Elrond und seine Söhne hatten zum Aufbruch gedrängt. Gegen Mittag hatten sie einen einzelnen Reiter in der Ferne ausgemacht. Schnell hatten die Elben ihn als Aiglos erkannt und ein dumpfes Gefühl breitete sich in Elladans Magengrube aus – hoffentlich war Laietha nichts zugestoßen! Geschwind hielten sie auf den Jungen zu, der sie mit fröhlichem Winken grüßte. Das beruhigte die Elben ein wenig, denn wenn seiner Familie etwas zugestoßen wäre, würde er kaum so gelassen sein.
Mit einem breiten Grinsen brachte Aiglos sein Pferd zum Stehen. Luthawen schwang sich strahlend vom Rücken ihrer Stute und als auch Aiglos abgesessen hatte, schloss sie ihren Bruder überglücklich in den Arm. „Du wirst es kaum glauben, aber du hast mir gefehlt!" Aiglos erwiderte die Umarmung. Er würde es zwar nie zugeben, aber auch er hatte seine große Schwester vermisst. Immer nur mit Ionvamir durch die Gegend streifen war auf Dauer nicht das Wahre. Dann erinnerte er sich plötzlich seines Auftrags und wurde so ernst, wie ihn noch nie jemand der Anwesenden gesehen hatte.
Schnurstracks ging der Knabe zu Elrond. „Großvater, Mama hat mich geschickt. Sie sagt, ihr sollt euch beeilen. Es wird Krieg geben, sagt Onkel Faramir. Er kam gestern Abend bei uns im Lager an. Da war noch irgendwas..." Aiglos kratzte sich am Kopf. Er hatte nicht das beste Gedächtnis, warum ließ es ihn gerade jetzt im Stich? „Onkel Faramir hat noch etwas mit Truppen gesagt oder so..."
Zum Glück musste der Junge nicht weiter ausholen, denn Bereg, Olbern und den Elben war die Bedeutung dessen sofort klar. Mornuan musste Truppen eingeschleust und die Stadt besetzt haben. „Das hast du sehr gut gemacht, Aiglos. Lass dir von deiner Schwester etwas zu Essen geben." Elrond strich seinem Enkel wohlwollend über den Kopf und Aiglos hatte gegen diesen Vorschlag nicht das geringste einzuwenden. Sein Magen knurrte laut, schließlich war das Frühstück schon eine ganze Weile her und sein Bisschen Proviant hatte er schon kurz nach dem Aufbruch verputzt. Er war eben im Wachstum, wie seine Mutter sich sein Essverhalten zu erklären pflegte.
Elrond wartete kurz, bis seine Enkel außer Hörweite waren, dann beratschlagten er und die anderen, was zu tun sei. „Besser wir reiten sofort nach Minas Tirith," schlug Elladan vor, der die ganze Zeit über an das grausige Schauspiel im Garten denken musste, das er und seine Schwester hatten mit ansehen müssen. „Was ist mit den Kindern?" fragte Olberns Mutter besorgt. „Sicherlich wollt ihr sie nicht in Gefahr bringen und wenn es Krieg geben wird..."
Bereg nickte bedächtig. „Vielleicht können wir sie in ein nahegelegenes Dorf bringen? Meine Frau könnte sie begleiten." Der Vorschlag hörte sich gut an und Elladan und sein Bruder waren sofort einverstanden, nur Elrond zögerte einen Moment. Er spürte die erwartungsvollen Blicke der anderen auf sich ruhen. Nach einer Weile stillen Nachdenkens antwortete er.
„Aiglos und Beregs Frau sollen sich auf den Weg in das Dorf am Druadanwald machen, aber ich möchte, dass Luthawen uns begleitet." Mit einer schnellen Handbewegung erstickte er Olberns aufkommenden Protest im Keim. „Du wirst mit ihr ein Stück weit hinter uns herreiten, aber ich habe das Gefühl, dass der Krieg schneller eintreten wird als gedacht, vielleicht werden wir in eine Schlacht reiten und Luthawen ist eine geschickte Heilerin. Sie hat viel von mir gelernt und ich möchte nicht, dass ein Mädchen ihres Alters schon die Grauen eines Krieges sehen muss, aber wenn wir auf eine Schlacht treffen, wird es verletzte geben – und heilende Hände werden von Nöten sein."
