Faramir ritt zügig gen Westen. Er wusste zwar nicht, wieso sich der junge Mann so sicher gewesen war, dass Eomer und seine Männer auf dem Weg in die weiße Stadt waren, aber es sollte ihm nur recht sein, sie konnten Hilfe gebrauchen. So abwegig war die Vermutung auch nicht, denn auch Eowyn hatte sich auf den Weg machen wollen. Vielleicht würde er seine Frau und die Kinder ja schon bald wiedersehen – dagegen hätte er ganz und gar nichts einzuwenden gehabt.
Lange musste er nicht suchen – zwei Stunden war er vielleicht geritten und dann sah er sie und sein Herz füllte sich mit frischem Mut. Fünfzig Ritter aus Rohan, mit wehenden Bannern auf stolzen Pferden kamen die Straße entlang galoppiert. Faramir hielt Ausschau nach seiner Frau, konnte sie aber nicht unter den Männern entdecken. Nun, vielleicht hatte sie in einem der Gasthäuser unterwegs Rast gemacht oder vielleicht sah er sie auch nicht unter den vielen Männern. Auf jeden Fall war Faramir froh, nicht weiter reiten zu müssen. Seine Gedanken verdüsterten sich. Er hatte sich schließlich nicht zum Vergnügen auf die Suche nach seinem Schwager gemacht. Faramir durfte nicht vergessen, dass ihnen bald ein Krieg bevorstand. Vielleicht war es also nicht so schlimm, wenn Eowyn in einem der Gasthäuser untergekommen und so in Sicherheit war, dachte er bei sich.
Als sie erkannt hatten, wer sich ihnen näherte, ließ Eomer seinen Schwager mit einem Hornstoß begrüßen. „Seht nur, der König schickt uns eine großartige Eskorte! Nicht, dass wir schon zu spät zur Hochzeit kommen!" scherzten die Rohirrim. Eomer stimmte gut gelaunt ins Gelächter ein und seine Frau lächelte schmal. Manchmal musste sich Lothiriel doch noch sehr an die raueren Umgangstöne in Rohan gewöhnen und das, obwohl sie bereits seit so vielen Jahren mit Eomer verheiratet war. Elfwine hörte neugierig zu, wenn sich die Männer unterhielten – vielleicht war er zu aufmerksam, dachte Lothiriel.
Faramir ritt den Rohirrim mit schnellem Schritt entgegen. Eomer begrüßte ihm freudig und auch Faramir war erleichtert, ihn mit einer solchen großen Reiterschar zu sehen. Eomer bemerkte, wie der Fürst von Ithilien die Männer musterte. „Ich weiß, ich sehe aus, als wolle ich in den Krieg ziehen, aber," er bedachte Lothiriel und den Knaben mit einem Lächeln, „ich habe große Schätze dabei."
Der König von Rohan schlug seinem Schwager freundschaftlich auf die Schulter, als Faramir nicht aufhörte, die Menge nach einem vertrauten Gesicht abzusuchen, aber Eowyn blieb nicht auffindbar. Nun, dafür war jetzt keine Zeit. Sicher ging es ihr gut. So berichtete er schnell und so leise, dass seine Cousine und Eomers Sohn nichts mit anhören mussten von den Dingen, die ihnen bevorstanden. Eomer versteifte. Kurz dachte er über das Gesagte nach, denn winkte er seinen Waffenmeister zu sich.
„Nimm zwei deiner besten Männer. Sie werden mit der Königin und dem Prinzen in das nächste Dorf reiten." Er reichte dem Mann einen kleinen Beutel, in dem Faramir Münzen vermutete. „Wir werden euch rufen lassen, wenn ihr nach Minas Tirith nachkommen sollt. Bis dahin hütet meine Familie wie euren Augapfel." Der Soldat nickte und verbeugte sich tief. Eomer gab seiner Frau einen schnellen Kuss und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Lothiriel wurde etwas blass, nickte dann aber und holte ihren Sohn zu sich. Faramir küsste die Hand seiner Cousine und wünschte ihr eine gute Reise. Sie sahen der kleinen Gruppe noch nach, bis sie verschwunden waren, dann wandte sich Eomer grimmig an Faramir. „Wir haben keine Zeit zu verlieren. Während wir auf dem Weg in die Stadt sind, musst du mir in allen Einzelheiten berichten, was vorgefallen ist. Der tag heute kam mir ohnehin seltsam vor..."
