ausgetobt. Jede von ihnen war auf ihre Weise auffällig: Da war eine achteckige Flasche, eine aus geschliffenem Stein, eine, die wie aus einem Kristall geschnitten aussah, eine, die bestimmt einen Meter lang war und aus hauchdünnem Glas bestand, eine als scheußliche Figur geschnitzte Holzflasche – und so weiter.

"Da steht ein Stuhl, Mr Potter, Sir!", rief Dobby eifrig. "Wenn Harry Potter da raufsteigt, kann er sicher sehen, was Dobby meint!"

Harry nahm sich den staubbedeckten wackeligen Stuhl und stellte ihn mit einem skeptischen Blick vor das Regal. Ihm war ein wenig unheimlich zumute. Vorsichtig stieg er auf den Stuhl und konnte so die Flaschen näher betrachten.

"Da – da, die Dritte von links ist es!", rief Dobby aufgeregt.

Die meisten Flaschen waren leer. In der achteckigen allerdings lag etwas, das wie eine verwesende Ratte aussah. Als Harrys Blick bei der Dritten von links hängen blieb – einer großen, dickwandigen, nahezu runden Flasche mit ganz kurzem Hals – fiel ihm zuerst das blasse Schimmern auf, das sie erfüllte. Es war grünlich, wie ein schwach beleuchtetes Aquarium. Und wie in einem Aquarium waren auch hier drin winzige Partikelchen in Bewegung. Beklommen sah Harry hin, näher, genauer. Im Flaschenhals steckte oben ein Pfropfen. Kaugummi? Kein Zweifel, das war ein großer Klumpen altes Kaugummi! Harry schüttelte den Kopf und sah noch einmal genau hin. Im Moment war keine Bewegung mehr zu erkennen. Aber da waren doch –

"Nein!", rief Harry und fuhr zurück, wobei er beinahe vom Stuhl gefallen wäre. "Das kann doch nicht sein! Das ist doch –"

"Sieht Harry Potter auch, was Dobby gesehen hat?", fragte Dobby drängend.

"Ich – ich brauche – eine Lupe oder so was!"

"Hier, bitte sehr! Dobby wusste, dass –"

Harry riss ihm die Lupe aus der Hand und blickte angestrengt hindurch.

Dann ließ er die Lupe mit einem Stöhnen sinken. Er hatte Recht gehabt.

In dem unwirklichen grünlichen Schimmern konnte er winzige Wesen erkennen, einige bewegten sich, die meisten nicht. Weil sie schliefen.

Er – nein, Dobby hatte die Entrückten wieder gefunden!

"Das ist doch – wie kann das denn – sind sie das wirklich?", flüsterte er stammelnd.

Dobby warf den großen Kopf in einem heftigen, nachdrücklichen Nicken vor und zurück.

"Es war Peeves, da ist sich Dobby ganz sicher! Er sammelt die Flaschen und tut – schreckliche Sachen rein, manchmal. Dobby hat ihn hier schon oft gesehen!"

In Harrys Kopf drehte sich alles. Er sah noch einmal durch die Lupe. Diesmal konnte er die winzigen Bettenlager erkennen und zwei winzige Gestalten, die langsam umhergingen.

"Das müssen wir sofort Professor McGonagall sagen! Und diesem – diesem Typ mit den Apparaten! Vielleicht hat der ja 'ne Idee –"

Er zögerte, dann nahm er vorsichtig und mit deutlichem Widerwillen die Flasche vom Bord. Schüttelte er die Leute da drin jetzt durcheinander?

Er beschloss, da jetzt nicht weiter drüber nachzudenken.

"Ich nehm' sie gleich mit. Nur für den Fall, dass Peeves zurückkommt!"

Hastig gingen sie den in geisterhaftes Licht getauchten Gang zurück und wollten eben die Treppe hinauf, als von oben wütende Schreie erklangen.

"Verdammter Mistkerl! Lass das bloß nicht fallen!"

Und die Treppe hinunterrennend kam Welldone in Sicht.

"Nein, nein!", quiekte Dobby und sah zur Decke.

Dort hing einer der Schüsselständer von Welldones Ausrüstung scheinbar in der Luft. Ein hässliches Kichern hallte von allen Seiten durch den Keller.

"Na, was für ein Zufall!", sagte Harry trocken zu Welldone. "Sie hab ich gerade gesucht!"

Welldone hatte überrascht innegehalten, als er Harry und den Hauself erblickte.

"Gehen Sie lieber in Deckung!", rief er dann. "Dieser Spinner da oben hat mir schon einen zertrümmert!"

Aber in dem Moment riss das Kichern ab, und mit einem markerschütternden Wutgeheul stürzte sich etwas auf Harry.

"Das ist meine!", brüllte Peeves und war jetzt keineswegs mehr unsichtbar. Er schmiss Harry den kostbaren Schüsselständer vor die Füße und packte die Flasche in Harrys Hand so plötzlich, dass er beinahe Erfolg gehabt hätte. Beinahe. Wenn Welldone nicht eine kleine Waffe gezückt und daraus etwas wie ein schimmerndes Gummiband abgeschossen hätte. Es schlang sich um Peeves und drehte ihn dabei wie einen Kreisel. Sein wildes Geschrei und eine wahre Flut von bösen Flüchen ergossen sich über die verdatterten Zuschauer. Dobby grinste glücklich über das ganze Gesicht, als Peeves von oben bis unten mit dem Band verschnürt zu Boden fiel.

"Gute Arbeit!", sagte Harry mit echter Bewunderung. Und dachte: Ich kann ihn doch sehen! Das Biest wollte mich nur ärgern!

"Ektoplasma-Geschoss. Hätt' ich schon längst machen sollen", sagte Welldone. "Aber eigentlich hab ich 'ne Schwäche für diese Miststücke. Und was gab's nun? Sie sagten, Sie hätten mich gesucht?"

"Ja, ich – oder besser gesagt, Dobby hier hat was gefunden, was Sie sicher sehr interessant finden werden! Hier drin", sagte Harry und hielt die Flasche hoch. "Aber ich will sie direkt zu Professor McGonagall bringen. Können Sie mitkommen?"

"Sie machen's ja ganz schön spannend. Aber klar, ich hab jetzt sowieso nichts zu tun. Bevor ich diesen Kram hier wieder repariert hab", erwiderte Welldone und hob den Schüsselständer auf, wobei Peeves, zusammengeschnürt wie er war, mit aller Kraft gegen sein Kinn anflog.

"Das reicht jetzt, Kleiner!", sagte Welldone lässig und rieb sich den Unterkiefer. "Mach's gut! Das Band löst sich von selbst auf – so etwa nach zwei Tagen!"

Und von Peeves' Wutgeheul begleitet gingen die drei die Treppe hinauf zurück in die Oberwelt. Als sie den Weg zu McGonagalls Büro einschlugen, verschwand Dobby mit einem verstohlenen Knallen.

"Ich glaub, er redet nicht gern mit – na ja, Lehrern und so", erklärte Harry.

oooOOOooo

Im hellen Licht von McGonagalls Büro erschien die ganze Sache noch verrückter als unten in der staubigen Kerkerkammer. Harry stellte die Flasche nur zögernd auf den Tisch. Welldone und McGonagall sahen beide durch die Lupe.

Nach einem kurzen Blick schoss Welldone hinaus.

"– hol' nur schnell meine Apparatur!", hörten sie ihn noch rufen.

Professor McGonagall und Harry sahen sich über die Flasche hinweg an.

"Das ist unglaublich", sagte sie dann entschieden. "Ich habe selbst gesehen, wie – er – wie Voldemort die Schutzräume verzaubert hat. Aus der Verankerung gerissen, sagte er. Und man konnte es fühlen, wie sich da etwas losriss."

"Aber – haben Sie nicht auch gesehen, da drin –", sagte Harry hilflos.

"Ja", antwortete sie knapp. "Warten wir auf Welldone. Ein sehr fähiger Mann, wie ich gehört habe."

Und dann standen sie beide da und starrten schweigend auf die in grünlicher Unwirklichkeit schimmernde Flasche zwischen ihnen und warteten darauf, dass Welldone zurückkam. Es dauerte nicht lange, bis er außer Atem mit seinem großen Kasten durch die Tür stürmte

Dann drehte er eine Weile an Knöpfen und Schaltern und setzte schließlich seinen Kopfhörer auf. Harry und McGonagall sahen ihn an, als wollten sie ihm von den Lippen lesen, während er reglos lauschte. Endlich nahm er den Kopfhörer ab und hielt ihn der Direktorin entgegen.

"Bitte sehr. Hören Sie selbst."

McGonagall setzte sich das Ding umständlich über ihr zum Knoten aufgestecktes Haar, und dann konnte Harry am fassungslosen Staunen auf ihrem Gesicht erkennen, dass Dobby wohl wirklich Recht gehabt hatte.

"Das – das ist Pomona! Ich kann sie ganz deutlich hören!", sagte sie fassungslos.

"Ja. Ich denke, Sie haben Recht", sagte Welldone geschäftsmäßig. "Ihre Leute sitzen da drin fest."

"Aber wie – wie –"

"Sie sagten, er habe die Verankerung gelöst, nicht wahr? Nun, dann muss jemand die – also, in Fachkreisen nennen wir das 'Inter-Dimensionsblase' – also diese Blase muss jemand aufgefangen und in die Flasche hier gesperrt haben."

"Aber – das war doch ein großer Raum! Oder sogar zwei, glaube ich!", platzte Harry heraus. "Wie soll Peeves das denn gemacht haben?"

Welldone lächelte und zeigte dabei eine Menge sehr weißer Zähne.

