Anmerkung: Eigentlich wusste ich schon ganz genau, wie das Ende aussehen sollte. Aber dann war ich mir nicht mehr ganz so sicher und zufrieden schon gar nicht. Während ich die ganze Entführungssache geschrieben habe, tauchten plötzlich so viele Fragen und Zusammenhänge auf, die ich unbedingt noch klären musste. Und dann haben mich zwei Jordy-Plotbunnys in meinen Kopf geschlichen, die ich unbedingt erst aufschreiben musste. Ich verspreche, dass meine nächste CJ-Fanfiction weniger düster und depressiv wird. Und weniger lang. Mal schaun ;-)
Drückende Dunkelheit
Teil 5
"Hey Dad." Mit einem Lächeln ließ sich Jordan auf einen Barhocker fallen.
"Jordan!" Ihr Vater machte ein überraschtes Gesicht. "Du wurdest schon entlassen?"
Sie kräuselte ihre Lippen zu einem Grinsen. "So ähnlich."
Max lachte. Dann nahm er sich ein Bier und wollte ihr auch eins geben, hielt jedoch inne.
"Warte", meinte er und förderte aus einem Kühlschrank unter dem Tresen eine Flasche Orangensaft ans Tageslicht. "Hier."
"Dad!" Jordan verleierte die Augen. Doch dann dachte sie an alles, was passiert war, und hielt ihren Kommentar zurück. Es war ja eigentlich wirklich lieb von ihm, sich solche Sorgen um sie zu machen. Widerspruchslos nahm sie ihr Glas Saft entgegen.
"Also." Max setzte sich zu ihr. Es war ruhig in der Bar, so früh am Tag. "Wie geht es dir?"
"Ganz gut. Ich bin schon wieder fast wie neu."
"Und wie fühlst du dich?"
Jordan seufzte. "Noch ein wenig angeschlagen. Man macht sich so seine Gedanken, wenn man so lange von der Zivilisation abgeschnitten ist."
Max sah sie mit einem besorgten Seitenblick an. "Wenn du im Moment nicht alleine wohnen willst... Du weißt, bei mir ist immer ein Zimmer für dich frei..."
Jordan schenkte ihrem Vater ein warmes, dankbares Lächeln. "Das ist echt lieb gemeint, Dad, aber ich komme schon klar."
Max nickte. Er nahm einen Schluck von seinem Bier. Dann nutze er den Moment des Schweigens, um seine Tochter genauer zu betrachten. Sie sah wirklich schon viel besser aus. Nicht mehr so blass und schwach. Die Ringe unter ihren Augen waren noch da.
"Hast du Alpträume?", wollte er wissen.
"Nein", log Jordan und vermied es, ihn anzusehen. Er sollte sich nicht zu viele Sorgen machen. Dann setzte sie ein Lächeln auf und wechselte das Thema. "Weißt du, ich bin aus einem bestimmten Grund hergekommen."
"Ach ja?"
Jordan nickte. "Ich hatte in den letzten Tagen viel Zeit, nachzudenken. Ich muss mich bei dir entschuldigen."
Auf Max' Gesicht trat ein Ausdruck der Überraschung.
Jordan strich sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr und fuhr dann fort. "Ich habe Dinge aus der Vergangenheit ausgegraben, die ich vielleicht lieber in Ruhe gelassen hätte. Ich habe noch so viele Fragen, wegen Mom und Summit View. Aber wenn du glaubst, es sei besser für mich, nicht alle Details zu kennen..." Sie machte eine kurze Pause und seufzte. "Dann muss ich das wohl akzeptieren. Ich meine..."
Erneut schien sie nach Worten zu suchen. "Ich möchte nicht meinen Vater verlieren, weil ich mich nicht von der Vergangenheit trennen kann."
Max war ihren Worten aufmerksam gefolgt und hatte keine Gefühlsregung gezeigt. Doch jetzt sah Jordan, dass seine Augen glasig wurden. Er blinzelte ein paar Mal und tätschelte ihr dann die Wange.
"Danke", war alles, was er sagen konnte. Und es war genug.
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Es war kurz nach elf Uhr, als Jordan sich entschied, schlafen zu gehen. Sie hatte ihren Verband gewechselt und ihre Haare in einen lockeren Pferdeschwanz gebunden. Sie mochte es nicht, früh mit einer unzähmbaren Mähne aufzuwachen.
Nacheinander löschte sie das Licht in ihrem Loft. Erst die Deckenbeleuchtung der Küche, dann die Stehlampe neben der Couch. Nun brannte nur noch ihre Nachttischlampe. Jordan kroch unter die Decke. Ihre Hand verweilte für eine Weile auf dem kleinen, schwarzen Schalter der Lampe. Sie zögerte. Immer wieder zuckte ihr Finger, doch sie schaffte es einfach nicht. Nach ein paar Minuten wurde ihr Arm schwer.