Ein Lächeln umspielte Aragorns Lippen und Eowyn legte ihm freundlich die Hand auf die Schulter. „Sie ist dir nicht böse, Aragorn, sie hat gewusst, dass du unter einem Bann standest. Laietha und ihre Leute warten am Druadanwald und ihr werdet euch bald wiedersehen." Aragorn nickte. Fast hatte er geahnt, dass seine Schwester noch am Leben war. Er hatte es sich zumindest gewünscht und nun da Eowyn ihm die frohe Kunde überbracht hatte, wäre er am liebsten aufgestanden und zu ihr geritten, aber das musste noch ein wenig warten. Zuerst würde er seine Stadt befreien, denn er hatte so viel Unheil angerichtet, das es jetzt wieder gutzumachen galt.
Einige Männer vertrauten ihm noch immer, aber die Blicke, die ihm der junge Soldat, der Eowyns Befreiung organisiert hatte, zuwarf, sprachen eine deutliche Sprache – es galt nun, sich das Vertrauen des Volkes wieder zu erarbeiten und dafür galt es Taten zu vollbringen. Eowyns Kinder eilten an ihre Seite und die Fürstin von Ithilien presste sie gegen ihre Brust. „Ich werde meinen Bruder suchen. Ich habe das Gefühl, dass er nicht weit von hier sein kann...warum auch immer." Sie lächelte unsicher. Irgendwie kam ihr der Tag merkwürdig vertraut vor.
Aragorn erhob sich und drückte die Frau fest an sich. „Pass gut auf dich auf und bleib mit den Kindern in Sicherheit." Niemand sprach davon, aber Eowyn war zu sehr eine Frau, die den Weg des Schwertes gegangen war, um die Zeichen einer bevorstehenden Schlacht zu übersehen. Sie würde Hilfe schicken, wenn sie jemanden traf, der helfen konnte. Vielleicht würde sie Boromir unterwegs begegnen. „Möge dein Schwert geschärft und dein Pferd stark und schnell sein," flüsterte sie ihm ins Ohr. Aragorn lächelte dankbar. „Geh nun." Eowyn und ihre Kinder verschwanden in der Dämmerung und Aragorn sah ihnen noch eine Weile nach. Dann straffte er sich und begab sich zu den Männern, die auf sein Kommando warteten.
Frodo trat schnell zu Arahorn, als er den König erblickte. Er hatte etwas im Gefühl, über das er unbedingt mit dem Mann reden musste. Aragorn sah ihn erwartungsvoll an. Es dauerte einen Augenblick, bis Frodo seine Gedanken in Worte fassen konnte, dann begann er sich zu erklären.
Es war ein seltsamer Tag und er hatte das Gefühl, als würde Mornuan sie verfolgen. „Sie beobachtet uns. Vielleicht kann sie durch die Augen von Tieren sehen, wie Saruman, ich weiß es nicht, Streicher, aber sie weiß, dass wir hier sind und sie angreifen wollen. Außerdem habe ich das Gefühl, dass sie ihre Truppen in die Schlacht begleiten wird. Hier ist Hexerei am Werk, also sollten wir besonders vorsichtig sein."
Die anderen Hobbits hatten gelauscht und sie alle hatten ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, aber Sam hatte ein ums andere Mal beteuert, dass er glaubte, ihnen würde nichts geschehen und Frodo hatte ihm beigepflichtet. Was für ein seltsamer Tag!
Die Männer waren alle unruhig – einige hatten das Gefühl, den nächsten Morgen nicht mehr zu erleben, was nichts ungewöhnliches vor einer Schlacht war, aber das Gefühl unterschied sich von dem, was sie bisher erlebt hatten. Aragorn wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab, die Unruhe zu bezwingen. „Wir brechen auf!" verkündete er laut und tatsächlich wich das Gemurmel dem Rasseln von Waffen und Rüstungen und es dauerte nicht lange, bis die kleine Armee sich in gang setzte, um gegen Minas Tirith zu marschieren.
Elrond hatte zum schnellen Aufbruch gedrängt und sie waren den ganzen Tag im strammen Tempo geritten. Als sie gegen Abend den Waldesrand erreichten, hielten sie kurz an, was Aiglos Hintern ihnen dankte. Vielleicht war das leben als Kundschafter doch nichts für ihn, denn sein Rücken schmerzte vom langen Reiten. Zumindest – und das hatte Elrond über die Maßen erstaunt – hatten sich die Geschwister nicht gestritten.
