Author's note:

Ich schätze André Chenier durchaus – solange es sich dabei um den Titelhelden einer Oper von Umberto Giordano handelt...

2. Kapitel

Mit einiger Mißbilligung blickte Javert auf Pierre hinunter, der nach ihrem Spaziergang im Park jetzt nach seiner Hand gegriffen hatte. Immerhin war ihr Spaziergang ohne besondere Vorkommnisse verlaufen, wenn man davon absah, daß Pierre versucht hatte, einen Schneeball zu formen. Bevor er ihn in Richtung Javerts werfen konnte, hatte ihn allerdings ein Blick mitten in der Bewegung erstarren lassen, der schon gefährlichere Kriminellen von ihrem Tun abgehalten hatte. Pierre hatte bitterlich zu weinen angefangen, und Javert hatte, um Pierre zu trösten, mit dem Bau eines Schneemannes begonnen, währenddessen er die ganze Zeit dachte, wenn Valjean ihn sehen könnte, würde der sich totlachen.

Die meiste Zeit hatte Javert allerdings damit verbracht, darüber nachzudenken, was nunmehr zu tun war. Zunächst mußte Lucien Danois beschäftigt werden, damit er nicht doch noch versehentlich die Wahrheit entdeckte. Und dann war es vonnöten, dafür zu sorgen, daß die ständige Gefahr endlich aus Valjeans Leben verschwand.

Javert hatte eine vage Idee, wie er dies bewerkstelligen konnte, aber das würde nicht allein zu machen sein. Einer der großen Nachteile, so erkannte er jetzt, ein nicht bestechlicher Polizist zu sein, der immer nur nach den Buchstaben des Gesetzes gehandelt hatte, war eindeutig die Tatsache, daß einem niemand einen Gefallen schuldete, den man jetzt hätte einfordern können. Das wiederum bedeutete, daß er sich Hilfe suchen mußte.

Zuhause vergewisserte sich Javert, daß Valjean beschäftigt war – er saß mit dem „Moniteur" im Salon – dann ging er in die Küche. Violetta war gerade damit beschäftigt, den Herd zu reinigen, was dazu führte, daß sie über und über mit Ruß verschmiert war. Ob dieses Anblickes überlegte Javert ernsthaft, ob seine Idee tatsächlich funktionieren konnte, aber andererseits wußte er auch nicht, wen er sonst danach fragen sollte, ihm auf diese besondere Weise zu helfen.

Also lehnte er sich gegen den Türrahmen und beobachtete Violetta beinahe eine Minute lang. Er wußte nicht, wie er anfangen sollte, doch daß Schweigen eine gute Strategie war, jemanden zum Reden zu bringen, wußte er aus zahllosen Verhören, und es funktionierte auch diesmal. „Kann ich etwas für Sie tun, M. Javert?" fragte Violetta nicht ohne Nervosität.

„Du wirst dir sicherlich zusammengereimt haben, was hier heute morgen passiert ist."

„Das war nicht schwer."

„Und du hast, ohne nachzudenken, das Richtige getan."

„Ich habe keine große Zuneigung gegenüber der Polizei, und schon gar nicht, wenn das bedeutet, daß ein so guter, freundlicher Mann wie M. Jean Schwierigkeiten hat." Violetta schien auf einmal etwas einzufallen. „Ich weiß, daß Sie auch bei der Polizei waren, also, es war nicht persönlich gemeint."

Javert nickte kurz. „Ich... würde es gerne sehen, wenn du deine Bedenken gegenüber der Polizei etwas zurückstellen könntest."

Violetta warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. „Was wird M. Jean dazu sagen?"

Es dauerte einen Moment, bis Javert begriff, daß sie ihn gerade gründlich mißverstanden hatte. „Ich sprach nicht vor mir, um Gottes Willen. Es geht mir um unseren Besucher von heute morgen. Ich möchte gerne unser Problem ein für alle Mal lösen, aber dafür geht es nicht, daß er herumschnüffelt. Ich brauche jemanden, der ihn ein bißchen ablenkt, etwas Zeit mit ihm verbringt, damit ich alles andere Nötige tun kann."

„Und Sie dachten, daß ich all dies tun könnte?" Die Blitze in Violettas Augen ließen ahnen, daß sie nicht erfreut war.

„Ja, ich weiß, daß du das könntest."

