Anmerkung: Der große Showdown - aber zuende ist die Sache noch lange nicht. Feedback ist Willkommen und wird mit einem Kniefall angenommen ;)
Drückende Dunkelheit
Teil 3
Man hatte ihr die Augenbinde das letzte Mal nicht abgenommen. Jordan rutschte so nah wie möglich an die Wand und rieb ihren Kopf daran. Das feuchte Stück Tuch roch nach Fisch. Bei den ersten beiden Versuchen, es loszuwerden, scheuerte sie sich die Wange auf. Dann endlich gelang es ihr. Nun hing der Fetzen an ihrem Rücken herunter, mit dem Knoten in ihren Haaren verfitzt. Ein Stöhnen entwich Jordan.
Die nun regelmäßigen Kontrollbesuche ihrer Entführer zweimal am Tag ließen sie darauf schließen, dass es entweder Sonnabend oder Sonntag war. Momentan ging es ihr etwas besser. Man hatte sie, nachdem ihr Fieber wieder gestiegen und die Schmerzen unerträglich geworden waren, ein paar der Tabletten nehmen lassen, die sie gekauft hatte. Doch Jordan wusste, dass diese Zustand nur vorübergehend war. Sie bräuchte Antibiotika. Und ein warmes Bad. Es war kalt hier unten; ihre Lippen waren vom vielen Drüberlecken schon ganz geschwollen und hatten tiefe Risse.
Diese Hilflosigkeit war einfach unerträglich.
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Das Pogue war menschenleer, als Woody es Sonntag Nacht betrat. Er hatte zwei Tage lang durchgearbeitet und konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Seine Vermutung hatte sich nach ein paar Telefonaten bestätigt. Steven Bricks war bei der Drogenfahndung nur allzu bekannt. Sergeant Simmons versuchte bereits seit Jahren, ihn auffliegen zu lassen, doch bisher konnte man ihm nie den Handel von Drogen nachweisen.
Zur Sicherheit hatte man noch den dritten Kandidaten auf Woody's Liste überprüft, doch der war, wie auch der erste, ein harmloser Staatsbürger. Also setzte man jetzt darauf, dass es sich bei dem Entführer um Bricks handelte. Der Fall war gleich ins Stockwerk der Drogenfahndung verlegt worden. Obwohl Woody, gemeinsam mit Siler und O'Hara, noch an den Ermittlungen beteiligt war, hatte er das Gefühl, der Fall wäre ihm entzogen worden. Am Sonnabend hatten Spezialteams leerstehende Lagerhallen im Westen der Stadt abgesucht, in denen man in Zusammenhang mit Bricks einmal eine beträchtliche Menge Drogen gefunden hatte. Doch die waren nach wie vor leerstehend.
Und jetzt war Woody am Ende seiner Kräfte. Er kam sich so hilflos vor und war gleichzeitig wütend auf sich selbst. Er hätte an jenem Tag einfach bei ihr bleiben können.
Wütend machte ihn auch die Tatsache, dass sie Jordans Entführung mehr oder weniger Simmons zu verdanken hatten. Er hatte über Strohmänner den Tipp an Bricks geben lassen, dass sich jemand bei ihnen Undercover einschleichen wollte. Sein Ziel war es gewesen, Bricks aus der Reserve zu locken. Und nun hatte er eine Geiselnahme bekommen.
Seufzend ließ er sich an der Bar nieder und hob kurz die Hand zum Gruß. Max, der gerade dabei war, die Theke zu wischen, kam sofort zu ihm.
"Und?"
Woody schüttelte müde den Kopf. "Nichts. Wir können nur warten und hoffen, dass die Geldübergabe uns zu ihnen führt."
Max ließ die Schultern hängen. Obwohl er und Jordan in letzter Zeit viele Unstimmigkeiten gehabt hatten, war sie dennoch seine Tochter und er liebte sie. Er machte sich Vorwürfe und malte sich das Schlimmste aus.
"Ich kann das einfach nicht glauben...", murmelte er.
Woody nickte. Am Sonnabend hatte er Max - auf dessen Drängen hin - das Fax gezeigt. Und mit ansehen müssen, wie der sonst so robuste, lebensstarke Mann in sich zusammensank.
"Es tut mir Leid", meinte Woody. "Ich hätte das verhindern müssen."
Max sah ihn seufzend an. "Nein, mein Junge, das hätte niemand verhindern können. Da war Jordan einfach mal wieder zur richtigen Zeit am falschen Ort."
