Legolas starrte Lanjaniel an.
"Sie könnte noch am Leben sein, sagt ihr?"
"Vielleicht, vielleicht auch nicht..."
Aragorn sah sie scharf an:
"Wenn ich euch bitten dürfte euch klar auszudrücken und diese Geheimniskrämerei zu unterlassen..."
Die Heiligelbe starrte mit ihrem eisigen Blick zurück.
"Ihr seid Aragorn, nicht wahr? Genauso wie Aysha euch beschrieben hat. Das also ist der König von Gondor. Liegt im Unterholz auf der Lauer und fängt wehrlose Frauen."
Aragorn nickte.
"Ja, das ist der König von Gondor." Dann wartete er einen Moment. Legolas sah über Lanjaniels Schulter zu den Lichtern der Fackeln.
"Verfolgt man euch?"
"Ich denke nicht..."
"Gut."
Der Elb sah zu Aragorn, der scharf über etwas nachdachte. Erschien langsam doch Gefallen an ihrer nächtlichen Gesellschaft zu finden. Es könnte doch sein, dass sie doch nicht so unfreundlich war, wie sie es vorgab zu sein.

Schließlich beschloss Aysha doch etwas zu unternehmen. Sie schloss für einen Moment ihre Augen und verdrängte den Schmerz aus ihrem Körper. Dann hievte sie vorsichtig die Beine zum Rand des Tisches und stand auf.
Ihre Beine gaben nach doch sie konnte sich noch aufrecht halten. Langsam schleppte sie sich Richtung Tür. Sie spürte wie der Schmerz sie überrollte. Aber sie wollte nicht aufgeben.
Sie war kurz davor die Klinke hinunter zu drücken, als ihre Kräfte sie endgültig verließen. Völlig Kraftlos brach sie zusammen.

Aragorn war eingeschlafen und Legolas und Lanjaniel saßen sich einige Meter voneinander entfernt gegenüber.
"Wie viel Zeit habt ihr mit Aysha verbracht?" fragte Legolas nach einiger Zeit in Lanjaniel Richtung.
"Ich weiß nicht genau. Einige Tage müssen es gewesen sein. Doch manchmal verdunkelte die Nacht auch den Tag und man konnte nicht erkennen, ob es ein schöner Tag, oder dunkelste Nacht war. Obwohl es dort nie schöne Tage gibt. Und es herrschte immer Dunkelheit in Aysha Malandils Gesicht. Vor allem als sie ihren Bruder an den Tod verloren hatte."
"Bruder? Ich dachte, sie hätte keinerlei Geschwister."
"Das dachte sie auch..."
Legolas fragte nicht weiter danach und auch seine Gegenüber schwieg lange. Doch bald setzte der Elb von neuem an:
"Wieso ist sie..."
"Wie schon gesagt, ich glaube nicht daran, dass sie wirklich tot ist. Aber sie war schwer verwundet, durch die Kämpfe, die sie austragen musste."
Lanjaniel erzählte Legolas alles, was sie in den letzten Tagen erlebt hatte. Der Elb hörte angespannt zu und fragte einige Male nach.
Schließlich beendete Lanjaniel ihren Bericht und wartete Legolas Reaktion ab.
"Es ist unglaublich. Ihr erzählt so lebhaft, dass es einem den Atem nimmt."
"Vielen Dank..." Sie grinste verlegen. "Aber..." Lanjaniel wurde wieder ernst. "...sie hat nie von euch erzählt. Sie erwähnte Freunde und..."
"Ja, ich weiß. Sie redet nicht über sich... Früher habe ich versucht etwas über sie in Erfahrung zu bringen. Doch sie antwortete nicht auf meine Fragen. Alle ihre Gedanken verschließt sie hinter hohen Mauern."
"Legolas."
Der Elb sah auf.
"Woher kennt ihr meinen Namen, wenn sie nie von mir sprach?"
Lanjaniel antwortete nicht.
"Ich verstehe. Etwas, das ich wieder nicht erfahren darf?"
"Ihr scheint öfter damit in Berührung zu kommen."
"Leider immer, wenn es wichtig war..."
Die Elbe lachte leise.
"Das Volk der Geheimnisse?"
"Ja, so ist es..."
Legolas hob Ayshas Tasche vom Boden auf und gab sie Lanjaniel.
"Hier, ich wusste damit nichts anzufangen."
Lanjaniel nahm sie entgegen und öffnete sie. Langsam zog sie einige kleine Gegenstände daraus hervor.
Etwas zu essen, zwei Tücher, Handschuhe, ein winziges Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit und einige Schmuckstücke.
"Was ist das?" fragte Lanjaniel langsam und nahm eine Kette in die Hand. Sie betrachtete das Amulett lange.
Viele verschlungene Linien bildeten eine Schlange mit blutroten Augen, die die Elbe fast lebendig anzustarren schienen.
Vorsichtig strich Lanjaniel über das glänzende Metall und plötzlich blinzelte die Schlange zu ihr hinauf und erhob sich aus dem kleinen Amulett. Dabei wurde sie immer größer und glitt den Arm der Elbe entlang.
Legolas erschrak im ersten Moment, doch sofort sah er fasziniert zu Lanjaniel hinüber. Von Lanjaniels Kramerei war Aragorn aufgewacht und hörte den beiden Elben einige Minuten lang unbemerkt zu.
"Ich kenne dieses Tier. Genau diese Schlange habe ich schon einmal gesehen!"
"Das ist gut möglich." meinte Lanjaniel leise. "Für manche sind solche Wesen die letzten Freunde..." Im nächsten Moment wurde die Schlange wieder zu dem kleinen silbernen Amulett. Legolas nahm es mit der Tasche wieder an sich.
"Wann werden wir morgen aufbrechen?" fragte Lanjaniel und stand auf.
"So früh wie möglich. Die Gefangenen werden sicher auch nicht länger als nötig an einem Platz festgehalten werden."
"Wir sollten so schnell wie möglich etwas unternehmen."
Aragorn stand auf und ging zu den beiden hinüber.
"Wir haben euch wohl falsch eingeschätzt, Lanjaniel. Auch wenn ihr nicht die Tochter Thorondors seid..."

