Etwa eine Stunde später hatten sie es schließlich geschafft, die Blutung zu stillen. Boromir ließ sich auf der Bettkante an der Seite seiner Frau nieder und nahm Laiethas Hand – sie war schrecklich kalt. Ihre Blicke trafen sich. Boromir strich ihr sanft über die Wange. „Ruh dich etwas aus, Laietha," murmelte er leise.
Aragorn hatte sich die Hände gewaschen. Er selbst sah müde und erschöpft aus – was auch wenig verwunderlich war, denn schließlich hatte er gerade verbissen um das Leben seiner Ziehschwester kämpfen müssen. Plötzlich flog die Tür auf und Mornuan eilte mit einem besorgten Ausdruck im Gesicht ins Zimmer. „Ich habe erfahren, dass du hier bist, mein Geliebter! Was für Sorgen ich mir gemacht habe! Geht es dir gut? Was ist denn passiert?"
Aragorn schloss sie fest in den Arm. „Sei unbesorgt, Liebes. Ich bin nicht verletzt," flüsterte Aragorn beruhigend. Seine Verlobte entspannte sich nun und Boromir war zu sehr mit seiner Frau beschäftigt, um Mornuan einen entsprechenden Kommentar an den Kopf zu werfen. Mornuan trat zu Laietha ans Bett und lächelte sie mitfühlend an. „Oh, liebste Schwester!" rief sie sorgenvoll. „Ich hoffe, es geht dir wieder besser! Lass mich doch mal einen Blick darauf werfen!"
Sie schob die Bettdecke zurück und berührte Laiethas Brust. Die Kriegerin stöhnte gepeinigt auf. Mornuan schrak zurück und schlug die Hände vors Gesicht. „Ich bin so schrecklich ungeschickt! Verzeih mir!" schluchzte sie verzweifelt. Aragorn redete auf sie ein, um sie zu beruhigen, aber seine Verlobte war über ihr Missgeschick untröstlich. Boromir stand auf und schob die beiden sanft zur Tür hinaus. „Laietha braucht jetzt Ruhe. Bitte geht und lasst sie ein wenig schlafen!"
Aragorn und seine Geliebte zogen ohne Protest von dannen. Boromir ging zu seiner Frau zurück ans Bett. Laietha stand der Schweiß auf der Stirn und sie atmete schwer. Ihr Mann lächelte sie aufmunternd an und kühlte ihr das Gesicht. „Was machst du nur für Sachen, Liebes?" fragte er und schüttelte den Kopf. Auch Laietha brachte ein gequältes Lächeln zu Stande.
„Tja, Liebster, ich kann dein ewiges Schnarchen nicht mehr ertragen und habe mich nach einem Einzelzimmer gesehnt – also bin ich hier." Er presste seine Lippen gegen ihren Scheitel.
Lange hatte er neben ihr gesessen und ihre Hand gehalten. Endlich war Laietha eingeschlafen. Sie sah wirklich schrecklich erschöpft aus. Boromir hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen und mit einem letzten Blick auf seine schlafende Frau verließ er den Raum.
Auf dem Gang rannte ihn Elladan fast um. „Wo ist sie? Wie geht es ihr?"
Boromir legte seine Hand beruhigend auf die Schulter des Elben. Elladan schnappte nach Luft. Er war den ganzen Tag über bei den Pferden gewesen und hatte erst vor wenigen Minuten erfahren, dass es seiner Ziehschwester nicht gut ging. Er war sofort gekommen, als er es gehört hatte. „Sie schläft," antwortete Boromir und schob seinen Schwager langsam aber bestimmt in Richtung Ausgang. Der Elb schüttelte den Kopf. „Was ist denn nur passiert? Vorhin ging es ihr doch noch blendend!"
Darauf wusste auch der Gondorianer keine Antwort. Hilflos zuckte er mit den Schultern. „Wenn ich es nur wüsste...plötzlich ist sie zusammengebrochen und ihr Hemd war blutverschmiert. Bei den Valar – so etwas habe ich noch nie gesehen! Es schien fast, als presste jemand das Leben aus ihr wie Saft aus einer reifen Frucht!" Bei der Erinnerung schüttelte es ihn.
Schweigend machten sie sich auf den Rückweg zum Palast. Ein wenig zögerlich, ergriff Elladan schließlich wieder das Wort. „Ich kann dir nicht sagen warum, vielleicht ist es nur so ein Gefühl, aber ich glaube, wir sollten sie nicht alleine lassen." Boromir nickte lächelnd. Genau das dachte er auch. Etwas war hier seltsam, er wusste nur noch nicht was. „Ich werde nachher mit Aragorn darüber sprechen."