„Ich finde es sehr schön, daß Sie mir das zutrauen. Es ist ja auch sehr bequem. Ich habe ja Erfahrung in so etwas. Einmal eine Hure, immer eine Hure, oder was?"

Der Laut, den Javert von sich gab, hatte etwas von einem schmerzerfüllten Stöhnen. Das Mädchen wußte gar nicht, wie sehr sie ins Schwarze getroffen hatte. Wie oft hatte er einen vergleichbaren Satz zu Valjean gesagt? Es mußte mindestens ein Dutzend Mal gewesen sein. „Ich meinte nicht, daß du mit ihm, ähm, mit ihm..." Herr im Himmel, jetzt hielt er seit sieben Monaten Nacht für Nacht Valjean in seinen Armen und hatte noch nicht einmal ein Wort dafür. „Ich meine, es reicht vollkommen, wenn du vielleicht mit ihm spazieren gehst, ihn einfach etwas beschäftigst. Er soll nur an etwas anderes denken als daran, M, Jean zu verfolgen."

Violetta atmete tief durch. „Gut, ich werde es machen, aber ich mache es nur für M. Jean, nicht für Sie. Und Sie müssen sich währenddessen um Pierre kümmern."

Noch mehr Schneemänner bauen? Aber es mußte sich jemand um das Kind kümmern, Violetta konnte den Jungen ja schlecht mitnehmen. „Ich denke, wir sind uns einig. Nur M. Jean darf vorerst von all dem nichts erfahren."

XXX

Javert hatte sich entschlossen, sich zunächst an diejenigen Personen zu wenden, denen Valjeans Wohlergehen ebensosehr am Herzen lag wie ihm selbst. Am folgenden Tag begab er sich daher in die Rue Plumet; da Violetta ihren ersten Einsatz als Ablenkungsmanöver hatte, war er in Begleitung Pierres. Es war ungewohnt, an der Tür zu läuten, ohne daß Valjean bei ihm war. Javert konnte sich nicht erinnern, jemals ohne ihn dieses Haus betreten zu haben.

Madame Toussaint führte Javert in den Salon, wo Cosette gerade dabei war, einen Brief zu schreiben. „M. Javert, welche Überraschung," sagte sie und reichte ihm ihre Hand.

Er beugte sich über diese. „Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen."

„Nein, gar nicht. Sie sind ohne meinen Vater gekommen? Dafür haben Sie aber andere Begleitung mitgebracht."

„Oh, ja, das ist Pierre, der Sohn unserer Haushälterin."

„Ah, Papas Experiment." Sie winkte das Kind heran und drückte ihm ein Stück Konfekt in die Hand. „Was führt Sie hierher? Es ist doch hoffentlich nichts mit meinem Vater?"

„Nein, Sie müssen sich keine Sorgen machen. Eigentlich wolle ich mit Ihrem Gatten eine rechtliche Frage erörtern."

„Marius ist in seinem Arbeitszimmer. Vielleicht wollen Sie ja Ihren jungen Begleiter so lange in meiner Obhut lassen?"

Das tat Javert gern. Die Vorstellung, wie Pierre Marius' geheiligtes Arbeitszimmer durcheinander brachte, gefiel ihm gar nicht. Er wollte sich gerade bei Cosette entschuldigen, um sich zu Marius zu begeben, da begann sie plötzlich weiterzusprechen. „Wenn Sie gerade da sind, M. Javert, würde ich Sie um etwas bitten."

„Was kann ich für Sie tun, Madame?"

„Marius und ich haben nachgedacht, und wir sind zu dem Schluß gekommen, daß wir gern Sie als Paten für unser Kind hätten."

Fast wäre Javert mit der Frage herausgeplatzt, was ihn denn für eine solche Aufgabe qualifizierte. Die Tatsache, daß er kleine Kinder mit einem einzigen Blick zum Weinen bringen konnte? Und überhaupt, verdiente das älteste Kind des Hauses Pontmercy nicht einen adeligen Paten? Doch dann verstand er die Geste, die hinter der Bitte stand. Es war ein „Willkommen in unserer Familie", es bot ihm einen Platz auch offiziell im Leben von Valjeans Familie an. Natürlich war es damit auch bedeutend leichter, ihn zukünftig vorzustellen. „Das ist der Pate unseres Kindes" sagte sich leichter, als irgendeine unverfängliche Erklärung für seine Anwesenheit in Valjeans Leben zu finden. Er schluckte. „Ich fühle mich sehr geehrt, auch wenn ich meine Geeignetheit im Umgang mit kleinen Kindern bezweifle, wie Pierre Ihnen sicher bestätigen wird. Aber ich komme Ihrer Bitte selbstverständlich nach." Zu seiner eigenen grenzenlosen Überraschung überfiel ihn eine Welle des Stolzes. Zwei freundliche, liebevolle Menschen waren der Meinung, er solle eine wichtige Rolle im Leben ihres Kindes spielen. Niemand in seinem alten Leben wäre auch nur auf den Gedanken gekommen.