Olbern schluckte. Auch er wollte nicht, dass Luthawen Kriegsgefallene sehen musste, aber in den Augen ihres Großvaters sah er so viel Sorge und Schmerz bei seiner Entscheidung, dass er glaubte, der Elb habe sich die Entscheidung sehr gut überlegt. „Gut, aber ich werde auf sie aufpassen," nickte er langsam und errötete plötzlich. Sein Vater bemerkte es und klopfte ihm lachend auf die Schulter. „Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich gedacht, du wärst schon ihr Mann!" Ach, dachte Olbern, wenn das nur so einfach wäre, aber dafür müsste er erst an Herrn Boromir vorbei!
Luthawen hatte Aiglos in den Wald geschickt, um Feuerholz zu holen. Sicher wollte sie nur ungestört Olbern anhimmeln! Mürrisch bückte sich der Junge und sammelte trockene Zweige auf. Eben noch war er der gefeierte Kundschafter seiner Mutter in wichtiger Mission gewesen, nun war er der Sklave seiner großen Schwester. Na ja, das würde er alles Papa erzählen, dann würde sie schon sehen, was sie davon hatte. Plötzlich entdeckte er im Gras eine seltsame Pflanze. Sie hatte leuchtend rote Beeren und tiefschwarze Blätter. An den feinen Stängeln waren Dornen – das merkte er, als er versuchte, eine der Pflanzen zu pflücken. Ärgerlich saugte er an dem Stich. Ein Kribbeln lief über seine Zunge – nicht unangenehm. Was das wohl für eine Pflanze war? Schnell rief er nach seiner Schwester.
Luthawen ging gemächlich auf ihren Bruder zu. Was er wohl nun schon wieder hatte? Vielleicht ließ sich Aiglos wirklich nur dann ertragen, wenn sie ihn nicht sehen musste, sie hatte eben noch so schön von sich und Olbern geträumt...
„Sieh mal!" Aiglos deutete auf eine Stelle am Waldboden. Zuerst fürchtete Luthawen, er hätte einen toten Vogel gefunden und wollte sie ärgern, aber dann entdeckte sie zu ihrem Erstaunen, das Pflänzlein. „Das ist Saewthond! Giftwurz!" Aiglos verzog das Gesicht. Toll, er hatte eine giftige Pflanze gefunden und sich an ihr gestochen. Wurde ihm nicht schon ganz flau im Magen? Gestorben auf seiner ersten wichtigen Mission...
„Ist...ist sie tödlich?" stammelte er, ganz blass um die Nase, während seine herzlose Schwester sich über die Pflanze beugte und sie vorsichtig pflückte – natürlich nicht, ohne sich mit ihrem Kleid vor den Dornen zu schützen. „Hast du dich gestochen?" Aiglos nickte und hielt ihr mit Heldenmiene den Finger hin. Luthawen drückte so lange daran herum, bis tatsächlich ein winziger Tropfen Blut aus der Wunde trat. „Du wirst es überleben, du Held," lachte sie.
„Ist sie giftig?" fragte Aiglos – nun ein wenig verärgert, da er sich nicht ernstgenommen fühlte. Luthawen war ganz und gar damit beschäftigt, den Waldboden nach noch mehr Pflanzen abzusuchen. „Natürlich nicht, du Tollpatsch, und hättest du ein wenig besser in Salabwens Unterricht bei Großvater aufgepasst, wüsstest du, dass sie sehr selten ist und gegen Vergiftungen aller Art hilft! Es ist ein großes Glück, dass du sie gefunden hast, ein zerstochener Finger ist kaum ein gerechter Preis dafür."
Aiglos dachte für einen Moment daran, seine Schwester im Wald festzubinden und sich zum Lager davonzumachen, aber dann hörten sie die Stimme von Beregs Frau, die das Zauberwort sprach, um Aiglos Ärger verpuffen zu lassen – „Essen!"
Während Aiglos das Mittagessen hinunterschlang wie ein ausgehungerter Wolf, berichtete Luthawen ausführlich von ihrem Fund, obwohl Aiglos seine Rolle nicht annährend gewürdigt genug fand. Elrond lächelte und strich seinen Enkeln wohlwollend über das Haar. „Das habt ihr gut gemacht. Diese Pflanze kommt ausgesprochen selten vor. Der Vorrat, den Luthawen gepflückt hat, wird eine ganze Weile reichen. In Bruchtal werde ich daraus einen Sud kochen, der Vielen helfen wird."