Seufzend schob sie die Decke zurück und zog sich wieder an.
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Irgendetwas stimmte nicht. Er hatte noch nicht so genau herausfinden können, was es war, aber... Genau. Da war ein Geräusch, das sich aufdringlich in seinem Kopf breit machte und ihn langsam aus seinem Tiefschlaf holte.
Benommen öffnete Woody seine Augen. Es dauerte eine Weile bis er begriff, dass ihn etwas geweckt hatte. Da war es wieder. Ein Klopfen an der Tür.
Mit einem unglücklichen Seufzen kroch Woody aus seinem Bett und wandelte schlaftrunken zur Tür.
"Verdammter Mist!" Er hatte sich den Fuß im Dunkeln an einer Schrankkante gerammt.
Noch immer seltsame Geräusche von sich gebend erreichte er schließlich den Lichtschalter. Wieso hatte er eigentlich nicht die Lampe neben seinem Bett angeschalten? Musste wohl die Nachwirkung des so plötzlich unterbrochenen Tiefschlafes sein.
Ungeduldig klopfte es erneut.
Woody öffnete schließlich die Tür. Vor ihm stand, von einem Bein auf das andere tretend, Jordan. Sie lächelte ihn um Verzeihung bittend an.
"Um Himmels Willen, hast du eine Ahnung, wie spät es ist?", knurrte Woody, klang jedoch weniger wütend, als er es vorgehabt hatte.
Jordan erwiderte erst nichts und ließ ihren Blick über seinen freien Oberkörper wandern. Damit hatte sie nicht gerechnet. Dann grinste sie. "Darf ich reinkommen?"
Woody trat beiseite und taumelte zurück in sein Schlafzimmer.
Jordan schloss die Tür hinter sich. Sie war noch nicht oft bei Woody gewesen, doch sie mochte seine Wohnung. Sie spiegelte Woodys Charakter wider. Unschlüssig blieb Jordan im Raum stehen. Als Woody zurück kam, hatte er sich ein T-Shirt übergezogen. Müde rieb er sich die Augen.
"Setz dich", murmelte er und verschwand kurz in der Küche, um ihr ein Glas Wasser zu holen. Dann setzte er sich zu ihr auf die Couch.
"Ist was passiert?"
Jordan schüttelte den Kopf. "Ich konnte nicht schlafen und habe einen Spaziergang gemacht. Tja, und irgendwie bin ich dann hier gelandet."
Erst jetzt war Woody wieder einigermaßen wach. Er blinzelte ein paar Mal, um ein klareres Bild zu bekommen. Jordan sah müde aus. Sie hatte ihre Haare unordentlich zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug wahllos zusammengewürfelte Kleidung. Eine ausgewaschene Jeans, ein cremefarbenes Trägeroberteil und darüber eine verblichene Jeansjacke. Sie nippte an ihren Glas und ihr Blick war irgendwo in die Ferne gerichtet.
Woody spürte, dass sie irgendetwas bedrückte. Doch er ließ ihr Zeit, ihre Gedanken zu ordnen. Wenn es nicht wichtig wäre, würde sie nicht mitten in der Nacht hier auftauchen.
Schließlich sah sie ihn an. "Tut mir Leid, dass ich dich geweckt habe."
Woody schüttelte den Kopf. "Schon okay."
"Ich hab's zu Hause einfach nicht mehr ausgehalten", gab sie schließlich zu. "Die Stille war unerträglich." Und die Dunkelheit, fügte sie in Gedanken hinzu.
"Das ist doch normal, nach allem, was du durchgemacht hast." Woody versuchte sich vorzustellen, wie es ihr wohl wirklich gehen mochte.
"Mmh. Vielleicht." Jordan nestelte mit ihren Fingern an einem Knopf ihrer Jacke. "Danke übrigens, dass du gestern-" Sie stockte.
"Da geblieben bist?", vollendete er ihren Satz. "Dazu sind Freunde doch da, oder?"
Freunde. Jordan lächelte matt. Waren sie wirklich nur Freunde? Vor ihrer Entführung hatte er bei jeder Gelegenheit mit ihr geflirtet, ihre Nähe gesucht. Aber jetzt... Jetzt schien er verunsichert zu sein. Er war darauf bedacht, ihr nicht zu nahe zu kommen, sie auf keinen Fall zu drängen. Jordan seufzte. Vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, und seine Zurückhaltung lag einfach daran, dass er sie wirklich nur als gute Freundin sah. Vielleicht war es keine so gute Idee gewesen, herzukommen, und es wäre besser wieder zu gehen.