"Und diesmal ganz ohne Absicht", ergänzte Woody mit einem wütenden Schnauben.
Max griff nach zwei Gläsern und füllte jedem von ihnen einen Wodka ein.
Woody hob dankbar das Glas. "Darauf, dass wir diesen Typen bald das Handwerk gelegt haben."
Max nickte grimmig. "Prost."
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Der Montagmorgen verlief verhältnismäßig ruhig. Die letzten Tage waren hektisch gewesen, vollgepackt mit Ermittlungen und Briefings über das bereits Herausgefundene. Woody kam sich vor wie in einem schlechten Krimi.
Und jetzt saß er an seinem vorübergehenden Schreibtisch und wartete, wie sieben weitere Leute im selben Raum, auf den Anruf der Entführer. Man war sich noch nicht einig, wer der zweite Täter sein würde, aber das spielte eine geringere Rolle. Was zählte, war Bricks zu überführen. Woody hatte das drückende Gefühl, dass auch Jordan dabei eher im Hintergrund stand. Er hatte darauf bestanden, bei dem letztendlichen Einsatz dabei zu sein. Auf keinen Fall wollte er, dass Jordans Leben leichtsinnig auf's Spiel gesetzt werden würde.
Als das Telefon endlich klingelte, war es bereits Mittag.
"Morddezernat, Hoyt." Man hatte seine Leitung hierher verlegt und befand es für besser, Bricks im Unklaren darüber zu lassen, dass man seine Identität kannte.
"Guten Morgen, Detective." Der Hohn war nicht zu überhören.
'Überheblichkeit kommt vor dem Fall', dachte Woody und ignorierte die Provokation. "Wir haben das Geld", meinte er stattdessen schlicht.
"Gut. Gut..."
Die kurze Pause ließ Woody ungeduldig werden. O'Hara legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. Sie hatte in den letzten Tagen erlebt, wie gut Detective Hoyt seine Sache machte, und dass all das Gerede über seine Gutgläubigkeit nur aus oberflächlicher Unwissenheit stammte.
"Die Übergabe findet Freitag um Punkt 3:15 Uhr in der Deerbrook Mall statt. Sie werden mit dem Geld am öffentlichen Telefon im vorderen Teil weitere Anweisungen abwarten."
"Freitag?" Woody war überrascht und verärgert. "Ich will, dass die Übergabe noch heute stattfindet."
Ein Lachen ertönte am anderen Ende der Leitung. "Was Sie wollen, ist vollkommen irrelevant. Freitag viertel nach drei. Seien Sie pünktlich."
Klick.
Woody legte den Hörer mit einem lauten Knall auf. "Freitag? Das sind noch vier Tage!"
"Beruhigen Sie sich!", meinte ein älterer Detective, der offensichtlich seit Jahren mit Simmons zusammen arbeitete. "Das gibt uns immerhin genug Zeit, um die Baupläne des Einkaufszentrums zu besorgen und die Umgebung abzusichern."
Das Argument beruhigte Woody nur gering. Immerhin hieß das für Jordan: Weitere vier Tage in Gefangenschaft. Woody betete, dass sie durchhielt.
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Die Tage vergingen schleppend. Stunden zogen sich ohne Eile dahin und manchmal schien die Zeit einfach stehen zu bleiben. Jordan hatte aufgehört, mitzuzählen. Sie trank und aß, was man ihr in den Mund schob. Und sie war froh, wenn sie einfach schlafen konnte. Ihre Grippe war auf dem Höhepunkt. Von Magenkrämpfen geschüttelt bekam sie kaum noch etwas mit. Durch das Fieber hatten sich Schweißfilme auf ihrer Haut gebildet. Beim letzten Mal hatte man ohne ein Wort einen Eimer kaltes Wasser über ihr ausgeschüttet. Stundenlang hatte sie entsetzlich gefroren und dann das Gefühl gehabt, zu verbrennen. Wenn das Fieber weiter stieg, würde es gefährlich werden. Jordans Angst verschwamm irgendwo zwischen ihrer Desorientierung und der entsetzlich schweren Müdigkeit.
Sie litt unter Halluzinationen. Die Gesichter der Männer, die sie noch nie gesehen hatte, wurden zu grässlichen Fratzen, die körperlos in der Dunkelheit schwebten. Ob die Spinnen, die hin und wieder über ihre tauben Füße krabbelten, real waren, konnte Jordan nicht beurteilen. Wenn es ihr phasenweise besser ging, dachte sie oft an ihren Vater. Sie wollte ihn unbedingt noch einmal wiedersehen. All die Streitereien - die waren nichtig im Vergleich dazu, dass sie dies hier vielleicht nicht überleben würde, ohne Max vorher gesagt zu haben, dass sie ihn liebte. Und dann wanderten ihre Gedanken immer wieder zu Woody.