Elladan und Elrohir waren rastlos. Sie stocherten in dem Essen herum, das Beregs Frau zubereitet hatte. Am liebsten wären sie sofort aufgebrochen. Etwas stimmte nicht. Der Tag wurde seltsamer und seltsamer. Aiglos hätte nicht allein kommen sollen – es war nur ein Gefühl, aber jemand hätte ihn begleiten müssen. Außerdem mussten Boromir und Laietha wirklich verzweifelt sein, wenn sie den Jungen ohne Begleitung losschickten. So etwas würden sie nur tun, wenn eine Schlacht bevorstände und sie niemanden entbehren konnten. Die Elbenbrüder sahen sich an und hofften, dass ihr Gefühl sie trog.
Bregol war über die Maßen überrascht gewesen. Er hatten den Verräter, der bis vor Kurzem noch ihr König gewesen war – es genaugenommen auch noch immer war – mit den Kindern seines Hauptmannes aus dem Palast laufen sehen. Was hatte dieser Teufel jetzt vor? War es nicht genug, dass er ihnen die Mutter nehmen wollte? Sollten die Kinder bei der Hinrichtung zusehen oder wollte er sie gar selbst noch umbringen lassen? Was immer er auch im Sinne hatte, Bregol würde es zu verhindern wissen.
Geschwind hatte er ausgeholt und hatte den König niederschlagen wollen, vorsichtig darauf bedacht, das kleine Mädchen auf seinem Arm nicht zu verletzten, aber der greisgewordene König war im blitzschnell ausgewichen, fast als hätte er den Schlag kommen sehen. Bregol zögerte nicht lange. Er würde dem Alten keine Chance geben, seine neuen Wachen zu rufen und wollte sich auf Aragorn stürzen, aber die Kinder waren schneller als er. Schreiend stellten sie sich vor den Mann.
„Nicht! Tu ihm nichts! Er hat uns doch geholfen! Tu ihm nicht weh!" Bregol hatte nicht gewusst, was ihn mehr erstaunt hatte – die Reaktionsschnelle oder das Mitgefühl der Kinder mit dem zukünftigen Mörder ihrer Mutter, aber Bregol hatte ein weiches Herz und hatte dem Mann Glauben geschenkt, als er beteuerte, er wolle alles tun, um Frau Eowyn und die Halblinge zu retten.
Er hatte Wort gehalten und sich tapfer in dem kurzen Scharmützel geschlagen. Zumindest Bregols Herrin schien nicht an Aragorn zu zweifeln – ebenso wenig wie die Halblinge. Einer von der Stadtwache Minas Tiriths hatte Bregol freundschaftlich auf die Schulter geklopft. „Hab ich es dir doch gesagt, mein Junge, unser König ist wieder zu sich gekommen und nun werden wir es diesem Weibsbild zeigen!" Bregol sah zu dem Mann hinüber, der ihnen allen so viel Leid zugefügt hatte. Er würde ihm fürs erste vertrauen, aber wenn es hart auf hart kam – dieser Mann war nicht mehr sein König, bis er sich nicht wieder seiner würdig erwiesen hatte!
Warum hast du nicht besser auf sie aufgepasst, du Narr! Boromir rannte durch den Wald. Seine Lungen brannten. Jetzt war keine Zeit, sich alt zu fühlen. „Laietha!" brüllte er aus Leibeskräften. Von seiner Frau fehlte jede Spur. Einer der Männer hatte gesehen, wie sie in den Wald gelaufen war. Er hatte gedacht, sie würde ihre Notdurft verrichten gehen und es als nicht weiter wichtig angesehen. Boromir hätte ihn am liebsten erwürgt, obwohl er wusste, dass der Mann nichts dafür konnte. Einen winzigen Moment lang hatte er sogar Wut auf Aragorn verspürt – schließlich war seine Frau seinetwegen besorgt, verwirrt und verletzt!
Das wäre alles nicht passiert, wenn er seinen Verstand früher eingesetzt hätte! Er hätte dieser Frau niemals trauen dürfen! Sicher, Boromir selbst war auch auf Mornuan hereingefallen, aber er war ja auch nicht König von Gondor!
Entsetzt über diesen Gedankengang blieb Boromir stehen. Er keuchte, nicht so sehr, weil er außer Atmen war. Vielmehr wünschte er sich, diesen Gedanken nie gedacht zu haben. Aragorn war ein guter König – er war Boromirs Schwager und ein enger Freund. Boromir selbst wollte die Herrschaft über Gondor nicht – auch wenn das nicht immer so gewesen war.