Elladan und Elrohir tauschten einen besorgten Blick. Sie wollten so schnell wie möglich weiter, denn je näher der Abend rückte, desto mehr hatten sie das Gefühl, dass ihre Ziehgeschwister in Gefahr schwebten. Elrond suchte die Große Weststraße mit seinen Blicken ab, konnte aber nichts ausmachen. Er rief Aiglos und Bereg zu sich. „Aiglos, du und Beregs Frau werdet euch auf den Weg zum nächsten Gasthaus machen und dort warten, bis ich euch holen lasse." Er drückte dem Jungen einen kleinen Beutel in die Hand, in dem Boromirs Sohn Münzen erfühlen konnte. „Du bist für die Sicherheit der Frau verantwortlich, verstanden?" Der Junge grinste breit. Das wurde immer besser. Das nächste Gasthaus war ein ganzes Stück weit fort, weit genug, um eventuellen Abenteuern über den Weg zu laufen! Aber als hätte sein Großvater seine Gedanken gelesen, packte er den Jungen fest an der Schulter.
„Ihr reitet auf direktem Weg dorthin. Zwei von Beregs Männern werden euch begleiten. Im Zweifelsfall versteckt ihr euch, bevor ihr einer Gefahr entgegentretet, haben wir uns verstanden?" Aiglos nickte. Wenn sein Großvater so ernst und eindringlich mit ihm sprach, hatte es meist einen guten Grund. Sein Enkel hatte nur einmal nicht auf ihn gehört, weil ihm die Ermahnung, dass Feuerkröten ein brennendes Sekret absondern nur als Vorwand erschienen war, damit Aiglos seiner Schwester die Tiere nicht ins Bett setzte. Die brennenden Blasen an seiner Hand hatten ihn eines Besseren belehrt und von diesem Tag an glaubte er Elrond aufs Wort.
Elrond nickte zufrieden. „Geht nun und seid vorsichtig. Wir sehen uns bald wieder. Und mach keinen Unsinn." Luthawen drückte ihren Bruder zum Abschied. Fast wäre sie froh gewesen, ihre Ruhe vor ihm zu haben, wenn sie nicht das Gefühl geplagt hätte, ihr stände an diesem Tag noch etwas Schlimmes bevor. Nur was geschehen würde, wusste sie nicht. Und sie wagte auch nicht, mit den anderen darüber zu reden, denn irgendwie schien jeder in der Gesellschaft unangenehmen Gedanken nachzugehen. Natürlich hatte es sie stutzig gemacht, dass sie die Gruppe begleiten sollte und Aiglos nicht und auch Olbern wich ihr nicht von der Seite und sah sich immer wieder nach rechts und links um.
Jetzt, das Aiglos und Beregs Frau in Sicherheit waren, beschleunigte die Gruppe ihr Tempo und sie preschten in Windeseile auf die Weiße Stadt zu.
In der Ferne ragte der Weiße Turm Ecthelions auf und die untergehende Sonne tauchte ihn in feuriges Licht. Mein letzter Sonnenuntergang, dachte Laietha. Sie verabschiedete sich still vom Tageslicht und ihr Herz schlug schneller. Bald würde es vorbei sein. Für einen Augenblick schweiften ihre Gedanken von der bevorstehenden Schlacht ab. Von ihrem Mann hatte sie so schmählich Abschied genommen. So hatte sie sich die letzte Begegnung mit dem Menschen, den sie am meisten liebte nicht vorgestellt. Aber der Moment war verstrichen. Was geschehen war, konnte sie nicht rückgängig machen und letztendlich war alles gut so wie es war.
Sie preschten über die Ebene, den Pelennor Feldern entgegen. Laietha spähte in Richtung Stadt, in der Hoffnung, eine Spur von ihrem Bruder zu entdecken, aber das schwindende Licht erschwerte die Sicht. Hoffentlich hatte sie ihn nicht verpasst! Sie trieb ihren Hengst noch mehr zur Eile an und die Männer Gondors griffen ihr Tempo auf und folgten ihr. Ein Mal hatte sie neben sich eine huschende Bewegung gesehen. Sie war sich nicht sicher, meinte aber eine Frau und Kinder erkannt zu haben, aber das war nicht wichtig. Es ging jetzt nur darum, Aragorn so schnell wie möglich zu finden.
Nicht lange nachdem es ganz dunkel geworden war und nur der Mond ihnen noch Licht spendete, hörten sie in der Ferne das Klirren von Waffen und Laiethas Herz machte einen ängstlichen Sprung. Sie kämpften bereits! Sie hatte so gehofft, Aragorn noch vor der Schlacht abzupassen und ihn zu warnen, aber nun wurde jede Sekunde kostbar. Sie musste Aragorns Mörder aufhalten bevor er zuschlug!