"Wenn du möchtest", begann Woody plötzlich, als hätte er ihre Gedanken gelesen, "dann kannst du heute Nacht hier bleiben. Und wenn du die Stille nicht aushältst, dann reden wir einfach die ganze Nacht."
Jordan wusste nicht, womit sie das verdient hatte. Sie hatte ihn so oft auf Abstand gehalten, zurückgewiesen. Und er war trotzdem für sie da.
"Womit habe ich dich nur verdient", meinte sie leise.
Ein warmes, liebevolles Lächeln war seine Antwort.
Und sie redeten die ganze Nacht. Über Woodys Kindheit in Wisconsin und wie es dazu gekommen war, dass er Polizist werden wollte. Über die schwere Zeit nach dem Tod von Jordans Mutter und wie es sie in die Gerichtsmedizin verschlagen hatte. Nur über die Tage der Entführung sprachen sie nicht. Erst, als es draußen bereits hell wurde, entspannte sich Jordan. Und dann schlief sie ein, völlig erschöpft. Woody brachte ihr eine Decke und legte sie um ihre Schultern.
Er selbst musste zur Arbeit, obwohl er todmüde war. Doch er hatte genug Überstunden gesammelt um sich den Nachmittag frei zu nehmen.
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Als Jordan gegen Mittag nach Hause kam, fand sie neben der lästigen Werbung auch eine Vorladung vor Gericht in ihrer Post. In zwei Wochen sollte sie vor den Geschworenen ihre Aussage wiederholen. Wenn das Opfer in Person erschien, wirkte das immer zugunsten der Anklage.
Seufzend heftete sie das Schreiben mit einem Magneten an ihre Kühlschranktür. Man würde ihr vorher genau sagen, welche Fragen man ihr stellen wollte. Zum Glück hatte sie noch etwas Zeit bis dahin.
Morgen würde sie wieder auf Arbeit gehen. Die Ärzte hatten ihr zwar davon abgeraten, doch Jordan brauchte die Ablenkung. Das ewige Nichtstun gab ihr zu viel Zeit, die Geschehnisse immer und immer wieder zu durchleben. Die Arbeit würde ihr helfen, das Erlebte zu verdrängen.
Doch zuerst musste sie die bevorstehende Nacht durchstehen.
Sie ließ die Lampe neben ihrem Bett brennen. Ihr Schlaf war unruhig und von wirren Träumen durchzogen. Jedes noch so kleine Geräusch ließ sie aufschrecken, nur, damit sie dann wieder in einen schweren Schlaf fallen konnte. Am nächsten Morgen fühlte sie sich wie erschlagen.
In der Gerichtsmedizin begrüßte man sie mit freudiger Überraschung. Garret teilte ihr mehrfach mit, dass er es für zu früh hielt und sie sich lieber noch ein bisschen ausruhen sollte. Doch er schickte sie nicht nach Hause, sondern gab ihr stattdessen einfache Aufgaben. Jordan war ihm dankbar dafür.
Lily schaute in der Mittagspause bei ihr vorbei und erkundigte sich, ob sie ihr irgendwie helfen könne. Jordan bedankte sich und lehnte ab. Sie würde schon klarkommen.
Für ein paar Stunden war sie tatsächlich abgelenkt. Seit langer Zeit fühlte sie sich wieder nützlich und musste nicht ständig an das drückende Gefühl denken, welches sie jeden Abend beschlich. Selbst im Krankenhaus hatte sie nur mit Beleuchtung und dank starker Schlafmittel Ruhe gefunden.
Ihr erster Arbeitstag hatte sie mehr Kraft gekostet, als sie geglaubt hatte. Völlig erschöpft fiel Jordan am diesem Abend ins Bett. Und doch fand sie nicht den ersehnten, traumlosen Schlaf. Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. Die Traumbilder in ihrem Kopf schienen so real zu sein und plötzlich konnte sie den ekelerregenden Geruch ihres Gefängnisses wieder wahrnehmen. Jordan wusste nicht mehr, was Wirklichkeit war, und was nicht. Ihre Sinne schienen sich zu verschieben und alles schien auf einmal möglich. Die Angst wurde wieder lebendig.
Quälend langsam verstrich die Nacht und Jordan war erleichtert, als sie am nächsten Morgen auf Arbeit gehen konnte.
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"Hey, du arbeitest schon wieder?"
"Hallo Woody." Jordan war mit einem Stapel Akten auf dem Weg in ihr Büro. "Mehr oder weniger, ja."
