Langsam öffneten alle ihre Augen. Gandalfs Stimme hallte in der Luft: "Ich habe euch bis an das Meer von Rhûn gebracht. Haltet euch nördlich und überquert den Rotwasser. Weiter im Osten liegt irgendwo eine Stadt. Noch weiter östlich beginnt ein riesiger Wald. Meidet ihn! Lebt wohl!" Sie sahen sich um. Zu ihrer Rechten konnten sie in weiter Ferne das Meer erkennen. Legolas sah zur anderen Seite.
"Wenn rechts das Meer liegt, liegt links irgendwo der Düsterwald..." murmelte er leise. "Weit entfernt..."
"Ihr habt gehört, was Gandalf gesagt hat." durchdrang Aragorns Stimme die Stille.
"Lasst uns nach Norden reiten! Wir müssen sie finden!"

Aysha sah sich um. Der steinerne Raum war sehr klein und besaß nur ein einziges Fenster aus dem man jedoch nur auf die Füße der davor stehenden Wachen schauen konnte. Das schwache Licht fiel auf den Stroh bedeckten Boden.
Die Heiligelbe schob sich ein wenig Stroh in eine Ecke des Raumes und lehnte sich gegen die kalte Wand. Die anderen taten es ihr entweder gleich oder liefen unruhig auf und ab.
"Wie lange werden wir hier bleiben müssen?" fragte die junge Frau, die leise in einer Ecke lehnte und sehnsüchtig aus dem Fenster hinaus starrte. Aysha reagierte nicht. Es hatte ihr nie gefallen mit vielen anderen zusammen zu sein. Und noch dazu gefangen in einem engen Raum.
"Ich weiß nicht." antwortete der Mensch nach kurzer Zeit.
"Sie werden uns jedenfalls nicht Morgen oder Übermorgen einfach so frei lassen." Aysha blieb ruhig. Einmal drehte sie sich zu den anderen um. Und auch diesmal war es die Frau, die die Ruhe in ihrem Inneren brach. Für den Bruchteil einer Sekunde hatten sie Augenkontakt.
"Wer seid ihr? Ihr kommt nicht von hier." Aysha zögerte.
"Da irrt ihr euch. Ich komme sehr wohl aus dieser Gegend. Ich bin nur lange nicht mehr hier gewesen..."
"Mein Name ist Lanjaniel." Sie deutete auf die Männer neben sich.
"Das sind Rangier..." Der Elb nickte kurz.
"...und Mergon. Nennt uns euren Namen."
Aysha strich ihre Kapuze zurück und sah Lanjaniel mit festem Blick an. "Mein Name ist Aysha Malandil." Dabei glänzte der gelbe Schimmer, der durch die Narbe über ihrem Auge entstanden war.
"Und ich bin eine Heiligelbe der Länder von Rhûn." Unbewusst wich Rangier einen Schritt zurück. Er wusste unter welchen Mächten er sich nun befand. Er war einmal darauf hereingefallen. Aysha sah ihn beruhigend an.
"Keine Angst. Ich habe den Willen meines Volkes in dieser Hinsicht überlistet... Weder Angst noch Tod sollt ihr erleiden. Aber genau deshalb bin ich hier..."
"Dann seid ihr wie ich!" Lanjaniel stand auf und hielt Aysha ihre Hand entgegen. Diese sah auf und griff danach.
"Dann werden wir unser Schicksal teilen können..."
Mergon unterbrach das Gespräch der Heiligelben:
"Was wird denn nun mit uns geschehen?" Aysha sah zu ihm hinüber.
"Entweder werden wir als Sklaven verkauft, als Belustigung für die hohen Herren in eine Arena geschickt oder getötet. Sterben werden wir auf jeden Fall."
"Ihr scheint schon öfter hier gewesen zu sein, wenn ihr euch so gut damit auskennt."
"Einmal war ich schon hier." Lanjaniel setzte sich Aysha gegenüber und hörte zu.
"Vor einer langen Zeit. Ich wurde frei gekauft. Das Problem ist, der der mich damals befreit hat, hat mich dieses mal hierher gebracht..."
Mergon sagte nichts. Und auch die anderen beiden blieben stumm. Bald war Mergon eingeschlafen und Rangier hatte sich in die Nacht hinaus geträumt.
