11. Erinnerungen

Schweigend stellte Snape die steinerne Schale auf den Tisch und setzte sich wieder neben Hermine.

„Erklären", sagte er, „kann ich es nicht. Aber ich kann es dir zeigen, wenn du wirklich bereit dazu bist."

Sie sah ihn aus großen, noch immer stumpfen und rastlosen Augen an. Dann nickte sie. „Ich will es endlich verstehen."

„Ich bin mir nicht sicher, ob es richtig ist, es dir zu zeigen. Aber ich weiß, dass es bald vorbei sein wird… viel habe ich nicht mehr zu verlieren. Ich werde dir Zutritt zu meinen Erinnerungen verschaffen. Etwas, das ich vorher nur einem einzigen Menschen gestattet habe…"

„Warum? Warum tust du das jetzt?"

Ein flüchtiges, gequältes Lächeln glitt über sein Gesicht. „Vielleicht, weil das das einzig menschliche ist, was mir geblieben ist. Der Wunsch noch etwas weiter zu leben…"

„Ich verstehe nicht."

„Du wirst, wenn du gesehen hast, was ich dir zeigen werde. Bist du bereit dazu?"

Hermine erzitterte leicht. Nein, das war sie nicht. Aber genauso wenig wollte sie einen Rückzieher machen. Sie wollte wissen, was geschehen war. Sie wollte das Geheimnis lüften, das diesen Mann umgab. Sie nickte.

„Gut."

Ebenfalls mit zittriger Hand zog Snape seinen Zauberstab hervor. Er war sich nicht sicher, warum er es tat. Vielleicht war es wirklich einfach der Wunsch weiter zu leben, der Wunsch einen Anwalt zu finden, der ihn von den Anschuldigungen befreite. Einen Anwalt, der in der Gunst all jener Stand, die ihn verachteten. Vielleicht war es aber auch der Glaube daran, dass Hermine nach all dem, was geschehen war, ein Anrecht darauf hatte die Wahrheit zu erfahren.

„Beginnen wir mit den ältesten Erinnerungen…" Snape richtete seinen Stab auf die Schale und silbern flossen seine Gedanken hinein. „Das wird vorerst genügen", sagte er, „nun bist du an der Reihe."

„Ich dachte du würdest mich begleiten", flüsterte sie.

„Nein, Hermine. Ich lege keinen Wert darauf diese Erinnerungen noch einmal zu sehen. Ich habe das schon oft genug erlebt… viel zu oft."

Hermine nickte schwach. Dann beugte sie sich herab und tauchte ihr Gesicht in die silberne Flüssigkeit…

Der Strudel riss sie hinab. Immer tiefer… tiefer…

Dann stand sie plötzlich in einem Zimmer, es war klein und unordentlich. Ein Kinderzimmer, wie sie an der Möblierung erkennen konnte. Zögernd drehte Hermine sich herum bis ihr Blick auf den kleinen Jungen fiel, der mit verweinten Augen in seinem Bett saß. Sein schwarzes Haar war strubbelig und seine dunklen Augen hatten einen Ausdruck, den sie nie zuvor bei einem Kind gesehen hatte.

Ein schmaler Lichtschein fiel ins Zimmer als die Tür sich öffnete. Der Junge zuckte zusammen, zog die Decke weiter an seinen Körper, als wolle er sich damit schützen.

Severus?" Eine Frau mittleren Alters betrat den Raum. Sie hatte eine schmächtige Figur und ein mageres Gesicht. Ihre schwarzen Locken hatten jeden Glanz verloren. Vermutlich war sie jünger, als sie schien. Ihre Lippen waren zusammengekniffen und verhärmt, aber ihre Augen waren voller Wärme und Liebe. Langsam setzte sie sich an die Bettkante ihres Sohnes. „Es ist wieder gut, Severus. Vater… Vater ist weg."

Der Junge schluchzte auf. „Bin ich wirklich so, wie er sagt? Ein… ein Bastard… ein Monster… Mama ich wollte das Glas doch nicht zerbrechen. Ich hab doch nur gelacht und… und dann ist es zersprungen. Ich hab es nicht einmal angefasst."