Der Detective folgte ihr zu ihrem Arbeitsplatz.
Als sie den Stapel sinken ließ, machte sich ihr Arm schmerzhaft bemerkbar und sie verzog kurz das Gesicht.
Woody sah sie besorgt an. "Solltest du nicht lieber noch ein paar Tage zu Hause bleiben?"
"Da fällt mir die Decke auf den Kopf. Die Ablenkung hier tut mir ganz gut. Außerdem ist morgen Wochenende, da bekomme ich genug Ruhe."
Woody lachte. Er hatte sich Sorgen gemacht, nachdem sie vor zwei Tagen einfach so bei ihm vor der Tür gestanden hatte. Jetzt schien es ihr schon wieder besser zu gehen. Wenn der Verband an ihrem Oberarm nicht gewesen wäre, könnte man meinen, sie wäre wieder ganz die Alte. Und doch hatte er das Gefühl, das etwas nicht stimmte. Ihre Augen waren noch immer von dunklen Ringen umgeben und sahen kleiner aus, als sonst.
"Du solltest mal richtig ausschlafen", meinte er.
Jordan lächelte gequält. "Das ist gar nicht so einfach..."
"Alpträume?", vermutete Woody.
Sie nickte. "Ab und zu."
"Das wird schon wieder", meinte er aufmunternd.
Jordan lächelte. "Sicher."
"Hast du nicht Lust, heute Abend mit ins Pogue zu kommen?", wechselte Woody das Thema.
Jordan war froh über die Einladung. "Klar. Ich kann jede Abwechslung gebrauchen."
"Halb acht?"
Sie nickte. "Halb acht klingt gut."
"Also schön. Bis dann."
"Bis dann."
Jordan fühlte plötzlich ein Gefühl der Wärme in ihrem Magen. Und dann erinnerte sie sich an die Gedanken, die ihr während der Zeit in dem dunklen Keller gekommen waren. Vielleicht war heute Abend der richtige Zeitpunkt, um herauszufinden, ob es für sie beide noch eine gemeinsame Zukunft gab.
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Kurz vor halb acht erreichte sie die Bar ihres Vaters.
Woody wartete bereits auf sie - vor dem Eingang.
"Was machst du denn hier draußen?" Sie war überrascht. Es war nicht gerade warm um diese Jahreszeit.
Woody grinste nur geheimnisvoll. "Augen zu!"
Jordan zog eine Augenbraue nach oben. "Das ist nicht dein Ernst..."
"Doch", meinte Woody nur und stellte sich hinter sie. Dann hielt er ihr die Augen zu und führte sie ins Pogue.
"Woody, was soll denn-"
"Eins..."
Na toll. Er ignorierte sie einfach.
"Zwei..."
Jordan hielt die Luft an.
"Drei!"
Woody nahm ihr die Hände von den Augen.
"Überraschung!", riefen ihr mehrere Stimmen gleichzeitig zu.
Jordan lachte kurz auf. "Na, die ist euch gelungen!"
Ihr Vater und ihre Kollegen standen in der Mitte des Raumes, den sie mit "Willkommen Zurück"-Girlanden und Kerzen dekoriert hatten. Ein Kuchen thronte auf einem der Tische.
"Das ist ja besser, als Geburtstag zu haben." Jordan ließ sich von ihren Freunden umarmen.
"Tja, so einfach kommst du uns halt nicht davon", meinte Nigel.
"Ohne dich war es richtig langweilig in der Gerichtsmedizin", warf Bugs ein.
"Und Probleme mit der Staatsanwaltschaft hat es auch nicht gegeben", fügte Lily halb kichernd hinzu.
"Danke. Das ist echt lieb von euch..."
Jordan war gerührt. Von irgendwo her bekam sie ein Glas Sekt in die Hand gedrückt und dann stießen sie an.
"Auf deine Rückkehr!", schlug Garret vor.
Jordan lächelte. "Auf das Leben."
Etwas später hatten sich Grüppchen gebildet. Max saß mit Garret und Woody an der Bar; Nigel und Bug standen bei der Jukebox und ließen sich über die verschiedenen Titel aus. Nachdem sie sich eine Weile mit den beiden Spezialisten unterhalten hatte, setzte sich Jordan zu Lily an einen der hinteren Tische.
"Wir haben uns alle unheimliche Sorgen gemacht", meinte Lily nach einer Weile.
Jordan verschränkte die Arme auf dem Tisch. "Ich hab' schon gehört... Ohne eure Gemeinschaftsarbeit hätte man diesen Bricks nicht so schnell identifizieren könne."