Mit einem Ruck brachte sie ihr Pferd zum Stehen und die Soldaten taten es ihr gleich. „Männer Gondors! Schützt euren König, befreit eure Stadt, reitet für Heimat und König Elessar!" Ein donnernder Jubel folgte ihren Worten und mit gezückten Schwertern ritten die Soldaten an ihr vorbei und es dauerte nicht lange, bis sie ins Schlachtgeschehen eingriffen.
Laietha verharrte einen Moment lang und suchte das Schlachtfeld nach den vertrauten Umrissen ihres Bruders ab, aber sie sah ihn nicht. Die Schlacht musste schon eine Weile toben, denn es sah nicht gut für Aragorns Leute aus. Sie musste ihn finden und sich zu ihm vorkämpfen, aber vorher hatte sie noch etwas anderes zu erledigen, wenn sie in Frieden sterben wollte.
Neben ihr griff Bergil bereits zu seiner Waffe. Laietha sprang von ihrem Pferd und packte ihn am Arm. Erstaunt sah er sie an, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Hör gut zu, mein Freund, ich bitte dich um einen letzten Gefallen." Sie ließ ihm keine Chance zu protestieren. „Du musst diese Schlacht überleben und Boromir finden. Für Erklärungen ist keine Zeit, aber ich habe furchtbare Dinge zu ihm gesagt."
Jetzt verstand Bergil, warum die Kriegerin alleine aus dem Wald gekommen war. Ein Mann wie Boromir ließ sich nicht von ein paar Beleidigungen abschrecken. Er wollte sich gar nicht vorstellen, was Laietha ihm gesagt hatte, um ihn in Sicherheit zu bringen. Die Kriegerin schluckte und presste ihren Freund fest an sich. Die letzte menschliche Wärme, die sie spüren würde...
„Sag ihm, dass ich ihn liebe und dass nichts von alledem wahr ist..." Ihre Stimme versagte und Bergil schloss sie fest in den Arm. Sie löste sich von ihm und lächelte dankbar. „Und hab ein Auge auf meinen Bruder." Kurz zögerte sie, aber dann packte sie ihr Schwert. „Wir sehen uns in Mandos Hallen, Bergil!" Ihre Stimme hallte noch in der Luft, aber sie war bereits verschwunden. Bergil holte tief Luft. Jetzt war er geneigt ihr zu glauben, dass sie sterben sollte.
Einer der Fremdlinge hatte Bergil entdeckt und nutzte den kurzen Moment seiner Gedankenverlorenheit. Mit einem harten Schlag entwaffnete er den Soldaten und Bergil konnte um Haaresbreite einem zweiten Schwerthieb ausweichen, nicht ohne das Gleichgewicht zu verlieren und zu Boden zu gehen. Entsetzt sah er den grinsenden Fremdling an, der sein Schwert hob, um ihn zu enthaupten.
Dann war Bergil auf einmal nur noch Krieger. Ohne zu wissen, was er tat, holte er aus und trat mit aller Kraft zu. Mit einem Schmerzensschrei ging der Fremdling zu Boden und hielt sich den verletzten Unterleib. Bergil griff nach dem Dolch des Feindes und rammte ihm die Waffe ins Herz. Keuchend wischte er sich den Schweiß von der Stirn. „Danke, Laietha," flüsterte er. Er sollte sich schon etwas mehr Mühe geben, sein Versprechen zu erfüllen. Er wischte sich das Blut von den Händen und griff nach seinem Schwert. „Mehr Vorsicht," murmelte er. Wenn er starb würde ihm seine Freundin die Unsterblichkeit zur Hölle machen.
Im Zentrum der Schlacht entdeckte er seinen König. Er würde gleich damit anfangen, auf Aragorn aufzupassen. Fest umschloss er den Griff seiner Waffe und bahnte sich seinen Weg durchs Kampfgetümmel, bereit, seinem König zur Seite zu stehen und seinen Eid zu erfüllen.
Aragorn hatte wohl bemerkt, dass sie Verstärkung erhalten hatten. Er atmete auf. Lange hätten sie den Feinden nicht mehr standhalten können. Die Valar mussten die Männer geschickt haben. Auch Aragorns Leute schöpften neuen Mut und rings um ihn herum hörte er die Kampfrufe gondorianischer Soldaten. Auch er packte sein Schwert fester und stürzte sich mit frischem Mut in den Kampf.