Woody, der jetzt vor Sorge bestimmt ebenso starb wie ihr Vater. Der wahrscheinlich auf eigene Faust ermittelte und dabei Kopf und Kragen riskierte. Und auch hier hoffte Jordan, dass sie ihn noch einmal sehen könnte. Wenn sie hier je lebend raus kam, würde sie Einiges ändern. Unter anderem wollte sie den Menschen, die ihr etwas bedeuteten, das auch sagen. Ihrem Vater, ihren Freunden in der Gerichtsmedizin, gerade Dr. Macy. Und Woody. Sie hatte immer Angst gehabt, wenn sie jemanden ihre Zuneigung spüren ließ, dann wäre sie verwundbar. Und gerade bei Woody hatte sie Angst gehabt, ihre Freundschaft auf's Spiel zu setzen. Aber jetzt? Jetzt wünschte sie sich, ihm eine Chance gegeben zu haben...
Das ihr inzwischen allzu bekannte metallische Scharren ertönte, verbunden mit dem gleißenden Licht. Und plötzlich packte Jordan die Entschlossenheit. Sie wollte hier raus. Sie wollte hier nicht elend zu Grunde gehen.
Als die Hand sie grob anpackte, stieß sie ihren Entführer fort, mit all der Kraft, die sie aufbringen konnte. Der Mann gab einen Laut der Überraschung von sich. Als vier Hände sie gemeinsam anpackten und hart gegen die Wand stießen, wusste Jordan, dass sie keine Chance hatte. Doch sie wollte sich nicht so demütigen lassen. Wenigstens versuchen musste sie es.
Und doch endete sie, jetzt noch fester gefesselt, mit der Augenbinde in der Ecke und wurde gefüttert. Das Essen konnte sie nicht verweigern. Sie brauchte Kraft. Um sich zu widersetzen. Um ihnen zu zeigen, dass sie ihren Willen nicht brechen konnten.
Der zweite Mann zog sie vom Boden hoch und machte sich an ihrer Jeans zu schaffen. Jordan wandte sich in seinem Griff und versuchte, sich zusammen zu rollen. Und dann ging alles ganz schnell. Drei Hände griffen nach ihr, wollten sie umdrehen. Ein metallischen Schnappen irgendwo im Raum und dann ein stechender Schmerz in ihrem linken Oberarm. Jordan schrie auf und torkelte durch den Raum. Sie stürzte zu Boden und wälzte sich; konnte ihren Arm nicht erreichen, da sie gefesselt war.
"Verdammt", schimpfte einer der beiden Männer und ließ das Messer fallen. Jordan wusste nicht, weshalb er es herausgeholt hatte. Vielleicht wollte er sie im Würgegriff einschüchtern, wie beim ersten Mal.
Sie spürte warmes Blut auf ihrer Haut und glaubte, der Schmerz würde ihr den Verstand rauben. Der Mann mit der rauen Stimme beugte sich zu ihr herunter und packte grob ihren Arm. Dann riss er ein Stück von Jordans Shirt ab und wickelte es um die Wunde. Jordan gab ein leises Wimmern von sich.
Als ihr Entführer fertig war, trat er ihr grob in die Hüfte. "Das hast du nun davon, du Schlampe." Er spuckte neben ihr auf den Boden. Hallende Schritte und das Zuschlagen der Tür verrieten Jordan, dass sie es überstanden hatte. Sie war wieder allein.
Ihr Oberarm begann, stark zu pulsieren. Das Pochen zog sich von ihren Fingerspitzen bis in den Brustkorb und wurde von einem Brennen begleitet. Sie wusste nicht, wie tief der Einschnitt war, aber selbst wenn der Blutverlust gering blieb, würde sich die Stelle entzünden. Ihr Shirt war verschwitzt und verdreckt. Die Wunde musste gereinigt werden.
Jordan rollte sich auf die Seite und versuchte, den Arm unter sich abzuklemmen. Wenigstens den Blutverlust musste sie so gering wie möglich halten.
Nach einer Weile fiel sie in einen ohnmächtigen Schlaf.