„Sieh mal, Herr Frodo, was wir hier haben!" rief Sam erfreut und schwenkte einen Brief in seiner Hand. Er lief schnellen Schrittes zu seinem Freund, der sich gerade mit Sams jüngsten Kind im Garten beschäftigte. Das Kleine konnte vom vielen Umhertollen gar nicht genug bekommen und wieder musste Frodo wie ein schrecklicher Drache fauchen, damit das jüngste Mitglied der Gamschiefamilie quietschend davon stürmen konnte. Frodo klopfte sich lachend das Gras von der Hose und trat an die Seite seines Freundes.
„Was für Nachrichten bringst du, Herr Bürgermeister?" neckte ihn er ihn, denn wie sonst auch errötete Sam verlegen. Er erfüllte seine Aufgabe meisterhaft, aber seine Bescheidenheit hatte er nie ablegen können. Er reichte seinem Freund den Brief, froh, damit vom Thema ablenken zu können. Sofort erkannte Frodo, dass der Brief von Aragorn kam und neugierig überflog er die Zeilen. Er keuchte überrascht.
„Hey, Frodo, Sam!" Die zwei Hobbits sahen auf und erblickten Merry und Pippin, die am Zaun standen und wie verrückt winkten. „Habt ihr schon von Aragorn gehört?" wollte Merry wissen. „Er wird in einem Monat heiraten!" rief Pippin. Aufgeregt stürmten sie in den Garten.
Bald schon waren sie alle in eine angeregte Diskussion über das bevorstehende Ereignis vertieft. Das waren nun wirklich wunderbare Neuigkeiten und sie konnten sich noch sehr gut an die herrliche Hochzeit von Boromir und Laietha erinnern. „Um keinen Preis der Welt würde ich mir eine königliche Hochzeit entgehen lassen! Alleine, wenn ich an das gute Essen denke..." Merry strich sich gedankenversonnen über den Bauch, der schon bei dem Gedanken an die köstlichen Speisen zu knurren begann.
Rosie war in den Garten gekommen und hängte die Wäsche auf, die sie gewaschen hatte. Freudig begrüßte sie den Besuch, ließ die Wäsche Wäsche sein und eilte ins Haus, um den Gästen ein paar Erfrischungen anzubieten. Merry und Pippin waren gleich mit Sack und Pack angereist und da es schon später Nachmittag war, beschlossen sie am nächsten Morgen aufzubrechen.
Rosie hatte sich sogleich ans Werk gemacht und ihren Freunden ein Gästezimmer bereit gemacht. Merry und Pippin nahmen ein ausgiebiges Bad, während Sam in der Küche mit Töpfen und Pfannen hantierte. Bald roch es im ganzen Haus himmlisch nach Essen.
Lange ließ sich niemand bitten, als das Abendessen aufgetragen wurde. Sie schmausten nach Herzenslust und als Rosie schließlich die Kinder zu Bett brachte, setzten sich die Männer ins Wohnzimmer und ließen sich ihr Pfeifchen schmecken.
„Was könnten wir nur als Geschenk mitnehmen," grübelte Pippin laut vor sich hin, an einem Stückchen Käse herumknabbernd. Merry sog gedankenverloren an seiner Pfeife und Frodo kratze sich nachdenklich am Kopf. Sie hatten sich schon beim Abendessen ihre Gedanken gemacht, aber keinem von ihnen war etwas brauchbares eingefallen. Der König von Gondor hatte doch schon alles. Lange saßen sie beieinander. Das Feuer im Kamin war schon heruntergebrannt und Rosie hatte sich zu Bett begeben. Auch die anderen standen kurz davor, die Segel zu streichen.
„Wir sollten ihnen die Samen eines Baumes schenken. Eine Ehe ist wie ein Baum – sie wächst mit der Zeit und wenn man sie pflegt, trägt sie die köstlichsten Früchte," murmelte Sam tief in Gedanken. Mit einem Grinsen von einem Ohr zum anderen sprang Frodo auf. „Das ist einfach brillant!" rief er aus und Sam fuhr erschreckt zusammen, aber sein Freund lächelte ihn wissend an. „Mein lieber Sam, du bist nun schon seit so vielen Jahren Bürgermeister von Hobbingen, aber in deinem Herzen wirst du immer ein Gärtner bleiben!" Alles schwieg eine Sekunde lang. „Mach dir keine Sorgen, Sam, ich glaube, das war ein Kompliment!" rief Pippin beruhigend.
