Das Biest
„Verzage nicht, Estel," flüsterte sie ihm verheißungsvoll. „Du bist keineswegs verloren, noch bin ich es."
„Wie kann ich verloren sein, wenn es mir vergönnt ist, die Ewigkeit mit dir zu verbringen," antwortete er in ebensolcher Sprache.
Sie lächelte ihn an und schob ihn etwas von sich.
„Diese Ewigkeit hat noch nicht begonnen, Elessar…"
Aragorn verstand nicht. Alles war so schön und warm. Er fühlte sich geborgen und als wäre eine große Last von seinen Schultern genommen worden.
„Ich weiß, dass du hier bleiben willst, Estel, und auch wenn ein irdisches Leben hier nur einen Herzschlag dauert, so werde ich dir nicht folgen."
Aragorn schüttelte den Kopf.
„Aber nicht du bist es, die mir folgen muss. Du bist mir voraus gegangen," brachte er heraus.
Sie lächelte sanft und schüttelte den Kopf.
„Deine Zeit ist noch nicht gekommen… und meine ebenso wenig. Ich spürte die Liebe in dir und halte an ihr fest, so lange auch nur der kleinste Funken an ihr besteht."
„Du lebst!" es war eine schockierende Erkenntnis.
Aber Aragorn wurde sich nun bewusst, dass dies hier nur eine Vision war und nicht der Tod selbst. Wie damals, als sie ihm den Weg gezeigt hatte, war sie nun gekommen, um ihn zu vergewissern, dass das Leben weiter ging. Alles konnte noch gut werden. Alle Bilder von zuvor fluteten plötzlich noch einmal Aragorns Vorstellung. Gesetzesbeschlüsse, Freunde, die Ernte, die Geburt von Faramirs Kind… sein eigenes Kind!
Und Aragorn spürte ein letztes Aufwallen des Lebens, das in ihm steckte. Er fühlte sich stark genug!
Arwen reichte ihm beide Hände zum Aufstehen und er griff zu. Doch die zarten Finger waren nicht wirklich, was er erwartet hatte. Sie fühlten sich rau und gar nicht nach Frauenhänden an. Dennoch lächelte sie ihn an und mit einem Ruck zog sie ihn hoch.
Aragorn wurde aus dem Wasser und auf die Beine gezogen. Bevor er noch irgendeinen Gedanken faste, atmete er tief ein und füllte seine Lungen mit lange entbehrtem Sauerstoff. Sofort spürte er, wie sein Blutdruck wieder hoch kam und das Leben wieder begann durch seine Adern zu fließen. Er wurde gestützt, da er sonst wieder hingefallen wäre.
„Danke," brachte er heraus und sah sich seinen Retter an.
Das erste, was ihm auffiel, war dieses unglaubliche Rot und die grauen Augen – Faramir stand vor ihm, genauso außer Atem wie er selbst. Er musste die Fürstin von ihm weg gestoßen haben.
„Was ist passiert?" fragte Aragorn ungläubig und als nächstes entdeckte er die Fürstin, wie sie sich Wasser spritzend wieder hoch zerrte.
Sie sah die beiden Männer giftig an und Aragorn konnte sagen, dass ihn dieser Blick an das Geschöpf Gollum erinnerte.
„Nein! Das ist nicht möglich! Ich lasse mir nicht meinen ganzen Plan von einem Zauberer verderben!" schrie sie hysterisch und griff nach einer kleinen Holzschachtel, die ihr Assistent hatte fallen lassen, als Legolas ihm die Kehle durchgeschnitten hatte.
„Es ist vorbei, Fürstin. Ihr habt verloren," rief Aragorn und bäumte sich auf. „Wenn Ihr Euch ergebt, so schwöre ich, dass ich gerecht über Euch urteilen werde."
„Was gibt es da zu urteilen," schrie sie wild. „Ich bin des Todes, egal wie Ihr es wendet! Aber ich werde nicht allein gehen, da könnt Ihr Euch sicher sein, König Elessar!"
Ihre langen krallenartigen Fingernägel schossen vor und grabschten nach Aragorns Gesicht, doch wurde sie von Faramir zurück gehalten.
Aragorn wusste, was er zu tun hatte. Anduril wurde aus der Scheide gezogen und blitzte hell und klar im aufziehenden Wind auf. Aragorns schwarzes Haar wehte wild hin und her, als er so bedrohlich und düster vor der Hexe stand, die sich versuchte aus dem Griff des Waldläufers zu befreien.
Der König nahm sein Schwert hoch über seinen Kopf, zwei Fackelträger kamen heran gerannt, versuchten ihrer Herrin zu helfen, die sich kreischend und fluchend wand.
„Tu es, Aragorn! Schnell!" rief Faramir, der alle Mühe hatte, die Frau fest zu halten.
Diese war plötzlich still geworden und murmelte etwas vor sich hin, ihre Augen fingen an, zu leuchten.
Aragorn konnte geradezu spüren, wie seine Bewegungen einfrohren und sein Schwert hoch über seinem Kopf zum Stehen kam.