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Woody lag die ganze Nacht wach. Auf seiner Digitaluhr leuchtete 2:57 in großen, roten Ziffern. Er wälzte sich hin und her, ohne die Gedanken vom bevorstehenden Tag ablenken zu können. Heute sollte die Geldübergabe stattfinden. Man hatte ihn ausreichend darauf vorbereitet. Er würde versteckte Mikrofone tragen und mit einem Sender ausgestattet sein, falls die Entführer ihn irgendwo hinlocken würden. Im Einkaufszentrum wollte man genügend Männer vom Sondereinsatzkommando postieren, um es effizient absperren und überwachen zu können.
Doch sie mussten auf alles gefasst sein. Bricks hatte nicht umsonst den Freitag gewählt. In der Mall fand eine Modenschau statt. Sie würde also vollkommen überfüllt sein, was die Sache erschwerte.
Woody hatte die Grundrisspläne studiert, doch er ging oft genug dort einkaufen, um sich auch so auszukennen.
Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Von den Vorwürfen, den Sorgen und der Angst wieder zurück zu der Anspannung und Nervosität aufgrund des geplanten Eingriffes. Man wollte ihnen Jordan erst einige Stunden später 'übergeben', wenn das Geld auf Echtheit überprüft war. Deshalb würden sie den Abnehmer des Geldes, hoffentlich Bricks, verfolgen. Sollten sie ihn aus den Augen verlieren, würde ein Sender in einem der Geldbündel sie zum Versteck führen. Doch sie konnten sich nicht sicher sein, dass Jordan auch dort war. Was, wenn sie die Täter festgenommen hatten und Jordan ganz woanders? Wenn Bricks ihnen nicht sagen würde, wohin er sie gebracht hatte? Woody wollte gar nicht daran denken. Er hatte seine Bedenken bei einem der Briefings geäußert, doch man hatte ihn ignoriert. Und wieder hatte er das Gefühl, es ging hier nicht mehr um Jordan, sondern die Festnahme irgendwelcher Drogenhändler.
Plötzlich tauchte das Bild von Jordan, dass man ihnen zugefaxt hatte, wieder vor ihm auf. Er schluckte schwer. Sie sah so zerschunden aus, so leblos. Er konnte nur beten, dass die Verletzungen oberflächlich waren und man sie sonst nicht angerührt hatte. Der Gedanke, dass diese schmierigen Typen sie angefasst haben könnten, raubte ihm den Verstand. Und er hatte Angst davor, welche seelischen Schäden Jordan davontragen würde. Sie war unheimlich stark und zäh. Aber das hier...?
Sie mussten es einfach schaffen. Er würde alles dafür tun, um Jordan dort rauszuholen.
Als es draußen hell wurde, stand Woody auf und duschte. So ruhig wie möglich zog er sich an; prüfte, ob er alles dabei hatte. Dann ließ er die Tür hinter sich ins Schloss fallen und machte sich auf den Weg.
Draußen atmete er tief die frische Morgenluft ein. Der plötzliche Sauerstoffstoß gab ihm ein kurzes Hochgefühl. Es würde gut gehen. Musste es einfach.
Woody schlug den langen Weg durch den Central Park ein. Ein Spaziergang zur Beruhigung und um den Kopf frei zu bekommen, würde ihm gut tun.
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Ein dumpfer Schmerz in ihrer linken Schulter holte sie zurück in die Realität. Der Arm war noch immer unter ihr eingeklemmt, und obwohl die Wunde nicht mehr blutete, brannte die Stelle und fühlte sich schlimmer an als vorher. Jordans Rücken war ganz taub. Mit aller Kraft rutschte sie zurück in ihre Ecke und lehnte sich gegen die Wand, die ihren Arm jetzt angenehm kühlte. Man hatte ihr erneut die Augenbinde umgebunden gelassen. Doch sie war zu schwach, um das stinkende Tuch aus ihrem Gesicht zu bekommen.
Ihre Blase machte sich langsam bemerkbar. Jordan seufzte. Ihr war schwindelig, und die Hoffnungslosigkeit schien sie immer mehr auszufüllen. Die Dunkelheit umschloss sie wie eine Hülle, aus der es kein Entkommen gab.
Jordan schloss ihre Augen und gab auf, in ihrem Inneren eine tiefe, kalte Leere.
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Die Deerbrook Mall war ungewöhnlich voll, wie sie es erwartet hatten. Woody bahnte sich nervös einen Weg durch die Menge. In einer kleinen Nische, in der die öffentlichen Telefone angebracht waren, lehnte er sich mit dem Rücken an die Wand und wartete. Er ließ seinen Blick über die Menge wandern, dann hoch zur zweiten Ebene. Er wusste genau, wo Simmons Männer postiert waren, doch sehen konnte er sie nicht. Gut.