Damals – vor so vielen Jahren, als er hilfesuchend nach Bruchtal zu den Elben gegangen war, um Hilfe für die Stadt zu erbitten, über die er eines Tages herrschen würde, hatte er Aragorn lieber tot als auf dem Thron sehen wollen. Aber das war lange her. Aragorn war ein guter König – und Aragorn war jetzt verdammt noch mal nicht wichtig!
Jetzt musste Boromir zuerst seine Frau finden und sicherstellen, dass ihr nichts fehlte. Er würde sie in die Arme schließen, er würde Bergil nicht sofort rufen, er würde mit ihr sprechen. Im Lager hatte er sie zu leicht gehen lassen. Es musste mehr hinter ihrer Flucht stecken als nur die Kränkung durch ihren dummen Bruder! Boromir würde dafür sorgen, dass es ihr besser ging und besser auf Laietha Acht geben als ihr Bruder – diesmal! – auf seine Stadt!
Es war Bergil, der aus dem Wald auf sie zugelaufen kam. Schnell lief er auf sie zu und blieb vor ihr stehen, die Kriegerin musternd. Laietha hockte immer noch auf dem Boden. Die Bisse der Ameisen brannten. „Zum Glück haben wir dich gefunden," seufzte er und schickte sich an, nach Boromir zu rufen. Laietha hielt ihn mit einem festen Griff ums Handgelenk zurück. „Nicht." Bergil hob eine Augenbraue. „Was ist los?"
Laietha schluckte. Sie konnte Boromir nicht unter die Augen treten - nicht so. Schon allein Bergils beunruhigte Miene hatte ihr einen schmerzhaften Stich ins Herz versetzt, wie erleichtert würde ihr Mann erst sein, wenn er sie fand. Sie machten sich Sorgen um sie. „Was ist nur los mit dir, Laietha?" Bergil hatte sich neben sie gekniet. „Willst du darüber reden?" Reden - sie wollte es am liebsten herausschreien, dass sie alle in Gefahr waren, dass sie nur noch diesen einen Tag hatte, dass ihr Mann sterben würde, ihr Bruder, sie selbst. Aber wie absurd klang das alles schon allein in ihren eigenen Ohren. Bergil würde sie gewiss für verrückt halten...
Aber noch während ihr all diese Dinge durch den Kopf schossen, hörte sie ihre eigene Stimme, die Bergil alles von Anfang an berichtete, die unter Schluchzern von Mornuan und ihrem Handel erzählte, von den Ereignissen der kommenden Nacht, von Schuldgefühlen Bergil gegenüber, der nun auch mit ihnen in die Schlacht ziehen würde, obwohl er vorher vielleicht sicher an der Seite ihres Sohnes gewesen war und so wenig, wie sie sich vorher hatte aufraffen können, etwas zu tun, so wenig war sie nun in der Lage den Fluss ihrer Worte zu beenden bis nicht alles bis zum Letzten erzählt war.
Der Soldat hörte ihr aufmerksam zu, aber Laietha konnte seine Miene nicht deuten. Ob er sie nun für verrückt hielt oder ihr Glauben schenkte, wusste sie nicht. Schweigen senkte sich über den Wald, in der Ferne nur Boromirs Stimme, der nach ihr suchte. Schließlich erhob sich Bergil und streckte ihr eine Hand entgegen. „Steh auf, Laietha. Wir haben nicht mehr viel Zeit, aber es gibt Hoffnung. Wenn Eomer nicht weit ist, werden wir ein paar Kundschafter schicken und selbst voraus reiten. Aragorn wird leben - genau wie Boromir und auch du. Ich bin sicher, dass dein Vater nicht mehr fern ist und helfen kann. Steh auf."
Boromir hatte Stimmen gehört. Bergil hatte seine Frau also doch schon gefunden. Ein winziger Funke Zorn durchzuckte ihn, konnte er nun also doch nicht zuerst mit ihr sprechen, aber die Erleichterung überwog. Er würde den Jungen zurück zum Lager schicken und mit seiner Frau reden. Aber was Boromir sah, brachte sein Blut in Wallung - seine Frau saß an einem Baum und Bergil kniete neben ihr. Sie redeten - Laietha redete mit Bergil, aber nicht mit ihm. Vielleicht war es kindisch, aber die alte Eifersucht wallte wieder auf und Boromir ballte die Hände zur Faust. Nun, vielleicht gab es eine andere Erklärung. Vielleicht hatte Bergil sie gerade erst gefunden und erkundigte sich nur nach ihrem Befinden. Boromir blieb stehen und sah ihnen einen Augenblick lang zu. Aber der Junge machte keine Anstalten, nach ihm zu rufen. Sollte er noch den ganzen Nachmittag durch den Wald irren?