Ich weiß", sagte sie leise, „und ich wünschte ich könnte es dir erklären, warum solche Dinge geschehen. Aber Vater würde sehr, sehr wütend werden… wenn du elf bist, Severus, dann wirst du es verstehen."

Wann bin ich elf, Mama?"

Noch viermal Geburtstag feiern, Severus", Traurigkeit kennzeichnete ihre Stimme.

Mit einem hellen Lichtblitz wurde Hermine fortgerissen. Dann war dort wieder dieses Reißen, dieses Drehen…

ER WIRD NICHT DORT HIN GEHEN! NIEMALS!" Der Mann, der plötzlich vor Hermine auftauchte war groß und breitschultrig. Sie zuckte zusammen, Angst ergriff sie und es dauerte einen Moment, bis Hermine begriff, dass es nicht ihre Angst war, sondern die des kleinen Severus Snape, der sich ängstlich in eine Nische unter der Treppe kauerte.

KOMM DA RAUS!"

Der Junge schien noch kleiner zu werden.

Bitte… bitte lass ihn. Er kann doch nichts dafür. Er hat es doch von mir… du hast es doch immer gewusst, dass ich… dass ich eine Hexe bin…"

HALT DEN MUND!"

Severus hat ein Recht nach Hogwarts zu gehen."

Mit einem Faustschlag ins Gesicht brachte er sie zum Schweigen.

JETZT KOMM DARAUS, DU AUSGEBURT DER HÖLLE!"

Grob griff er nach dem zitternden Jungen, riss ihn an sich und schleifte ihn hinter sich her in die Küche. Er schlug dem Jungen ins Gesicht, so dass er rücklings auf den Boden taumelte. Er schrie nicht auf. Severus Snape kannte Schmerz.

Mr. Snape riss das Hemd des Jungen hoch. „Knie dich hin", sagte er kalt.

Hermine zitterte.

Dann zog er den Gürtel aus seiner Hose. Als sein erster Hieb die nackte Haut des Kindes traf, schloss Hermine die Augen. Erst sagte das Kind nichts, nur das klatschen von Leder auf nackte Haut war zu hören. Immer und immer wieder. Hermine wollte fort. Doch Snapes Erinnerung hielt sie unbarmherzig fest. Dann wimmerte das Kind und schließlich schrie es. Hermine wusste, dass Severus Snape in diesem Moment bereute jemals elf Jahre alt geworden zu sein. Und dabei hatte seine Mutter versprochen, dass dann alles besser würde…

Mr. Snape ging einfach und ließ den Jungen wimmernd auf dem kalten Fußboden zurück. Hermine wollte zu ihm eilen, ihn trösten, doch da wurde sie bereits aus der Erinnerung fortgerissen.

Dieses Mal dauerte es länger bis Hermine zu Snapes nächster Erinnerung gelangte. Vermutlich war es die Zeitspanne, die dazwischen lag.

Hermine stand in Dumbledores Büro, Snape war auch dort. Sie schätzte, dass er etwa vierzehn Jahre alt war. Ausdruckslos starrte er Dumbledore an.

Es tut mir sehr leid, Mister Snape."

Er war es", sagte Snape. Seine Stimme zitterte und seine Hände umkrallten einander, suchten Halt.

Wovon sprechen Sie?"

Meinem Vater. Er hat sie umgebracht."

Nein, Mr. Snape. Ihre Mutter war krank. Sehr krank. Ich weiß, dass Ihr Vater Ihnen das geschrieben hat…"

Er ist ein… ein…" Snape senkte den Blick. Wie sollte er ausdrücken was er empfand. Hermine fühlte es. Den Hass, die Wut… Und die Verzweiflung, den Schmerz, den er kaum zu tragen vermochte.

Es tut mir leid, dass Sie ihre Mutter nicht noch einmal sehen konnten. Hätte ich davon gewusst, hätte ich sie früher nach Hause geschickt…"

Snape blickte wieder zu Dumbledore auf, seine Mundwinkel zuckten. „Er hat sie umgebracht… vielleicht nicht direkt, aber er ist verantwortlich dafür, dass sie krank geworden ist. Ich weiß es. Ich hätte Sie nicht alleine lassen dürfen…"

Es ist nicht Ihre Schuld, Mr. Snape."