Nach außen hin völlig gelassen doch mit innerer Unruhe, warf er einen Blick auf die Uhr. Er hatte noch fünf Minuten bis zum vereinbarten Zeitpunkt. Also wartete er. Die Zeit schien fast stehen zu bleiben. Als um Punkt 3:15 Uhr das zweite Telefon in der Reihe läutete, zuckte er kurz zusammen. Er ging darauf zu und nahm den Hörer ab.
"Hoyt", meinte er schlicht und leise.
"Gut", meldete sich die ihm inzwischen nur allzu bekannte Stimme. "Sie haben das Geld bei sich?"
"Natürlich."
"Begeben Sie sich damit auf die Herrentoilette zu Ihrer Linken und in die zweite Kabine von rechts. Wenn ich auflege, haben Sie genau fünfundvierzig Sekunden, um Folgendes auszuführen: Drehen Sie die Verbraucherkarte auf der Innenseite der Tür um und befolgen Sie die Ausführungen. Sollten Sie dabei Informationen an Ihre Kollegen weitergeben, wird Ihre kleine Freundin eine Hand weniger besitzen. Wir haben zur Kontrolle Mikrofone installiert. Ihre Zeit ist begrenzt."
Klick.
Woody blieb keine Zeit zum Nachdenken. Er ignorierte das "Außer Betrieb"-Schild an der Tür, das die Entführer wahrscheinlich selbst dort angebracht hatten. Die zweite Kabine von rechts stand bereits offen. Er betrat sie, schloss die Tür und wendete das postergroße, in Schutzfolie eingeschweißte Blatt, dass auf der Vorderseite Werbung enthielt und in jeder Toilette an die Tür gepinnt war.
Hinter Ihnen befindet sich ein Fenster. Werfen Sie den Koffer dort raus und verlassen Sie die Herrentoiletten.
Das war alles. Ohne zu zögern drehte Woody sich um, stieg auf das Klo und schob den Koffer durch das kleine, angekippte Fenster. Es war zu winzig für einen Menschen und viel zu weit oben, doch der Koffer glitt hindurch. Er ließ den Griff los und hörte ein dumpfes Poltern. Sofort verließ er die Toiletten und begab sich wieder zu dem Telefon. Es läutete nicht.
"Was ist passiert?", ertönte eine dünne Stimme in seinem Ohr.
Woody atmete flach und schnell. Ihm war leicht schwindelig und das Adrenalin, das sich in seinen Blutbahnen anstaute, hatte die Nervosität völlig verdrängt. "Ich habe den Koffer aus einem Fenster der Herrentoilette geworfen. Wahrscheinlich hatten sie ein Fahrzeug darunter geparkt. Wir haben doch dort Männer stationiert..."
Simmons fluchte. "Mist. So etwas hatten wir nicht bedacht."
Er kommandierte ein paar von seinen Leuten, alle aus dem Gelände der Mall herauskommenden Fahrzeuge zu überprüfen. Dann gab er noch einige weitere Befehle, die Woody nicht ganz mitbekam. Er begab sich zum nächsten Ausgang und bahnte sich einen Weg über den Parkplatz zu einem grauen Transporter. Simmons hielt ihm bereits die Tür auf.
"Beeilen Sie sich", meinte er überflüssigerweise, als Woody einstieg und sie losfuhren, noch bevor Simmons die Tür wieder geschlossen hatte.
"Wir empfangen ein Signal. Sie haben das Gelände bereits verlassen." Simmons fuhr sich frustriert durch die Haare.
Woody war leicht verwundert. "Hatten wir nicht Männer an der Außenwand postiert?"
"Doch. Aber direkt unter diesem Fenster befinden sich die Müllcontainer. Der Bereich ist eingezäunt und an kommt nur mit elektronischem Schlüssel hinein. Das schien uns sicher genug."
Woody stöhnte auf. So langsam verwunderte es ihn nicht, dass Simmons Bricks bisher nicht gefasst hatte. Doch er behielt diesen Gedanken für sich, da er nicht riskieren wollte, gleich abgesetzt und von der weiteren Verfolgung ausgeschlossen zu werden.
"Wir haben doch noch den Sender", meinte Woody stattdessen.
"Ja. Der Bricks leider einen Vorsprung von mindestens tausendfünfhundert Metern gibt." Simmons seufzte.
Woody wusste, dass dieser kurze Vorsprung entscheidend sein konnte. Eine direkte Verfolgung wäre effektiver gewesen.