"So kenne ich sie gar nicht." murmelte Merry und starrte in die Flamme der Kerze. "Was ist bloß in sie gefahren?"
Pippin zog Ayshas wärmenden Mantel fester um seine Schultern. "Vielleicht sollte ich mir auch so ein Ding kaufen..." dachte er und schmunzelte. "Wenn Aysha noch am Leben sein sollte, würde sie ihn sicher wieder haben wollen..."

Aysha lag noch immer regungslos am Boden. Ihre Gedanken wirbelten umher. Sie sah Aragorn und Legolas in Minas Tirith und Gimli in Edoras.
Dann erkannte sie Lanjaniel und Mergon und dem Verließ und Daynic, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war.
Plötzlich durchzog sie ein Funken Wärme, als sich eine schwarze Schlange vor ihren Augen auf dem Boden wand. Sie funkelte sie mit ihren roten Augen an.
"Tangilya..." flüsterte Aysha in ihrem Traum. Und im nächsten Moment war die Schlange verschwunden. "Tangilya..."

Lanjaniel sah zu den Gefangenen hinüber.
"Ich denke, sie werden in die nächste Stadt gebracht. Wir sollten sie so schnell wie möglich befreien, denn aus einer Stadt verhilft man hier so leicht keinem zur Flucht."
"Und..." begann Legolas. "...wir müssen aufpassen nicht entdeckt zu werden. Vor einer Stunde etwa sind zwei Wächter sehr nah zu uns gekommen. Sie haben uns nicht entdeckt. Trotzdem sollten wir noch vorsichtiger sein."
Aragorn stimmte beiden zu. Mit diesen zwei Elben an seiner Seite, hatte er keine Bedenken, dass sie Gimli und die Hobbits nicht befreien würden.

"Tangilya..." Aysha schlug ihre Augen auf. "Tan..."
"Steh auf..." flüsterte eine weiche Stimme neben ihrem Ohr. "Nimm meine Hand!"
Die Heiligelbe hob ihren Arm und versuchte Daynic besser erkennen zu können.
"Daynic!" Sofort zog sie ihre Hand zurück.
"Komm mit mir! Du bist wieder einigermaßen zu Kräften gekommen, wie ich sehe. Ich möchte dir zeigen, wo ich lebe und wo du auch in Zukunft wohnen wirst."
Aysha überlegte einen Moment. Doch es schien ihr sinnvoller mit Daynic mit zu gehen als untätig auf dem Boden liegen zu bleiben. Sie umfasste seine Hand und ließ sich auf die Beine ziehen.
"Gut so. Jetzt komm mit."
Daynic legte seinen Arm um Ayshas Schulter und führte sie langsam aus dem Raum. Genauso, wie er es früher immer getan hatte, doch diesmal spürte Aysha sofort wie sehr er sich verändert hatte.
Daynics Haus war ganz anders als Aysha es sich vorgestellt hatte. Überall hingen Gemälde von fremden Personen und Orten und an den Wänden standen Statuen und riesige, durchsichtige Vasen.
Daynic führte sie durch die große Eingangshalle. Einige Türen führten in andere Räume. Manche waren geöffnet und Aysha konnte einen Blick hineinwerfen.
Eine lange Treppe führte in den oberen Teil des Hauses. Die Treppe fand Aysha am interessantesten. Sie hatte die Farben des Meeres und sie schien fast zu "fließen".
Sie gingen hinauf und in ein Zimmer, das genau gegenüber von der Treppe lag. Daynic öffnete die Tür und führte Aysha hinein.
Es erinnerte Aysha sehr an ihr Gemach in Minas Tirith, das sie damals für einige Tage bewohnt hatte.
An der Wand standen ein Bett, eine Kommode und eine Reihe von Bücherregalen. Eine weitere Tür führte auf einen breiten Balkon hinaus. Neben dem Fenster hingen einige Bilder, davon zeigte eines Ayshas eigenes Gesicht.
Sie ging darauf zu und betrachtete es.
"Es hängt hier noch immer?"
"Ja, es ist das einzige, was mir von dir blieb, nachdem du mich verlassen hattest."
"Warum hängt es genau hier neben dem Balkon?"
"Damit ich, immer wenn ich es ansehe sofort nach draußen blicken und darauf hoffen, dass du irgendwo am Horizont auftauchst. Unsere gemeinsame Zeit ist noch nicht vorüber, Katzenauge."
Aysha betrachtete das Bild. In dem Gesicht der Aysha dort prangten nicht die vier großen Narben, die ihr Gesicht heute zierten. Und auch von dem Schimmer in ihrem Auge, das bei bestimmtem Licht aufglänzte, war nichts zu sehen.
"Ich hasse dich..."