Bergil erhob sich und streckte Laietha die Hand entgegen. Er streckte sich beim Aufstehen, also war er schon länger bei ihr gewesen. Boromir schnaubte. Er begann zu laufen. „Da seid ihr ja!" Groll schwang in seiner Stimme mit. „Wie schön, dass du mir gesagt hast, dass ich nicht mehr zu suchen brauche, Bergil." Es war viel einfacher wütend auf ihn als auf seine Frau zu sein. Überhaupt fühlte er in den letzten Stunden viel Wut in sich. Er war wohl ein verbitterter alter Mann.
„Ich werde den Männern sagen, dass sie sich zum Aufbruch bereitmachen sollen." Bergil entschied, dass es besser wäre, die beiden einen Moment alleine zu lassen. Boromir warf ihm einen finsteren Blick hinterher, als der Junge zurück zu ihrem Lager ging. Den Unmut in sich etwas zügelnd, trat er zu seiner Frau. „Was ist nur los mit dir? Rede mit mir, Laietha, ich bin dein Mann!" Er hoffte, dass sein Tonfall nicht verriet, wie gekränkt er in seinem Stolz war. Sie tat es immer wieder – sie hatte sich mal wieder jemand anderem geöffnet, bevor er etwas erfuhr. Sicher, normalerweise hatte sie ihre Gründe dafür, aber das machte es nicht besser.
Boromir trat auf sie zu und wollte sie in den Arm nehmen, aber allein sein Anblick rief die schrecklichen Bilder wieder zurück und ein Gedanke erhärtete in Laiethas Verstand – sie musste verhindern, dass er sie in die Schlacht begleitete – nur wie? Unbewusst wich sie von ihm zurück.
Was war das? Boromir blieb verdattert stehen, als seine Frau sich von ihm abwandte. Was war nur geschehen? Sie war noch nie von ihm zurückgewichen! Angst, Sorge und eine winzige Spur Eifersucht mischten sich in seinem Herzen. Es musste ihr furchtbar gehen, wenn sie nicht mit ihm sprechen wollte. Schnell machte er einen Schritt auf sie zu. „Was ist passiert? Rede mit mir, Laietha!" Boromir griff nach ihr und bekam sie am Arm zu fassen.
Laietha stieß ihn hart von sich. „Es ist nichts! Lass mich einfach nur in Ruhe, ja?" Hastig trat sie ein paar Schritte zurück. Es gab nur einen Weg, wie sie sein Leben retten konnte – er durfte sie nicht in die Schlacht begleiten. Sie musste ihn überzeugen zu gehen – mit Gewalt und einer List.
In Boromirs Kopf wirbelten verschiedene Gedanken durcheinander, er versuchte eine Erklärung zu finden, wieso seine Frau sich so benahm, aber es wollte ihm kein vernünftiger Grund einfallen. Je mehr sie sich ihm widersetzte, desto mehr erwachte das Bedürfnis in ihm, zu erfahren was sie so verstört hatte – wichtiger noch, was sie mit Bergil besprochen hatte. Mit einem Satz stand er vor ihr und packte sie an den Schultern, damit sie ihm nicht noch einmal ausweichen konnte.
„Ich verlange, dass du mir sagst was hier vorgeht, auf der Stelle, Frau!" Laietha wand sich in seinem Griff, aber er würde nicht zulassen, dass sie ihn erneut von sich stieß. Boromir packte fester zu und schüttelte sie, als würde er dadurch eine Antwort bekommen. Der erschreckte Schrei seiner Frau brachte ihn wieder zur Besinnung.
„Lass mich los, Boromir, du tust mir weh!" Er hatte sie gegen einen Baum gedrängt und ihre grünen Augen funkelten böse. Trotzdem löste er seinen Griff nicht. „Sprich mit mir! Ich suche dich den ganzen Nachmittag, du verschwindest im Wald und als ich dich gefunden habe, hast du stundenlang mit Bergil geredet, was hast du?" Es hatte eine Bitte an Laietha sein sollen, aber Boromirs Herz raste vor Angst. Er hatte fast das Gefühl, als würde er sie zum letzten Mal sehen, als müsse er sie vor einer bevorstehenden Gefahr beschützen, die er nicht fassen konnte.