Boromir hatte eine ganze Weile lang reglos auf einem alten Baumstamm gesessen und zu Boden gestarrt. Seine Frau kannte ihn zu gut. Sie hatte bemerkt, was nicht einmal er selbst hatte wahrhaben wollen, dass er Aragorn für einen schlechten König hielt, dass er Laietha nicht zur Seite gestanden hatte, als es seine Pflicht gewesen war. Dennoch sträubte sich etwas in ihm zu akzeptieren, dass er der schlechte Mensch sein sollte, als den sie ihn dargestellt hatte.
Vielleicht lag es an der plötzlichen Art, wie sie ihre Meinung zu ihm geändert hatte, dass er nicht glauben konnte, ihre Worte wären von Herzen gekommen, aber sie hatte ihn dort am härtesten getroffen, wo er am verwundbarsten war – bei seiner Liebe zu ihr und zu Gondor. Sie wusste genau, dass er alles tun würde, um seine Stadt und sein Land in Sicherheit zu wissen, und vielleicht hatte sie gerade deshalb nicht einmal falsch gelegen, als sie ihn bezichtigt hatte, Aragorn Vorwürfe zu machen und ihn seines Amtes entheben zu lassen, aber Gondor war schon lange nicht mehr seine größte Liebe. Er würde für sein Land in den Krieg ziehen, aber ohne Nachzudenken jeden töten, der seine Stadt bedrohte – nein. Es gab nur eins, für das er zum Mörder werden würde und das waren seine Frau und seine Kinder.
Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und mit einem wilden Fluch sprang er in die Höhe. Sie hatte ihn getäuscht! Sie musste irgendetwas wahnsinniges vorhaben, bei dem sie ihn nicht dabei haben wollte, deshalb hatte sie diesen Streit vom Zaun gebrochen und er war dumm genug gewesen, ihren Erwartungen zu folgen und sich selbstmitleidig in die Ecke zu setzen um zu jammern!
Er wusste gar nicht, dass er so schnell laufen konnte, denn er war im Handumdrehen bei ihrem ehemaligen Lagerplatz. Er hatte schon genug Zeit vertrödelt und jetzt musste er sich selbst übertreffen, wenn er rechtzeitig zur Stelle sein wollte um zu verhindern, dass seine Frau etwas sehr Dummes tat. Sein Pferd war noch angebunden, was ihn darin bestärkte, dass sie nur hatte Zeit gewinnen wollen.
Schnell schwang sich der Krieger in den Sattel und trieb das Tier zu höchster Eile an. Es war später Nachmittag. Seine Frau hatte eine gute Stunde Vorsprung und die galt es jetzt aufzuholen. Er lenkte das Tier in Richtung Minas Tirith, denn Boromir hätte sein Leben darauf verwettet, dass Laietha unterwegs war, um Aragorn zu suchen.
Laietha war von der falschen Seite her in die Schlacht eingedrungen. Es war unmöglich, Aragorn zu erreichen. Zwischen ihrem Bruder und ihr selbst waren unzählige Feinde. Die Kriegerin fluchte, aber dann erregte jemand ihre Aufmerksamkeit. Wenige Meter von ihr entfernt stand ein Bogenschütze, der anlegte und die Sehne spannte. Laietha wusste, wem der Pfeil galt. Vielleicht war sie doch am rechten Ort!
Sie zückte ihren Doch und mit einem gezielten Wurf brachte sie den Bogenschützen zu Fall. Er ging gurgelnd zu Boden. Laietha atmete auf. Jetzt war es geschafft! Ihre Fingerspitzen wurden taub. Das war also der Anfang vom Ende. Dort, auf einem der Streitwagen sah die Kriegerin Mornuan. Hatte sie es sich doch nicht nehmen lassen, ihrem Triumph am Ende beizuwohnen. Laietha umschloss ihr Schwert mit der Hand, entschlossen der Hexe wenigstens noch einen Denkzettel mitzugeben, bevor sie starb.
Mornuan lächelte hämisch. Laietha konnte ihre Selbstzufriedenheit selbst auf diese Entfernung sehen, aber die Kriegerin hatte erreicht was sie wollte – Boromir war in Sicherheit und Aragorn würde die Schlacht mit großer Gewissheit überstehen. Sie sah, wie Bergil sich zu ihm vorkämpfte. Aber sie hatte nicht mit Mornuan gerechnet.