Merry sah zum Himmel hinauf.
"Wie lange wird es noch dauern bis die Sonne aufgeht?"
"Noch einige Stunden, Herr Hobbit. Ihr beiden solltet euch lieber noch etwas schlafen legen. Bei Tagesanbruch müssen wir wieder einen weiten Weg zurücklegen."
Gimli stimmte Mergon zu.
"Viele Stunden müssen noch vergehen... Habt ihr was zu essen?"
Alle sahen ihn an.
"War ja nur so´ne Frage..."
Pippin sah sich um.
"Sollen wir warten, oder sollen wir auch etwas unternehmen?"
"Was denn, Pip? Hast du einen Vorschlag?" fragte sein Freud ihn sofort und schlug ihm leicht gegen den Kopf. "Wir sind hier gefangen. In einem mit einer unsichtbaren Mauer umgebenen Gefängnis, falls du´s noch nicht bemerkt hast!"
Mergon und Gimli schüttelten die Köpfe.
"Wir können wirklich nichts tun, meine Herren Hobbits." meinte Gimli. "Wir können hier nichts ausrichten. Wir können nur hoffen, dass Aragorn und Legolas irgendwo dort draußen sind und versuchen uns zu retten."

"Du hasst mich? Weswegen?"
"Das fragst du noch? Erst entführst du mich, dann verkaufst du mich und lässt mich in einer Arena kämpfen bis ich fast sterbe und dann fragst du noch weswegen?"
"Das habe ich nur getan um dich zu schützen. Der Rat will, dass du ausgeliefert wirst. Es wäre unmöglich gewesen dich auf normalen Wegen in die Stadt zu bringen. Ich musste halt ein kleines Risiko eingehen."
"Kleines Risiko?" schrie Aysha ihn an. "Das nennst du kleines Risiko? Ich wäre fast getötet worden! Ist dir das klar? Du hast dich wirklich sehr verändert!"
"Ich nicht. Du bist es, die anders geworden ist. Früher hättest du dich nie mit einem Waldelben unterhalten oder ihn umarmt! Igitt!" Daynic schüttelte sich.
"Wollten wir nicht gemeinsam gegen den Willen ankämpfen?"
"Das wollten wir einmal. Doch das ist vorbei. Ich habe den Weg zurück zu meinem Volk gefunden. Und das solltest du auch tun. Sonst töten dich die Ältesten."
"Die Ältesten?" lachte Aysha. "Vor ihnen habe ich keine Angst. Wenn sie mich haben wollen, sollen sie mich holen!"
Daynic wartete einen Moment.
"Du hast mich nicht vergessen, Aysha. Du hast immer wieder an mich gedacht."
"Ja, das habe ich. Aber ich dachte an den, den ich geliebt habe, den ich verlassen habe, jedoch nicht an den, den ich wieder getroffen habe."
"Du solltest ein wenig Ordnung in deine Gedanken bringen, dann erinnerst du dich vielleicht ein bisschen mehr an unsere gemeinsame Zeit. Komm!"
Er legte seinen Arm um Ayshas Schulter, die keinen Widerspruch zeigte und führte sie auf den Balkon hinaus. Dann zeigte er über die dunkle Stadt und düsteren Felder und Wälder.
"Ist das nicht das, was du eigentlich immer wolltest? Nach Hause? Dieses ist deine Welt. Nicht die bei den Menschen oder Zwergen. Hier liegen all deine Erinnerungen und hierin sollen sie auch zurückkehren."
Aysha dachte nach.
"Du hast Recht. Hier liegt meine eigentliche Heimat..." Dann sah sie zu Daynic hinauf. "Was wirst du mit mir machen?"
"Nichts. Solange du bei mir bleibst."
"Ich bleibe... aber nur, wenn du dafür sorgst, dass meine Freunde in ihre Heimat zurückkehren können!"
Daynic legte seine warme Hand auf ihre Wange.
"Mach dir keine Gedanken darüber. Ich werde schon dafür sorgen..." Er zog sie zu sich heran und küsste sie sanft auf den Mund. Genau das hatte er gewollt. Und er dachte gar nicht daran Ayshas Wunsch zu erfüllen...