"Raum wie auch Zeit sind keine Kategorien, die auf solche Zwischen-Räume anwendbar sind. Im Klartext, sie sind nicht im normalen Sinn 'groß' oder 'klein'. Vorausgesetzt, der Betreffende ist in der Lage, von einer Dimension in eine andere zu wechseln – und das trifft auf einen Poltergeist natürlich genauso zu wie auf jeden anderen Geist! – hat er Zugriff auf diese Blasen. Stellen Sie sich das wie eine große Seifenblase vor, Mr Potter, die frei durch die Räume hier segelte. Er hat sie eingefangen. Wir haben hier eine Art Flaschengeist-Phänomen."

Harry und McGonagall hatten ihm gespannt zugehört, sie mit steigender Skepsis, Harry völlig durcheinander.

"Schön und gut, Mr Welldone", sagte Professor McGonagall nun und kräuselte die Lippen. "Aber wie kriegen wir sie da wieder heraus? Und ich hoffe doch, Sie wollten nicht andeuten, dass meine Schüler und Kollegen jetzt – Geister sind?"

"Nein, das ist nicht der Fall", erwiderte Welldone. "Sie sind geschützt in dieser Blase. Dafür war sie schließlich konstruiert, oder? Aber wie Sie sie da wieder herausholen können – also, darüber muss ich erst einmal nachdenken. Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich mich sofort an meine Bücher setzen und nach vergleichbaren Fällen suchen! Und 'ne entsprechende Anfrage ins Interfloo setzen."

"Worein?", fragte McGonagall, einigermaßen konsterniert.

"Interfloo – eine Art Vernetzung nur zwischen Wissenschaftlern, funktioniert über das alte Flohnetzwerk. Ist 'ne ziemlich neue Sache, und sehr hilfreich."

"Sollten wir nicht vielleicht auch – Professor Harper holen? Vielleicht weiß sie –", begann Harry. Aber Professor McGonagall schüttelte den Kopf.

"Lassen Sie Professor Harper mal. Sie ist vermutlich auf der Krankenstation. Ich möchte sie nicht hinzuziehen, bevor wir sicher sind, dass wir anders nicht weiterkommen. Nein, ich habe da eine andere Idee", sagte sie energisch. "Mr Potter, Mr Welldone – folgen Sie mir."

Sie nahm die Flasche und ging ihnen durch die Flure voran. Harry fragte sich gerade, wohin es jetzt wieder gehen mochte, als sie ausgerechnet vor dem Unterrichtsraum für Geschichte der Zauberei stehen blieb, die Tür öffnete und durch den Raum zum Büro von Professor Binns ging. Da begann Harry etwas zu dämmern.

"Professor Binns! Professor Binns, sind Sie da?", rief sie laut, als sie an die Tür klopfte.

Sekunden später schwebte Binns tatsächlich durch die Tür und musterte seine Besucher überrascht.

"Was gibt es?", fragte er. "Ich bin mitten in einer Arbeit über die Folgen der Einführung ausländischer Hauselfen in Großbritannien auf die Emanzipationsbewegung der Hexen im vierzehnten Jahrhundert – und Sie müssen schon entschuldigen, wenn ich etwas verpasst haben sollte. Ich hatte letzthin den Eindruck, dass die Schüler recht unregelmäßig zum Unterricht erscheinen und fragte mich bereits, ob irgendwelche besonderen Ferien eingeführt worden sind, von denen ich nichts weiß."

Harry verbiss sich mit Mühe das Lachen, das aus ihm herausplatzen wollte.

McGonagall betrachtete Professor Binns mit einer gewissen Fassungslosigkeit, als müsse sie sich vergewissern, dass er es tatsächlich war.

"Ja, also – wir haben ein Problem, bei dem Sie uns vielleicht helfen könnten", sagte sie dann und stellte die Flasche auf das Lehrerpult. "Um es ganz kurz zu machen – denn die Zeit drängt ein wenig, scheint mir, und wir können die Einzelheiten ja später nachholen – der Großteil der Schüler und Kollegen ist in dieser Flasche gefangen."

"In einer Inter-Dimensionsblase", fügte Welldone erläuternd hinzu.

"Und ich frage mich, ob Sie aufgrund Ihrer – besonderen Fähigkeiten nicht die Möglichkeit haben, mit ihnen in Kontakt zu treten."

"Hm – also das ist ja – außergewöhnlich!", rief Binns, und es kam geradezu etwas Leben in sein Gesicht. "Haben diese Schutzräume etwas mit der Sache zu tun?"

"Aber ja!" erwiderte McGonagall überrascht. "Sie sind in einer Gefahrensituation hineingegangen und dann – wurde diese Entrückung aus der Verankerung gelöst."

"Sehr interessant. Wirklich! Ich bin fasziniert!"

Binns betrachtete die Flasche eingehend. "Ich nehme nicht an, dass die Aufbewahrung in dieser Flasche geplant war?"

"Nein. Das war wohl Peeves, wie es aussieht."

Binns verzog das Gesicht, als hätte er in eine faule Tomate gebissen.

"So, so, ich verstehe. Äußerst unangenehmer Bursche, dieser Peeves. Und ich sehe – Kaugummi als Verschluss – geradezu seine Signatur, nicht wahr. Ich nehme an, Sie haben einen Passwortwahrer da drin, der jetzt nicht mehr viel nützt, weil sie eingesperrt sind."

"Ganz genau. Professor Flitwick wird sicher schon versucht haben, die Leute herauszubringen."

"Nun ja, das kann ihm ja nicht gelingen. Ich sehe kein Problem darin, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Aber ich rate Ihnen, die Flasche zurück an die Stelle zu bringen, wo sich die Schutzräume befanden und sie dann erst zu öffnen."

McGonagall, Welldone und Harry starrten ihn an.

"Und Sie meinen, das ist alles?", fragte McGonagall schließlich. "So einfach soll das gehen?"

"Nun, ich sehe nichts, was dagegen spricht, nicht wahr? Es sei denn, Peeves kommt Ihnen erneut in die Quere. Aber wenn ich das richtig verstanden habe, hat er den Leuten eigentlich sogar einen Gefallen getan. Diese – wie nannten Sie es – Blase hätte sonst wohin entschweben können, wenn er sie nicht eingesperrt hätte."

So hatten sie das noch gar nicht gesehen. Harry war plötzlich ganz aus dem Häuschen, und McGonagall schien es ähnlich zu gehen. Erst jetzt wurde ihm klar, wie sehr er sich innerlich schon mit der Vorstellung vertraut gemacht hatte, dass die Entrückten möglicherweise nicht mehr wieder gefunden würden.

"In Ordnung, Cuthbert!", rief Professor McGonagall. "Sprechen Sie mit Filius, ich werde diese Flasche an Ort und Stelle bringen und dann diesen – Kaugummi entfernen!"

"Mit Vergnügen", murmelte Binns und verschwand.

"Also dann los!", rief McGonagall.

Sie eilten in den Korridor bei der Eingangshalle, wo sie vor der Abstellkammer stehen blieben.

"Was ist denn jetzt überhaupt dahinter?", fragte Harry neugierig.

"Das, Mr Potter, weiß ich ehrlich gesagt auch nicht."

"Wenn sich dort zuvor die Schutzräume befanden, dann dürfte dort jetzt ein Dimensionsloch sein", erläuterte Welldone. "Sie haben Glück, dass es offenbar nichts weiter in sich hineingesaugt hat. Normalerweise verhalten sich diese Löcher ganz schön aggressiv. Wenn Sie mir einen Moment Zeit geben, ziehe ich meinen Schutzanzug an und bringe die Flasche selbst hinein und öffne sie."

Und weg war er. Ungefähr drei Minuten später war er wieder zur Stelle, oder zumindest gingen sie davon aus, dass er es war. Er trug einen silbergrauen Anzug, der offenbar außerordentlich schwer war, einen Helm mit durchsichtigem Visier und Stiefel, die Harry an Astronautenstiefel erinnerten. Er wirkte ungeheuer absurd in der Einganshalle von Hogwarts.

Inzwischen waren auch einige Leute vorbeigekommen und neugierig stehen geblieben.

"Okay", erklang es verzerrt aus dem Helm. "Geben Sie mir die Flasche!"

Mit einem Zögern reichte McGonagall ihm die Flasche.

"Passen Sie auf, dass niemand in die Nähe der Abstellkammer kommt."

Und dann bog Welldone mit schwerfälligen Schritten vom Korridor zur Tür der Abstellkammer ab und entschwand ihren Blicken. Die Zuschauer standen mit angehaltenem Atem da und lauschten, als die Tür geöffnet wurde. Ein seltsames Zischen ertönte und wurde abrupt abgeschnitten, als Welldone die Tür hinter sich wieder schloss.

In diesem Moment entdeckte Harry, dass Ginny unter den Zuschauern war. Sie stand ihm fast genau gegenüber an der anderen Seite der Eingangshalle und hatte ihn offenbar angesehen, schien jetzt aber ganz in ein Gespräch mit Bill vertieft, der neben ihr stand.

Nicht jetzt, dachte Harry ganz verzweifelt. Den ganzen Tag hatte er gehofft, sie sprechen zu können – und immer, wenn er sie dann sah, wurde er von etwas anderem aufgehalten. Und wieso war eigentlich Bill noch in Hogwarts?

Dann hörten sie wieder das Zischen, gefolgt vom Klappen der Tür und Welldones schweren Schritten. Als er wieder in Sicht kam, hatte er den Helm bereits abgenommen und fuhr sich mit einer Hand durch die schwarze Haarmähne.

"Alles in Ordnung. Jetzt können wir nur noch warten. Wir hatten Glück, der Sog da drin war ziemlich schwach – da habe ich schon –"

Weiter kam er nicht. Hinter ihm wurde die Tür aufgerissen, und dann strömten mit wilden Schreien Schüler aller Altersgruppen in den Flur.

Harry stand da wie angewurzelt und sah fassungslos zu, wie sich die Eingangshalle um ihn mit lachenden, weinenden, brüllenden und johlenden Schülern füllte. Das war unglaublich. Das war ein Wunder!