Nur Lanjaniel war noch hellwach. Nach etwa zwei Stunden kam sie leise auf Aysha zu und setzte sich zu ihr. Sie sahen sich lange an. Doch niemand sagte ein Wort. Aysha dachte an das, was geschehen war, seit sie diesen Ort vor vielen Jahren verlassen hatte.
Sie sehnte sich nach dem weichen Holz ihres Bogens, der sie vor so vielen Gefahren bewahrt hatte.
Sie sehnte sich nach dem Griff ihres Schwertes, das so viele Angreifer niedergestreckt hatte.
Und sie sehnte sich nach ihren Freunden. Nach Aragorn, Gimli, den Halblingen und vor allem nach Legolas.
"Wo wird er wohl im Moment sein?" dachte Aysha bei sich. "Hoffentlich suchen sie nicht nach mir, denn dann begeben sie sich in zu große Gefahr..."
"An einem Ort, der sicherer ist als dieser hier." hallte plötzlich Lanjaniels Stimme durch den Raum. Aysha schien nicht sehr überrascht davon zu sein.
"Das hoffe ich sehr..." Und in diesem Moment huschte ein erstes kleines Lächeln über Ayshas Lippen, das sich sofort auf Lanjaniel übertrug...

Sie ritten an Bergen und Tälern vorüber und am Abend suchten sie sich einen sicheren Ort zum Schlafen.
Aragorn machte ein kleines, knisterndes Feuer, das sie wärmte. Merry durchbrach die Stille: "Was sollen wir eigentlich machen, wenn wir diese komische Stadt gefunden haben? Oder den Wald? Oder sonst was? Wie können nicht einfach so in eine bis oben hin bewachte Stadt reiten, sagen, dass wir eine Gefangene befreien wollen und dann einfach so wieder gehen."
Aragorn schmunzelte. "Natürlich gehen wir nicht ´einfach so in eine bis oben hin bewachte Stadt´. Wenn wir die Grenzen erreicht haben sollten ein oder zwei von uns die Lage auskundschaften. Unerkannt natürlich! Dann sehen wir weiter."
Die Stunden verstrichen und die Zeit wollte einfach nicht schneller laufen. Aragorn gesellte sich zu Legolas, der wie jeden Abend regungslos an irgendeinen Baum gelehnt stand und zum Himmel hinaufstarrte. Hinter seinem Rücken erklang das Geräusch der schlafenden Hobbits.
"Legolas?" fragte Aragorn leise und wartete die Reaktion des Elben ab. "Können wir reden?"
Legolas nickte kurz, drehte sich aber nicht um.
"Wieso bist du so schweigsam geworden? Du sprichst nicht einmal mehr mit Gimli, wenn er dich fragt."
"Erinnere dich an deine Zeit als Streicher. Du warst damals auch nicht mehr als ich im Moment..."
"Du wirst immer mehr sein als ein einfacher Waldläufer, Thranduils Sohn." Eine lange Pause folgte. Nun sah auch Aragorn zu den Sternen hinauf.
"Du vermisst sie sehr."
Der Elb antwortete nicht.
"Ich will auch nicht, dass solche Dinge geschehen. Doch sie geschehen. In manchen Zeiten war sie das einzige, was mich noch vor der Angst zu verlieren bewahrt hat."
Legolas sah vorsichtig zu Aragorn hinüber, der Gedanken versunken geradeaus blickte.
"Ich habe ihr einmal ein Versprechen gegeben. Ich habe geschworen sie zu beschützen, bis ihre Seele diese Welt verlässt. Ich habe sie nie im Stich gelassen. Und ich werde es auch jetzt nicht tun. Sie ist sehr merkwürdig..."
"Sie ist oft eine gute Freundin. Aber noch öfter ist sie die geheimnisvolle Unbekannte, die als Schatten durch diese Welt zieht... Und sie hat die Augen von zwei grellen Sternen, deren Blick niemand lange standhalten kann..."
Aragorn nickte.
"Sie hat nie von sich erzählt. Was wissen wir denn schon von ihr? Genau betrachtet wissen wir gar nichts. Ich möchte wissen, wo sie gerade ist..."
Legolas lächelte.
"Vielleicht denkt sie in diesem Moment an uns. Vielleicht schickt sie uns einen Stern, um uns daran zu erinnern, dass es immer ein, wenn auch sehr kleines Licht, in der Dunkelheit gibt..."
"Werden wir sie finden, Legolas?"
"Darf ein König sein Versprechen brechen? Du wolltest sie beschützen hast du gesagt. Und um sie zu beschützen musst du sie finden..."