"Aber einer hat sich ganz besonders ins Zeug gelegt..." Lily ließ ihren Blick zu Woody wandern, der gerade dabei war, Garret und Max irgendetwas zu erklären.
"Ach, das hätte er doch bei jedem anderen Fall auch getan", winkte Jordan ab.
"Er hat Nächte lang nicht geschlafen und ohne ihn hätte man dich wahrscheinlich erst Stunden später befreit", meinte Lily beharrlich.
Jordan zog ihre Stirn kraus.
Lily sah sie überrascht an. "Das hat er dir wohl gar nicht erzählt?"
"Was?"
"Diesem Simmons warst du völlig egal. Er wollte nur sicher gehen, dass Bricks festgenommen wird. Dein Wohl stand dabei an zweiter Stelle. Ohne Woody..." Sie ließ ihren Satz unbeendet.
Nein, das hatte er ihr wirklich nicht gesagt. Und plötzlich fühlte Jordan sich unwohl. Sie hatte die ganze Zeit nur an sich gedacht. Nicht einmal hatte sie Woody gefragt, wie es ihm während der ganzen Zeit ergangen war, was er durchgemacht hatte. Wie hätte sie sich wohl gefühlt, wenn er entführt worden wäre...? Sie wusste es nicht.
"Wie steht es eigentlich im Moment zwischen euch?", holte Lily sie aus ihren Gedanken zurück.
"Wie meinst du das?"
"Ach komm schon, Jordan." Lily lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. "Wie ihr zwei umeinander herum tanzt, das ist schon fast filmreif."
Jordan lachte. "Das bildest du dir ein. Wir sind nur-"
"Gute Freunde, ja, das sagt Woody auch immer - mit diesem seltsamen Unterton in der Stimme."
"Ihr Psychiater mit euren Weisheiten!", meinte Jordan und stand auf, ihre leere Bierflasche in der Hand. "Ich hole mir jetzt Nachschub."
Ein amüsiertes Kopfschütteln war Lilys Antwort.
Jordan ließ sich neben Garret an der Bar nieder.
"Hey Dad, hast du noch eins für mich?" Sie schob ihm die leere Bierflasche hin.
"Du", meinte ihr Vater und schob ihr eine Cola zu, "steigst jetzt wieder auf Alkoholfreies um."
"Was würde ich nur ohne dich machen..." Der Sarkasmus war kaum zu überhören.
Garret und Woody mussten grinsen.
Plötzlich legte sich von hinten schwungvoll eine Hand auf Jordans Schulter. Sie gehörte zu Nigel.
"Hör mal, Jordan, es tut mir wirklich Leid mich so früh schon aus dem Staub zu machen... Aber ich habe morgen noch ein paar liegengebliebene Analysen durchzuführen."
Jordan boxte ihm freundschaftlich in die Seite. "Schon gut. Ich will dir ja nicht deinen Schönheitsschlaf rauben."
Garret hatte aufgrund ihrer Worte auf die Uhr gesehen. "Um Himmels Willen, es ist ja schon fast um Zehn!"
"Was? Müssen Sie morgen auch arbeiten?"
"Nein, aber Abby zu ihrem SAT Test fahren. Sie bringt mich um, wenn ich nicht pünktlich bin..." Er zuckte entschuldigend mit den Schultern.
"Also schön, ihr zwei. Wir sehen uns Montag im Institut..."
Garret nickte und griff nach seinem Mantel. Nigel warf sich seine Jacke über die Schultern.
"Macht's gut", meinte Max.
"Man sieht sich", erwiderte Nigel und verließ mit Garret die Bar.
Jordan wandte ihrem Blick von der Tür wieder ihrer Cola zu und nippte kurz daran.
"Hör mal, Kleines...", begann ihr Vater.
Jordan sah zu ihm auf. "Sag nicht, du verschwindest auch schon!"
Max lächelte verlegen. "Ich habe die letzten Tage Überstunden gemacht, weil die Bar gut besucht war und die Gäste wirklich gebrauchen konnte... Es wäre wirklich gut, wenn ich heute vor Mitternacht ins Bett komme."
"Na dann", seufzte Jordan. "Lass die Schlüssel hier. Ich schließe dann später ab."
"Danke." Max gab seiner Tochter einen Kuss auf die Wange und verabschiedete sich. "Und pass mir auf, dass sie nicht zu viel trinkt", meinte er an Woody gewandt.
"Sicher", lachte dieser. "Gute Nacht, Max."
Als Max gegangen war, drehte er sich zu Jordan um. Sie hob nahm ihr Glas und rutschte auf den Hocker neben ihm.