„Dann ist das also abgemacht," sagte Cosette rigoros, hauptsächlich, um seine Gerührtheit zu überspielen, und wandte ihre ganze Aufmerksamkeit Pierre zu.

Javert durchquerte die Halle, klopfte an die Tür und betrat Marius' Arbeitszimmer. „M. Javert, welche Überraschung," begrüßte Marius ihn mit den gleichen Worten, wie es zuvor seine Frau getan hatte. „Haben Sie etwa eine Lösung für meine Frage gefunden?"

„Ich rätsele noch," antwortete Javert und ergriff Marius' ausgestreckte Hand. „Und Madame la Baronne hat mir gerade berichtet, daß Sie beide wünschen, mich zum Paten Ihres Kindes zu machen. Ich bedanke mich für das Vertrauen."

„Oh, Sie machen das bestimmt großartig. Was aber verschafft mir die Ehre Ihres unerwarteten Besuches?"

„Ich brauche Ihre Hilfe." Je häufiger man um Hilfe bat, desto leichter wurde es offenbar.

„Wobei?" Marius runzelte die Stirn. In all den Monaten, in denen Javert in der Rue Plumet verkehrte, hatte er niemals um irgend etwas gebeten.

„Es gibt da einen jungen Polizisten, der sich zur Aufgabe gemacht hat, Valjean zu finden und zu verhaften."

„Nein, das kann doch nicht wahr sein," stöhnte Marius auf. „Ich hoffe, Sie haben meiner Frau davon nichts erzählt, in ihrem Zustand soll sie sich doch nicht aufregen."

„Nein, natürlich habe ich nichts gesagt. Diesen Polizisten kann ich sicherlich eine ganze Weile davon abhalten, Valjean ausfindig zu machen, aber es muß doch irgendwann einmal Ruhe für ihn sein, daß er nicht mehr befürchten muß, daß jemand hinter ihm her ist."

„Ihnen ist sicher bewußt, daß das aus Ihrem Mund ausgesprochen seltsam klingt," warf Marius trocken ein.

„Ich weiß. Aber es muß doch irgendeine Möglichkeit geben, ihn zu rehabilitieren, zu amnestieren, ich weiß nicht..."

„Rehabilitation ist nicht möglich, denn er hat ja die Tat begangen, und er ist geflüchtet." Marius klang auf einmal sehr professionell. „Man könnte ein Gnadengesuch einreichen, aber das würde Jahre dauern."

„Ich weiß nicht, wie ich diesen Polizisten so lange beschäftigt halten soll," murmelte Javert; Violetta konnte doch nicht jahrelang mit dem jungen Mann ausgehen. „Und wenn sich ein paar einflußreiche Persönlichkeiten dafür aussprechen würden?"

Marius betrachtete Javert für einen langen Moment, dann begann er zu lachen. „Sie sind gar nicht gekommen, weil Sie meinen Rat wünschten, sondern weil Sie wollen, daß ich Ihnen Zugang zu ein paar einflußreichen Leuten verschaffe, nicht wahr?"

„Ja," gab Javert zu, „aber ich freue mich, daß Sie die Idee nicht völlig absurd oder undurchführbar finden."

„Ist sie nicht und finde ich sie nicht," erwiderte Marius. „Man sollte es versuchen. Ich würde vorschlagen, Sie fangen bei meinem Großvater an."

XXX

Auf der Fahrt zu M. Gillenormand gab Marius einige Verhaltensmaßregeln. „Mein Großvater ist ein Royalist, also erwähnen Sie besser nicht, daß mein Schwiegervater als Kämpfer auf der Barrikade war. Ich weiß auch nicht, ob es gut ist, Ihre... besondere Beziehung zu ihm zu erklären. Und wenn Sie sich einschmeicheln wollen bei ihm, dann erwähnen Sie beiläufig, daß die Hinrichtung von André Chenier ein Verbrechen war."

Javert blickte Marius sehr zweifelnd an. Wie erwähnte man so etwas beiläufig?

