Voices soft as thunder"

von Michelle Mercy

Sequel zu „Two more days" und „Bring him home",

Slash mit Kitsch on the bridge und etwas Humor

Javert hat einen Fan, der ihm eröffnet, daß er weiß, wo Valjean ist. Das weiß Javert auch, nämlich nebenan im Schlafzimmer...

Die Jungs gehören wie üblich Hugo und einander, ebenso Cosette und Marius, M. Gillenormand gehört Hugo und den Bourbonen, Violetta, Lucien Danois, Pierre und Sergeant Levasseur gehören mir, Staatsanwalt Villefort gehört Alexandre Dumas, aber ich glaube, der wollte ihn auch nicht wirklich.

1. Kapitel

Violetta bereitete das Frühstück zu, wie sie es seit zwei Monaten jeden Morgen tat. Tatsächlich, an diesem Tag war es genau zwei Monate her, daß sich ihr Leben vollständig verändert hatte. Vor zwei Monaten hatte sie auf der Straße gefroren, ihren Körper verkauft und gehofft, genug Geld für Pierre und sich zu verdienen, und jetzt führte sie den Haushalt für zwei respektable Herren, die Pierre und ihr nicht nur Unterkunft und genug Essen gewährten, sondern sogar Lohn zahlten.

In Ordnung, die beiden Männer da oben mochten etwas merkwürdig sein, und sie war in den zwei Monaten auch nicht viel schlauer aus ihnen geworden, aber sie hatte keinen Grund, sich über sie zu beklagen.

Mit M. Jean, wie er sich von ihr nennen ließ, obgleich sein Name Ultime Fauchelevent war und der andere ihn immer mit „Valjean" ansprach, war leicht auszukommen. Er war immer freundlich, besorgt um ihr Wohlergehen und hatte nie ein lautes Wort geäußert, selbst nicht, als Pierre in dem gutgemeinten Versuch eines fast Vierjährigen, ihr zu helfen, M. Jeans braune Schuhe mit schwarzer Schuhcreme geputzt hatte.

Der andere, M. Javert, war ein schwierigerer Fall, so düster, wortkarg und unnahbar er wirkte. Nur wenn er mit M. Jean sprach, wurde seine Stimme sanft und sein bohrender Blick weich. Violetta sah er hingegen immer an, als verdächtige er sie, im nächsten Moment mit dem Silber durchzubrennen.

Nichts hätte ihr ferner gelegen. Es gab keinen Platz, an den sie hätte gehen können, seit Pierres Vater einige Tage vor der Hochzeit auf der Baustelle, auf der er arbeitete, von einem herabfallenden Stein erschlagen worden war. Drei Tage später hatte sie gewußt, daß sie schwanger war. Zuerst hatte sie Arbeit gefunden als Näherin, dann als Bedienung in einer Garküche, und als sie, weil Pierre so oft krank war, auch diese Arbeit verloren hatte, war sie auf der Straße gelandet.

Aber sie war keine gute Hure, ihre Einnahmen waren gering, sie wurde immer magerer, und dadurch schrumpften die Einnahmen noch mehr, denn welcher Mann wollte schon sein Geld an ein spitzknochiges Etwas verschwenden?

An jenem Abend vor zwei Monaten hatte sie an ihrem üblichen Platz gestanden, im Novemberregen gezittert und auf Freier gewartet. Doch alle Männer waren blicklos an ihr vorbeigeeilt. Nur zwei Männer waren in einiger Entfernung stehen geblieben, nachdem der eine den anderen auf sie aufmerksam gemacht hatte. Sie waren beide nicht mehr jung, der Ältere war wie ein wohlhabender Kaufmann gekleidet und relativ groß, was jedoch auf den ersten Blick nicht auffiel, da der andere Mann ihn noch überragte. Dieser größere Mann trug etwas, das wie eine Uniform wirkte, von der man die Rangzeichen entfernt hatte, und er schien nicht einverstanden damit zu sein, was der Ältere ihm erzählte.

In diesem Moment war ihr schwarz vor Augen geworden vor Schwäche, Hunger und Kälte, und in dieser Wohnung war sie wieder erwacht. Sie lag auf einer Chaiselongue, der ältere Mann saß ihr gegenüber in einem Sessel, und der größere lehnte am Kamin. Vor ihr standen eine dampfende Kanne Tee, ein großer Laib Brot, Käse und kaltes Fleisch.