„Du sollst mich einfach nur in Ruhe lassen!" Laiethas Stimme klang so schrill, dass es in seinen Ohren wehtat. Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen seinen Körper und versuchte sich ein Stück Freiraum zu verschaffen. „Verstehst du nicht, dass ich einfach nur allein sein will? Du würdest mir ja sowieso nicht glauben, wenn ich dir erzähle, was mich bedrückt! Du hast mir ja nicht mal geglaubt, als ich euch alle vor Mornuan gewarnt habe! Es wäre deine gottverdammte Pflicht als mein Mann gewesen, damals an mich zu glauben, denn dann wäre das alles hier nicht passiert! Dann wäre Aragorn jetzt nicht in dieser tödlichen Gefahr und ich...!"
Laietha schluckte, eine Sekunde lang entsetzt über den Hass, der in ihrer Stimme mitschwang und darüber, dass sie sich fast verraten hätte. Hatte sie wirklich so viel Wut auf Boromir verspürt, als niemand ihr Glauben geschenkt hatte. Was aber viel wichtiger war, war dass Boromir jetzt zurückgewichen war und sie mit offenem Mund anstarrte. „Was willst du damit sagen, Laietha?" Keine Kampfeslust mehr, nur noch Unglaube und ein Hauch von Verzweiflung schwangen in seiner Stimme mit.
Sie holte tief Luft, als sie ihre Chance witterte, ihn davon abzuhalten, sie in die Schlacht zu begleiten. „Ich frage mich, wo du gewesen bist, als ich dich damals brauchte, als ich versucht habe, dieses Unglück von meinem Bruder abzuwenden, das so vielen Menschen bis jetzt Leid bereitet hat! Vielleicht ist es dir ja auch ganz recht, dass Mornuan jetzt die Stadt in ihrer Gewalt hat und meinen Bruder umbringen will! Du wolltest ihn doch sowieso lieber tot als auf dem Thron sehen, weil dieser Platz dir zustand! Und jetzt siehst du die Gelegenheit, nach seinem Tod die Stadt zu befreien und dich an seiner Statt auf den Thron zu setzen!"
Ihr Stimme zitterte, genau wie ihre Hände, die sie unmerklich zu Fäusten an ihrer Seite geballt hatte. Boromir starrte sie mit offenen Mund und weit aufgerissenen Augen an, unfähig, etwas zu sagen. Er war ein ganzes Stück zurückgewichen und alle Farbe hatte seine Wangen verlassen. Laietha keuchte heftig. Niemals hätte sie sich träumen lassen, ihren Mann so schändlich zu belügen. Sie machte auf dem Absatz kehrt und marschierte schnellen Schrittes in Richtung Lager zurück.
Laietha spitze die Ohren, ihr Herz schlug wie eine Kriegstrommel und sie betete zu den Valar, dass Boromir ihr nicht nachlaufen würde, nicht durchschaut hätte, dass alles nur ausgemachte Lügen waren. Sie wagte sich nicht umzudrehen, aus Angst vor dem Anblick seiner Gestalt, aus Angst zu sehen, wie sehr sie ihn verletzt hatte. Sie hätte sofort kehrt gemacht und wäre vor ihm auf die Knie gefallen, um ihn um Verzeihung zu bitten, aber was war sein gekränkter Stolz schon gegen sein Leben!
Sie hatte keine Zeit, sich jetzt darüber Gedanken zu machen und je näher sie dem Lager kam, desto mehr verschwand ihr Mann und der Streit aus ihren Gedanken. Boromir war jetzt nicht mehr wichtig – jetzt war es an der Zeit, Aragorn zu retten. Laietha blickte zum Himmel, dem Sonnenstand nach musste es später Nachmittag sein. Ihnen blieb nicht mehr viel Zeit, aber Laietha wusste nun, was sie zu tun hatte. Sie ballte die Faust in grimmer Entschlossenheit und bahnte sich den Weg durchs Unterholz zu ihrem Rastplatz.
Boromir starrte seiner Frau nach, die wütend im Wald verschwand. Er sollte ihr nachlaufen und versuchen zu ergründen, was sie dazu bewogen hatte, so mit ihm zu reden, so zu denken, aber er hatte plötzlich keine Kraft mehr. Seine Knie gaben nach und er setzte sich auf einen Baumstamm.