Sein ehrfürchtiges Staunen wurde grob unterbrochen, als etwas wie ein pelziges Geschoss gegen ihn prallte und sich mit einer Menge Krallen an seinem Hemd und seiner Jeans festhielt.

"Krummbein!"

Er hätte nie gedacht, dass er sich über den Anblick des roten Katers einmal so freuen würde! Hermione hatte versucht, ihre Sorge um ihn nicht zu zeigen, weil es ihr angesichts der vermissten Schüler nicht angemessen schien. Aber Harry wusste, dass sie sich mit der Vorstellung quälte, er könnte im Schloss herumgelaufen und diesem Basilisken zum Opfer gefallen sein. Er hielt ihn fest und kraulte das weiche Fell zwischen den Ohren. Krummbein schnurrte.

"Der ist ununterbrochen gehätschelt worden!", erklang da Lavenders Stimme ein wenig abfällig. "'ne ganze Horde Erstklässler hatte nichts anderes zu tun, als dieses Vieh zu streicheln."

"Wenigstens hat sie das 'ne Weile vom Kotzen abgehalten", sagte Colin Creevey, der selbst etwas grün um die Nase aussah.

"War's schlimm da drin?", fragte Harry.

"Ätzend. Und langweilig", sagte Parvati. "Ich brauch jetzt erst mal 'ne Dusche. Und dann was zu essen."

Das nachfolgende Durcheinander war unbeschreiblich. Niemand in Hogwarts schlief in dieser Nacht. Sie stürmten die Schlafsäle und Bäder und dann die Große Halle. Sie hatten Glück, dass die Hauselfen für einen späten Imbiss sorgten, und dann wurde bei Butterbier und belegten Broten geredet, geredet, geredet. In den frühen Morgenstunden rückten bereits die ersten Eltern an, die ihre Kinder sehen oder auch gleich mitnehmen wollten.

Als Harry die ersten verstohlenen Blicke auf sich spürte, verdrückte er sich. Es reichte ihm, dass sie wieder da waren. Da er sowieso nicht mehr zu ihnen gehörte, empfand er es nicht mehr ganz so schlimm, dass er so wenig Anteil nehmen konnte an dieser Wiedersehensfeier.

Dann lag er lange, lange wach in seinem Bett im leeren Schlafsaal und starrte in die Dunkelheit. Nicht einmal Hermione hatte sein Weggehen richtig zur Kenntnis genommen, so fasziniert hatte sie den Leuten um sich herum zugehört, die von ihrem unwirklichen Exil berichteten.

oooOOOooo

Endlich war die Große Halle wieder voller Leute und Stimmen. Nie waren sie darüber alle so glücklich gewesen wie an diesem Morgen!

Da kam Professor McGonagalls Ankündigung, dass es am Sonntag ein großes Fest geben würde, gerade recht.

Sie saßen gedrängt an den Tischen, als ein wahrer Schwarm von Posteulen mit einem Schauer von Briefen und Zeitungen über sie hereinbrach. Von überall her sprangen ihnen fettgedruckte Überschriften auf Titelseiten entgegen, in denen annähernd gleichlautend von Voldemorts Ende – sie schienen seinen Namen nun alle auszuschreiben, fiel Harry auf – und dem Brand von Azkaban die Rede war. Nur wenige sprachen von der 'Goldenen Festung', und dafür war Harry dankbar. Voldemorts Name für seine Festung löste bei ihm immer noch eine Gänsehaut aus.

Während Harry mit Hermione zusammen in den Prophet sah (und dabei immer wieder vom Duft der glänzenden Haarwolke abgelenkt wurde, die um ihren Kopf stand), bemerkte er, wie überall um ihn herum das Getuschel wieder aufkam. Sein Gesicht wurde ganz heiß, als er zum ersten Mal die Worte 'der Junge, der ihn bezwang' las und begriff, dass er selbst damit gemeint war und dass dies nun wohl der Name war, der ihm bis zum Ende seines Lebens anhaften würde. Irgendwie war das ja besser als 'der Auserwählte', aber trotzdem –

Er konnte das einfach nicht mehr weiterlesen. Er kippte sich Marmelade auf einen Toast und war wild entschlossen, alle Blicke und geflüsterten Bemerkungen ringsum zu ignorieren. Es war in diesen Sekunden, dass er beschloss, sich einen neuen Namen zuzulegen und unterzutauchen.

Hermione aber ließ sich nicht ablenken. Als sie mit dem Prophet durch war, schnappte sie sich die herrenlose Sonderausgabe der Hexenwoche, die noch zusammengeschnürt neben der Saftkanne lag, und las weiter, während sie nebenher Cornflakes löffelte.

Harry beobachtete sie von der Seite. Seit gestern benahm sie sich so komisch, fand er. Wich seinen Blicken aus, antwortete nur knapp und hatte eben verkündet, dass sie den Tag in der Bibliothek verbringen würde.

Harry grinste spöttisch in sich hinein. Während seine Mitschüler ihn mit Fragen verfolgten, wichen die beiden, mit denen er unbedingt reden musste, Ginny und Hermione, ihm ständig aus. Oder die drei, wenn man es genau nahm. Denn Ron – mit dem musste er doch irgendwann auch mal reden.

In diesem Moment schlug Hermione mit der Faust auf den Tisch, dass die Milch in ihrer Cornflakes-Schüssel über den Teller schwappte, und warf die Zeitung hin.

"Das gibt's ja wohl nicht! Diese – diese – oh, ich mach' sie fertig! Ich werd' selbst einen Artikel schreiben! Ich – ich beschwer' mich beim Redakteur – wegen Verleumdung –"

"Was ist denn los?", fragte Harry, und auch die meisten anderen am Tisch sahen sie überrascht an.

Hermione knallte die Zeitung auf seinen Teller, mitten in den Marmeladentoast.

"Das hier ist los! Lies es!", schnappte sie und schlug noch auf die Seite, so dass augenblicklich ein großer, klebriger, erdbeerroter Fleck mitten in dem beanstandeten Artikel erschien.

Harry sprangen die beiden Wörter unter der Schlagzeile in die Augen. Rita Kimmkorn.

Oh nein, dachte er mit einem Sinkgefühl in der Magengrube. Dann las er.

Brand der "Goldenen Festung" –

War es wirklich das Ende?

Gestern endlich gestattete die Interims-Direktorin von Hogwarts, Minerva McGonagall, eine Pressekonferenz in ihrer Schule, bei der die versammelten Pressevertreter ihre Fragen zu den ganz ungeheuerlichen Ereignissen im früheren Gefängnis Azkaban stellen durften, das Voldemort – ja, auch wir wollen ihn jetzt bei seinem Namen nennen – zu der von ihm so genannten 'Goldenen Festung' umgestaltet hatte.

Unter den Anwesenden waren, soweit es ihre Verfassung zuließ, auch die meisten derjenigen, die von Voldemort in die Festung verschleppt worden waren und die dort zu Augenzeugen jener Ereignisse wurden, in deren Verlauf Voldemort endgültig besiegt worden sein soll.

Die Verfasserin dieser Zeilen hatte leider nicht das Glück, mit Harry Potter selbst – dem Jungen, der ihn bezwang, wie er jetzt überall genannt wird – zu sprechen. Minerva McGonagall erklärte der Presse, dass Potter "nach allem, was er hinter sich habe" erst einmal "das Recht habe, vor der Öffentlichkeit in Deckung zu gehen". Jedoch waren einige der in die Festung Entführten bereit, sich dazu zu äußern. Bezeichnenderweise bestätigten sie, was bereits vorher bekannt wurde: Harry Potter wurde nicht von Voldemort verschleppt. Er war schon vorher verschwunden und wurde von seinen Freunden erst in der Goldenen Festung wieder gesehen.

Da über die Ereignisse selbst seit gestern auf allen Titelseiten berichtet und spekuliert wird, sei es hier gestattet, sich einmal nur einiger bestimmter, bisher weniger beachteter Aspekte anzunehmen.

Fakt scheint zu sein, dass Voldemort infolge eines Zauberspruchs, den Harry Potter ausgesprochen hat, seines Körpers beraubt wurde. Auch der Zusammenbruch und Brand seiner Festung stehen angeblich in direkter Verbindung mit diesem Zauber.

Fakt ist aber auch, dass keinem der Augenzeugen – und die Verfasserin dieser Zeilen hat sich nicht gescheut, sich die Angelegenheit auch von Seiten überlebender Todesser schildern zu lassen – Fakt also ist auch, dass niemand diesen Zauber, der offenbar fremder Herkunft war, kannte. Voldemort habe unmittelbar zuvor angekündigt, dass er seinen Körper aufzugeben und von nun an in Harry Potter weiterzuleben gedenke.

Nach intensivem Studium der vorhandenen Quellen stießen wir auf Hinweise, wonach es vor Jahrhunderten in bestimmten Kreisen eine schwarzmagische Praktik gegeben habe, die es überragenden Magiern erlaubte, ihren Geist auf den Körper eines jüngeren Blutsverwandten zu übertragen und auf diese Weise in ihm fortzuleben. Dies wurde meist als Legende abgetan, ebenso wie die Geschichte von den Sieben Königen der Finsternis, denen übrigens eben diese Fähigkeit, in ihren Nachkommen fortzuleben, nachgesagt wurde (s. nebenstehenden Artikel im roten Rahmen).

Da dürfen wir uns zunächst mit einem gewissen Frösteln fragen – ist Harry Potter denn ein Blutsverwandter Voldemorts?

Und dann – und dies ist die Quelle wahrhaft unheimlicher und grauenerregender Spekulationen – dann müssen wir uns fragen: Können wir denn sicher sein, dass Voldemort tatsächlich bezwungen ist? Hat Harry Potter nicht vielleicht eben jenen Zauber ausgesprochen, durch den Voldemorts Geist seinen Körper verlassen und auf Potter übergehen sollte? Ist in dem Gerücht über den angeblichen Verlust von Potters magischen Fähigkeiten nicht vielleicht sogar ein besonders kluger Schachzug zu sehen?