M. Gillenormand empfing sie auf seine ganz persönliche Art. So gut sah er nicht mehr, daher erkannte er nicht sofort, daß der Uniformmantel Javerts keine Rangabzeichen mehr aufwies. „Na, haben Sie den jungen Revoluzzer endlich verhaftet? Ich habe es ja immer geahnt, daß das passieren wird."

„Selbstverständlich hat Inspecteur Javert mich nicht verhaftet," erwiderte Marius mit betonter Geduld. „Ich habe ihn hierher begleitet, denn er möchte um Ihre Hilfe bitten."

„Sie brauchen meine Hilfe, junger Mann?"

Es war ungefähr dreißig Jahre her, daß jemand Javert so angesprochen hatte. Er räusperte sich. „Ich möchte eine Begnadigung erreichen."

„Für einen Royalisten?"

„Nein, er wurde und wird nicht aus politischen Gründen verfolgt. Er wurde vor knapp vierzig Jahren wegen des Diebstahls eines Brotes verurteilt."

„Also doch, natürlich, es waren die Jakobiner."

„Vor zwanzig Jahren entließ man ihn, er verschwand während seines Weges in die vorgegebene Stadt und ist seitdem ständig auf der Flucht gewesen."

„Er hat mich nach der Barrikade gerettet," warf Marius ein.

„Ich verstehe, daß der junge Lump hier die Begnadigung dieses Brotdiebes will, aber was ist Ihr Grund, M. Javert?"

„Er hat mir zweimal das Leben gerettet. Und er ist ein guter Mensch. Trotzdem habe ich zwanzig Jahre meines Lebens damit zugebracht, ihn zurück ins Gefängnis zu bringen."

„Und jetzt fühlen Sie sich schuldig, was?"

Fühlte Javert sich schuldig? Valjean hatte ihm die Verfolgung nicht einmal verzeihen müssen, denn er hatte ihm diese nie vorgeworfen. Das hieß aber nicht, daß Javert sich selbst verziehen hatte, das würde ihm vollständig erst gelingen, wenn Valjean nicht mehr gesucht wurde. „Ja, ich denke, Sie haben recht."

„Für ein Gnadengesuch brauchen wir die Fürsprache einiger einflußreicher Persönlichkeiten," erklärte Marius. „Und es wäre sehr hilfreich, wenn Sie uns dabei behilflich sein könnten."

„Warum sollte ich das tun?" M. Gillenormand wartete offenbar auf ein Argument, das ihn dazu brachte, sich tatsächlich zu engagieren.

Javert überlegte für eine Sekunde und setzte dann alles auf eine Karte. „Jean Valjean, so heißt der Flüchtige, ist ein großer Bewunderer von André Chenier." Er ignorierte den irritierten Seitenblick von Marius, dem das noch gar nicht aufgefallen war. „Und wie ich hält auch er die Hinrichtung für ein Verbrechen."

„Ha," machte Gillenormand, „so jemanden muß geholfen werden."

Eine Stunde und zwanzig Minuten später verließen Javert und Marius das Haus mit einem Stapel von Empfehlungsschreiben. Die Ausstellung der Empfehlungsschreiben hatte zwanzig Minuten gedauert, das Rezitation von mehreren Werken von André Chenier durch M. Gillenormand eine Stunde.

XXX

Es war relativ spät, als Javert nach Hause zurückkam. Als erstes lieferte er Pierre bei Violetta in der Küche ab. „Wie ist es gegangen?" fragte er.

„Eigentlich ist Sergeant Danois ganz süß. Ich habe so getan, als würde ich ihm zufällig über den Weg laufen. Er hat mir eine Schokolade ausgegeben und dann geschlagene zwei Stunden erzählt, was für ein großartiger Polizist Sie sind."

„Das kann nicht sehr unterhaltsam gewesen sein."

„Nun, ich habe mich schon besser amüsiert."

„Siehst du ihn wieder?"

„Sie trauen mir wohl gar nichts zu, was?" Violetta rührte in einem der dampfenden Töpfe um. „Wir gehen übermorgen Eislaufen."

Javert nickte zufrieden. Es ging gut voran. Er zog fünfzig Francs aus der Tasche und legte sie auf den Küchentisch.

„Wofür ist das?" wollte Violetta mißtrauisch wissen.