Ängstlich hatte sie den Blick des Mannes gegenüber gesucht, der hatte ihr auffordernd zugenickt, und sie war über das Essen hergefallen, nicht ohne gelegentlich so unauffällig wie möglich etwas in ihrer Rocktasche verschwinden zu lassen, um es Pierre mitzubringen. Sie wußte, daß sie bezahlten mußte; bei dem Älteren war das in Ordnung, aber der andere Mann machte ihr Angst, zumal seine Kleidung offenbar einmal eine Polizeiuniform gewesen war.

„Soll ich mich jetzt ausziehen?" hatte sie gefragt, als sie sich zum ersten Mal seit Monaten satt gegessen hatte.

Die beiden Männer hatten einen Blick gewechselt, wobei in jenem des Größeren ein „Ich habe es doch gleich gesagt" zu lesen war.

„Mein Kind," hatte der Ältere mit seiner warmen Stimme gesagt, „dafür haben wir dich nicht mitgenommen. Sagst du mir deinen Namen?"

„Violetta."

Der ältere Mann stellte ihr noch einige andere Fragen über ihr Leben, und wie sie auf der Straße gelandet war, während der Andere mit deutlicher Ungeduld mit den Fingern auf dem Kaminsims trommelte. Irgendwann dauerte ihm das alles offenbar viel zu lange, und er unterbrach den Älteren. „Für wen hast du das Essen eingesteckt?" Die Art, wie er sie angesehen hatte, und seine Stimme von der Sanftheit eines Donnerschlages verrieten sehr genau die einen in zahlreichen Verhören erfolgreichen Polizisten.

„Es ist für meinen kleinen Sohn, Monsieur, er hat solchen Hunger und..."

Die Handbewegung, mit der er sie unterbrach, wirkte als wolle er eine lästige Fliege vertreiben, während in den Augen des Älteren tiefes Mitgefühl aufleuchtete.

„Kannst du kochen?" fragte der Größere.

„Ja," antwortete sie irritiert. Irgendwie begriff er nicht, was diese beiden von ihr wollten, aber kochen konnte sie; sie hatte es in der Garküche häufig genug getan, wenn der Koch wieder einmal besoffen in der Ecke gelegen hatte.

„Mein lieber Freund da drüben ist ein Heiliger, aber was er in der Küche anstellt, ist sogar für meinen Magen ungenießbar."

„Was er damit sagen möchte, außer daß es um meine Kochkünste ebenso erbärmlich bestellt ist wie um seine, ist daß wir jemanden suchen, der uns den Haushalt führt," erklärte der Ältere.

„Und Sie meinen, daß ich das tun soll?" Die beiden waren bestimmt entsprungene Irre oder so etwas Ähnliches.

„Es ist ein Experiment."

„Was... ist mit meinem kleinen Pierre?"

„Neben der Küche ist ein Zimmer, da könnt ihr beide unterkommen."

Violetta hatte akzeptiert. Welche andere Wahl hatte sie auch?

Es kostete sie zweieinhalb Tage nach ihrem Einzug, um zu erkennen, daß keiner der beiden Männer irgendein Interesse daran hatte, sich ihre Großherzigkeit bezahlen zu lassen. Es waren diese kleinen, scheinbar zufälligen Berührungen, wenn M. Jean und M. Javert aneinander vorbeigingen, die intensiven Blicke, die sie austauschten, und schließlich die Tatsache, daß die Wohnung nur über ein Schlafzimmer verfügte, die Violetta sicher sein ließen, daß die beiden ein Paar waren.

XXX

Javert, Inspecteur der Pariser Polizei erster Klasse, seit einem halben Jahr im Ruhestand, goß sich eine zweite Tasse Kaffee ein, ein Laster, dem er seit einem halben Jahr frönte. Seit einem halben Jahr frönte er einer ganzen Anzahl von Lastern, die er nie zuvor an sich bemerkt hatte. Sein Lieblingslaster schlief noch nebenan.

Nach ihrer Rückkehr aus Toulon hatte Valjean ihm diese Wohnung gezeigt, und wenige Tage danach waren sie hier eingezogen. Javert hatte seinen Dienst endgültig quittiert. Es war für ihn schon schwierig genug, einen entflohenen Ex-Sträfling zu lieben, ohne daß er sich auch noch ständig in einem Loyalitätskonflikt befand.

