Der nächste Tag fing genauso schlimm an, wie der letzte aufgehört hatte.
Draco war stinksauer, als er seinen Aufsatz zurück bekam und zerriss ihn in kleine Schnipsel. Als Rache versuchte er die ganze Zeit den Unterricht zu stören und ärgerte sich noch mehr, als ich ihn gar nicht weiter beachtete.
Trotzdem war ich froh, als die Stunde endlich vorbei war.
„Das werden Sie bereuen", zischte Draco mir im Hinausgehen noch zu und ich war neugierig was er damit meinte.
Der Tag schleppte sich dahin und ich war froh, als ich Abends endlich im Bett lag.
Der nächste Tag wurde noch schlimmer. Es begann damit, dass Draco zu spät erschien und absichtlich mit einem lauten Gepolter den Raum betrat, sodass ich gezwungen war den Unterricht zu unterbrechen.
„Haben Sie eine vernünftige Erklärung für Ihr Zuspätkommen, Mr. Malfoy?" fragte ich ihn und musste mich zur Ruhe zwingen.
„Och, ich dachte, ich schlafe heute mal aus", gab er mit einem breiten Grinsen zurück.
„So, dachten Sie?"
„Was dagegen?"
„Nein. Aber ich nehme an, da Sie ja nun ausgeschlafen sind, haben Sie nichts gegen eine kleine Zusatzaufgabe einzuwenden."
„Ein Draco Malfoy macht keine Zusatzaufgaben", meinte er daraufhin so überheblich, dass ich mich wirklich zusammenreißen musste, um ihn nicht zu verfluchen.
„Das werden wir ja noch sehen", murmelte ich und fuhr mit dem Unterricht fort.
Das heißt, soweit es mir möglich war. Draco störte lustig weiter. Entweder unterhielt er sich ganz ungeniert mit Goyle, der leider drei Bankreihen hinter ihm saß, oder bewarf die Gryffindors mit Papierkügelchen.
Ich versuchte ihn so gut es ging zu ignorieren und war am Ende der Stunde dementsprechend aufgeladen.
„Mr. Malfoy, wenn Sie bitte noch kurz hier bleiben würden..."
Er tat, als hätte er mich nicht gehört und so blieb mir nichts anderes übrig, als den Zauberstab zu ziehen und die Tür vor seiner Nase ins Schloss fallen zu lassen. Vorsorglich belegte ich sie mit einem Verriegelungszauber.
„Sind Sie wahnsinnig!" Wutschnaubend kam er auf mich zugelaufen. „Sie können mich doch nicht einfach einsperren! Wenn das mein Vater erfährt!"
„Glauben Sie mir, Sie wissen gar nicht, was ich alles kann...", sagte ich leise und konnte nichts dagegen tun, dass es sich wie eine Drohung anhörte.
„Ich werde meinem Vater erzählen, dass Sie mich eingesperrt haben und mir auch noch drohen. Und dann, das verspreche ich Ihnen, wird das Ihre letzte Unterrichtsstunde gewesen sein."
„Ja, ja. Jetzt hören Sie mir mal zu. Wenn Sie sich nicht etwas zusammenreißen, sehe ich schwarz für Ihr ZAG. Ich hoffe Sie wissen, dass ich Sie mit Pauken und Trompeten durchfallen lassen werde, wenn Sie sich nicht anstrengen."
„Sie können mir gar nichts", erwiderte er und war für meinen Geschmack etwas zu selbstsicher.
„Sind Sie sich da so sicher? Ich denke Sie wissen, dass Sie mit Verteidigung im nächsten Schuljahr nicht weiter machen können, wenn Sie von mir ein ‚T' bekommen werden."
„Was?" keuchte er.
„Und genau das werden Sie, wenn Sie nicht mit diesen albernen Spielchen aufhören. Statt dessen sollten Sie sich auf Ihre Leistungen konzentrieren."
Nun verlor er doch ein wenig von seiner Selbstsicherheit und flüchtete sich statt dessen wieder in seine Arroganz.
„Das werden Sie nicht wagen", knurrte er und diesmal klang es bei ihm wie eine Drohung.
„Ich brauche es gar nicht zu wagen. Ich werde gar keine andere Wahl haben, wenn Sie sich weiter so aufführen."