Was wissen wir wirklich über die Forscherin und Hogwarts-Professorin Hekate Harper, die das, was von Voldemort übrig geblieben ist, in einem geheimnisvollen Medaillon verschlossen haben soll? Wir dürfen an dieser Stelle vielleicht daran erinnern, dass H. Harper auf noch nicht ganz geklärte Weise aus Hogwarts verschwand (wir berichteten), kurz bevor die Ereignisse sich so dramatisch überstürzten.

Der Verfasserin dieser Zeilen liegt nichts daran, als die Mahnerin im Dunkel in die Geschichte der Zaubererwelt einzugehen, als diejenige, die die schreckliche Wahrheit als Erste geahnt und zögernd zur Debatte gestellt hat – aber wir müssen uns diesen Fragen stellen und nach befriedigenden Antworten suchen, das sind wir den nachfolgenden Generationen schuldig!

Geltungssucht war bedauerlicherweise immer schon eine hervorstechende Charaktereigenschaft des jungen H. Potter, wie die Autorin bereits mehrfach feststellen musste. Er, der vernachlässigte, ohne Liebe bei Muggeln aufgewachsene Junge, brauchte zu seiner Selbstbestätigung stets das Gefühl, seinen Kameraden an Wissen, an Können, an Macht überlegen zu sein. Sollte ihn das nun endgültig in die Fänge des Bösen geführt – verführt haben?

Haben wir in dem Jungen, der ihn bezwang nun vielleicht in Wirklichkeit den neuen, den wiedergeborenen Voldemort in unserer Mitte!

Die Zukunft wird es ans Licht bringen!"

Harry wagte kaum aufzublicken. Ob sie ihn immer noch alle anstarrten?

Hermione sah ihn mit einem grimmigen Ausdruck von der Seite an.

"Und?", drängte sie, als er nichts sagte.

"Tja, das ist eben Rita, oder?", sagte er.

Aber denken konnte er nur eins: Das reicht, das reicht, DAS REICHT!

"Cool von dir, Harry! Wirklich cool!"

Und damit stand sie auf und verließ die Große Halle. Neben ihrem Teller blieb ungelesen eine Muggelzeitung zurück.

Harry versuchte halbherzig, die Hexenwoche aus der Marmelade zu befreien. Während er an den Blättern herumwischte, streifte sein Blick ein Wort auf dem obersten Blatt der Muggelzeitung, das ihm etwas sagte. Was hatte er da gerade gelesen? Und wo?

Konzentriert ließ er den Blick noch einmal langsam über die Seite gleiten.

Da war es. Es war der Name 'Little Whinging' gewesen.

Sorgfältig glättete er die Seite, versuchte, sich zu sammeln und las dann den kleingedruckten Artikel.

Alien-Angriff in Little Whinging? – Unerklärlicher Todesfall gibt Rätsel auf

Am Montagmorgen ereignete sich im Londoner Stadtteil Little Whinging ein tödlicher Unfall, dessen Umstände von Augenzeugen als sehr merkwürdig beschrieben wurden. In Anbetracht der immer noch ungeklärten Vorfälle, unter denen weite Teile der Insel in den vergangenen Tagen zu leiden hatten, mag ein einzelner Unfall nicht besonders erwähnenswert erscheinen. Es ist jedoch ein seltsames Zusammentreffen, dass die Opfer dieses Unfalls ausgerechnet der Familie angehören, deren Haus in eben derselben Straße, dem Ligusterweg, im Juli durch eine Explosion von noch immer nicht wirklich geklärter Ursache zerstört wurde.

Petunia D. (40) und ihr Sohn Dudley (17) wollten offenbar die Instandsetzungsarbeiten an ihrem Haus begutachten, das in der nächsten Woche wieder bezugsfähig sein sollte. Sie wurden jedoch auf offener Straße beide gleichzeitig Opfer eines unerklärlichen Krampfanfalls. Passanten beschrieben, wie sie sich verzweifelt gegen etwas zu wehren schienen, berichteten aber auch, dass niemand in ihrer Nähe zu sehen war.

"Mir wurde eiskalt vor Angst, als ich ihre Gesichter sah – die sahen so aus, als würden sie irgendwie in einen Staubsauger hineingesaugt, wenn Sie verstehen, was ich meine", so eine Anwohnerin, die den Unfallhergang durch ihr Küchenfenster beobachtete. "Es schien irgendwie dunkler um sie herum zu sein, und dann konnte ich den Jungen gar nicht mehr sehen. Seine Mutter lag auf der Straße und schrie wie verrückt. Und dann war da plötzlich dieses – Gleißen!"

Als das helle Licht erschien, von dem auch die beiden Passanten berichteten, sei der Anfall auf einmal vorbei gewesen. Beide Opfer hätten leblos am Boden gelegen.

"Ich hab noch ein Kreischen gehört", sagte die Anwohnerin. "Und das war keiner von den beiden! Ich sag Ihnen, das war wieder einer von denen! Ein Alien!"

Der rasch herbeigeholte Notarzt konnte nur noch den Tod der Frau feststellen, während ihr Sohn mit einem Schock in eine Klinik eingeliefert werden musste.

Der Arzt berichtete später, er habe noch nie einen Toten gesehen, dessen Gesicht ein solches Grauen gezeigt hätte wie das von Petunia D. Ihr Sohn war auch heute noch nicht vernehmungsfähig und wird voraussichtlich in eine psychiatrische Spezialklinik verlegt werden."

Das endlich wirkte. Harry vergaß das Geflüster und die Zeitungen und die dummen Blicke um sich herum. Tante Petunia tot! Und Dudley auf dem Weg ins Irrenhaus!

Harry wusste nicht, was er bei dieser Nachricht fühlte. Ein gewisses unpersönliches Mitleid, das er mit jedem empfunden hätte, der es mit einem Dementor zu tun bekam?

Er sah die beiden wieder, wie er sie in dem Spiegelgang gesehen hatte, als sie mit den Malfoys um Körperteile Karten gespielt hatten – in einem Kerker, in dem sie langsam verhungerten.

In Wirklichkeit waren sie also einem Dementor begegnet. Konnte es sein, dass Tante Petunia irgendwie einen Patronus gerufen hatte? Ohne Zauberstab, ohne Ausbildung? Harry saß grübelnd da und zeichnete mit seinem Messer Muster in die Marmelade auf seinem Teller.

Lilys Schwester hatte doch sicher auch ein paar Tropfen magisches Blut gehabt, oder etwa nicht? Konnte es sein, dass sie in dem Augenblick, als das Liebste in ihrem Leben in tödlicher Gefahr schwebte, zu dieser Tat fähig gewesen war? Immerhin zauberten auch kleine Zaubererkinder nicht selten in solchen Situationen, auch ohne Zauberstab und magische Ausbildung!

Und Dudley –

Als er sich die Zeitung noch einmal vornahm, stellte er fest, dass sie schon fast eine Woche alt war. Der Angriff hatte stattgefunden, bevor er in den Spiegel gegangen war. Er riss die Seite heraus, faltete sie und steckte sie ein. Der Appetit war ihm gründlich vergangen. Er stand auf und wollte die Halle eben verlassen, als ihn jemand an der Schulter berührte. Er fuhr herum.

"Hallo, Harry", sagte Ginny.

"Oh – hallo, Ginny", sagte er.

Er fühlte sich so überfallen, dass es ihm die Sprache verschlug, und so gingen sie erst mal schweigend nebeneinander her.

"Ron – Ron hat mir 'ne Menge erzählt, gestern", begann sie schließlich.

"Ja –"

"Und Bill auch. Wie es war – dort", sagte sie leise. "Und was du getan hast. Was passiert ist."

"Tja –"

Wollte sie jetzt etwa davon anfangen? Von dem Junge-der-ihn-bezwang-Gesülze?

"Hör mal, Ginny. Da gibt's noch mehr, worüber wir reden müssen", sagte er.

"Das ist mir schon klar."

"Ich weiß nicht, was Ron dir alles gesagt hat –"

"Oh, vor allem, dass du dich in Hermione verliebt hast", sagte sie.

Endlich blieb sie stehen und sah ihm ins Gesicht. Sie sah ziemlich blass aus, aber auch sehr energisch. Er hatte Mühe, ihrem Blick standzuhalten.

"Ja. Das stimmt", sagte er schließlich einfach.

In dem Moment konnte er sich nicht einmal dafür entschuldigen. Sie sah zur Seite.

"Weißt du was? Ich hab mir immer gedacht, dass du da mal drauf kommen würdest", sagte sie halb bitter, halb mit einem schiefen Grinsen und warf ihr Haar mit der für sie typischen Bewegung über die Schulter zurück. "Und bei ihr auch. Ich hab immer gedacht, dass sie dich liebt. Und dass sie das bloß nicht wahrhaben will."

"Das ist doch verrückt", murmelte Harry. "So was kannst du doch gar nicht wissen, das wussten wir ja selbst nicht."

"Du bist wirklich ein hoffnungsloser Fall, Harry!", rief sie, und jetzt sah er endlich Tränen in ihren Augen glitzern. "Du bist so – so blind! Du bist so lieb und irgendwie – ja, wirklich toll! Aber du hast keine Ahnung von dem, was mit den Leuten um dich rum so los ist, oder? Du kriegst nichts mit!"

"Ginny, mir tut das wirklich leid", brachte er endlich heraus, denn das war die Wahrheit. "Ich weiß einfach gar nicht, was ich sagen soll!"

Professor Slughorn kam an ihnen vorbei, in ein angeregtes Gespräch mit Professor Sprout vertieft. Harry hörte nur das Wort "Nistling". Dann waren sie vorbei.