NEIN! ES IST SEINE! SEINE! UND DAFÜR WIRD ER BEZAHLEN", spie Snape aus, „irgendwann. Er wird. Das schwöre ich."

Ein erneuter Wirbel erfasste Hermine und sie wurde fort gerissen.

Der blonde Junge legte dem jüngeren Schwarzhaarigen die Hand auf die Schulter. Lucius Malfoy war bereits in seiner Abschlussklasse, während Snape die dritte besuchte.

Tut mir leid", sagte er leise.

Snape nickte. „Ich hasse meinen Vater."

Der blonde Junge lachte. „Hass ist gut. Wusstest du das nicht? Es macht die Menschen stark."

Ich bring ihn um, irgendwann bring ich ihn um."

Die Kälte in Snapes Stimme ließ Hermine zusammen zucken. Severus Snape war noch ein Kind, er sollte nicht so sprechen. Nicht so fühlen, wie sie es gerade vernahm. Aber vielleicht war Snape bereits kein Kind mehr, in seinem Innern.

Wir hatten nie viel miteinander zu tun, Severus, aber wenn du mich brauchst, sag einfach Bescheid. Ich habe Einfluss… und ich kenne Menschen, die noch mehr haben."

Snape sah von ihm weg. „Ich brauche keine Hilfe."

Nein, sicherlich nicht", sagte Lucius Malfoy spöttisch, „falls du es noch anders überlegen solltest… sag einfach Bescheid." Damit wandte er sich ab und ging hinüber zu dem jungen Mädchen, dass ihn bereits die ganze Zeit angestarrt hatte. Narzissa Black. Sie schien etwa in Snapes Alter zu sein, was Lucius keinesfalls zu stören schien. Snapes Gedanken entnahm Hermine, dass Narzissa nicht die erste und letzte sein würde, die ihre Jungfräulichkeit an Lucius Malfoy verlor, dabei war sie gerade einmal 13 Jahre alt.

Snape bewunderte Lucius. Sehr. Und er war mehr als froh, dass er gegangen war, nichts hätte ihn mehr beschämt, als dass Lucius Malfoy gesehen hätte, wie er weinte. Aber Hermine, Hermine sah es.

Wieder wurde sie fortgerissen und dann folgten Bilderfetzen aufeinander. Sirius Black und James Potter, wie sie Severus Snape tyrannisierte, ihn beschimpften. Kinder, die über ihn lachten. Lehrer, die ihn für seine guten Leistungen lobten. Und immer wieder das Bild seiner Mutter, die ihn anlächelte. Jedes Mal wieder, wenn er ihr altes Schulbuch aufschlug. Sie war großartig gewesen bevor sie geheiratet hatte. Die schlauste Hexe ihres Alters. Wieder James Potter. Und dazwischen Severus Snapes Vater, Schläge und Beschimpfungen.

Plötzlich stoppte der Bilderfluß.

Sie waren draußen am See von Hogwarts. Snape stand dort. Hilflos. Dieses Mal vielleicht sechzehn. Aber noch immer scheu und einsam.

Snivillius!"

Der Schrei des Spottes zerschnitt die Luft. Snape sah nicht auf. Wozu auch? Er kannte Potters und Blacks Tyrannei. Narzissas älterer Bruder war ein Bastard. Irgendwo hinter ihnen trottete Pettigrew, er war ein Idiot, tat alles, was das Traum-Duo ihm sagte. Und Lupin. Lupin war anders. Stiller. Aber er war ihr Freund. Und dafür hasste Snape ihn.

Snivillius, zeig doch noch mal deine hübsche Unterhose." Schallendes Gelächter drang zu ihm. Es traf ihn nicht, durfte nicht. Schmerzte dennoch. Ja, sie hatten ihren Spaß gehabt, als sie ihn auf den Kopf stellten, so dass die halbe Schule seine Unterhose sah. Wunderbar. Er kannte ihren Terror.

Hermine kannte ihn nicht. Harry hatte davon gesprochen, dass er enttäuscht war. Aber das hier war anders. Sie konnte Snapes Schmerz fühlen und diese schreckliche Einsamkeit.