„Dann werde ich wohl keine andere Wahl haben, als meinen Vater einzuschalten", sagte er und stolzierte Richtung Tür.
Etwas widerwillig entriegelte ich sie und wurde den Verdacht nicht los, dass er sie absichtlich so laut hinter sich zuknallte, wie er konnte.
Die nächsten Stunden verliefen zum Glück einigermaßen friedlich, trotzdem war ich froh, als der Tag endlich vorbei war.
Doch ich hatte mich zu früh gefreut.
Auf dem Schreibtisch in meinem Büro wartete schon eine Eule auf mich und streckte mir ihr Bein entgegen.
Seufzend löste ich den Brief und war keineswegs überrascht, dass er von Lucius Malfoy war.
In seinem Brief hatte er sich für morgen angekündigt und wünschte dringenst mit mir zu sprechen.
Die kühle und überhebliche Art, in der der Brief abgefasst war, veranlasste mich ihn zusammenzuknüllen und ins Feuer zu werfen.
Was bildete dieser Malfoy sich eigentlich ein? Der Brief war keine Bitte, sondern kam eher einem Befehl gleich.
Grummelnd ging ich ins Bett und freute mich keineswegs auf den nächsten Tag.
Zum Glück hatte ich am nächsten Tag erst nachmittags Unterricht und so passte der Termin mit Malfoy senior gut in meinen Zeitplan.
Nach dem Frühstück verzog ich mich in mein Büro und brachte etwas Ordnung in meine Unterlagen, solange ich auf Malfoy wartete.
Um punkt Zehn wurde die Tür aufgestoßen und Dracos Vater kann hereinstolziert. Scheinbar hielt er es nicht für nötig sich durch anklopfen anzukündigen und sank folglich auf meiner Sympathieskala um einige Stufen.
Er steuerte zielstrebig auf meinen Besuchersessel zu und setzte sich, die Beine übereinandergeschlagen und die sauber manikürten Hände im Schoß gefalten.
Aus seinen grauen Augen musterte er mich abschätzig.
Da er mit mir reden wollte, sagte ich zunächst nichts, sondern überließ ihm es das Gespräch zu beginnen, was mir Zeit gab ihn etwas genauer in Augenschein zu nehmen.
Lucius Malfoy war ohne Zweifel eine eindrucksvolle Erscheinung. Seine weißblonden Haare fielen ihm lang über die Schultern und rahmten ein gut geschnittenes und attraktives Gesicht ein.
Wäre da nicht der kühle, berechnende Ausdruck in seinen Augen gewesen, hätte er mit Sicherheit zu den Männern gezählt, die bei mir eine 10 auf der Richterskala bekamen.
Er war ganz in schwarz gekleidet, doch an ihm wirkte es keineswegs düster, sondern vornehm und edel.
„Sie wissen weshalb ich hier bin?" ergriff er endlich das Wort und seine Stimme war kühl und angenehm zugleich.
„Ihr Brief war unmissverständlich", gab ich zurück.
„Gut. Das erspart mir die Mühe es nocheinmal zu erklären. Also, ich verlange von Ihnen eine Erklärung, warum Sie meinem Sohn dermaßen schlechte Noten geben."
„Weil ich ihm keine besseren geben kann."
Malfoy hob eine Augenbraue und schien nicht ganz zu glauben was ich ihm sagte.
„Die Leistungen, die Ihr Sohn in meinem Unterricht erbringt, erlauben es mir nicht ihm eine bessere Note zu geben", wurde ich deutlicher.
„Draco war noch nie schlecht in der Schule", stellte er klar.
„Das bezweifle ich auch gar nicht. Es ändert jedoch nichts daran, dass er es bei mir ist."
„Können Sie das überhaupt beurteilen?"
„Ist das eine ernstgemeinte Frage?"
„Ich scherze grundsätzlich nicht."
„Natürlich kann ich das beurteilen, ich bin seine Lehrerin", seufzte ich und fragte mich dabei, in welche Richtung das Gespräch eigentlich gehen sollte.