Seitdem lebten sie hier zusammen, ein ruhiges Leben ohne Aufregungen von außen. Valjean hatte zusammen mit Cosette die „Fantine-Stiftung" gegründet, die versuchte, ins Elend geratenen Müttern zu helfen. Sie waren häufig in der Rue Plumet deswegen zu Besuch. Und seit Cosette schwanger war, waren ihre Besuche noch häufiger geworden.

Javert hatte niemals geglaubt, daß er irgendeiner Form von familiären Leben etwas abgewinnen konnte, aber er konnte. Er mochte Cosette, und merkwürdigerweise hatte er, trotz des denkbar schlechten Anfanges, eine Art Freundschaft mit Marius geschlossen. Er hatte den jungen Baron niemals als das gesehen, was er war, nämlich ein studierter Jurist. Sie konnten stundenlang über die Natur des Gesetzes diskutieren. Beim letzten Mal hatte ihm Marius eine ziemliche Nuß zu knacken gegeben, die er immer noch nicht verdaut hatte. Wie konnte das Gesetz unverrückbar wie die Sterne sein, wenn man Gesetze doch ändern konnte?

Nein, Javerts Kapitulation vor seinen Gefühlen war vollständig gewesen, und noch immer war für ihn die Welt des Jean Valjean voll von endlosen Wundern.

„Kann ich Ihnen noch etwas bringen, Monsieur?" fragte Violetta.

„Danke, ich habe alles, was ich brauche." Javert blickte ihr hinterher, als sie das Zimmer verließ. Auch so eines von Valjeans „Projekten". Eine ehemalige Hure mit einem kleinen Kind, der sie Unterkunft und Arbeit gegeben hatten, denn Valjean fand, daß er nicht erwarten konnte, daß andere armen Müttern Arbeit gaben, wenn er dabei nicht mit gutem Beispiel voranging. In Javerts alter Welt wäre es für ihn völlig undenkbar gewesen, so eine Frau in seiner Wohnung zu dulden, aber in Valjeans Welt schien es das Normalste überhaupt zu sein.

Wenn Javert ihn nicht gelegentlich gebremst hätte, wären sie wahrscheinlich längst in die Besenkammer gezogen, damit Valjean all die hungernden Bettler, ledigen Mütter, Straßenkinder und streunenden Hunde, die er retten wollte, unterbringen konnte.

Valjeans fataler Hang zur Wohltätigkeit brachte die wohlige Erinnerung an die vergangene Nacht zurück. Valjean war spät in der Nacht heimgekommen. Er war auf eine Soiree gegangen; gelegentlich tat er das, um dort Spenden einzusammeln oder einem seiner Schützlinge eine Arbeit zu verschaffen. Mehrere Male hatte Valjean versucht, Javert davon zu überzeugen, ihn zu begleiten, aber allein die Vorstellung, in einem Frack unter lauter Müßiggängern dort herumzustehen, wo er nicht hingehörte, ließ ihn nicht Begeisterung verfallen.

So war er zuhause geblieben und schlafen gegangen, bis Valjean in den frühen Morgenstunden heimgekommen war, um auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer zu schleichen und sich dort leise auszukleiden. Dann war er ins Bett gekrochen und hatte sich mit seinem von der Januarluft kaltem Körper an Javert geschmiegt.

Dieser hatte ihn dichter an sich herangezogen und ihm ins Ohr geflüstert: „Und, bist du deiner Heiligsprechung wieder einen Schritt nähergekommen?"

Valjean hatte genauso darauf reagiert, wie er es für gewöhnlich tat, mit einem leicht tadelnden, trotzdem liebevollen und unnachahmlichen: „Javert."

Ebendies hatte Javert hören wollen, denn diesen Tonfall liebte er ganz besonders. Dann hatte er Valjean weiter gewärmt, was schließlich ausgeartet war, so daß sie erst Stunden später Schlaf gefunden hatten...

Es klopfte an der Tür, und Javert wachte mit Bedauern aus seinem angenehmen Tagtraum auf. Violetta trat ein. „Entschuldigen Sie, Monsieur, da draußen ist Besuch. Ein Polizist." Schon allein die Betonung des Wortes „Polizist" klang bei Violetta wie eine Mischung aus Furcht und Abscheu.