„Ich habe keine Ahnung, wie es mit deiner Garderobe aussieht, aber vielleicht brauchst du ja ein neues Kleid für den kleinen Sergeanten," antwortete Javert und verließ die Küche.

Er fand Valjean im Salon, welcher mit einem Glas Wein dort saß. „Mein Haushalt ist wirklich sehr unorganisiert," beschwerte sich dieser nur halb im Scherz. „Meine Haushälterin verschwindet für Stunden spurlos, ihr Sohn ist ebenso unauffindbar, und mein Liebhaber vernachlässigt mich. Ich mache etwas falsch."

Javert versuchte, das kleine Lächeln zu unterdrücken, was seine Lippen umspielte. Da ihm das nicht vollkommen gelang, beugte er sich zu Valjean herunter und küßte ihn. „Nimm das als Vorschuß darauf, daß ich es wieder gut mache."

„Mhm, wenn das der Vorschuß war..."

Später, als sie zu Abend aßen, sagte Javert: „Ich hatte etwas mit deinem Schwiegersohn zu besprechen, es ging um eine Rechtsfrage, nichts aufregendes. Dabei hat mir Cosette die Patenschaft für ihr Kind angetragen. Was das deine Idee?"

„Nein," antwortete Valjean sehr einsilbig.

„Aber du hast davon gewußt?"

„Ja." Auch diese Antwort war einsilbig.

Javert warf ihm einen fragend-auffordernden Blick zu.

„Sie hat gefragt, ob ich meine, daß du es machen würdest. Ich habe gesagt, sie solle dich selbst fragen, was sie offenbar getan hat. Wirst du es übrigens machen?"

„Wie könnte ich das ablehnen?"

„Ich finde, mein Enkelkind könnte sich keinen besseren Paten wünschen."

„Wie schön, daß ihr da alle sicherer seid als ich."

XXX

Mit dem gleichen Fanatismus und der gleichen Akribie, mit der Javert Valjean über Jahrzehnte gejagt hatte, betrieb er jetzt seine Begnadigung. Er verbrachte Stunden damit, in zugigen, ungemütlichen Gängen darauf zu warten, daß ihn eine hochgestellte Persönlichkeit empfing, er ging Sekretären in Vorzimmern so lange auf die Nerven, bis man ihn vorließ, und bei einigen Gelegenheiten begab er sich sogar mit Marius und M. Gillenormand auf Gesellschaften, um dort wichtige Fürsprecher zu gewinnen.

Zu seinem Erstaunen stellte Javert fest, daß er Gefallen an dieser Tätigkeit fand. Es war ein bißchen, wie von einem Verdächtigen ein Geständnis zu bekommen, nur daß es hier um eine Unterschrift unter einem Gnadengesuch ging. Komischerweise tat er genau das, was Valjean für die Fantine-Stiftung tat, und was er immer für eine Aufgabe gehalten hatte, mit der er nichts anfangen konnte.

Javert war überraschend erfolgreich, auch wenn er den Verdacht hegte, einige Unterstützer nur dadurch gewonnen zu haben, damit man ihn wieder los wurde. Doch für die meisten schien es einfach unglaublich, daß jemand, der so viel Gutes getan hatte, für den Diebstahl eines Brotes vierzig Jahre der Verfolgung durch die Justiz ausgesetzt war.

Mindestens einmal die Woche traf Javert sich mit Lucien Danois und fütterte ihn mit sinnlosen Informationen, indem er ihn zu dem Ort führte, wo die Barrikade gestanden hatte, oder ihm seine Notizen, mit einigen Auslassungen, aus Montreuil-sur-mer aushändigte. Doch Javert bemerkte, daß Danois' Eifer ein wenig erlahmt war, er stattdessen häufig abwesend wirkte, und ein verträumter Ausdruck auf seinem Gesicht lag.

Violetta traf sich zweimal die Woche mit dem jungen Polizisten, und offenbar sprach er inzwischen nicht mehr allein über seine Bewunderung für Javert, wenn man zusah, daß Violetta vor jeder Begegnung auffällig unruhig wurde. Sie hatte die fünfzig Francs in zwei hübsche Kleider investiert, und die Sorgfalt, mit der sie sich zurecht machte, bevor sie das Haus verließ, war bemerkenswert.

Es war schon Frühjahr, als Violetta um den Abend frei bat, denn Sergeant Danois hatte sie ins Theater eingeladen. Valjean gewährte den freien Abend, auch wenn er nicht wußte, wohin und mit wem Violetta ins Theater wollte, und bemerkte hinterher zu Javert: „Ich glaube, unsere Violetta hat einen Verehrer."