"Ich fühle mich so gut, wie lange nicht mehr", gab sie zu.
"Das freut mich." Woody nahm einen Schluck von seinem Bier. "Was macht der Arm?"
Jordan zuckte gleichgültig mit den Schultern. "Wird besser."
Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Bar und beobachtete Lily, die sich jetzt mit Bug unterhielt.
"Sie sehen irgendwie süß aus, zusammen."
Woody folgte ihrem Blick. Dann grinste er. "Stimmt."
Eine Weile sahen sie dabei zu, wie sich die Beiden unterhielten und ab und zu leise lachten. Jordan musste über Lilys Worte nachdenken. Ohne Woody würde sie vielleicht nicht mehr leben.
"Danke", meinte sie schließlich leise.
Woody sah sie von der Seite an. "Wofür?"
"Lily hat mir gesagt, was du alles getan hast, um mich da raus zu holen."
"Oh, das." Er schien kurz nach Worten zu suchen. "Keine Ursache."
Jordan lachte. "Das ist mal wieder typisch Woody. Ich verdanke dir mein Leben, und alles, was du zu sagen hast, ist 'Keine Ursache'..."
"War ja nicht das erste Mal, oder?", warf er mit einem breiten Grinsen ein und ließ seinen Blick wieder durch den Raum wandern. Jordan wandte ihren Blick nicht von ihm ab. Eine Weile beobachtete sie ihn, wie er, noch immer grinsend, an seinem Bier nippte.
"Weißt du, was ich gedacht habe, als ich dort unten war und die Hoffnung verloren hatte, je wieder Tageslicht zu sehen?" Ihre Stimme war leiser als vorher.
"Nein." Er sah sie interessiert an.
"Ich dachte, dass ich zu gerne noch einmal dein typisches Kewaunee-Grinsen sehen würde."
Woody musste kurz lachen.
Jordan sah ihn nicht an und sprach leise weiter. "Und dass ich dir vielleicht doch eine Chance hätte geben sollen, mir näher zu kommen, als ich die Möglichkeit dazu hatte."
Ohne seine Antwort abzuwarten, wandte sie sich von ihm ab und ging quer durch den Raum, wo Lily und Bug gerade aufstanden.
"Hey Jordan." Lily lächelte. "Ist schon ganz schön spät geworden..."
Jordan nickte. "Schön, dass du da warst." Dann zwinkerte sie ihr zu. "Unser Gespräch führen wir mal in der Mittagspause fort."
Lily nickte schmunzelnd. Bug reichte ihr ihren Mantel und half ihr beim Anziehen. Dann griff er nach seiner Jacke.
"Ich bring dich noch nach Hause."
"Danke. Also dann, mach's gut Jordan."
"Ja, bis dann." Jordan hob kurz die Hand.
Lily und Bug gingen vorbei an Woody. Bug klopfte ihm auf die Schulter.
"Gute Nacht, Woodrow."
"Nacht, Bug. Kommt gut nach Hause."
Lily nickte. "Gute Nacht, ihr zwei."
Eine Schwall kalte Luft kam ihnen entgegen, als sie die Bar verließen. Woody sah ihnen für einen Augenblick nach. Jetzt waren auch die letzten gegangen. Er ließ sich Zeit damit, sein Bier zu leeren.
Langsam ließ er seinen Blick durch den Raum wandern und lächelte, als er sie sah.
Jordan war dabei, die leeren Flaschen von den Tischen zu räumen. Ihre Blicke trafen sich kurz und sie erwiderte sein Lächeln. Woody bekam eine Gänsehaut.
Jordan stellte die Flaschen hinter den Tresen, um sich dann einen Lappen zu nehmen und über die Tische zu wischen. Als sie fertig war, wandte sie sich der großen Jukebox im hinteren Teil der Bar zu. Woody beobachtete sie eine Weile dabei. Dann stellte er seine leere Flasche zu den anderen.
Mit wenigen Schritten hatte er den Raum durchquert.
Sie stand an der Jukebox und suchte nach ihrem Lieblingslied. Als sie es gefunden hatte, gab sie die zweistellige Nummer ein und wartete ab. Zwei Arme schlossen sich von hinten um sie und Jordan musste lächeln. Woody legte ihr sein Kinn auf die Schulter.
Jordan ließ ihre Finger über seine Oberarme gleiten und sie wiegten sich im Takt der Musik sanft hin und her. Sie genossen den Moment und waren völlig entspannt. Jordan schloss ihre Augen.
"Woody?"
"Hm?"
"Was empfindet du wirklich für mich?"
Er zögerte. "Das weißt du."
"Sag es mir... Bitte." Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
Warum musste sie ihn so quälen? Woody fühlte sich schutzlos und verletzbar.