Javert seufzte leise. Immerhin kochte das Mädchen ganz gut. Und überhaupt, was wollte die Polizei von ihm? Es konnte wohl kaum ein früherer Kollege sein, der ihm einen freundschaftlichen Besuch abstattete, denn er hatte niemals freundschaftliche Beziehungen mit Kollegen gehabt. Ein alter Fall? Oder war etwa jemand hinter Valjean her?

„Schick ihn rein," sagte Javert hastig und sehr alarmiert.

Nach wenigen Augenblicken betrat ein junger Mann in Uniform den Raum. Er war nicht sehr groß, dunkelhaarig mit ebenso dunklen Augen. „Sergeant Lucien Danois, Pariser Polizei, Monsieur l'Inspecteur," sagte er zackig und nahm Haltung an.

Javert gönnte dem jungen Mann einen zweiten Blick. Nein, er konnte sich nicht erinnern, ihm jemals bewußt begegnet zu sein. „Stehen Sie bequem, Sergeant," sagte er, „es besteht kein Grund, vor mir zu salutieren, ich bin nicht mehr im Dienst. Möchten Sie sich setzen, darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?"

Der junge Mann nickte eifrig und wirkte plötzlich sehr aufgeregt, als er sich an den Tisch setzte.

„Violetta, noch eine Tasse für unseren Besucher."

Violetta, die an der Tür stehengeblieben war, holte eine Tasse aus dem Schrank, stellte sie vor Lucien Danois ab und goß ihm aus der Kanne Kaffee hinein. Dann zog sie sich zurück.

Der junge Sergeant starrte Javert mit Ehrfurcht an. „Verzeihen Sie mir, Monsieur l'Inspecteur, aber es ist eine große Ehre für mich, hier mit Ihnen zu sitzen und Kaffee trinken zu dürfen."

„Tatsächlich?"

„Ja, Sie wissen gar nicht, was das für mich bedeutet. Ich bin ein großer Bewunderer von Ihnen, Sie sind mein großes Vorbild, ich will so werden wie Sie."

„Aha," machte Javert verständnislos.

„Ich habe alle Ihre Berichte gelesen," erklärte Danois mit leuchtenden Augen.

Für Javert war es schon schwer vorstellbar, daß jemand zu einem Schauspieler sagen konnte „Ich habe alle Ihre Stücke gesehen" oder zu einem Schriftsteller „Ich habe all Ihre Bücher gelesen", aber daß jemand tatsächlich behauptete, all seine Berichte gelesen zu haben, war mehr als absurd. Kurz überlegte er, ob der junge Mann vor ihm sich einen üblen Scherz erlaubte, aber die Begeisterung schien wirklich echt zu sein.

„Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich Sie bewundere. Dreißig Jahre im Polizeidienst, und niemals auch nur der Schatten eines Zweifels, niemals einmal von den Wortes des Gesetzes und unseres Herrn abgewichen."

Nun, ja, wenn man davon absah, daß er mit einem Sträfling auf der Flucht in ausgesprochen sündiger Gemeinschaft zusammenlebte, eine ehemalige Hure mit unehelichem Kind als Haushälterin beschäftigte und mit einem Teilnehmer an einem bewaffneten Aufstand philosophische Gespräche führte, war er wirklich nie vom rechten Weg abgekommen, dachte Javert sarkastisch. „Was Sie hier erzählen, ist außerordentlich schmeichelhaft für mich, Sergeant. Mir ist allerdings nicht ganz klar, was ich für Sie tun kann. Sie sind sicherlich nicht gekommen, um sich einen meiner Berichte signieren zu lassen, oder?"

„Würden Sie das wirklich... Nein, natürlich nicht," riß sich Danois zusammen. „Trotz Ihrer großartigen Leistungen auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung, durch die die Straßen von Paris viel sicherer geworden sind, konnten Sie einen Fall leider niemals abschließen. Den des entflohenen Sträflings 24601, Jean Valjean."

„Ach, ja, Valjean." Javert schluckte. „Eine sehr bemerkenswerte Flucht über zwei Jahrzehnte."

„Ich habe Informationen, wo sich Valjean aufhält."