Er wandte seinen Blick dem Monitor zu, auf dem das Bostoner Straßennetz zu sehen war. Ein kleiner grüner Punkt bewegte sich langsam in dem Wirrwarr von Linien und Kästchen. Ein roter Punkt, stets in der Mitte des Bildschirms, folgte ihm. Simmons schien sich ganz auf das Können seines Fahrers zu verlassen. Die beiden wechselten nicht ein Wort.
Woody jedoch hielt die Stille nicht aus. Die Stimmung war zum Zerreißen gespannt.
"Wofür braucht jemand wie Bricks eigentlich eine solche Summe?", fragte er, sowohl aus Interesse wie auch um die Stille zu durchbrechen.
"Wie meinen Sie das?" Simmons schien seine Frage nicht zu verstehen.
"Na ja... Wenn er ein so großer Fisch unter den Drogendealern ist, dann sind zweihunderttausend Dollar doch Peanuts für ihn. Dafür lohnt sich dieser ganze Aufwand doch gar nicht."
Simmons nickte. "Aber auch Drogendealer machen Schulden. Und in diesem Geschäft gibt es keine Kredite. Du zahlst immer, entweder sofort, oder später mit deinem Leben. Er wird das Geld zum Abzahlen von Schulden brauchen, oder um sich wenigstens mehr Zeit zu verschaffen."
"Aber wieso hat er dann nur eine verhältnismäßig so kleine Summe erpresst?" Woody rieb sich die Nase. Die Angst kehrte zurück und machte sich als Ziehen in seinem Magen bemerkbar.
"Bricks kennt das System. Er weiß, wie viel man von Behörden erpressen kann. Viel höher wäre man nicht mitgegangen."
"Und hätte Dr. Cavanaugh ihrem Schicksal überlassen?" Woody war entsetzt, doch Bricks beruhigte ihn.
"Nein, das sicher nicht. Es ist einfach wie eine ungeschriebene Regel. Bis hin zu einer viertel Million kann man bei einer solchen Entführung bekommen. Wenn sie höher gingen, würden das Police Departement jegliche Verhandlung abbrechen. Das nützt den Entführern dann gar nichts. Deshalb nehmen sie, was sie kriegen können."
Sie fuhren in östliche Richtung und bogen schließlich vom Freeway auf eine zweispurige Straße ab. Woody ließ sich die Sache durch den Kopf gehen.
"Und weshalb gehen die Behörden ausgerechnet bis zu dieser Summe mit?"
"Weil sie das Risiko wert ist", meinte Simmons trocken. "Die Entführer gehen davon aus, clever genug zu sein, und mit dem Geld zu entkommen. Die Polizei ist sich natürlich sicher, die Täter zu überführen. Sollte dies jedoch nicht klappen, kann man mit dem Verlust dieser Menge Geldes leben. Und bekommt das Entführungsopfer zurück."
Woody verstand.
Seine Aufmerksamkeit galt nun wieder dem Monitor. Nach einer viertel Stunde mussten sie in weitere Nebenstraßen abbiegen und fuhren nun in Richtung Hafen. Der grüne Punkt hatte bereits aufgehört, sich fortzubewegen.
Der Fahrer ihres Transporters lenkte den Wagen in weitgehend ungenutztes Gelände, auf dem sich alte Bootshäuser und Lagerhallen befanden.
Nachdem sie an zwei größeren Hallen vorbeigefahren waren, stoppte der Transporter. Simmons vergrößerte die Auflösung auf dem Monitor und nickte.
"Die kleinere Lagerhalle schräg vor uns", meinte er.
Woody nickte ebenfalls. "Also dann."
Simmons öffnete die Tür und stieg aus, dicht gefolgt von Woody. Hintern ihnen hatten bereits vier weitere Transporter angehalten, aus denen die schwarzgekleideten Männer des Sondereinsatzkommandos ausstiegen, lautlos und schnell. In weniger als einer Minute hatten sie das Gebäude umstellt.
Simmons und Woody begaben sich rasch zu einem Nebeneingang. Simmons verständigte sich mit ein paar von seinen Männern und schien auf etwas zu warten. Eine für Woody unendlich lang erscheinende Weile ertönte aus dem Funkgerät nur statisches Rauschen. Dann meldete sich jemand zu Wort und gab Simmons die Information, auf die er gewartet hatte. Einer seiner Männer brach die Tür auf, trat ein und sicherte den Gang, der sich hinter der Tür verbarg. Das Ganze geschah lautlos und wie in einem einzigen Atemzug. Simmons und Woody folgten ihm. Ein vierter Mann gab ihnen Deckung.