Jetzt, da sie eine Idee für das Hochzeitsgeschenk hatten, konnten sie den Rest des Abends in vollen Zügen genießen. Sie schwatzten fröhlich und aufgeregt durcheinander und nach einem letzten Mitternachtsimbiss begaben sich alle zu Bett.
Rosie kuschelte sich an ihren Mann. Er berichtete ihr von dem Geschenk für Aragorn und sie lächelte verschmitzt. Etwas anderes hatte sie von ihrem Sam auch nicht erwartet. „Das war eine wundervolle Idee, mein Liebling. Aber was habt ihr für seine Frau?" Sam zuckte mit den Schultern. Selbst für Streicher, den sie nun schon so lange kannten, war es schwer gewesen, ein Geschenk zu finden, aber seine Braut kannten sie gar nicht...
„Darüber hab ich noch gar nicht nachgedacht," brummelte Sam. Rosie überlegte einen Moment lang. „Ich hab's!" schmunzelte sie plötzlich. „Wie wäre es mit diesen Blumen, die ihre Blütenblätter schließen, um ihre Samen zu schützen? Du weißt schon, Sam – die wir auch als Rasseln für unsere Kinder benutzen!" Sam schenkte ihr ein strahlendes Lächeln und küsste sie liebevoll auf die Stirn. „Du bist so klug, Rosie! Warum bin ich nur nicht darauf gekommen? Das ist wirklich reizend!" Seine Frau errötete. „Nun, ich habe viel von dir gelernt, mein lieber Sam."
Nach einem ausgiebigen Frühstück und gut gelaunt, machten sich die vier Hobbits auf den Weg. Die Reise nach Gondor war lang, aber sie würden es schon schaffen. Sam war ein wenig schwer ums Herz geworden, als er seine Familie verlassen hatte, aber zwei seiner Kinder waren einfach noch zu klein für eine so lange Reise und seine Freunde hatten ihn beim besten Willen nicht zurücklassen wollen. Rosie und die Kinder hatten ihnen noch lange nachgewinkt.
Fröhlich stimmten Merry und Pippin nun ein paar Lieder an, um sich die Zeit zu vertreiben und bald stimmten auch Frodo und Sam mit ein. So ritten sie des Weges und nicht wenige drehten sich nach ihnen um. Einige schüttelten den Kopf über den Neffen des verrückten alten Beutlin, von dem im Auenland noch oft gesprochen wurde. Schließlich hatte sich der alte Knabe auf einem geflügelten Drachen reitend aus dem Staub gemacht und hatte dabei noch dem Haus der Sackheim Beutlins die Wetterfahne vom Dach stibitzt – zumindest erzählte man sich so die Geschichte von Bilbos Verschwinden.
„Wie glaubt ihr denn, wird seine Braut aussehen?" wollte Merry wissen und kaute an einem Apfel. Sam war natürlich sofort davon überzeugt, dass Aragorn eine wunderschöne, gütige Elbin zu seiner Frau machen würde. Seine Augen leuchteten bei dem Gedanken daran, dass er vielleicht ein paar Elben auf dem Fest bestaunen können würde. Frodo lachte laut. „Das ist mal wieder typisch für dich, Sam!"
Pippin war ganz und gar nicht Sams Meinung. Natürlich würde Aragorn sich eine Frau aus seinem eigenen Volk gewählt haben – eine Fürstin Gondors, vielleicht aus Dol Amroth –Pippin kannte sich langsam wirklich gut mit den Stadtstaaten Gondors aus.
„Also ich bin mir ganz sicher, dass er sich eine Schildmaid Rohans geangelt hat. Er kommt doch auch ganz prima mit Frau Eowyn aus," verkündete Merry voller Inbrunst. Frodo grinste vor sich hin. „Und was glaubst du, Herr Frodo?" fragte Sam nachdem sie eine Weile diskutiert hatten. Merry hatte sogar eine kleine Wette mit Pippin abgeschlossen. Frodo zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, aber ich kann kaum noch erwarten, es herauszufinden! Also lasst uns nicht trödeln, Freunde!"
Aragorn war fest davon überzeugt, dass seine Schwester völlig in Sicherheit war, aber auf das Drängen seines Schwagers hin hatte er nun doch zwei Wachen vor ihrem Krankenzimmer postieren lassen. Boromir war mit dieser Lösung sehr zufrieden gewesen. Er hatte noch einmal kurz nach seiner Frau gesehen, aber Laietha schlief tief und fest. Inzwischen hatte er beschlossen, da sein Sohn nicht aufzufinden war, den Abend bei seinem Bruder zu verbringen.