Ihre Worte hatten ihn direkt ins Herz getroffen und er schnappte immer noch nach Luft, als sie schon lange seinen Blicken entschwunden war. Sicher, er war verdammt wütend auf Aragorn gewesen, aber ihn tot sehen zu wollen? Nein, schon allein nicht, weil er wusste, wie sehr seine Frau leiden würde, wenn sie ihren geliebten Bruder verlöre. Aber als er sie gesucht hatte – er hatte Aragorn für die missliche Lage seiner Stadt verantwortlich gemacht.
Laietha kannte ihn gut – besser als Faramir, was viel zu bedeuten hatte. Hatte seine Frau seine Wut gesehen? War es vielleicht auch anderen aufgefallen? Er fühlte sich schäbig, die Schuldgefühle, die er lang begraben gehofft hatte, rissen die Mauern nieder, die er gezogen hatte, um sie zu verbergen. Vielleicht stimmte es also doch – ein Mal ein Verräter, immer ein Verräter – und Laietha hatte es erkannt. Niemals hätte er etwas getan, um Aragorn zu schaden, aber in Gedanken hatte er ihn verraten und sich gewünscht, dass er dafür büßen sollte, dass er Laietha Kummer bereitete.
Ihr Kummer bereiten kannst du schließlich auch gut allein, schalt er sich. Es hatte ihm den Atem verschlagen, als sie ihn angeschrieen hatte, er hätte ihr nicht geglaubt. Ja, er hatte seine Pflicht als ihr Ehemann vergessen und ihr nicht geglaubt. Boromir stützte den Kopf in die Hände und massierte sich die schmerzenden Schläfen. Er hatte als ihr Ehemann versagt. Vielleicht hätte er ihr auch einfach hinterhergehen sollen und sie trösten, aber dazu fehlten dem stolzen Krieger der Mut.
Bergil war erleichtert, als er seine Freundin aus dem Wald kommen sah. Er konnte kaum glauben, dass sie noch vor kurzer Zeit so mutlos gewesen sein sollte. Jetzt war ihr Blick entschlossen und ihr Schritt fest. Endlich ging sie wieder mit erhobenem Haupt.
„Ich habe Faramir auf die große Weststraße geschickt. Er wird nach Eomer Ausschau halten. Das hier hat er mir für dich gegeben." Mit einem Lächeln nahm Laietha ihr Schwert entgegen. Es war Aragorns Geschenk an sie gewesen. Jetzt würde sie es benutzen, um ihren Bruder zu schützen. Es hatte sie immer begleitet – von ihrer ersten Schlacht an. Für Laietha war es ein gewisser Trost, dass es sie auch in ihre letzte Schlacht begleiten sollte.
„Wir brechen auf!" Ruhe trat schlagartig im Lager ein und Bergil zuckte unter der Stimme seiner Freundin zusammen. Bis jetzt hatte er sie zwar als herausragende Kriegerin erlebt, aber nie in einer Führerrolle. Dennoch verwunderte ihn nicht, dass die Krieger fast ohne zu zögern ihrem Befehl folgten und sich auf ihre Pferde schwangen. Auch Laietha ging zu ihrem Hengst.
Plötzlich wurde Bergil klar, dass etwas fehlte. Suchend sah er sich um, aber den Mann seiner Freundin konnte er nirgendwo ausmachen. Er war ihr nicht gefolgt. „Wo ist Boromir?" Laietha hatte das Schwert am Sattel ihres Pferdes befestigt und stand schon mit einem Bein im Steigbügel. Sie sah dem Soldaten fest in die Augen. „In Sicherheit." Mit einer geschmeidigen Bewegung saß sie auf.
Eine Bemerkung, sie habe ihn wohl an einen Baum gefesselt, lag Bergil auf der Zunge, aber ihr Gesichtsausdruck war zu ernst gewesen, als dass er sich getraut hätte, einen Scherz zu machen. Sie war zu allem entschlossen. Bergil glaubte nicht daran, dass Mornuan ihr ein Gift verabreicht hatte, das sie am Ende des Tages töten würde, aber Laietha schien es zu glauben. Geschwind saß auch Bergil auf.
„Folgt mir, Männer Gondors! Reitet für euer Land, für euren König!" Mit einem Klirren zog sie ihr Schwert und streckte es hoch in die Nachmittagssonne – als hätte das Weiße Gebirge das Geräusch verhundertfacht klang es, als die Männer es ihr gleichtaten. Stahl funkelte in der Sonne, wie ein Bergbach an einem Sommertag. „Auf nach Minas Tirith!" Und mit einem Donnerschlag setzte sich die kleine Armee in Bewegung.