„Sie scheinen mir ein wenig jung für eine Lehrkraft. Ich glaube nicht, dass Sie genug Erfahrung haben um ein so anspruchsvolles Fach wie Verteidigung gegen die dunklen Künste zu unterrichten."
Empört über diese offene Beleidigung, sog ich scharf die Luft ein und musste mich zwingen ruhig zu bleiben.
„Ich dachte, Sie wollten über Ihren Sohn sprechen", versetzte ich und mein Tonfall wurde deutlich kühler. „Und nicht über meine Referenzen... die im übrigen ziemlich gut sind."
„Das eine hängt oft mit dem anderen zusammen. Draco war noch nie so schlecht, was mich zu der Annahme bringt, dass Sie vielleicht nicht die ideale Besetzung für den Lehrerposten sind."
„Meinen Sie? Dann frage ich mich, warum nur Draco keine Leistung bringt... Soll ich Ihnen mal sagen, was ich darüber denke? Draco ist einfach nur faul und keine Lust sich irgendwie am Unterricht zu beteiligen..."
„Das ist eine bodenlose Frechheit meinen Sohn, einen Malfoy, als faul zu bezeichnen", unterbrach er mich mit schneidender Stimme und funkelte mich wütend an. „Wir Malfoys sind eine traditionsreiche Familie, die auf eine lange Reihe exzellenter Zauberer zurückblicken kann. Und mein Sohn gehört definitiv dazu und ist keineswegs faul!"
„Wenn es so ist wie Sie sagen, dann frage ich mich, warum Draco sich keine Mühe gibt. Oder können Sie mir das hier erklären?"
Damit reichte ich ihm eine der letzten Hausaufgaben von Draco, die er sich aufmerksam durchlas.
„Das bestärkt mich nur mehr in der Annahme, dass Sie schlichtweg unfähig sind."
„Und Ihre, im übrigen überflüssige, Bemerkung, bestärkt mich in der Ahnnahme, dass Sie keine Ahnung davon haben, wie Dracos frühere Leistungen ausgesehen haben", schoss ich zurück und musste mich beherrschen um nicht aus der Haut zu fahren.
„Die brauche ich auch nicht zu haben", gab er überheblich zurück. „Solange der Junge gute Noten nach Hause bringt, ist es mir egal, was er hier treibt."
„Ach und sobald die Noten nicht so sind, wie Sie es gerne hätten, interessiert es Sie plötzlich?"
„Wollen Sie mir etwa unterstellen, dass ich ein schlechter Vater bin?"
„Ich unterstelle Ihnen gar nichts."
Dabei machte ich mir so meine eigenen Gedanken. Ich fand es schockierend, dass Malfoy sich anscheinend einen Dreck darum scherte, was Draco in der Schule anstellte, solange es nach seinen Wünschen verlief.
„Das will ich Ihnen auch geraten haben. Ansonsten müsste ich mich dazu gezwungen sehen, Ihre kleine Entgleisung zu melden."
„Welche Entgleisung?" Himmel, worauf wollte er jetzt schon wieder hinaus?
„Sie haben also schon vergessen, dass Sie meinen Sohn eingesperrt haben, um ihn zu zwingen seine Hausaufgaben zu machen?"
„Bitte was!"
„Haben Sie ihn eingesperrt oder nicht?"
„Ja", musste ich zugeben. „Aber nicht um ihn zu irgendetwas zu zwingen. Ich wollte mit ihm nur über seine Leistungen reden."
„Wollen Sie Draco jetzt unterstellen, dass er lügt?"
„Ich habe langsam den Eindruck, dass Sie ihm nicht zuhören", seufzte ich.
„Natürlich höre ich meinem Sohn zu", ereiferte Malfoy sich. „Er hat mir gesagt, Sie hätten die Tür verriegelt."
„Und hat er Ihnen auch gesagt, wieso ich das getan habe?"
Als Malfoy darauf keine Antwort hatte, schnaubte er wütend und lehnte sich im Sessel zurück. Wieso hatte ich das vorher schon gewusst?
„Langsam glaube ich, dass Dracos Problem ganz woanders liegt."
„Mein Sohn hat keine Probleme!"
„Ach nein? Sie wären ja wohl kaum hier, wenn es so wäre."
„Wenn Draco ein Problem haben sollte, dann sind Sie es", meinte er aufgebracht.