Woody sah sich um.
Die Halle wirkte von Innen wesentlich größer, als von Außen. Auf ihrer Seite war sie voll mit Kisten und Containern, die nur einen schmalen Gang zum Laufen ließen. Über ihnen zog sich ein Stahlgerüst entlang, auf dem Woody das Spezialteam wie Schatten entlang huschen sah.
Er folgte den beiden Männern vor sich, zwischen weiteren Kisten hindurch. Schließlich stoppten sie und er sah, wie der Schütze, der ihnen auch schon die Tür geöffnet hatte, ein Spezialglas herausnahm und damit um die Ecke sah.
Er bedeutete mit Handzeichen, dass sich in der Mitte der Halle zwei unbewaffnete Männer befanden. Simmons und er tauschten Plätze, und nach dem sich der Sergeant versichert hatte, dass es sich bei einem der beiden Männer um Bricks handelte, machte er ein zufriedenes Gesicht. Simmons warf Woody einen fragenden Blick zu und dieser nickte stumm. Er war bereit. Noch ein letztes Mal vergewisserte er sich, dass seine kugelsichere Weste saß, entsicherte seine Waffe, und dann traten er und Simmons hervor.
"Hände hoch!", rief Simmons. Beide zielten mit ihren Waffen auf die Männer, die in der Mitte einer großen, freien Fläche standen und das Geld mithilfe eines kleinen Automaten auf Echtheit überprüften und zählten. Sie schraken auf und waren bereit, die Flucht zu ergreifen. Doch plötzlich tauchten aus allen Winkeln und Gängen schwarzgekleidete Gestalten mit angelegten Waffen auf.
Völlig überrumpelt hoben die zwei Männer, von denen Woody einen anhand des Fotos, welches die Datenbank ihm gezeigt hatte, als Bricks identifizierte, ihre Hände in die Luft. Sofort waren Simmons Männer zur Stelle und legten ihnen Handschellen an.
"Durchsucht das Gebäude! Ich will, dass jeder Container untersucht wird!", bellte er durch die Halle.
Es war alles so schnell gegangen, dass Woody noch gar nicht glauben konnte, wie einfach das gewesen war. Er löste sich aus seiner Starre und trat vor Bricks.
Der Mann war Ende dreißig und hatte rötlich blondes Haar. Der Vollbart ließ ihn noch ungepflegter und brutaler erscheinen, als die gewaltige Körperstatur es sowieso schon tat.
"Wo ist sie?", fuhr er ihn an.
Bricks spuckte ihm vor die Füße, wofür er von den Männern, die ihn festhielten, einen Stoß mit dem Knie in den Rücken bekam.
"Dort hinten", murrte Bricks und deutete mit dem Kopf in die hintere Hälfte der Halle. Woody konnte nichts Besonderes erkennen.
"Wo genau?", wollte er wissen.
Als Bricks sich erneut weigerte, zu antworten, packte man ihn grob bei den Haaren.
"Ah... Verdammt, ihr Schweine!", keifte er. Dann funkelte er Woody böse an. "Da ist ein Keller. Die Schlampe ist da drin, wenn sie überhaupt noch lebt."
Das Ziehen in Woodys Magen wurde plötzlich zu einem Übelkeit erregenden Stechen. Wenn sie noch lebte?
Er bahnte sich rennend einen Weg durch die vielen Männer, die bereits dabei waren, die Container zu untersuchen und sich inzwischen Spürhunde aus den Transportern dazu geholt hatten. Wie er befürchtete, hatte man Jordan bereits vergessen. Wie er Simmons dafür hasste!
Am anderen Ende der Halle führte eine Treppe etwa zwei Meter nach unten. Sie endete an einer Stahltür. Gefüllt mit Angst, was ihn hinter dieser Tür erwarten würde, ging Woody Stufe für Stufe darauf zu und drückte schließlich die rostige Klinke nach unten. Licht durchflutete einen erstickend dunklen Raum.
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Sie hatte aufgehört, zu hoffen. Der Schmerz hatte sich über ihren ganzen Körper verteilt und schnürte ihr die Luft ab. Ihren Arm spürte sie nicht mehr.
Irgendwo in ihrem Hinterkopf nahm sie das Scharren wahr, und sie zog ihre Beine an. Jordan biss sich auf die Unterlippe. Sie war zu schwach, um sich noch einmal zu widersetzen. Ihre Entführer hatten gewonnen. Das sonst so blendende Licht nahm sie nur dumpf unter ihrer Augenbinde wahr.