Mornuan räkelte sich auf den seidenen Laken ihres Ehebettes. Neben ihr lag der Hauptmann ihres Heeres. Sein gebräunter Körper bildete einen angenehmen Kontrast zu dem cremefarbenen Laken. Er wartete geduldig auf die Befehle seiner Herrin, aber Mornuan fand keinen gefallen an seiner Gesellschaft.
Der König war geflohen – nun, das war nichts Neues, ebenso wenig, dass auch die Hinrichtung entfallen würde. Mornuan war nicht besorgt, schließlich wusste sie, wie der tag enden würde. Sollten sie nur das vermeintliche Glück genießen.
Es war später Nachmittag – nicht mehr lang und Annaluva würde endgültig tot sein – ihr Mann und Aragorn wahrscheinlich auch. Sie sollte sich also gar keine Gedanken machen – aber in ihrem Herzen herrschte große Unruhe.
Mit einem ärgerlichen Grollen schwang sie sich aus dem Bett und hüllte ihren Körper in einem federleichten Morgenmantel. „Du kannst gehen. Mach dich und deine Männer bereit für die Schlacht." Ohne den Krieger eines weiteren Blickes zu würdigen ging sie zum Fenster und starrte hinaus, über die Ebene hinweg zum Rand des Waldes.
„Wo bist du?" flüsterte sie mit zusammengekniffenen Augen. Sie wünschte sich die Gabe der Hellsicht. „Liegst du im Wald in einer Kuhle und weinst dir die Augen aus? Oder versuchst du vor mir wegzulaufen?" Mornuan lachte einen Hauch zu schrill für ihre eigenen Ohren. Was war dieses Gefühl in ihrem Magen? Furcht? Das war unmöglich! Sie hatte diese Frau schon einmal besiegt.
Mit raschen Schritten ging sie hinüber zu ihrer Kommode und zog den festen roten Zopf heraus. Ihr Haar war nur der Anfang gewesen. Vielleicht hätte sie sich als Beweis für ihren Tod damals gleich ihr Herz und ihre Leber verlangen und verspeisen sollen, aber dann besann sie sich wieder auf ihre Macht und lachte kurz. Sie war viel zu mächtig für dieses Kriegerweib! Annaluvas Dummheit hatte ihr den endgültigen Triumph in die Hände gespielt. Wie konnte sie nur so dumm sein und für die verschwindend geringe Chance, ihren Mann und ihren Bruder zu retten ihr eigenes Leben eintauschen!
Das Gefühl der Unsicherheit blieb – ganz gleich wie sehr Mornuan auch versuchte, sich die Kriegerin schwach zu reden.. Unruhig trat sie an ihren Kleiderschrank und suchte sich ein dunkelrotes Kleid aus Samt heraus. Ihre Kleiderfrauen eilten auf ihren Befehl hin herbei und kleideten sie hurtig an. Der Ausdruck von Furcht in ihren Augen gab Mornuan ein Stück ihres Machtgefühls zurück. Sie flüchteten wie aufgescheuchtes Geflügel, als Mornuan sie fortschickte.
Sie ärgerte sich nun, dass sie ihre Halskette mit den roten Steinen fortgegeben hatte – völlig umsonst, wie sich herausgestellt hatte. Einen Augenblick lang hatte sie überlegt, die Kette anzulegen, die sie der Kriegerin abgenommen hatte, aber das Schmuckstück hatte eine seltsame Ausstrahlung und bereitete ihr Unbehagen. Ein anderes mal vielleicht. Heute entschied sie sich für eine Kette aus Silber, Diamanten und einen großen schwarzen Onyx. Er passte so wunderbar zur Farbe ihrer Augen.
Es klopfte an der Tür. Mornuan ließ absichtlich ein paar Augenblicke verstreichen, bis sie den wartenden zum Eintreten aufforderte. Ihr Hauptmann knallte die Hacken zusammen. „Das Heer ist bereit, meine Königin." Sie nickte. „Gut. Wir verlassen bei Sonnenuntergang die Stadt. Macht meinen Wagen bereit, nach dem Essen soll alles fertig sein."
Der Soldat salutierte und verließ den Raum. Mornuan rieb sich die Hände. Gut, bald würde sie alle Sorgen los sein. Sie würde sich die letzten Stunden vor dem Aufbruch noch ein gutes Mahl gönnen. Schließlich wollte sie sich ihren Triumph nicht durch einen knurrenden Magen verderben lassen.