Boromir hatte sich zuvor zum Badehaus begeben, ausgiebig gebadet und sich Bart und Haare stutzen lassen. Er hatte frische Kleidung angezogen und sich ein letztes Mal nach dem Wohlbefinden seiner Frau erkundigt. Nun befand er sich auf dem Weg zu Faramir und Eowyn.
Unweit des Palastes lief ihm einer der Köche über den Weg, der seinen unglücklich dreinblickenden Sohn am Ohrläppchen zum Palast zerrte. Boromir erstarrte zu einer Salzsäule. „Was ist hier los?" fragte er argwöhnisch. In welchen Schlamassel hatte sein Sohn sich nun schon wieder gebracht? Der Koch verharrte in seinem Schritt und starrte düster vor sich hin. Als Aiglos seinen Vater erblickte, stieß er einen unglücklichen Schrei aus. Boromir verdrehte die Augen.
„Du liebe Güte – was ist es denn nun schon wieder, Aiglos?" seufzte Boromir genervt. Der Koch nahm dem Jungen das Antworten ab. „Dieser Lausebengel fand es unheimlich komisch, Zucker ins Essen zu schütten. Ich muss das komplette Menü ändern! Die Arbeit eines ganzen Tages ist umsonst! Und das, wo der König gerade in letzter Zeit ohnehin sehr launisch ist. Wir werden alle unseren Posten verlieren, wenn das Essen ihn nicht zufrieden stellt!" Boromir ließ die Schultern hängen und seufzte resigniert.
Dann straffte er sich wieder, sah seinem Sohn fest in die Augen und hub mit strenger Stimme zu sprechen an: „Du weißt, dass du dafür bestraft werden musst, nicht wahr, Sohn?" Der Junge begann sich unbehaglich zu winden. „Ja, Vater." Jegliche Diskussion würde sowieso vergeblich sein. Boromir verzog das Gesicht und begann seine altvertraute Litanei herunterzuleiern.
„Du musst lernen, die Arbeit eines Koches zu schätzen." Bedauernd sah er den Koch an. Dann hob der Gondorianer die Augenbraue. Er kannte diesen Koch irgendwoher. Hatte er nicht lange Jahre bei Elrond gedient? Er biss sich auf die Unterlippe, ließ den Koch aber nicht bemerken, dass er ihn erkannt hatte. „Es tut mir leid, dass mein Sohn euch solche Scherereien gemacht hat," fuhr er statt dessen fort. „Als Bestrafung würde ich ihn gerne heute in eure Obhut übergeben. Würde euch diese Strafe genüge tun?"
Der Koch nickte. „Das ist ein gutes Angebot, mein Herr. Dank diesem dummen Streich werden wir noch genug zu tun haben und können jede helfende Hand gut gebrauchen." Er verbeugte sich und packte den Jungen am Arm. Boromir schaffte es gerade noch, seinem Sohn etwas ins Ohr zu flüstern, an das er sich im letzten Moment erinnert hatte. „Pass bloß auf, dass du dich nicht beim Ausruhen erwischen lässt. Wenn du einen Fehler machst, wird er die eins mit seinem Holzlöffel überziehen."
Der Junge wunderte sich zwar, woher sein Vater so etwas wissen sollte...konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen und beschloss, den Kochlöffel des Kochs ein wenig im Auge zu behalten. Vielleicht sollte er seinen Vater mal nach einer näheren Erklärung fragen...
Als Aiglos und der Koch fort waren, kamen Boromir noch einmal die Worte des Koches in den Sinn. Was hatte er gesagt? Er befürchtete tatsächlich, dass Aragorn ihn wegen eines nicht perfekten Essens entlassen musste? Das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Aragorn brachte es sogar fertig, Laietha glaubwürdig für ein Essen zu loben. Aber vielleicht war es doch nicht so abwegig. Hatte Aragorn sich verändert?
Boromir schüttelte den Kopf. Er wurde schon genauso paranoid wie seine Frau! Es wurde Zeit, dass er zu seinem Bruder kam. Ein wenig Ablenkung würde ihm gut tun.
Boromir nahm im Wohnzimmer seines Bruders Platz und schloss die Augen. Es tat sehr gut, endlich wieder bei Faramir zu Besuch zu sein. Die beiden Brüder liebten sich sehr und hatten sich schon lange nicht mehr gesehen. Faramir reichte ihm eine Tasse Tee und Boromir nickte dankbar.
„Ich hab von Laietha gehört." Faramir sah seinen großen Bruder einen Moment lang an – Boromir sah mitgenommen aus. Normalerweise sah man ihm sein Alter nicht an, aber diesmal... „Wie geht es ihr?" Faramir mochte seine Schwägerin sehr gerne.