"Oh Gott", meinte eine Stimme und dann fühlte sie eine Hand auf ihrem rechten Oberarm.
"Bitte...", wimmerte sie und presste die Lippen aufeinander. "Bitte nicht."
"Jordan", meinte die Stimme jetzt und ihr wurde die Augenbinde abgenommen.
Als er den Raum betreten und sie gesehen hatte, wie sie in der Ecke kauerte und zitterte, hatte Woody geglaubt, sein Herz würde stehen bleiben. Sie war übersäht mit blauen Flecken und Dreck. Der Gestank in dem kleinen Raum war so stechend, dass er kurz die Luft anhalten musste. Woody kniete sich zu ihr und berührte sie sanft, doch sie schien ihn nicht zu erkennen. Vorsichtig streifte er ihr den Fetzen, den man als Augenbinde verwendet hatte, von ihrem Gesicht. Eine Träne rann ihre Wange herunter.
"Hey", flüsterte er sanft. "Es ist alles okay. Es ist vorbei. Ich bin's, Woody..."
Jordans Augen brauchten eine Weile, bis sie sich an das Licht gewöhnten. Sie schluckte kurz. Das Bild war so verschwommen... Und dann erst drangen seine Worte zu ihr durch.
"Woody?", flüsterte sie heiser.
"Schh...", meinte er und strich ihr mit einer Hand das völlig zerzauste und verklebte Haar aus dem Gesicht. Eine Schürfwunde bedeckte ihre Wange. "Du bist in Sicherheit, es ist alles in Ordnung."
Jordan sah ihn an. Erst regte sie sich überhaupt nicht, und dann ließ sie sich schluchzend zur Seite kippen. Woody legte einen Arm um sie und wiegte sie beruhigend hin und her.
Sie lebte! Gott sei dank... Seine Gedanken überschlugen sich. Zögernd streichelte er ihren Rücken.
Jordan zuckte zusammen, als er ihre linke Schulter berührte. Und dann sah Woody die Wunde an ihrem Oberarm. Er sog tief die Luft ein.
"Um Himmels Willen, was..." Vorsichtig betastete er die Stelle, und Jordan gab einen erstickten Laut von sich. Dann löste er den Verband, der völlig blutdurchtränkt war. Zum Vorschein kam eine tiefe, entzündete Schnittwunde. Sie war verkurstet und eitrig. Woody war zwar kein Arzt, aber er wusste, dass Jordan bereits eine Blutvergiftung haben konnte.
Mit wenigen Handgriffen hatte er sie von den Handschellen und der Fußschlinge befreit. Behutsam hob er sie hoch. So schnell er konnte, stieg er die Treppen hinauf.
"Ich brauche sofort einen Krankenwagen!", rief er.
Simmons, der ganz in der Nähe stand und sich mit jemandem beriet, wandte sich ihm zu. Mit einem flüchtigen Blick musterte er Jordan.
"Ist bereits geschehen. Er steht draußen."
Woody nickte. Wenigstens das hatte er für sie getan.
Als er von der Halle ins Freie trat, kamen ihm Sanitäter entgegen. Sie brachten Jordan auf eine Trage und hoben sie in den Krankenwagen. Man hatte sie sofort an einen Tropf gehangen. Hier im Licht sahen die Verletzungen noch viel schlimmer aus. Jordan hielt Woodys Hand fest und wandte ihren Blick nicht von ihm ab. Sie war geschwächt und konnte ihre Augen kaum offen halten. Und doch hatte sie das Gefühl, wenn sie sie jetzt schließen würde, dann wäre alles nur ein schöner Traum gewesen, und sie würde aufwachen und sich in der Dunkelheit wieder finden.
Als Woody mit in den Krankenwagen steigen wollte, hielt ihn der Sanitäter zurück.
"Sind Sie ein Angehöriger?"
"Nein, aber ich..."
Der Sanitäter unterbrach ihn. "Tut mir Leid, aber nur Angehörige dürfen direkt mitfahren. Sie können uns gerne in ihrem Privatfahrzeug folgen." Er zuckte entschuldigend mit den Schultern und verschloss dann von Innen die Türen. Mit Blaulicht und Sirene begab sich der Krankenwagen auf den Weg ins nächste Hospital.
Woody nahm sich den nächsten Wagen, den er finden konnte, und folgte ihm.
Ende Teil 3