"Ich liebe dich", meinte er schließlich leise. Jordan erwiderte eine Weile nichts. Sie hatte sich entschieden, und doch fiel es ihr schwer, die Angst davor, verletzt zu werden, einfach so abzulegen. Sie lächelte. Dann drehte sie sich zu ihm um und hauchte ihm einen federleichten Kuss auf die Lippen. Woody zog sie näher an sich heran und erwiderte den Kuss. Für einen Moment schien die Zeit still zu stehen. Jordan legte ihm ihre Arme um den Hals.
Als sie sich voneinander lösten, vergrub sie ihr Gesicht an seiner Schulter. Sie fühlte sich so geborgen, wie schon lange nicht mehr. Ganz langsam tanzten sie weiter, schienen sich in der Bewegung des anderen zu verlieren.
Woody wusste nicht, was er denken sollte. Jordan wirkte so zerbrechlich in seinen Armen und er hatte Angst, sie zu verletzen. Unbewusst spannten sich seine Muskeln an.
Jordan wich ein Stück zurück und sah ihm direkt in die Augen. "Was ist?"
Woody machte ein gequältes Gesicht.
"Das hier ist..." Er seufzte. "Ich habe Angst, etwas zu sagen oder zu tun, und das hier kaputt zu machen."
Jordan zog ihn wieder zu sich heran und kuschelte sich an ihn. "Dann halt mich einfach fest und sag gar nichts."
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Jordan wusste nicht, wie sie später zu ihr nach Hause gekommen waren.
Leise lachend schloss sie die Tür auf und sie stolperten in ihre Wohnung. Woody schob sie sanft von innen gegen die Tür. Jordan genoss es, seine warmen Lippen auf ihren zu spüren. Woody fuhr ihr mit einer Hand über den Rücken und zog sie zu sich. Ihr Kuss wurde immer leidenschaftlicher. Ohne von einander abzulassen taumelten sie rückwärts Richtung Schlafzimmer. Die Schuhe hatten sie bereits bei der Tür abgelegt, und nach und nach ließen sie eine verräterische Spur Kleidungsstücke zurück, bis sie schließlich in Jordans Bett landeten.
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Ein Geräusch ließ Jordan hochschrecken. Sie öffnete orientierungslos ihre Augen um etwas zu erkennen, doch es war dunkel um sie herum.
Ein leises Scharren drängte sich in ihr Bewusstsein. Metallisch. Aufdringlich.
Bilder zogen durch ihren Kopf. Erinnerungen an diese brutalen Hände, das höhnische Lachen und die erniedrigenden Tritte, die man ihr verpasst hatte.
Ohne darüber nachzudenken glitt Jordan aus dem Bett und kauerte sich reflexartig in der Ecke neben der kalten Wand zusammen, die Arme um die Knie geschlungen. Sie war schweißgebadet vor Angst. Da war es wieder. Dieses ihr nur allzu vertraute Scharren. Und dann war da dieses blendende Licht, als ob es sie verbrennen wollte. Eine schwarze Silhouette tauchte in dem gleißenden Licht auf. Von panischer Angst erfüllt vergrub Jordan ihren Kopf in den Knien und krallte sich an ihren Oberarmen fest.
"Jordan?"
Er sollte nur nicht näher kommen... Vielleicht, wenn sie nur fest genug daran glaubte, würde sie gleich aus diesem Alptraum aufwachen.
"Jordan!" Eine Hand griff nach ihr. Mit einem Aufschrei zuckte sie zurück. Dann griffen zwei starke, warme Hände nach ihr und schüttelten sie, zwangen sie, ihr Gegenüber anzusehen.
"Komm zu dir! Ich bin's doch nur..."
Als Jordan ihn erkannte, sah sie völlig überrascht und verwirrt aus. "Woody...?"
Und dann erst kam die Erinnerung an die letzte Nacht zurück.
"Ich... ich dachte, du..." All die angestaute Angst und die Gefühle der letzten Wochen brachen plötzlich über ihr zusammen. Sie begann zu zittern und Woody zog sie zu sich. Schluchzend und von Weinkrämpfen geschüttelt krallte sie sich an seinem T-Shirt fest.
"Schh...", murmelte Woody und strich ihr zärtlich über die Haare. Wie ein kleines Kind wog er sie sanft hin und her. Für einen Moment war es ihm, als wären sie wieder in diesem dunklen Keller und er hätte sie eben erst gefunden.
Als sich das Schluchzen nach einer unendlich langen Weile legte, hob Woody vorsichtig ihren Kopf an.