Boromir berichtete seinem Bruder, was geschehen war und seufzte am Schluss seiner Ausführungen schwer. Faramir legte ihm aufmunternd die Hand auf die Schulter. „Mach dir keine Sorgen – sie ist eine Kämpferin. Laietha wird schon wieder auf die Beine kommen." Sein Bruder nickte. Mit einem Grinsen setzte Faramir hinzu: „Gibt es sonst noch was Neues?"
Nun musste Boromir schmunzeln und erzählte von dem neusten Missgeschick seines Sohnes. Faramir brach in Gelächter aus. „Erinnert mich an den ältesten Sohn des Truchsessen! Aiglos kann von Glück sprechen, dass du kein Freund von körperlicher Züchtigung bist – ganz im Gegensatz zu Vater!" Sie begannen zu lachen. „Oh ja – weißt du noch," Boromir grinste von einem Ohr zum anderen. „Ich hatte die blöde Idee, Vaters Lieblingsstuhl als Pferd zu benutzen und er ist unter mir zusammengebrochen!" Faramir schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Ich dachte, du würdest eine ganze Woche lang nicht sitzen können!" Boromir lachte auf. „Konnte ich auch nicht!"
Faramirs Gesicht wurde plötzlich sehr ernst. „Er war viel zu streng mit uns." Boromir sah ihn an und erblickte einen vertrauten Schmerz in seinen Augen. Er begann sich unsicher und hilflos zu fühlen – wie schon so oft. Wie schon, als sie noch Kinder gewesen waren und er selbst das Gefühl gehabt hatte, dass sein Vater ihn anders als Faramir behandelte. Er fühlte sich schuldig – weil er nichts getan hatte, um das zu ändern. Er hatte einfach nur zugesehen.
In diesem Moment dachte er nicht an die vielen Augenblicke, in denen er die Schuld auf sich genommen hatte, damit Faramir nicht bestraft wurde – denn der jüngere Sohn des Truchsessen hatte weniger Gnade zu erwarten gehabt als sein Stammhalter. Faramir wirkte oft bedrückt, wenn man über ihren Vater sprach. Boromir entschied sich, das Thema zu wechseln. Er hatte für heute genug üble Stimmungen gehabt.
„Du solltest froh sein, dass Ionvamir nicht so ein Tunichtgut wie Aiglos ist." Faramir schmunzelte. „Er macht genauso viel Unsinn wie dein Sohn, nur ist er – wie sein Vater – besser darin, das ganze zu vertuschen."
Sie hörten, wie die Haustür aufschwang und keinen Augenblick später stürmte die kleine Auranor in den Raum. Mit einem freudigen Quietschen hopste sie auf den Schoß ihres Vaters und forderte einen Kuss von ihm – indem sie ihn am Bart zog. In ihrer Hand hatte sie einen Kranz aus Blumen, der zwar etwas verunglückt aussah, aber zu erkennen war. Sie setzte ihn ihrem Vater stolz aufs Haupt. Dann entdeckte sie ihren Onkel und ein Strahlen huschte über ihr Gesicht.
„Onkel Bormie!" quietschte sie vergnügt und warf sich in seine Arme. „Ugh – ich muss dir unbedingt erzählen, was mir heute passiert ist!" Binnen weniger Augenblicke hatte die Kleine die Aufmerksamkeit ihres Onkels ganz für sich beansprucht und Boromir war gewillt, ihr aufmerksam zuzuhören.
Eowyn folgte ihrer Tochter, nachdem sie das Chaos, das die Kleine im Flur hinterlassen hatte, beseitigt hatte. Sie begrüßte Faramir mit einem zärtlichen Kuss. Dann fiel ihr Blick auf ihren Schwager, der am Boden kniete – Auranor auf seinem Rücken, die ihn als Pferd missbrauchte. „Schneller, Onkel Bormie!" lachte sie und ihr „Pferd" wieherte und verfiel in einen leichten Trab.
Eowyn servierte ein köstliches Abendessen. Boromir hatte die Einladung seines Bruders dankbar angenommen. Er hatte keine Not, sich zu beeilen. Laietha war in den Häusern der Heilung und würde gewiss schon schlafen, Aiglos tat seinen Strafdienst in der Küche und Luthawen war mit Olbern fort. Laiethas Bettseite würde heute Nacht leer bleiben, dachte er mit Unbehagen. Es würde seltsam sein. Ist es nicht eigenartig, wie sehr ich mich daran gewöhnt habe, dachte er für sich.