Die habe ich auch, dachte Javert und zwang sich, der Wand, hinter der sich das Schlafzimmer befand, keinen einzigen Blick zuzuwerfen. Wenn dieser junge Polizist tatsächlich vermutete, daß sich Valjean hier befand, würde er es in den nächsten Sekunden sagen. Im Schrank drei Schritte hinter Javert befanden sich seine Pistolen, die er Marius geliehen und die dieser ihm erst zu Weihnachten zurückgegeben hatte. Konnte er wirklich den jungen Polizisten damit bedrohen oder ihn gar kaltblütig erschießen? Und im gleichen Moment wußte er, daß er es tun würde, um Valjean zu schützen. Wie er danach damit leben konnte, wußte er nicht.

„Ich habe die Vermutung, daß Valjean sich im Sommer hier im Polizeigewahrsam befand, dort entfliehen konnte, und daß dies nur mit Hilfe von jemanden innerhalb der Polizei möglich war," sprach Danois weiter.

Javert entspannte sich etwas. „Wie bitte? Meines Wissens ist Valjean während der Lamarque-Unruhen auf einer Barrikade gestorben. Irgendeine Grille hat ihn angetrieben, sich mit diesen Schulkindern zusammen erschießen zu lassen." Wozu bringst du mich noch, Valjean? dachte er. Erst denke ich ernsthaft darüber nach, einen Polizisten einfach niederzuschießen, dann belüge ich ihn, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Hat man seine Leiche gefunden?"

„Nein."

„Nun, nach den Unruhen tauchte in Toulon ein Polizeisergeant auf, der nach Ihnen suchte, um Sie nach Paris zurückzuholen, damit Sie einen Gefangenen identifizieren."

„Sie haben aber sehr gute Informationen."

„Mein Schwager Georges Levasseur ist Sergeant in Toulon," gestand Danois ein wenig kleinlaut.

Oh, Valjean, ich habe immer gewußt, daß uns dein Auftritt in Toulon irgendwann einholen wird! „Und jetzt wollen Sie von mir hören, was ich vorfand, als ich nach Paris zurückkehrte?"

„Ja."

„Nichts. Oder besser gesagt, niemanden. Es handelte sich um einen Irrtum."

„Ja, aber jetzt wird es wirklich interessant. Es gibt nirgendwo einen Vorgang über eine Verhaftung des mutmaßlichen Jean Valjean."

„Sie wollen mir jetzt erklären, daß ein ehemaliger Sträfling eine großangelegte Verschwörung anzetteln könnte?" Javert zwang sich zu einem humorlosen Lachen.

XXX

Violetta gab ihren Lauschposten an der Tür auf, als sie aus dem Schlafzimmer Geräusche hörte. Eigentlich hatte sie gelauscht, um sicher zu sein, daß der Polizist nicht hinter ihr her war, doch dann hatte sie begonnen, eins und eins zusammenzuzählen. Sie war alles andere als dumm. Dieser kleine Polizist war hinter M. Jean her, und M. Javert versuchte verzweifelt, den Mann auf eine andere Spur zu locken. Wenn jetzt M. Jean plötzlich in den Salon kam, war alles aus. Sie würde auf die Straße zurück müssen, und was aus ihrer Herrschaft werden würde, wollte sie sich lieber gar nicht erst genauer ausmalen.

Entschlossen riß Violetta die Schlafzimmertür auf, schlüpfte hindurch und sah sich einem nur mit Hosen bekleideten Valjean gegenüber.

„Ich würde es sehr begrüßen, wenn du zukünftig anklopfen könntest," sagte Valjean nicht unfreundlich und warf sich hastig ein Hemd über; allerdings nicht schnell genug, so daß Violetta einen Blick auf die Nummer auf seiner Brust werfen konnte, die gleiche, die der Polizist erwähnt hatte.

„Verzeihen Sie, M. Jean, ich würde mich nicht einmischen, aber im Salon sitzt ein Polizist, und ich denke nicht, daß Sie dem begegnen wollen."

Valjean atmete einmal tief ein und aus. Nahm das denn nie ein Ende? „Danke, Violetta, ich stehe in deiner Schuld. Was tut M. Javert?"

„Der quatscht sich die Seele aus dem Leib, um den Polizisten von Ihnen abzulenken. Himmel, so viel habe ich den noch nie reden hören."

„Dann sollten wir ihn da herausholen, bevor ihm der Gesprächsstoff ausgeht. Ich werde deine Hilfe noch einmal bemühen müssen, Violetta."