Wie in einem bösen Traum sah sie den Bogenschützen an ihrer Seite auftauchen, der anlegte und auf ihren Bruder zielte. Nein! Schoss es ihr durch den Kopf. Nicht jetzt! Laietha stieß einen gellenden Warnruf aus, aber zu spät – der Pfeil traf sein Ziel und dann explodierte auch in ihrem Körper ein Geschoss aus Schmerz, das ihren Schrei ersticke und sie auf die Knie sinken ließ.
Alle Geräusche wurden dumpf, die Bewegungen der Schlacht um sie herum langsam, nur ihr Herz pumpte das Gift unermüdlich durch ihren Körper. Ihre Atmung wurde schwer, als die Muskeln zu versagen begannen, jede Faser in ihrem Körper brannte, als das Gift sie zu zerfressen begann. Und dann tauchte Mornuans Gesicht über ihrem auf. Laietha konnte keinen Muskel rühren.
„Ist dein armer Bruder nun doch noch gefallen?" höhnte die Frau. Grimmige Wut durchzuckte die Kriegerin. Am liebsten wäre sie der Hexe an die Gurgel gesprungen, aber das Gift wirkte schnell und sie konnte sich nicht mehr bewegen. Eine eisige Kälte begann Besitz von ihr zu ergreifen.
Plötzlich huschte ein breites Grinsen über das Gesicht ihrer Kontrahentin. „Wen haben wir denn da?" rief sie freudig überrascht. „Sieh nur, wer wegen dir gekommen ist!" Mornuan nahm ihren Kopf in die Hände und drehte ihn in Richtung des Schlachtfeldrandes. Es dauerte einen Moment, bis Laietha begriff, was sie von ihr wollte, aber dann raste ihr Herz vor Entsetzen. Boromir, formte sie mit stummen Lippen. Dort am Rande des Schlachtfeldes stand ihr Mann und suchte nach ihr. Mornuan würde ihn töten lassen und dann war alles umsonst gewesen.
Das Gift begann ihr Herz zu erreichen. Schon wurde der Herzschlag unregelmäßig und vor ihren Augen begann es zu flimmern, aber in ihr erwachte ein Hass, den sie nie zuvor verspürt hatte. Ihre Muskeln verkrampften unter ihrer Gegenwehr und Mornuan lachte laut. „Oh, es ist schmerzhaft, nicht wahr? Habe ich vergessen, das zu erwähnen? Dein Herz beginnt zu flattern, hab ich Recht? Sei getrost, du hast es bald überstanden. Hast du noch letzte Worte an deinen Mann, bevor ich ihn töte?"
Laietha konnte schwören, dass sie nicht mehr Herrin über ihre Glieder war, aber die Wut war so stark in ihr, dass sie ihr Schwert zu fassen bekam. Sie konnte Mornuan vielleicht nicht töten, aber sie würde ihr unvergessen bleiben. Mit einer letzten Anstrengung packte Laietha ihr Schwert und als Mornuan erkannte, was sie vorhatte, war es bereits zu spät – Laietha traf ihren Hals und das letzte was sie sah war der heiße rote Blutstrom, der sich über ihr Gesicht ergoss.
Er hörte den Schrei seiner Schwester. Warum er sich zur Seite drehte, wusste Aragorn nicht, aber der Pfeil, der für sein Herz bestimmt gewesen war, durchschlug seine Schulter. Mit einem Ächzen ging er zu Boden. Sofort war Bergil an seiner Seite. „Mein Herr!" Der junge Mann bekam ihn unter den Armen zu fassen und wuchtete ihn hoch. Stöhnend stützte sich Aragorn auf ihn. „Schon gut, ich kann gehen." Suchend sah sich der König um. Wo war seine Schwester?
Plötzlich ertönte ein wilder Schrei der feindlichen Truppen und aus dem straff organisierten Regiment wurde in Windeseile ein chaotischer Haufen. Etliche flohen, die anderen kämpften verbissen weiter und an einer Stelle des Schlachtfeldes bildete sich ein verlassener Kreis, um den zuerst Mornuans Männer herumstanden, die dann von den Männern aus Minas Tirith niedergemacht wurden, aber auch die Wachen Gondors blieben stehen.
Aus dem Süden schallte ein Horn – Rohirrim, erkannte Aragorn. Eomer und seine Männer waren als doch noch rechtzeitig eingetroffen und nun stürzten sich auch die Pferdeherren ins Kampfgetümmel und trieben die Fremden auseinander. Schon jetzt war abzusehen, dass die Schlacht bald vorüber sein würde. Auf Bergil gestützt humpelte er zu jenem Kreis inmitten des Schlachtfeldes.