Javert brachte das Kunststück fertig, sehr erstaunt auszusehen und zu fragen: „Meinst du wirklich?"

„Natürlich, das ist doch nicht zu übersehen."

„Dann sollten wir aufpassen, daß sie keine Dummheiten macht," erwiderte Javert ernsthaft.

Am Abend, nachdem Violetta gegangen war, bemühten sich Valjean und Javert gemeinsam und nicht sehr erfolgreich, Pierre ins Bett zu bringen. Valjean, der in diesen Dingen dank Cosette einige Erfahrung hatte, versuchte, Pierre durch eine Geschichte zum Einschlafen zu bringen, doch der Junge hatte andere Pläne.

„Der soll mir eine Geschichte erzählen," plärrte er und deutete auf Javert.

„Ich kenne keine Geschichten," erklärte dieser abweisend.

„Bitte," bettelte Pierre.

Javert blickte hilfesuchend zu Valjean hinüber, aber in solchen Momenten war der bekanntermaßen keine Hilfe.

„Bitte," bettelte Valjean im gleichen Ton wie Pierre.

Manchmal, nur ganz manchmal, dachte Javert, wünschte er sich seinen Schlagstock zurück. Er überlegte einen langen Moment, dann begann er mit einer Geschichte. „Es war einmal ein kleines Mädchen..."

„Wie hieß die?" wollte Pierre wissen.

„Paulette," antwortete Javert und warf einen Blick zu Valjean, der sich an den Türrahmen lehnte und ihn aufmerksam, aber nicht ohne Amüsement beobachtete. „Paulette war ganz allein auf der Welt. Sie mußte bei bösen Menschen leben, einem Wirt und dessen Frau, die Paulette zwangen, den ganzen Tag und die halbe Nacht für sie die schwersten Arbeiten zu verrichten. Sie war immer hungrig, weil ihr die Wirtsleute nie genug zu essen gaben. Und jeden Tag flehte sie zu Gott, daß er ihr jemanden schicken sollte, der sie rettete.

Eines Tages kam ein Mann in das Wirtshaus, der war ein mächtiger Zauberer." Aus den Augenwinkeln sah Javert, wie Valjean ironisch die Brauen hob. „Der Zauberer war ein guter Mensch, und Paulette tat ihm leid. Also sagte er einen Zauberspruch, der die bösen Wirtsleute erstarren ließ und nahm Paulette mit sich. Paulette war sehr froh, und bald sagte sie ‚Papa' zu dem Zauberer. Doch der Zauberer hatte einen gefährlichen Feind. Es war ein feuerspeiender Drache, und der haßte den Zauberer."

Valjeans leises Lachen war nur schlecht als Husten getarnt.

„Warum haßt der Drache den Zauberer?" fragte Pierre.

„Der Drache konnte Zauberer nicht leiden, weil er glaubte, alle Zauberer wären böse und würden ihre Zauberkräfte benutzen, um Böses anzurichten. Daher war er hinter dem Zauberer her, doch dem Zauberer gelang es immer wieder, vor dem Drachen zu flüchten, denn weil er ein guter Zauberer war, wollte er nicht mit dem Drachen kämpfen. Außerdem mußte er sich ja um Paulette kümmern, da konnte er nicht riskieren, daß ihm im Kampf etwas passierte.

Viele Jahre lang war der Zauberer auf der Flucht, da kam ein Prinz und verliebte sich in Paulette. Der Prinz heiratete Paulette und nahm sie mit auf sein Schloß. Da sich ja jetzt der Prinz um Paulette kümmerte, wollte der Zauberer endlich das Problem mit dem Drachen klären. Aber der Drache wollte nicht auf den Zauberer hören, brüllte ihn mit seiner Donnerstimme an, ruhig zu sein, und spie Feuer auf ihn. Der Zauberer jedoch sagte einen Zauberspruch, und das Feuer traf nicht den Zauberer, sondern flog zurück auf den Drachen und verletzte ihn an der Pranke."

„Oohhh," machte Pierre.

„Der Zauberer aber, der Mitleid mit den großen Schmerzen des Drachen hatte, hob seinen Zauberstab, berührte damit die Pranke des Drachens und heilte die Verletzung mit einem Zauberspruch. Da erkannte der Drache, daß er sich geirrt hatte, daß der Zauberer kein böser, sondern ein guter Mensch war, und die beiden wurden Freunde. Fortan zogen die beiden gemeinsam durch die Welt, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute."