Auch Eowyn war entsetzt gewesen, als sie von der Krankheit ihrer Freundin erfahren hatte. „Aber wo sind deine Kinder?" fragte sie schließlich. Eowyn musste lachen, als sie erfuhr, dass Aiglos in der Küche schuften musste. „Das sieht ihm ähnlich! Er ist aber auch ein Unglücksrabe! Dass er sich immer dabei erwischen lässt!" Boromir warf einen Blick in die Runde und nun fiel ihm auf, dass auch sein Neffe fehlte. Als er sich nach dem Verbleib des Jungen erkundigte, begann Faramir zu grinsen.
„Ach weißt du – als ich hörte, was Aiglos angestellt hatte, beschlich mich die leise Ahnung, dass Ionvamir vielleicht nicht ganz unschuldig sein würde und da dachte ich mir, sorge ich dafür, dass Aiglos ein wenig Gesellschaft bekommt." Die Männer sahen sich an und lachten laut. Boromir schlug seinen Bruder freundschaftlich auf die Schulter. Eowyn schüttelte den Kopf. Männer!
„Doch nun sag mir, wo Lutha ist! Ich schätze, sie ist wohl zu alt für solche dummen Scherze!" meldete sie sich wieder zu Wort. Das Grinsen auf Boromirs Gesicht gefror und mit wirklicher Unglücksmiene berichtete er vom Verbleib seiner Tochter. „Also ist sie mit Olbern nach Düsterwald gegangen," schloss er. Eowyn lächelte und nahm seine Hand. „Mach dir keine Sorgen. Er st ein anständiger Kerl." Er schüttelte den Kopf. „Ihr Frauen seid doch alle gleich. Bestimmt steckst du mit Laietha unter einer Decke. Das waren so ziemlich die selben Worte, die auch meine Frau benutzt hat."
Faramir griente. „Und ich schätze, dass sie recht hat." Boromir zog eine Augenbraue hoch. „Darüber reden wir noch mal, wenn Auranor ihren ersten Freund hat."
Es war schon sehr spät geworden, als Boromir sich endlich auf den Heimweg machte. Er genoss die kühle Abendluft und das Gefühl, endlich wieder einmal daheim zu sein. Er hatte Laietha noch einen kurzen Besuch abgestattet, aber sie hatte geschlafen. Zufrieden hatte Boromir festgestellt, dass sie schon wieder etwas besser aussah. Auch der Heiler hatte ihm versichert, dass sich seine Frau rasch erholte. Boromir war beruhigt. Er hatte auch die zwei Wachen bemerkt, die sich vor ihrer Tür postiert hatten.
Eine Weile lang hatte er ihre Hand gehalten – behutsam, um sie nicht zu wecken. Es zog ihn zwar nicht wirklich zurück ins eheliche Bett, aber hier konnte er nichts für sie tun. Also stand Boromir auf und ging. Als er durch die Gänge des Palastes lief, kam eine schlurfende Gestalt den Gang entlang – es war Aiglos. „Na, mein Sohn, hast du deine Lektion gelernt?" Der Junge rieb sich die schmerzenden Schultern. Den ganzen Abend über hatte ihn der Koch hin und her gescheucht, hatte ihn bergeweise Geschirr spülen lassen, Wasser holen, Mehlsäcke schleppen...
Boromir lachte leise und brachte Aiglos zu seinem Zimmer. Der Junge fiel wie ein Stein ins Bett und stöhnte. Boromir deckte ihn zu und sein Sohn drehte sich nun zu ihm. Boromir nahm an seiner Seite Platz. Aiglos sah ihn neugierig an. „Sag mal, Papa, woher wusstest du denn so gut über den Löffel Bescheid?" Boromir zuckte mit den Schultern. „Lass es mich mal so ausdrücken – es ist keine gute Idee, den Hobbits Unterricht im Schwertkampf zu geben..."
Aiglos sah ihn verwundert an. „Zumindest nicht, wenn man es in der Küche von Bruchtal tut. Es wird noch schlimmer, wenn der Koch wütend auf dich wird und es Herrn Elrond vorträgt und der es wiederum für eine gute Idee hält, den Sohn des Stadthalters seine Strafe zwischen Töpfen und Pfannen abbrummen zu lassen." Aiglos lachte und Boromir zerzauste ihm das Haar.
„Wie geht's Mama?" fragte der Junge plötzlich. Das sorgenvolle Gesicht des Jungen war für Boromir wie ein Stich ins Herz. Trotzdem brachte er ein Lächeln zustande. „Sie schläft." Aiglos gähnte und Boromir zog die Decke ein Stückchen weiter über seinen Sohn. „Und du solltest jetzt auch schlafen. Du kannst sie morgen besuchen. Sie freut sich bestimmt, dich zu sehen. Aber erzähl ihr besser nichts von deinem neuen Ausrutscher." Aiglos versprach es seinem Vater. Dann nahm er Boromirs Hand. „Mach dir keine Sorgen wegen Lutha, Papa."