"Ich glaub fast, es ist besser so", sagte Ginny hart. "Was immer du jetzt vorhast, ich bin sicher, dass du denen, die dich lieben, das Leben verflucht schwer machen wirst."

Das war wie ein Schlag ins Gesicht. Und – oh nein! Da kam auch noch Hermione den Gang entlang! Sie redete ziemlich aufgeregt mit Professor McGonagall, und Harry konnte sehen, wie sie mitten im Wort stockte, als sie sie beide hier stehen sah.

"Tschuldigung, so sollte das nicht klingen. Aber zufällig denk ich genau das", sagte Ginny jetzt. "Ich bin noch ein paar Tage hier. Nach dem Fest fahr' ich wieder zurück nach Frankreich. Komischerweise hat's mir da gefallen."

"Ginny – können wir nicht – ich wünschte, wir könnten alle wieder irgendwie befreundet sein!"

Was für ein Schwachsinn!

"Wir haben gar nicht gestritten, Harry", erwiderte sie kühl, aber er sah, dass sie lächeln musste. "Wir haben nur gerade unsere Beziehung offiziell beendet. Blabla, was für ein Quatsch!"

Ungeduldig trat sie von einem Fuß auf den anderen und sah gleichgültig auf die Schülergrüppchen, die aus der Großen Halle strömten und an ihnen vorbeigingen.

Das kann doch nicht wahr sein, dachte Harry. Er dachte an die wilden Träume, die er noch vor ein paar Monaten von ihr gehabt hatte. Und nun stand sie hier vor ihm, und er konnte nicht mehr in ihr sehen als eine gute alte Freundin aus Kindertagen –

Er fühlte sich seltsam betrogen, was ja eigentlich ein Witz war, angesichts der Tatsachen –

"Ich wünsch' dir Glück, Harry", sagte sie und streckte ihm die Hand hin. "Und ich bin schrecklich froh, dass du noch lebst!"

In diesem Moment bewunderte er sie. Er konnte fühlen, was es sie kostete. Ganz so blind, wie sie dachte, war er nicht. Mit einem Kloß in der Kehle ergriff er ihre Hand und hielt sie fest.

"Ginny! Bitte – ich –"

Aber da machte sie sich los und ging weg. Ging einfach den Gang runter und verschwand zwischen den anderen Schülern.

"Verdammter Mist."

Er schlug mit der Faust gegen die Wand und fuhr herum, als ihm im selben Moment jemand auf die Schulter tippte. Schon wieder!

"Du bist doch Harry Potter?", fragte ihn ein pickliger Viertklässler ohne jedes Anzeichen von Ehrfurcht. "McGonagall will dich sprechen. So in 'ner Stunde, hat sie gesagt. Im Direktionsbüro."

"Okay", knurrte Harry, aber der Junge war schon wieder auf und davon.

Auf zum nächsten Gerede, dachte er wütend. Ich krieg' noch Fransen an den Mund.

oooOOOooo

Harry kam die Wendeltreppe herauf und hörte erst, als er schon oben stand, die Stimmen aus Dumbledores ehemaligem Büro. Professor McGonagall hatte noch Besuch. Er war offenbar zu früh.

"Er sollte sich unbedingt um einen Verteidiger oder Bürgen bemühen", sagte McGonagall gerade. "Man darf Scrimgeour nicht unterschätzen. Ich habe mich schon gefragt, ob nicht Sie –! Sie hatten doch einen ganz guten Draht zum Minister, oder irre ich mich?"

"Das galt für die Zeit, bevor ich mich hier an Voldemorts Seite gezeigt habe", erwiderte Harpers Stimme mit einem zynischen Unterton. "Als ich noch die geschätzte Spezialistin für Verteidigung aus dem Ausland war. Das Ministerium und vor allem die Aurorenzentrale haben mich in den letzten anderthalb Jahren zwei-, dreimal als Legilimens zurate gezogen. Jetzt steht mir da selbst eine ziemlich grundlegende Überprüfung bevor. Kann ich ihnen auch nicht verdenken."

Harry wollte sich gerade wieder zum Gehen wenden, als McGonagall auf ihn aufmerksam wurde.

"Mr Potter! Kommen Sie doch herein."

Da war er wieder, sogar bei ihr, dieser strengen und manchmal ziemlich unnahbaren Lehrerin: dieser Blick, der zum Lächeln wurde, wenn er auf ihm ruhte.

Er mochte das nicht. Zögernd kam er in das Büro. Es kam ihm irgendwie verändert vor, heller – ja, heiterer. Dann erkannte er, woran das lag: Dumbledores kleine Geräte auf ihren Tischchen liefen wieder. Sie surrten und pufften vergnügt vor sich hin.

"Diese Prüfung dürfte Ihren Ruf ja wohl wiederherstellen, denke ich. Aber bei Snape – da geht es um Mord. Er hat vorhin gar nicht bestritten, dass er schuldig ist. Und Scrimgeour ist sicher darauf aus, ein Exempel zu statuieren."

Professor, nein, Direktor McGonagall saß am Schreibtisch, unter dem Porträt ihres Vorgängers, der ihm ebenfalls zulächelte.

Ihr gegenüber saß Harper, die Harry in den letzten zwei Tagen nicht mehr gesehen hatte. Ihr Gesicht war ganz grau und trug noch immer die Brandspuren, die er jetzt auch an ihren Händen bemerkte. Zum ersten Mal fragte er sich, welchen Schaden die Vernichtung des Horcruxes wohl noch angerichtet haben mochte. Sie saß ganz still und reagierte gar nicht auf sein Hereinkommen.

"Da gebe ich Ihnen Recht", erwiderte sie langsam. "Es ist sein Glück, dass Azkaban erst einmal nicht – benutzbar ist. Und dass die Dementoren verschwunden zu sein scheinen."

"Ja. Unglaubliche Geschichte", sagte McGonagall nachdenklich. "Ich hoffe sehr, dass das der Anstoß für eine längst fällige Neugestaltung unseres Justizsystems sein wird."

Sie wandte sich an Harry.

"Kommen Sie, Mr Potter! Setzen Sie sich zu uns."

Er nahm auf dem Stuhl neben Harper Platz. Jetzt erst wandte auch sie sich ihm zu. Unter ihrem kurz geschorenen Haar lenkten die Blessuren und die verschleierten Augen nun erst recht die Blicke auf sich. Er hätte sie unheimlich gefunden, wenn da noch die Souveränität und innere Distanz zu spüren gewesen wären, die er bisher als Harpers charakteristische Eigenschaften empfunden hatte. Aber das war nicht mehr so. Sie schien sich fröstelnd und kränklich in ihren übergroßen Pullover verkriechen zu wollen.

"Professor Harper hat mir eben unter anderem von Godrics Schwert berichtet. Es ist verloren, wenn ich das richtig verstanden habe."

Harry nickte.

"Ich glaube schon", antwortete er leise, und dann fiel sein Blick auf das kleine Gerät, das auf Dumbledores Schreibtisch stand. Es puffte winzige Dampfwölkchen aus und hatte kleine Pendel, die sich emsig bewegten. An einem von ihnen sah er – aber konnte das überhaupt sein?

Er sah genauer hin. Doch. Das war die Silberperle, die er im Denkarium gesehen hatte! Das Siegel, wie Dumbledore es bezeichnet hatte, das Siegel, das Snape ihm übergeben hatte, damit er es für ihn verwahrte.

McGonagall war seinem Blick gefolgt und sah ihn nun erstaunt an.

"Wissen Sie etwa, was das ist?", fragte sie.

"Es ist ein Siegel, oder? Es enthält irgendwie ein magisches Buch, glaube ich. Ich hab es im Denkarium gesehen."

"Ach so. Ja, Sie haben Recht."

"Wie kommt es hierher? Oder war es immer hier?"

"Ich vermute, es war bis vor kurzem seit vielen Jahren in diesem Raum", sagte Harper. "Und jetzt ist es wieder hier, wo es auch bleiben soll."

"Ich – ich dachte, es gehört – Snape. Professor Snape."

"Sein Vorfahre hatte es meinem Vorfahren gestohlen", sagte Harper mit einer Stimme, die ebenso grau war wie ihr Gesicht. "Ich habe es aus der Goldenen Festung wieder mit hergebracht. Ich fand es – bei Voldemorts Umhang. Um genau zu sein –", sie lachte seltsam, "bin ich beinahe darauf ausgerutscht, als das Feuer ausbrach und wir fliehen wollten. Ich frage mich – ich frage mich immer noch, ob ich es nicht einfach da hätte lassen sollen."

Jetzt war das Thema ohnehin angeschnitten. Eine bessere Gelegenheit für seine Frage würde es vermutlich nicht mehr geben. Harry überwand sich und fragte, was ihn unterschwellig schon die ganze Zeit beschäftigte.

"Was haben Sie eigentlich mit dem Medaillon gemacht?"

"Ich habe es Bill Weasley gegeben", antwortete Harper. "Er schien mir derjenige zu sein, der zu dem Zeitpunkt die meiste Autorität hatte."

"Und damit hatten Sie wohl Recht", sagte McGonagall energisch und unterband damit alle weiteren Fragen Harrys. "Die Verwahrung dieses – Objekts wird nun eine der wichtigsten Aufgaben des Ordens sein."

Mit einem kleinen Seufzen strich sie über die Schreibtischplatte vor sich.

"Um unser Gespräch erst einmal abzuschließen, Hekate – ich respektiere Ihre Entscheidung und muss sagen, ich bin auch erleichtert darüber", wandte sie sich dann wieder an Harper und betrachtete sie mit einem Blick, in dem sich Strenge mit Bedauern mischte. "Es wird schwierig sein, die Vorgänge der letzten Wochen den Kollegen zufrieden stellend zu erklären. Sie allen Schülern verständlich zu machen, halte ich für unmöglich und darüber hinaus auch nicht für angemessen."