„Kann ich auch einen Drachen zum Freund haben?" fragte Pierre, und Valjeans Selbstbeherrschung, schon vorher auf dem Tiefpunkt angekommen, war am Ende.

Er flüchtete und brach draußen im Flur in lautes Gelächter aus. Er hatte sich noch immer nicht ganz beruhigt, als er im Salon angekommen war und sich auf die Chaiselongue fallen ließ.

Etwa fünf Minuten später folgte ihm Javert. „Das kleine Monster schläft jetzt endlich."

Valjean begann, erneut zu lachen. „‚Der Drache und der Zauberer'? Wirklich, Javert..."

„Das wird dich lehren, mich noch einmal zu zwingen, Gute-Nacht-Geschichten zu erzählen."

„Komm her," sagte Valjean und klopfte auf das Polster neben sich.

Javert ließ sich dort nieder, lehnte sich gegen Valjean und zog dessen Arm an seine Brust. Eine ganze Weile blieben sie so ruhig sitzen und blickten auf das flackernde Kaminfeuer.

„Auch auf die Gefahr hin, daß ich klinge wie ein zänkisches Eheweib," sagte Valjean schließlich, „wo bist du die letzten Wochen den ganzen Tag gewesen? Du verläßt das Haus, und ich habe keine Ahnung, wo du hingehst, was du machst."

„Du bist ja eifersüchtig," stellte Javert fest und registrierte, daß allein dieser Gedanke sein Herz schneller schlagen ließ.

Valjean dachte einen Moment nach. „Ja," sagte er dann von sich selbst überrascht, „ich bin eifersüchtig."

„Ich fühle mich sehr geschmeichelt, daß du glaubst, daß sich irgend jemand außer dir für einen alternden Ex-Polizisten interessieren könnte." Javert wurde ernst. Es war eine Sache, Valjean zu verschweigen, was er tat, um keine falschen Hoffnungen zu erwecken, aber auf eine direkte Frage hin zu lügen, kam nicht in Betracht. „Nein, du hast keinen Grund, auf irgendwen eifersüchtig zu sein. Ich sabotiere nur ein wenig die Ermittlungen dieses kleinen Sergeanten."

„Du behinderst polizeiliche Ermittlungen? Ich bin entsetzt." Der liebevolle Ausdruck in Valjeans Augen sprach eine ganz andere Sprache. „Was ist aus dem Javert geworden, den ich kannte?"

„Ertrunken, in der Seine." Javert beugte sich zu Valjean herüber und küßte ihn. „Wer weiß, vielleicht bekommst du mich sogar eines Tages dazu, für deine Stiftung zu arbeiten."

„Und in der Hölle verkaufen sie am gleichen Tag Eiscreme," erwiderte Valjean trocken. Diesmal war er es, der Javert küßte. Gleichzeitig löste er das schwarze Samtband, das Javerts Haar zusammenhielt und lehnte sich zurück. Dabei zog er Javert mit sich, daß dieser über ihm zu liegen kam.

„Benehmen wir uns gerade unserem Alter angemessen?" fragte Javert zwischen zwei Küssen etwas atemlos.

„Nein," erwiderte Valjean und machte dort weiter, wo er stehengeblieben war, nämlich beim Aufknöpfen von Javerts Hemd.

Er hatte gerade das Hemd aus der Hose gezerrt, als die Tür aufflog. Violetta stürmte, ohne zu klopfen, in den Salon und wirkte völlig verstört. „M. Javert, es ist etwas passiert. Er hat mir einen Antrag gemacht."

Dieser Satz ließ Javert für einen Augenblick vergessen, wo er war, und in welcher Lage er sich befand. Sein Oberkörper tauchte hinter der zur Tür gerichteten Lehne der Chaiselongue auf, was Violetta noch mehr durcheinander brachte, denn sie hatte ihn bislang noch nie mit offenen Haaren und offenem Hemd, das zudem aus der Hose gezogen war, gesehen. „Das war aber so nicht geplant."

„Was ist hier eigentlich los?" Nun tauchte auch Valjeans Kopf hinter der Lehne auf, welcher ebenfalls reichlich derangiert wirkte.