Der Mann riss erstaunt die Augen auf. Du meine Güte, nun wird auch mein Sohn langsam erwachsen, dachte er. Sein Sohn grinste ihn an. Boromir hatte sich ja auch keine große Mühe gegeben, zu verbergen, was in ihm vorging. „Sie hat mir gesagt, dass sie ihn liebt und er scheint ein netter Kerl zu sein. Und ich schätze mal, er hat viel zu viel Angst vor dir, um etwas Dummes zu tun." Boromir konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Er verpasste seinem Sohn einen freundschaftlichen Nasenstüber. „Frecher Kerl!" grinste er. Zu viel Angst, um etwas Dummes zu tun...das war ganz nach seinem Geschmack.
„Schlaf jetzt, oder du kannst morgen gerne wieder in der Küche arbeiten, wenn du zu viel Energie hast, mein Sohn." Aiglos stöhnte gequält. Sie wünschten sich eine gute Nacht und dann verließ Boromir den Raum.
Er zog sich aus und bevor er zu Bett ging, starrte er eine Weile lang auf Laiethas leere Seite. Er hatte seit Jahren nicht mehr alleine geschlafen. Mit einem Seufzer legte er sich nieder, griff sich eins ihrer Kissen und nahm es in den Arm. Er vergrub seinen Kopf darin und lächelte, als er noch eine Spur von ihrem Duft darin wahrnahm. Boromir hoffte, dass sie schnell wieder gesund würde – oder er würde seine Sachen packen und zu ihr in die Häuser der Heilung ziehen!
Sie waren lange unterwegs gewesen und als Luthawen vom Pferd stieg, rieb sie sich den schmerzenden Po. Olbern begann bei diesem Anblick leise zu lachen. „Keine Sorge, Lutha, du wirst eine ganze Weile lang nicht mehr reiten müssen!" Er legte ihr den Arm um die Hüfte und führte sie am Eingang der Höhlen vorbei, die den Hauptsitz der Beorninger bildeten. Es hatte sich sehr verändert seit dem Überfall der Beorninger vor vielen Jahren.
Die Wachen grüßten das Menschenmädchen freundlich. Ihnen war anzusehen, dass es den Beorningern gut ging. Nachdem sie die Höhlen passiert hatten, kamen sie zu einem kleinen Dorf, in dem sich auch das Haus von Bereg und seiner Familie befand. Luthawen betrachtete lächelnd den gepflegten Vorgarten, in dem die schönsten Blumen blühten. Efeu rankte sich an den Wänden hinauf. Amüsiert dachte Luthawen an den Garten ihrer Mutter, in dem jede Menge nützliche Kräuter zu finden waren – wenn man wusste, wo man suchen musste.
Sie betraten das Haus und trafen Olberns Mutter in der Küche an, wo sie das Mittag zubereitete. Als sie ihren Sohn sah, stieß sie einen Freudenschrei aus und umarmte ihn so heftig, dass Luthawen meinte, seine Rippen knacken zu hören. Das Mädchen kicherte leise. Olberns Mutter sah wie alle Beorninger durch ihre Größe sehr bedrohlich aus, aber sie war eines der freundlichsten Wesen, denen Luthawen je begegnet war.
Als die Beorningerin schließlich das junge Mädchen und die Elben entdeckte, bellte sie Olbern etwas in ihrer eigenen Sprache zu, das sehr wütend klang. Wahrscheinlich hatte sie ihren Sohn gerügt, weil er ihr den Besuch nicht angekündigt hatte.
Dann fuhr sie in der Gemeinsamen Sprache mit ihrem harten Akzent an das Mädchen gewandt fort. „Lutha, Liebes! Ist es zu fassen! Du bist wirklich eine kleine Schönheit geworden! Olbern hatte es mir ja gesagt, aber nun sehe ich, dass er nicht übertrieben hat. Wie geht es dir? Sind deine Eltern wohlauf? Ich hoffe doch, dass du lange genug bleiben wirst, um mir alles genau zu berichten!" Das Mädchen antwortete höflich auf den Schwall von Fragen und als Beregs Frau dann endlich zufrieden war, drängte sie die Gäste im Esszimmer Platz zu nehmen.