XXX

„Und Sie werden verstehen, daß ich mich mit diesem Verdacht nicht an meine Vorgesetzten wenden kann. Womöglich stecken die da auch mit drinnen," erklärte Danois.

Javert hatte sich in den letzten Minuten deutlich entspannt. Je weiter sich der junge Mann in irgendwelche Verschwörungstheorien verrannt hatte, desto besser; die Wahrheit war eh so abstrus, daß er diese vielleicht zunächst gar nicht geglaubt hätte. „Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, sagen Sie es mir, Sergeant."

In diesem Moment klopfte es an der Tür, und Violetta trat ein. „Entschuldigen Sie, M. Javert, aber Sie baten mich, Sie an Ihre Verabredung mit M. Pierre zu erinnern. Sie wissen doch, daß er es haßt, wenn man sich verspätet."

„Ja, danke, Violetta." Javert wandte sich an Danois. „Es tut mir leid, aber ich hätte fast vergessen, daß ich eine Verabredung habe."

Danois stand sofort auf. „Natürlich, Monsieur l'Inspecteur, ich wollte Sie nicht aufhalten. Wie ich schon sagte, es ist mir eine Ehre, Sie persönlich kennenlernen zu dürfen."

„Wenn Sie etwas herausfinden, würde ich mich freuen, wenn Sie damit zuerst zu mir kämen. Bei allem, was Sie mir erzählt haben, könnten Sie in Gefahr sein, wenn Sie zu Ihren Vorgesetzten gingen."

„Mein Gott," sagte Danois, als wäre er selbst auf diesen Gedanken noch gar nicht gekommen, „ja, natürlich, ich komme erst zu Ihnen."

Der junge Mann verabschiedete sich, nicht ohne Violetta einen kurzen Blick zuzuwerfen, die ihn zur Tür begleitete und diese hinter ihm schloß. Dann kam sie zurück in den Salon.

„Danke," sage Javert schlicht. „Wo ist er?"

„Im Schlafzimmer."

Bevor Javert den Salon verließ, drehte er sich zu Violetta noch einmal um. „So ganz nebenbei... Welche Verabredung habe ich mit deinem Sohn?"

„Pierre würde sicherlich gern einmal wieder in den Park gehen."

Javert stieß ein leises Seufzen aus. Mit einem knapp Vierjährigen in den Park zu gehen, entsprach nicht ganz seiner Vorstellung eines sinnvoll verbrachten Tages, aber wenn das Violettas Preis für ihre Hilfe war, würde er ihn zahlen. Mit einigen schnellen Schritten betrat er das Schlafzimmer, wo Valjean auf der Kante ihres Bettes saß und das Gesicht in den Händen vergraben hatte.

„Ich hatte wirklich geglaubt, es wäre vorbei," sagte Valjean leise. „Aber es wird nie vorbei sein, nie."

Javert blieb hilflos an der Tür stehen. Es brach ihm fast das Herz, die Verzweiflung in Valjeans ganzer Erscheinung sehen zu müssen und zu wissen, daß er seinen Anteil daran hatte. Zwanzig Jahre auf der Flucht, immer in der Angst, daß man erwischt wurde, mußten Spuren hinterlassen.

„Ich kann das nicht mehr, Javert. Ich bin diese Vorsicht, das Verstecken so leid."

„Ich glaube nicht, daß wir uns um diesen kleinen Sergeanten Sorgen machen müssen," antwortete Javert, ohne von seinen eigenen Worten überzeugt zu sein, und setzte sich zu Valjean. „Er will eine großangelegte Verschwörung aufdecken, die dich schützt."

„Dann ist er noch verbohrter als..."

„...Als ich jemals war? Ja."

„Trotzdem. Wenn er mich findet, dann erfährt er auch von uns. Glaub mir, auch du willst nicht nach Toulon, es würde dir nicht gefallen."

„Ich war dort."

„Das ist nicht dasselbe."

Javert griff nach Valjeans Kinn und zwang ihn so, ihm in die Augen zu sehen. „Valjean, du weißt, daß ich meine Versprechen zu halten pflege. Und ich verspreche dir, daß keiner von uns nach Toulon oder in ein anderes Gefängnis gehen wird. Ich werde eine Möglichkeit finden, diesen Jungen aufzuhalten."