Aragorns Herz zog sich schmerzhaft zusammen und das lag nicht an der Verletzung in der Schulter. Laietha! Mit erstaunlicher Kraft zog er Bergil mit sich und als der junge Mann zu begreifen begann, warum die Männer einen Kreis bildeten war er es, der das Tempo anzog. Aragorn verschaffte sich unsanft Zutritt zum Zentrum und brauchte einen Moment um zu erkennen, was er dort sah – auf dem Boden lag der blutüberströmte, regungslose Körper seiner Schwester und direkt daneben der seiner Frau.
Hastig stieß er Mornuan zur Seite. Ihre glasigen Augen starrten reglos in den Himmel. Sie schien tot zu sein. Aber auch um seine Schwester stand es schlecht. Der Lärm um sie herum war verloschen – zumindest nahmen sie ihn nicht mehr wahr. Aragorn suchte nach ihrem Puls, aber er fand keinen, er legte sein Ohr an ihre Lippen, aber kein Hauch entkam ihrem Körper. „Nein." Zuerst war es ein Flüstern, dann ein Schrei der die Nacht zerriss.
Bergil überlegte fieberhaft. Das konnte nicht das Ende sein. Er sprang auf die Beine und sah sich suchend um. In der Ferne sah er Boromir angelaufen kommen, aber hinter dem Krieger erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Reiter am Horizont. Das war genug um Hoffnung in dem Mann keimen zu lassen. Bergil rannte los.
Elrond schien ihn erblickt zu haben, denn der Elbenfürst hielt auf ihn zu und sprang hastig vom Pferd. Bergil hielt sich nicht mit langen Erklärungen auf. Er bekam den Elben am Ärmel seines Gewandes zu fassen und zog hastig. Stoff riss, aber entweder Elrond schien es nicht zu bemerken, oder es war ihm egal. „Vergiftet – sie stirbt – schnell!"
Mehr brauchte der Elb nicht. Er stieß den Soldaten zur Seite und begann zu rennen. Seine Robe war hinderlich, aber er stolperte dank seiner Geschicklichkeit nicht und erreichte in wenigen Augenblicken den Kreis auf dem Schlachtfeld, aus dem er Aragorns Klage hörte.
Elrond kniete neben seiner Ziehtochter nieder. Er suchte den Puls, suchte nach Atem und fand so wenig wie sein Ziehsohn. „Ruhe!" donnerte er und Aragorns Klage verstummte mit dem Gemurmel der Männer. Elrond legte ihr die Hand aufs Herz, betastete ihre Stirn, sah in ihre Augen.
Der Junge hatte Recht gehabt, man hatte sie vergiftet – ihr Herz hatte bereits aufgehört zu schlagen, aber in ihr hatte er einen solchen Kampf gespürt, dass er der festen Überzeugung war, sie retten zu können – wenn er die richtigen Mittel hatte! Es konnte jedes beliebige Gift sein! Wahrscheinlich eines, das er noch nie zuvor gesehen hatte und er hatte nicht einmal einen Wimpernschlag Zeit. Alles was er hatte war die Pflanze, die Luthawen gefunden hatte – es war einen Versuch wert.
Hastig zog er die Pflanze aus seinem Kräuterbeutel, ohne auf die Stacheln zu achten, die in seine Haut eindrangen. Er pflückte die Beeren und steckte sie in den Mund seiner Tochter. Normalerweise kochte man Sud aus den Beeren, zerrieb ihre Blätter zu einer Paste, versetze sie mit anderen Kräutern, verdünnte die Extrakte, aber das alles brauchte Zeit.
Roter Beerensaft lief Laietha über die Lippen. Es sah aus wie Blut und hob sich von ihrer immer bleicher werdenden Haut ab. Elrond öffnete ihren Mund und schob den Brei mit seinem Finger in ihren Hals. Er massierte ihn von außen, in der Hoffnung, etwas von der Medizin in ihren Körper zu bekommen. Er zerriss der Stoff ihres Hemdes und rieb ihre Brust mit den Blättern ein, ohne einen Gedanken an die Stacheln zu verschwenden. Laietha spürte sowieso nichts. Wenn es nur etwas helfen mochte!