„Oh," machte Violetta peinlich berührt und drehte sich um. Es war ihr überaus unangenehm, in diese Szene hereingeplatzt zu sein, aber wer hätte auch ahnen können, daß ihre nicht mehr junge Herrschaft sich plötzlich wie zwei frisch verliebte Siebzehnjährige benahm, die ihre Finger nicht voneinander lassen konnten?

„Wer hat dir einen Antrag gemacht, Violetta?" fragte Valjean neugierig, während Javert sich aufsetzte, sein Hemd wieder zuknöpfte und sich spontan entschloß, erst einmal sitzen zu bleiben, um zu verhindern, daß Violetta noch mehr zu sehen bekam, als sie es schon getan hatte.

„Lucien. Sergeant Danois," verbesserte sie sich, und ihre Stimme hatte einen merkwürdigen Klang irgendwo zwischen grenzenloser Freude und Verzweiflung.

„Wieso macht dieser Polizist..." Valjean unterbrach sich und warf Javert einen strengen Blick zu. „Ich glaube, du hast mir vorhin nicht alles erzählt."

„Nein, das habe ich nicht," erwiderte Javert niedergeschlagen. „Ich hatte Violetta gebeten, Danois ein wenig abzulenken. Es hat wohl zu gut funktioniert."

„Du hast... Das glaube ich nicht. Wie konntest du jemanden, der von uns abhängig ist, um so etwas bitten?" Valjean war wirklich entsetzt.

„Bitte, M. Jean, seien Sie nicht wütend," bat Violetta. „Es stimmt, M. Javert hat mich gebeten, aber wenn ich nicht Ihnen hätte helfen wollen, dann hätten mich keine zehn Pferde dazu gebracht, das zu machen."

„Nun gut," Valjean war noch nicht überzeugt, „darüber reden wir noch. Was hast du diesem Sergeanten gesagt?"

„Gar nichts. Ich sagte, ich müßte darüber nachdenken. Aber wie könnte ich das denn tun? Er weiß nichts von Pierre, er weiß nicht, was ich getan habe, und er will Sie ins Gefängnis bringen, M. Jean."

„Und wenn all das nicht wäre?" wollte Valjean mitfühlend wissen.

„Dann würde ich ihn heiraten," schluchzte Violetta auf.

„Damit haben wir die Antwort; wenn du ihn willst, wirst du ihn bekommen. Wir werden dafür sorgen, vor allem, weil hier jemand etwas gutzumachen hat." Valjean wandte sich an Javert. „Ich will Sergeant Danois sprechen."

„Das ist viel zu riskant," widersprach Javert sofort.

„Ich will mit ihm sprechen." Valjeans Stimme klang stark nach M. Madeleine, als dieser seinem Polizeichef befahl, Fantine nicht einzusperren, und Javert wußte, daß mit einem Valjean in dieser Stimmung nicht zu diskutieren war.

Es war viel später an diesem Abend, als Javert sich zu Valjean ins Schlafzimmer begab. Er war nervös. Sie hatten keine ernsthafte Auseinandersetzung mehr gehabt seit jenem Morgen auf der Seinebrücke, und Javerts Erfahrungen, mit einem Menschen zu streiten, den er liebte, tendierten gegen Null. „Bist du noch wütend?" fragte er fast schüchtern.

„Ja," knurrte Valjean trotzig, um jedoch gleich darauf den Kopf zu schütteln, „nein. Ach, ich weiß nicht. Ich verstehe ja, warum du es getan hast, aber du kannst doch nicht einfach Violetta oder irgendwen anders da mit hineinziehen. Das ist mein Problem."

„Es ist auch meines," erinnerte Javert ihn. „Und vielleicht solltest du einmal darüber nachdenken, daß es zahlreiche Menschen gibt, denen du etwas bedeutest. Du tust jeden Tag so unendlich viel Gutes, da möchten diese Menschen dir auch etwas zurückgeben. Ich habe von dir viel gelernt, und eine deiner Lektionen war, daß man gelegentlich Hilfe auch akzeptieren muß. Das kann man lernen, Valjean, sogar du."

Valjean blickte ihn an. „Bin ich wirklich so?"

„Du hast einfach zu viele Jahre damit verbracht, alles selbst zu regeln. Jetzt ist es an der Zeit, anderen die Möglichkeit zu geben, dir dabei zu helfen." Javert beugte sich herunter und küßte Valjean. „Laß mich dir helfen, auf meine Art."

„Gut," sagte Valjean und zog Javert an sich, „aber mit Sergeant Danois werde ich trotzdem sprechen."