"Hey", flüsterte er. "Was ist denn passiert?"
"Ich weiß es nicht", wisperte sie verwirrt. "Es war so dunkel, und dann war da wieder dieses Geräusch, und das Licht..." Sie sprach immer schneller.
"Ganz ruhig", bremste Woody sie. "Ich war bloß im Bad gewesen. Mehr nicht..."
Jordan sah ihn an und brauchte einen Moment, ehe sie seine Worte begriffen hatte. Er hatte das Scharren verursacht, und das Licht. Sonst nichts.
Und dann begriff auch Woody. Die Ringe unter ihren Augen, ihre nächtlichen Besuche, der dringende Wunsch, wieder zu arbeiten, und jetzt das... Sie hatte ein Trauma. Sie hatte panische Angst vor der Dunkelheit - und sie hatte es vor ihnen allen verborgen.
"Oh Gott, Jordan...", murmelte er. "Wieso hast du denn nichts gesagt...?"
Jordan lehnte sich an seine Schulter.
"Ich habe gedacht, ich schaffe das auch alleine." Erneut liefen ihr Tränen über die Wange.
Woody konnte sie verstehen. Wie sehr musste es ihr Selbstbewusstsein verletzt haben? Diese zwei Männer hatten sie gebrochen, sie, die sonst so starke Jordan. Hatten sie erniedrigt, gedemütigt und fast zu Tode gequält.
"Das erwartete doch keiner von dir..." Woody suchte nach den richtigen Worten. "Vielleicht hilft es dir, wenn du einfach über all das redest, was man dir angetan hat."
"Das habe ich doch schon alles Simmons erzählt." In ihrer Stimme schwang Resignation mit.
Und dann verstand Woody die volle Tragweite der Situation. Er hatte Simmons Aufzeichnung gelesen. Der Sergeant hatte Jordan hauptsächlich über die Täter ausgefragt - ob sie sie wiedererkennen würde und ob sie Gespräche belauscht hätte. Und nur nebenbei nach dem, was man ihr angetan hatte. Und das hatte Jordan die letzten Tage unausgesprochen mit sich herumgeschleppt. Niemand hatte sich wirklich dafür interessiert, weil alle sie für stark genug hielten.
"Es tut mir so Leid, dass ich nicht da war, um deine Aussage zu protokollieren. Simmons war mir zuvorgekommen. Er hatte von Anfang an nur an die Festnahme gedacht", erklärte Woody ihr. Er könnte sich ohrfeigen. Wieso hatte er ihre Fassade nicht durchschaut? Schon als sie mitten in der Nacht bei ihm aufgetaucht war, hätte er etwas ahnen müssen.
"Es war doch nicht deine Schuld." Jordan griff nach seiner Hand. Sie war völlig erschöpft.
Woody strich ihr eine wirre Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Das nicht. Aber ich wünschte, ich hätte dich eher darum gebeten mir zu erzählen, was denn eigentlich passiert ist. Ich wollte dich nur nicht drängen..."
Jordan schüttelte ihren Kopf. "Selbst wenn du gefragt hättest... Ich wollte dich nicht auch noch damit belasten. Du hast schon viel zu viel für mich getan."
"Nur weil ich aus Wisconsin komme, heißt das nicht, dass ich naiv bin, Jordan."
Jordan seufzte. "Ich weiß."
"Also komm." Er stand auf und zog hielt ihr eine Hand hin. "Erzähl es mir. Du kannst dir Zeit lassen. Aber wenn du diese Angst jemals überwinden willst, dann musst du darüber reden."
Jordan griff nach seiner Hand und ließ sich auf die Beine ziehen. Gemeinsam gingen sie zurück ins Bett. Jordan kuschelte sich an ihn und dann begann sie, zu erzählen.
Ab und zu rollten ihr Tränen über das Gesicht, die Woody ihr sanft wegstrich. Manchmal, wenn die Erinnerung sie einholte, streichelte er ihr über den Rücken und bewahrte sie davor, sich darin zu verlieren. Es tat ihr gut, endlich über all das zu sprechen, was passiert war.
Irgendwann im Morgengrauen wurden ihre Worte weniger, bis sie schließlich verstummte. Sie fühlte sich leer. Und das erste Mal wurde sie sich dessen bewusst, dass man ihr dort in der Dunkelheit etwas genommen hatte. Ihre Stärke, ihre Kraft. Und die musste sie erst wieder finden.
Eingehüllt in die Wärme und Zuneigung von Woodys Armen schlief sie schließlich ein. Sie spürte, dass er das Loch in ihrer Seele wieder füllen würde. Nach und nach. Mit viel Geduld.
Und Liebe.
Ende