"Dann wäre das geklärt", sagte Harper. "Ich verlasse die Schule am Montagmorgen, wenn das in Ordnung geht."

"Selbstverständlich. Missverstehen Sie mich nicht. Ich bin Ihnen zutiefst dankbar für das, was Sie getan haben. Mir ist völlig klar, dass ich ohne Ihr Eingreifen ganz sicher nicht mit einer – einer Versteinerung davongekommen wäre. Ich möchte auch ausdrücklich sagen, dass ich persönlich keinen Zweifel an Ihrer Integrität hege. Nicht mehr, nachdem ich alles gehört habe. Aber Sie verstehen sicher, dass –"

"Sie müssen das nicht erklären", sagte Harper, als McGonagall zögerte. "Mir ist die – Uneindeutigkeit meines Verhaltens durchaus bewusst."

"Ich werde Sie hinunterbegleiten, Hekate", sagte Professor McGonagall zu Harrys Überraschung und stand auf.

Während sie mit Harper die Wendeltreppe hinunterging, sah Harry zu Dumbledores Porträt hin.

"Hat Professor McGonagall sie gefeuert?", fragte Harry geradeheraus.

Dumbledore lächelte.

"Also, ein Diplomat wird jedenfalls nie aus dir werden, Harry. Nein, Hekate Harper hat selbst um ihre Entlassung gebeten."

"Wieso?"

"Lass es mich mal so sagen – ich glaube, sie überdenkt gerade ihre Philosophie."

"Sie meinen, sie hat kapiert, dass sie sich nicht weiter überall hindurchschlängeln kann?"

"So hätte ich es nicht ausgedrückt. Und ich denke, du wirst ihr damit auch nicht ganz gerecht. Glaubst du wirklich, es gibt irgendeinen von euch, der unverändert aus Voldemorts Festung entkommen ist? Hekate hat ihr Leben mit Büchern und Waffen verbracht. Vielleicht hat sie in den letzten Tagen erkannt, dass das, was uns wirklich bezwingt, im Allgemeinen ohne Waffen an unsere Tür klopft? Und dass uns Waffen davor auch nicht beschützen können."

Harry dachte darüber nach, kam aber zu dem Schluss, dass das eine ziemlich kryptische Bemerkung war. Außerdem schwirrten ihm ungefähr hundert andere Dinge durch den Kopf, die er nur zu gern mit Dumbledore besprochen hätte. Aber in diesem Moment kehrte Professor McGonagall zurück und setzte sich wieder an den Schreibtisch, der in Harrys Augen immer Dumbledores Schreibtisch sein würde.

"Harry. Keine Sorge, es geht nicht um weitere Fragen und Berichte", sagte sie und sah ihn freundlich an. "Nein, es geht um etwas viel Erfreulicheres. Genau gesagt: um Quidditch."

Harry sah erstaunt auf. Quidditch?

"Sie wundern sich? Ich möchte, dass wir den Festtag, den wir am Sonntag feiern wollen, unter anderem mit einem Freundschaftsspiel begehen. Das wird dann auch der Auftakt zur neuen Quidditch-Saison sein. Und wir starten mit einem Spiel Gryffindor gegen Slytherin!"

"Aber – aber wir haben – ewig nicht trainiert!", war alles, was Harry im Moment einfiel.

"Das ist mir klar, Mr Potter. Deshalb will ich, dass Sie bis Sonntag eine Menge Training ansetzen. Das wird die Leute auch mal auf andere Gedanken bringen!", sagte sie energisch.

"Aber – Professor McGonagall – ich kann nicht mehr Quidditch spielen!", sagte Harry, und in diesem Moment hasste er sie beinahe dafür, dass sie ihn dazu zwang, das laut auszusprechen.

"Ja, auch das ist mir bewusst", erwiderte sie unerwartet hart. "Gerade deshalb ist es so wichtig, dass Sie die Leute noch trainieren. Sie müssen einen neuen Sucher auswählen. Und einen neuen Jäger auch – Ersatz für Katie Bell. Oh, verstehen Sie das nicht falsch, Harry. Es tut mir leid, sehr leid. Aber ich weiß, dass Sie von meinem Mitleid nichts haben und es wahrscheinlich nicht einmal wollen. Und deshalb sage ich Ihnen: Springen Sie ins kalte Wasser. Leben Sie weiter, machen Sie etwas aus den Fähigkeiten, die Sie haben –"

"Was denn für Fähigkeiten?", fuhr Harry nun doch wütend auf. "Alles was ich konnte, war doch Zaubern! Jetzt bin ich – gar nichts mehr! Sie wissen doch nicht, wovon Sie reden! Aber ich – ich komme aus der Muggelwelt – ich weiß, wie es da zugeht! Ich hab keine Ausbildung, kein Zuhause, keine Familie, kein Geld – nichts! Ich hab nicht mal 'ne Ahnung, wo ich anfangen soll!"

Atemlos hielt er inne und wartete schon auf einen giftigen Kommentar von der Wand hinter ihm. Aber zu seiner Überraschung machte ihn Phineas Nigellus – der übrigens das demütigende Brett vor seinem Gesicht endlich wieder los war – dieses eine Mal nicht auf sein schlechtes Benehmen aufmerksam.

McGonagall hatte seinen Ausbruch ruhig hingenommen. Sie sah ihn ernst an.

"Sie haben Recht, ich kenne die Muggelwelt nicht so gut wie Sie. Aber genau deshalb sage ich Ihnen, fangen Sie an. Einfach mit dem nächsten Schritt. Und übrigens sollten Sie wissen, dass Sie hier in Hogwarts immer willkommen sind, egal mit welchen Fähigkeiten. Sie dürfen hier bleiben, so lange Sie wollen. Gütiger Merlin, Harry, Sie werden überall in der Zaubererwelt immer willkommen sein! Das muss Ihnen doch klar sein!"

"Ja, als der Junge, der ihn bezwang!", murrte Harry. "Das kann ich nicht. Verstehen Sie denn nicht? Ich will das jetzt endlich vergessen! Ich will endlich mein eigener Herr sein! Und nicht mehr ständig angeglotzt werden oder blöde Zeitungsartikel über mich lesen oder bescheuerte Gerüchte und Sprüche über mich hören!"

Sie sahen einander an, und Harry schämte sich, obwohl er sich doch ganz im Recht fühlte. Ihm war bewusst, dass die Bewohner aller Porträts um ihn herum ihr Gespräch aufmerksam verfolgten. Eigentlich wollte er nur noch hier raus.

"Es tut mir leid, wenn ich Ihnen rücksichtslos erscheine. Ich verspreche Ihnen, Sie und Ihren Namen, soweit es möglich ist, aus allen Reden und Feierlichkeiten herauszuhalten", sagte sie seufzend. "Selbstverständlich geht Ihnen das alles an die Nerven. Umso mehr sollten Sie versuchen, aktiv zu werden. Ich zwinge Sie ja nicht. Ich biete Ihnen das nur an: Stellen Sie die Mannschaft wieder zusammen, wählen Sie einen guten Nachfolger aus, trainieren Sie die Leute dieses eine Mal noch. Schleichen Sie sich nicht wie ein Verlierer vom Feld, Harry! Das ist es, was ich meine! Sie sind ein Sieger!"

"Obwohl er an seiner Selbstdisziplin und insbesondere seinen Manieren noch eine Menge zu arbeiten hat!", meldete sich Phineas Nigellus nun doch endlich mit einem kleinen Schnauben.

Da musste Harry unwillkürlich grinsen. Als er aufsah, entdeckte er auch in McGonagalls Gesicht ein Lächeln, das sie vergeblich zu unterdrücken versuchte.

"In Ordnung", sagte Harry. "Ich mach's."

oooOOOooo

Und so kam es, dass Harry sich am Nachmittag auf dem Quidditchfeld wiederfand – umgeben von erschreckend vielen Leuten, die dem Aufruf von Professor McGonagall gefolgt waren und sich als neue Jäger oder Sucher testen lassen wollten.

"Also, Leute. Ihr habt's gehört, diesmal gibt's ein Spiel zum Saisonauftakt. Ich soll euch bis Sonntag noch trainieren", begann Harry so lässig er konnte. Mach ich doch prima, dachte er, als er in die aufmerksamen Gesichter ringsum sah. Das mussten mindestens fünfzig Leute sein!

"Äh – wie ihr vielleicht gehört habt, spiele ich selbst nicht mehr", fuhr er fort und räusperte sich. "Und deshalb müssen wir jetzt einen neuen Sucher – äh – suchen. Finden."

Vereinzeltes Kichern.

"Also dann. Wer meint, er könnte als Sucher spielen, geht bitte aufs Spielfeld. Ich lasse euch dann in Gruppen probeweise spielen."

Da meldete sich Ron zu Wort, der neben Ginny und Demelza stand.

"Ich hab 'ne Frage. Wär's möglich – könnte vielleicht – könnt' ich das vielleicht mal versuchen? Ich wollte immer schon mal als Sucher spielen. Nur dieses eine Mal!"

Das brachte Harry völlig aus dem Konzept. Ron und er hatten nicht mehr als das Nötigste miteinander gesprochen, seit sie zurück waren. Und jetzt das. Plötzlich hatte er ihn wieder vor Augen, wie er in dieser Blutlache ausrutschte und ihm lachend die Schreibfeder zuwarf, die Schreibfeder, die Hermiones Zauberstab gewesen war. Fang, du Blödmann!

"Aber – aber dann fehlt uns ein Hüter", stotterte er. "Und du – du bist doch ein guter Hüter!"

"Bitte, Harry!", sagte Ron leise, und alles hielt irgendwie den Atem an, als spürten sie, dass hier gerade etwas Entscheidendes vorging. Deshalb kam wohl auch kein Protest zu dieser ungewöhnlichen Bitte.

"Äh –", sagte Harry schließlich. "Mir ist's recht. Wenn keiner was dagegen hat. Und wir einen anderen Hüter finden!"