Zabors Anblick war unglaublich, grauenerregend und furchtbar. Ihre vorher so zarte Haut schuppte plötzlich und wurde grün. Ihre Nase ebnete sich in ihr restliches Gesicht ein und ihr Kinn wurde flach. Sie schien zu wachsen…
Faramir, der keine Ahnung hatte, was vor sich ging, fühlte die Veränderung unter seinen Fingern. Die Frau wurde glitschig und glatt. Und seltsame Muskeln regten sich unter seinen Fingern. Umso mehr er versuchte, sie fest zu halten, desto mehr schien sie ihm zu entgleiten. Plötzlich traf ihn etwas Hartes am Kinn und er musste los lassen, wurde zurück geschleudert.
Aragorns Augen weiteten sich vor Grauen, als er den zweiten Kopf aus dem Halse der Frau hervor schießen sah. Grün und giftig ragte er nun hinauf, wie auch der erste.
„Eine Hydra!" rief Legolas erschrocken und versuchte, seine Aufmerksamkeit von den Feinden los zu reißen.
Er konnte bereits Boromir Befehle schreien hören. Er war irgendwo in den Wirrungen der Höhle, doch kam er näher.
Legolas rannte los und bekam das Seil zu fassen, mit dem er sich zuvor herab gelassen hatte. Er packte es und rannte mit dessen Hilfe an den scharfen Klippen entlang. Es sah beinahe aus, als würde er der Schwerkraft trotzen. Er nahm so viel Geschwindigkeit auf, wie nur möglich und als er auf der Höhe von der Hydra war, stieß er sich fest von der Wand ab und schwang weit in den Teich hinein.
Der Tritt fühlte sich an, als ginge er auf feuchtes Moos, das sich sofort wieder aufstellte. So kam es Legolas jedenfalls vor. Das Seil riss ihn wieder zurück, gerade noch rechtzeitig, bevor ein dritter Kopf hervor stieß und seine giftigen Zähne nach ihm ausklappte. Er sah, dass Aragorn noch immer erstarrt dort stand, seine Augen wach, doch sein Körper nicht unter der Kontrolle.
Legolas ließ los und fiel in das kalte Wasser.
„Du Scheußal denkst wohl, du könntest dir alles erlauben, was!" rief Faramir, der den Dolch eines toten Fackelträgers ergriffen hatte und sich dem Ungeheuer entgegenstellte, das nun bereits vier Köpfe hatte.
„Wasss denkssst du, wer du bissst, kleiner Wichhhhht?" zischelte das Ungetüm. „Wie kann es sssssein, dassss du einen Tag unter Wasssser überlebt hasssst?"
„Aragorn war Euch wohl nicht ganz so ergeben, wie Ihr es angenommen hattet," rief der Mann ihr zu und stürzte vor.
Faramir rammte den Dolch in die Kehle eines der Köpfe. Die Hydra kreischte auf und schwarzes Blut quoll hervor. Der getroffene Kopf zuckte wild hin und her, schlug und peitschte das Wasser. Faramir wurde zurück geschleudert und kam hart auf dem Wasser auf.
„Mein Kopffff!" schrie das Wesen erzürnt. „Was hassst du mit meinem Kopf gemachhhht?"
Einer der nun sieben Schlangenköpfe hing schlaff am riesigen Leib der Schlange herab.
Faramir konnte einfach nicht anders, als Grinsen. Er beobachtete, wie Legolas hinter der Schlange wieder auf die Beine kam.
„Verzeiht, werte Fürstin, aber ich denke, dass Eure Schönheit dadurch keinen Schaden genommen hat," sagte er herausfordernd und eine Sekunde später wurde er sich bewusst, dass er keine Waffe mehr hatte.
Ein Pfeilhagel schoss herab. Zwanzig Waldläufer standen an der Klippe und schossen Kopfüber, an Seilen gehalten, Pfeile auf das Ungetüm ab. Drei blieben stecken, da sie den schwierigen Weg unter die dicken Schuppen gefunden hatten, der Rest fiel wirkungslos ins Wasser.
Ein großer Kopf reckte sich und streckte sich, doch kam er nicht an die Soldaten heran.
Ein anderer drehte sich von Faramir weg, gerade rechtzeitig, um den Elben zu erblicken, der dabei war, den König vom Ufer fort zu tragen. Die Hydra kreischte auf.
„Nichhhht so schhhhnell, Elblein!"
Der Kopf schoss vor und zielte genau auf Legolas Kehle. Der Elbenprinz musste Aragorn fallen lassen, dessen Körper noch immer wie gelähmt war. Er duckte sich gekonnt unter den Giftzähnen weg und zog seine beiden Dolche heraus, machte eine Drehung und erwischte den langen Hals des Kopfes, der ihn gerade angegriffen hatte. Die gekreuzten Klingen trennten sich und das grüne Fleisch war durchtrennt.
Ein Schrei, eine Welle…
Legolas spürte das Gewicht in seinem Rücken, als es ihn nieder drückte. Bevor er jedoch das Gleichgewicht verlor, ließ es schon wieder von ihm ab.
Langsam drehte sich der Elb um, seine Pupillen weiteten sich bereits, sein Atem wurde schwer und die Muskeln müde. Ein neuerlicher Blitz flammte am Himmel auf und Legolas sah die gewaltigen Umrisse der Hydra. Einer ihrer Hälse hing schlaff herab, ein Kopf war abgetrennt und die langen Gift triefenden Zähne eines dritten waren rot vor Blut.