Nur wenige Augenblicke später kehrte sie mit dampfenden Töpfen, Pfannen und Schüsseln bewehrt zurück. „Esst nur Kinder! Nach so einer langen Reise müsst ihr ja am Verhungern sein!" Sie erkundigte sich nach dem Verlauf der Reise, während sie ihnen gewaltige Berge auf die Teller häufte. Dann trat sie zu Herrn Elrond und Elrohir und tat ihnen eine Portion auf, die selbst einen Hobbit gesättigt hätte.
„Nun esst, Herr Elb! Ihr seid erschreckend mager!" Sie schlug dem Elben freundschaftlich auf die Schulter. Elrond sah sie etwas verwirrt an, wagte aber nicht, zu widersprechen. Luthawen kicherte leise vor sich hin. Es kam schließlich nicht oft vor, dass sie erleben durfte, wie jemand ihren Großvater so behandelte.
Als sie fertig mit dem Essen waren, fragte Olbern seine Mutter, wie es seinem Vater ginge. Die Beorningerin sah ihn ernst an. „Es geht ihm nicht gut, aber sieh selbst." Gemeinsam gingen sie in Beregs Zimmer. Er lag im Bett und sah schrecklich schwach aus. Herr Elrond verzog besorgt das Gesicht und begann sofort, den Beorninger zu untersuchen. Er sog scharf den Atem ein.
„Was ist, Großvater?" fragte Luthawen auf Sindarin. Elrond wandte sich Beregs Frau zu. „Es ist gut, dass ich gekommen bin. Schnell, zeigt mir eure Küche. Ich brauche Töpfe und Wasser." Sie verließen den Raum und Bereg sah sich den Besuch näher an. Als sein Blick auf das Mädchen fiel, schlich sich ein Lächeln auf sein Gesicht. „Wenn das nicht unsere kleine Lutha ist! Aus dir ist ja eine richtige Dame geworden. Und eine hübsche noch dazu. Du siehst schon wie deine Mutter aus." Luthawen errötete verschämt. Olbern legte ihr sanft einen Arm um die Schulter und sein Vater lächelte erneut.
„Da hast du es also endlich hinter dich gebracht, ja?" Mit einem Blick auf Luthawen fügte er hinzu: „Olbern ist ganz vernarrt in dich. Jedes Mal, wenn er von einem Besuch bei deinen Eltern wiederkam, hat er von nichts anderem als dir geredet." Sie schmunzelte und nun war es an Olbern, rot zu werden. „Vater..." zischte er. Sie begannen zu lachen.
Auch Bereg wollte wissen, wie es Laietha und Boromir ging. Luthawen erstattete auch ihm artig Bericht. „Und wie geht es meiner lieben Freundin Eowyn und ihrem Mann? Ich bin mir sicher, dass ihr sie besucht habt, als ihr in der Weißen Stadt wart, oder hattet ihr nichts anderes im Sinn, als den ganzen Tag zu küssen?"
„Vater, bitte!" protestierte Olbern lautstark. Ihm war das alles mehr als peinlich. Auch vom Wohlbefinden Eowyns und ihrer Familie berichtete Luthawen und Bereg gab sich damit zufrieden. „Ich hatte selbst hingehen und sie besuchen wollen, aber hier gibt es so viel zu tun... Ich bin wirklich erleichtert, dass Olbern jetzt hier ist, um mir zu helfen."
Beregs Frau betrat das Zimmer. „Lutha, dein Großvater sagte, er braucht deine Hilfe." Sie nickte und eilte aus dem Raum.
Elrohir hatte sich nach dem Essen schon aus dem Staub gemacht. Vor einigen Jahren, als sie gemeinsam mit Bereg und seinem Onkel versucht hatten, die Rebellen unter den Beorningern zu vereinen, hatte er einige Freunde gefunden und die wollte er nun besuchen.
Nach einer ganzen Weile kehrten Luthawen und Elrond zurück. Elrond hielt eine Tasse mit einem angenehm duftenden Tee in den Händen, die er Bereg reichte. „Trinkt das und schlaft, dann sollte es euch schon bald besser gehen." Seine Frau dankte dem Elben von ganzen Herzen und schon bald begann sich Bereg schläfrig zu fühlen. Sie verließen den Raum und Olbern machte sich daran, sich einen Überblick über die anstehenden Aufgaben zu verschaffen. Es würden nicht wenige sein, denn seinem Vater ging es schon länger nicht gut.
Beregs Frau hatte ihnen Gästezimmer vorbereitet und langsam spürte Luthawen die Müdigkeit in ihr aufsteigen. Sie begab sich auf ihr Zimmer und ließ sich auf dem weichen Bett nieder. Armer Olbern, dachte sie. Ihr Freund würde heute nicht so schnell dazu kommen, sich auszuruhen.