Ron stand mit roten Ohren da und wartete offensichtlich auf Widerspruch. Aber der kam nicht.

"Dann ist das geklärt. Ron ist am Sonntag Sucher. Wer meldet sich als Hüter? Und Moment, bevor ich's vergesse, wir brauchen ja auch noch einen Jäger."

Mann, bin ich blöd, dachte er. Das hätte ich beinah vergessen!

oooOOOooo

Die beiden nächsten Tage verbrachte er dann fast ausschließlich auf dem Quidditchfeld. Nachdem er sich einmal damit abgefunden hatte, dass er nicht mitfliegen konnte, ging es. Er brüllte die Leute einfach zu sich herunter, um ihnen Anweisungen zu geben. Das Brüllen selbst – und zu sehen, wie sie ihm gehorchten – hatte schon etwas sehr Befriedigendes, stellte er fest.

Überhaupt war es gut, wieder etwas zu tun zu haben, auch wenn das Wetter sehr unbeständig war. Ständig flogen ihnen neue Regenschauer um die Ohren, Minuten später rissen die Wolken auf und ließen gleißende Sonnenstrahlen hindurch.

Es war gut, draußen zu sein, weg von dem Gefühlswirrwarr und dem ewigen Gerede, das nach wie vor das ganze Schloss beherrschte. Hier auf dem Spielfeld waren Ginny und Ron nur zwei Mitglieder der Mannschaft, und Hermione war überhaupt verschwunden. Es kränkte ihn, dass sie ihm auswich, auch weil er es nicht verstand. Er vermutete, dass sie ihre Zeit tatsächlich überwiegend in der Bibliothek verbrachte.

Aber am Samstagmorgen – dem Tag vor dem Fest – kam sie atemlos zum Quidditchfeld gerannt.

"Harry! Harry!", schrie sie schon von weitem.

Sein Herz machte einen Hupfer, als er sie heranrennen sah. Er hatte sie ganz schön vermisst.

"Harry, komm mit zum Krankenflügel!", rief sie, als sie vor ihm stand. "Luna ist wieder wach! Und – oh Mann, sie hat keineAhnung, was alles passiert ist!"

Sie begann hilflos zu lachen, und als Harry sah, wie das Sonnenlicht in ihren Augen funkelte, breitete sich prickelnde Wärme in seiner Brust aus.

"Kannst du dir das vorstellen? Sie kann sich an nichts erinnern – an gar nichts, was nach der Nacht war, als die Harper sie aus dem See gefischt hat! Nach der Nacht, in der –"

Und sie kicherte weiter. Harry konnte nicht anders, er musste sie küssen. Beifällige Pfiffe ertönten von über ihnen.

"Kommst du mit?", fragte sie.

"Also – ich kann hier nicht so gut weg jetzt –", fing er an.

"Ach komm schon, die können doch mal ohne dich trainieren, oder?"

Harry verzog das Gesicht.

"Ist das wegen Snape, dass du nicht mehr da rauf willst?", fragte sie schließlich leise. "Dem geht's wieder besser, hab ich gehört. Und er ist ja auch nicht im Krankensaal. Also, jetzt gib dir einen Schubs und komm mit! Kannst auch gleich mal Neville begrüßen."

Harry seufzte. Wann hätte man gegen Hermione je eine Chance gehabt, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte?

Minuten später öffneten sie so leise wie möglich die Tür zum Krankenflügel.

Als sie den Korridor betraten, fiel ihnen zuerst die Versammlung von Leuten in Madam Pomfreys Büro auf. Überrascht sahen sie Bill blass und nachdenklich dort an der Tür stehen; noch größer war ihre Überraschung, als sie im Hintergrund Snape entdeckten, der sich an die Fensterbank lehnte.

"Ich kann Ihnen den Trank in der Stärke brauen, die Sie vorschlagen. Aber ich kann nicht für die Wirkung garantieren. Wenn ich Sie recht verstehe, war das Ergebnis der Verabreichung von Wolfsbanntrank auch – unerwartet", sagte er gerade.

Seiner Stimme und seiner Haltung war deutlich anzumerken, dass er noch lange nicht geheilt war.

Bill grinste müde.

"Das stimmt allerdings. Es wäre also ein Experiment. Aber wir sollten es trotzdem versuchen. Wenn irgendjemand Tonks da draußen wieder finden und vielleicht sogar nach Hogwarts zurückbringen kann, dann wohl ein Werwolf – ein Wesen wie sie selbst."

"Lass uns da kurz zuhören!", flüsterte Hermione Harry zu, und sie blieben nicht weit von der offenen Tür stehen. Bill hatte sie gesehen, machte aber keine Anstalten, sie zu verscheuchen.

"Ich müsste dafür natürlich den Krankenflügel verlassen", bemerkte Snape mit einem Anklang seines gewohnten Sarkasmus.

Die anderen sahen einander etwas betreten an.

"Das wird sich sicher einrichten lassen, oder?", sagte Bill schließlich. "Was Scrimgeour nicht weiß –"

"Wir sollten da sehr vorsichtig sein, vor allem in Ihrem Interesse, Severus", sagte McGonagall ernst. "Er hat angekündigt, am Montag persönlich hier zu erscheinen, um Ihre Überstellung zum Ministerium zu überwachen. Als er hörte, dass Sie wieder auf den Beinen sind, wollte er Sie eigentlich sofort abholen."

"Soll Slughorn mich überwachen. Ich stelle Ihnen das Zeug her, danach können Sie mich hier wieder in Gewahrsam nehmen", sagte Snape gleichgültig.

Die anderen schwiegen.

"In Ordnung", sagte McGonagall dann entschieden. "Wenn Sie sicher sind, dass Sie dieser Anstrengung überhaupt schon gewachsen sind –"

"Natürlich", sagte er kalt.

"Dann machen Sie sich an die Arbeit", sagte McGonagall kühl. "Ich denke, auf die Überwachung werden wir verzichten. Melden Sie sich hier bei Pomfrey, sobald Sie fertig sind."

"Jetzt lass uns von hier verschwinden!", zischte Harry, als er sah, dass Professor McGonagall aufstand und der Tür zustrebte. Er zog Hermione mit sich in Richtung des Krankensaals. Um nichts in der Welt wollte er Snape noch einmal begegnen.

"Hast du das mitgekriegt?", fragte Hermione und blieb vor der Tür stehen. "Bill will Tonks suchen! Er weiß doch nicht mal, ob er – ob er wirklich zum Werwolf wird! Und das mit Snape – sie klagen ihn also doch an."

"Er hat Lucius Malfoy umgebracht, nach allem, was man so hört", sagte Harry.

"Irgendeiner von den Todessern hat wohl auch behauptet, Snape hätte damals Regulus Black ermordet, wusstest du das?", sagte Hermione.

Davon hatte Harry noch nichts gehört, aber irgendwie überraschte es ihn nicht.

In diesem Moment überholte Ron sie. Er warf ihnen einen schiefen Blick zu.

"Ron! Weißt du schon, dass Luna wieder aufgewacht ist?", rief Hermione.

"Mmh. Deshalb bin ich doch hier. Du warst eben nicht zu überhören, da draußen", sagte Ron. "Und habt ihr gesehen – der alte Fettkopf ist auch von den Toten zurück. Und mieser gelaunt als je zuvor."

"Wenn du die Aussicht auf lebenslang in Azkaban hättest, wärest du vielleicht –", begann Hermione.

"Hast du vergessen? Azkaban ist hinüber! Das dauert, bis die da wieder jemanden unterbringen können", erwiderte Ron verächtlich. "Ich glaub's ja, dass er Dumbledore nicht richtig umgebracht hat. Aber ausgemacht hat's ihm sicher auch nichts, wenn ihr versteht, was ich meine. Ich würd' dem nie über den Weg trauen."

"Hört doch auf mit dem Thema", sagte Harry gequält. "Wo ist nun Luna?"

"Was ist denn hier schon wieder los?", fragte Madam Pomfrey scharf, und sie fuhren herum.

"Wir haben gehört, dass Luna Lovegood wieder aufgewacht ist", sagte Hermione. "Wir wollten sie nur kurz besuchen."

Madam Pomfrey öffnete die Tür zum Krankensaal, vor der sie standen.

"Also dann, hinein. Aber nur kurz. Es gibt noch andere Patienten hier, und die brauchen ihre Ruhe", sagte sie kurz angebunden.

Der Krankensaal hatte sich sehr geleert. Sie sahen am hinteren Ende des Raums einen durch Vorhänge abgeteilten Bereich, in dem, wie sie wussten, Narcissa Malfoy lag. Ansonsten waren nur noch zwei Betten belegt. In dem einen saß Neville, der mit mürrischem Gesichtsausdruck in ein Buch starrte. An seinem Bett saßen zur Überraschung der Besucher Professor Slughorn und Professor Sprout, die leise miteinander redeten. Als sie jetzt Madam Pomfrey sahen, stand Slughorn auf.

"Dürfen wir erfahren, ob Sie etwas herausgefunden haben?", fragte er höflich.

"Haben wir. Es stimmt. Ich habe vorhin mit den Kollegen über die Proben gesprochen, und auch sie haben keinen Zweifel. Die Nistlingssamen haben ihren euphorisierenden Wirkstoff in Mr Longbottoms Organismus abgegeben. Er war in seinem Blut immer noch nachweisbar."

Neville legte sein Buch gelangweilt auf die Bettdecke.

"Ohne das Zeug hätten Sie die Dementoren niemals so locker überstanden, mein Junge!", sagte Professor Sprout fröhlich. "Wie gut, dass Sie damals diesen Unsinn gemacht haben!"