Wie in Trance hörte er die Stimmen von Laiethas Mann und ihrer Tochter. Hoffentlich war jemand zur Stelle, der sie zurückhielt! Elrond beugte sich über den reglosen Leib seiner Tochter. Kein Herzschlag war zu hören, nur der Tumult in ihr tobte weiter. Er kniff die Augen zusammen. Mehr konnte er nicht tun. Das Kraut war verbraucht und mehr Hilfsmittel hatte er nicht.
Stumm blickte er auf und sah Boromir, der seine Tochter fest gegen sich presste, ein hilfloser Olbern, der daneben stand und einen fassungslosen Aragorn. Sie alle warteten geduldig, dass er ihnen hoffnungsvolle Nachrichten überbringen würde. Elrond schüttelte den Kopf.
Luthawen riss sich von ihrem Vater los. Bevor auch nur einer von ihnen einen Muskel rühren konnte, hatte sich das Mädchen über ihre Mutter geworfen.
„Mama! Mama, komm zurück zu uns!" Heiße Tränen strömten über Luthawens Wangen und tropften auf das Gesicht ihrer Mutter. Das Mädchen trommelte mit den Fäusten auf ihren Oberkörper ein, als könne sie die Frau dadurch zurückbringen. Boromir beugte sich zu ihr hinunter und wollte sie fortziehen, aber seine Tochter schrie hysterisch und warf sich zurück auf Laietha. Boromir ließ sie gewähren und legte ihr eine Hand auf den Rücken. Plötzlich versteifte Luthawen. Sie presste ihr Ohr gegen die Brust ihrer Mutter und sprang mit einem Schrei in die Höhe.
„Sie lebt!" Fast grob stieß ihr Großvater sie zur Seite. Ja, ganz schwach, ganz langsam – aber eindeutig ein Herzschlag. „Bringt eine Bahre," flüsterte Elrond und bevor er den Satz beendet hatte, war Bergil auch schon davon gestürmt auf der Suche nach einem Transportmittel.
Dem Schmerz wich eine leichte Wärme und ein Ziehen, das einen Teil der Kriegerin von ihrem Körper zu lösen schien. Laietha versuchte sich an ihrem Leib festzuklammern, aber sie hatte weder Hände noch Finger zum Greifen. Eine unendliche Leichtigkeit durchflutetet sie und vor ihr tat sich ein gleißendes Licht auf, in dessen Mitte der Umriss einer Frau zu erkennen war. Es kam Laietha wie in einem Traum vor. Zwar konnte sie das Gesicht der Frau, die vor ihr stand nicht erkennen, aber sie war sich sicher zu wissen, mit wem sie es zu tun hatte. „Mutter," flüsterte sie und die Frau streckte lachend die Arme nach ihr aus.
Endlich, endlich ist es soweit, mein Kind! Komm zu mir, dein Vater und ich haben so lange auf dich gewartet, jetzt ist der Tag gekommen, an dem wir uns wiedersehen!
Laietha zögerte einen kurzen Augenblick, aber dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, Mutter, ich kann noch nicht. Jetzt ist nicht der richtige Augenblick!" Sie dachte an Boromir und Aragorn und daran, wie schändlich Mornuan sie betrogen hatte. Nein, sie konnte jetzt nicht sterben, sie würde es einfach nicht zulassen!
Wehr dich nicht, Kind, wehr dich nicht, komm zu uns ins Licht, deine Zeit ist gekommen. Wehr dich nicht, sonst wirst du rastlos auf der Erde wandeln und der Weg zu uns wird dir versperrt sein!
Der Sog wurde stärker und sie spürte, wie sie sich immer mehr von ihrem Körper entfernte. Nein, jetzt noch nicht, dachte sie. Sie konnte nicht ruhen, bis sie Mornuan das Handwerk gelegt hatte, sie musste zu sich kommen, musste versuchen, Aragorn und Boromir zu retten! So hatten sie nicht gewettet! Die Frau im Licht streckte ihre Arme nach ihr aus.
Laietha, mein Kind! Komm zu uns! Komm zu mir und deinem Vater!
Ihre Gesten wirkten bittend und Laietha war fast versucht ihr nachzugeben, als sie ein Stück weiter an ihren Körper herangezogen wurde und ein Schrei an ihr Ohr drang: „Mama!"
Traurig sah sie die Frau im Licht an. Lebewohl, mein Kind! Und mit einem Ruck wurde Laietha zurück in ihren Körper gepresst. Alles was sie wahrnahm war ein stechender Schmerz und danach wurde sie von tiefer Dunkelheit verschluckt.