Irgendein Zauber riss Snape von den Füßen. Hermine spürte seine Wut, dabei hatte er so geschworen ruhig zu bleiben. Ehe Snape sich aufrichten konnte, hatte James Potter ihm einen Tritt in die Seite verpasst. Hermine fühlte Snapes Hass. Sirius Black zog seinen Stab…

Lasst ihn in Ruhe, ihr Idioten."

Die energische Stimme des jungen Mädchens ließ sie inne halten. Hermine folgte Snapes Blick mit ihren Augen. Das war sie also. Lily Evans, Harrys Mutter. Sie war hübsch, schlank. Ihre Bewegungen fließend, das dunkelbraune lange Haar wehte leicht im Wind. Hermine konnte spüren, wie Snape bei ihrem Anblick die Luft anhielt. Das war es also, was er für sie empfand. Er mochte sie. Mehr als das.

Hallo Lily, meine Hübsche." James Potter kam auf sie zugetänzelt.

Du findest dich wohl unwiderstehlich, nicht wahr James Potter", spie sie aus, „und du Sirius, mal wieder andere Menschen tyrannisieren?"

Ist doch nur der Streber."

Streber? Du spinnst doch. Könnt ihr ihn nicht einmal in Ruhe lassen?"

James grinste sie an. „Eigentlich nicht… aber wenn du mich darum bittest…" Auffordern hielt er ihr seine Wange hin.

Lily schnaubte wütend. „Eigentlich sollte ich dich in Grund und Boden hexen." Dann drückte sie James einen Kuss auf die Wange.

Kommt Jungs", lachte James zufrieden, „Lily hat den Penner ausgelöst."

Die vier trotteten davon. Aus der ferne hörte Hermine ihr Getuschel. „Was die nur an dem findet." „Ach, Lily ist süß."

Lily Evans beugte sich zu Snape herab und reichte ihm die Hand. „Alles ok bei dir, Severus."

Hermine spürte, wie eine Welle von Wärme ihn überschwappte. Er starrte sie an. Hermine spürte, wie er bei dem Blick aus ihren leuchtend grünen Augen leicht erbebte. Sie lächelte. Er konnte nichts sagen.

Alles ok?"

Klar ist alles ok", fauchte er, „ich brauche deine Hilfe nicht, Schlammblut." Nein, er brauchte von niemandem Hilfe. Er schämte sich, dass sie ihn schwach gesehen hatte und dafür beschimpfte er sie. Nur dafür. Und gleichzeitig verletzte er sich selbst damit. Als er den traurigen Blick aus ihren Augen sah.

Ich verstehe", sagte sie leise und wandte sich von ihm ab.

Eine Welle der Einsamkeit schwappte über Hermine. Severus Einsamkeit.

Plötzlich fand sie sich in der Höhle wieder. Die silberne Flüssigkeit war aus der Schale verschwunden und Snape saß neben ihr, als wäre nichts geschehen.

„Ich denke das reicht für heute", sagte er leise und wollte sich vom Sofa erheben.

„Warte", Hermine umfasste seine Hände. Zum ersten Mal wollte sie seine Nähe spüren. Nach allem, was sie gesehen hatte, empfand sie nur noch Mitleid für ihn. Keinen Hass. Keine Furcht. Es war schrecklich. Alles, was sie gesehen hatte.

„Dein Vater…", hauchte sie, „…wie konnte er… er das nur tun. Es… es ist so furchtbar."

„Er hat seinen Preis dafür gezahlt. Lucius hat dafür gesorgt. Und ich selbst."

Hermine schreckte zurück vor der Kälte in seiner Stimme. „Was meinst du?"

„Da ich dir diese Erinnerung ersparen werde… ich habe meinen Vater nach meiner Zeit in Hogwarts nur noch ein einziges Mal richtig gesehen. Wir haben gestritten. Danach habe ich mit Lucius sein Haus aufgesucht, es war eine blutige Angelegenheit. Er war einer der ersten Muggle, die im großen Krieg getötet wurden… Damals dachte ich, es wäre das Beste, was ich jemals in meinem Leben getan habe…"

„Und heute?", fragte Hermine leise.

Snape schloss die Augen. „… heute weiß ich, dass mein Ende damit begann."