"Eine außerordentliche Entdeckung, finden Sie nicht auch?", sagte Professor Slughorn. "Sie bestätigt mich in unserem Vorhaben. Wir sollten das Projekt 'Nistling' unbedingt gemeinsam in Angriff nehmen. Unabsehbar, wohin uns die genaue Untersuchung der heilkundlichen Nutzbarkeit des Nistlings noch führen kann!"

"Ganz recht", bestätigte Professor Sprout. "Haben Sie schon einmal bedacht, dass dieser Wirkstoff vielleicht sogar Linderung bei langjährigen Leiden versprechen könnte – bei aufgegebenen Melancholikern etwa oder sonstigen –"

"Sie meinen – vielleicht auch bei Leuten wie meinen Eltern?", fragte Neville da ganz unerwartet. Der gelangweilte Ausdruck war aus seinem Gesicht verschwunden.

Die drei anderen sahen einander verblüfft an.

"Nun – das sollte jedenfalls unbedingt bedacht werden, Mr Longbottom", sagte Madam Pomfrey schließlich.

Die jagenden Wolken draußen ließen eben wieder gleißendes Licht durch die Fenster in den Saal fluten. Ein kleines Bündel auf Lunas Nachttisch glänzte silbrig auf in diesem Licht.

Luna selbst saß in einer giftgrünen Jeans und einem dunkelbraunen, überweiten Seidenhemd auf ihrem Bett und bürstete mit energischen Strichen ihr frisch gewaschenes, noch nicht ganz trockenes Haar.

"Oh – das – das –", keuchte Hermione plötzlich und schoss förmlich auf Lunas Nachttisch zu.

Gleichzeitig bemerkte Luna ihre Besucher und lächelte ihnen unbefangen entgegen.

Sie muss die glücklichste Person in Hogwarts sein, ging es Harry auf einmal durch den Kopf.

"Harry!" Hermione kreischte seinen Namen beinahe. "Sieh mal! Oh, das ist ja Wahnsinn!"

"Ja, das war in der Tasche meines Kleides", sagte Luna beiläufig "Tut mir leid, aber ich hab keine Ahnung, wie es dahin gekommen ist. Oder was es ist. Ich kann mich an gar nichts erinnern, nur dass ich – im See schwimmen war."

Sie strahlte Ron an.

Harry aber nahm mit einem ungläubigen Blick entgegen, was Hermione ihm da hinhielt. Es war der Tarnumhang.

In dem Moment hatte er ganz deutlich das Gefühl, dass sein Vater ihm zuzwinkerte. Er konnte ihn beinahe vor sich sehen.

Das feine Gewebe glitt mit einem leisen Rascheln durch seine Finger. Ganz egal, ob er ihn noch würde verwenden können, wichtig war, dass er ihn zurück hatte!

Eine Viertelstunde später unterbrach die Ankunft von Lunas Vater – den man nach tagelangem Suchen endlich irgendwo in Wales erreicht hatte, wo er undercover zu Recherchezwecken weilte – ihren Besuch.

oooOOOooo

Den Rest des Tages hatte Harry mit weiterem Quidditch-Training und stundenlangen, ziellosen Spaziergängen verbracht. Nachdem sie sich auf der Krankenstation verabschiedet hatten, war Hermione wieder einmal entschwunden. Er beschloss, dass er dann eben allein spazieren gehen und endlich in Ruhe über die Zukunft nachdenken würde. Unter anderem überlegte er gründlich, ob er wohl noch in das Haus am Grimmauldplatz hineinkonnte – immerhin sein Haus, auch wenn er das fast vergessen hatte. Er fand keine befriedigende Antwort auf diese Frage.

Gegen Abend, als er Hermione weder beim Essen noch im Gemeinschaftsraum angetroffen hatte, wurde er allmählich richtig sauer. Wieso ging sie ihm denn bloß so aus dem Weg?

Er hatte sie jetzt so ziemlich überall gesucht. Übrig blieben nur noch die – unzugänglichen Räume: Schlafsaal, Toiletten, Bäder ...

Schluss damit, dachte er wütend, als er vor dem Porträtloch ankam. Ich geh jetzt schlafen!

Die Fette Dame sah ihm mit einem herablassenden Lächeln entgegen.

"Passwort?", fragte sie und raspelte mit einer Nagelfeile an den Nägeln ihrer linken Hand herum.

Harry dachte nach.

"Hm – geben Sie sich keine Mühe", sagte sie, als er lange genug grübelnd dagestanden hatte. "Ich hab es sowieso gerade geändert. Deshalb sag ich's Ihnen sozusagen gratis: Wie finden Sie Molto amoroso?"

"Tolles Wort", sagte Harry.

"Ich habe eben übrigens von einem Bekannten aus dem siebten Stock gehört, dass Miss Granger dort gesehen wurde. Nur, falls Sie das interessieren sollte."

"Siebter Stock?", fragte Harry elektrisiert.

Augenblicklich war ihm der Raum der Wünsche eingefallen. Ob sie dort war?

"Schönen Dank auch! Ich komm später wieder!"

"Das will ich doch hoffen", sagte die Dame indigniert, aber da war er schon wieder im Treppenhaus.

Während Harry durch das spärlich beleuchtete Treppenhaus nach oben lief, hatte er genug Zeit, sich zu fragen, ob er eigentlich in diesen Raum hineinkonnte, immer mal angenommen, Hermione war überhaupt dort. Allein würde er ihn jedenfalls nicht öffnen können, so viel war klar.

Hier oben war niemand. Der Korridor war ziemlich düster. Atemlos – und das nicht nur wegen der vielen Treppen – ging er hindurch. Ja, da war die Tür, die sonst nicht da war, und sie stand einen Spalt weit auf. Mit klopfendem Herz ging er hinein.

Es war dunkel im Raum der Wünsche. Aber durch die Dunkelheit bewegten sich langsam als große, schimmernde Kugeln die Planeten des Sonnensystems auf ihren annähernd kreisförmigen Bahnen. Vor Harrys Augen zogen eben Erde und Mars vorbei – blaugrün die Erde, von staubigem, irgendwie geheimnisvollem Rot der Mars.

"Schön, oder?", hörte er Hermiones Stimme von irgendwoher aus der Dunkelheit.

"Finde ich auch."

"Ich hätt' nicht gedacht, dass du noch kommst."

"Woher sollte ich denn wissen, dass du hier bist? Die Fette Dame hat's mir gesagt, sonst hätt' ich dich nie gefunden."

Aus der Dunkelheit ertönte Hermiones leises Lachen.

"Die Fette Dame? Das ist ja wohl ein Witz!"

Und dann stand sie plötzlich vor ihm. Im blassen Lichtschein, der vom eben über sie hinziehenden Jupiter ausging, konnte er sehen, wie ihre Augen glänzten. Sein Herz machte einen kleinen Sprung in die Kehle hinauf und zerplatzte in eine Menge kribbelnder Funken, die sich dann langsam durch seinen ganzen Körper verteilten. Er konnte gar nicht atmen.

"Warum warst du so komisch in den letzten Tagen?", fragte er schließlich ein bisschen krächzig.

"Ich hatte Angst", antwortete sie leise. "Ich dachte, du würdest – du könntest wieder – na ja – mit Ginny, du weißt schon – Ich hab euch doch im Gang gesehen – und dann dauernd dieses Training –"

Erst in diesem Moment kapierte Harry, was mit ihr los gewesen war. Sicher war er nicht der Hellste in diesen Dingen, aber zu seiner Entschuldigung musste gesagt werden, dass seine Gefühle so eindeutig Hermione galten, dass er gar nicht auf die Idee gekommen wäre, sie könnte das anders sehen.

"Oh Mann, Hermione", sagte er hilflos und schluckte immer noch an den kribbelnden Funken in seiner Kehle. "Was soll ich da sagen? Ich war so verliebt in Ginny, letztes Schuljahr. Und dann ist so viel passiert. Ich kann mich kaum noch erinnern, wie ich selbst war, vorher, meine ich. Vor Dumbledores Tod. Verstehst du, alles ist so anders geworden! Und dann hab ich dich auf einmal auch ganz anders gesehen."

Saturn glitt majestätisch vorüber, in seine sieben vielfarbig glitzernden Ringe gehüllt. Da waren sogar die Monde, die ihn umkreisten. Harry starrte darauf.

"Aber irgendwie war's auch so, als hätt' ich das immer schon gewusst, mit dir, meine ich. Dass du eigentlich ganz anders bist. So, wie ich dich – fühle – "

Er wusste nicht mehr weiter. Reflexartig hob er die Hand, um einen der Monde zu berühren. Stattdessen berührten seine Finger Hermiones Haar. Das war so seltsam, und es ging wie ein Schock durch ihn. Seine Hand legte sich sanft um ihre Schläfe, ihre Wange. Die kleine Bewegung, die sie machte, um ihre Wange in seine Hand zu schmiegen, brach den Bann.

"Titan", murmelte sie dicht an seinem Mund. "Da könnte sogar Leben drauf sein."

"Was?", murmelte er schwerfällig zurück.

"Der Mond gerade. Das war Titan."

Er küsste sie lieber, als jetzt über Astronomie nachzudenken.

"Hast du hier auf mich gewartet?", fragte er schließlich, einerseits, weil es ihn wirklich interessierte, andererseits aber auch, um die Aufmerksamkeit von dem abzulenken, was er da gerade mit ihrer Bluse versuchte – ziemlich ungeschickt übrigens, denn ihm zitterten die Finger.

"Ja."

"Aber woher sollte ich denn wissen –"

"Jetzt fang nicht wieder damit an –"

Neptun war schon vorbei, und Pluto tauchte auf, als er es endlich geschafft hatte.

"Ist das okay – ich meine – ist das okay?", fragte er atemlos, mit den Lippen an ihrem Hals.

"Du hast einen Knopf abgerissen – aber sonst – und den find ich ja vielleicht wieder –", lachte sie, aber er fühlte ihren Herzschlag so heftig unter seinen Lippen, dass er wusste, es war okay.

Mehr als das.