„Das habe ich nicht gehört."
Malfoy fand schnell seine Fassung wieder und bedachte mich mit einem kühlen Blick. Dann stand er auf, trat näher an meinen Schreibtisch und stützte die Hände darauf ab.
„Sorgen Sie dafür dass die nächsten Noten besser sind", sagte er leise, mit einem drohenden Unterton in der Stimme. „Denn sollten Sie es nicht sein, werde ich persönlich dafür sorgen, dass Sie fliegen." Sein Blick bohrte sich in meinen und ich erhob mich ebenfalls.
„Wenn das alles ist", erwiderte ich kühl. „Ich habe noch zu tun."
Verärgert über meinen indirekten Rausschmiss rauschte Malfoy davon. Mir war es egal, ich sah nicht ein warum ich mich von ihm noch länger beleidigen lassen sollte.
Doch auch wenn das Gespräch nicht sehr ergiebig gewesen war, außer dass ich nun wusste, was für ein arrogantes Arschloch Malfoy war, so hatte ich doch erkannt, wo Dracos eigentliches Problem zu liegen schien.
Ich musste unbedingt nocheinmal mit ihm sprechen.
Vor der nächsten Stunde fing ich Draco vor dem Klassenraum ab.
„Ich muß mit Ihnen reden."
„Sie haben also mit meinem Vater gesprochen", stellte er fest und ein zufriedener Gesichtsausdruck erschien, als ich dies bejahte.
„Ihr Vater scheint ein vielbeschäftigter Mann zu sein", meinte ich.
„Oh ja, das ist er", sagte er stolz.
„Dann scheint er wohl nicht viel Zeit für Sie zu haben...", meinte ich andeutungsvoll und war gespannt auf seine Reaktion.
„Natürlich hat Vater Zeit für mich. Er ist immer für mich da, wenn ich Ihn brauche." Entrüstet sah er mich an.
„Tatsächlich? Für mich sah es gestern so aus, als hätte er nur Zeit für Sie, wenn Sie nicht ganz seinen Vorstellungen entsprechen."
„Wie können Sie es wagen so über meinen Vater zu sprechen", begehrte Draco auf, doch in seinen Augen sah ich, dass meine Worte ihm einen Stich versetzt hatten. So ganz falsch konnte ich also nicht liegen.
„Entschuldigen Sie. Ich wollte ganz sicher nicht schlecht über Ihren Vater reden. Er nimmt sich mit Sicherheit viel Zeit für seinen Sohn, um ihm beim Quidditch zuzusehen oder mit Ihnen etwas zu unternehmen... Ich hätte gerne so wie Sie das Glück gehabt, einen Vater zu haben, der sich für mich interessiert", fügte ich noch hinzu und schaffte es einen traurigen Ausdruck in meinen Blick zu bekommen. Was ich da gesagt hatte, stimmte zwar nur halb, aber wenn ich Draco helfen wollte, musste ich eben zu etwas ungewöhnlichen Mitteln greifen.
Draco sah mich eine Sekunde lang entgeistert an, dann wandelte sich sein Gesichtsausdruck. Zuerst wirkte er traurig und dann wütend.
„Sie sagen es. Ich habe Glück mit meinem Vater!" sagte er bitter und stürmte in die Klasse. Den ganzen Unterricht lang sagte er kein Wort mehr.
Doch ich hatte erreicht was ich wollte. Wenn Draco irgendetwas zu schaffen machte, dann sollte er von selbst kommen und reden. Und dabei hoffte ich, dass ich mit meiner Vermutung richtig lag und er sich mehr Aufmerksamkeit von seinem Vater wünschte.
Da ich so etwas schon öfter erlebt hatte, wusste ich, dass es eine Weile dauern konnte, bis Draco über seinen eigenen Schatten sprang und zugab, dass doch nicht alles so perfekt war, wie er nach außen hin immer tat.
Doch ich hatte Zeit und konnte nur darauf hoffen, dass ich nicht noch einen Besuch von Malfoy senior bekam.
Am nächsten Morgen wachte ich schon früh auf. Es war noch dunkel draußen, doch ich konnte einfach nicht mehr schlafen. Die letzten Tage waren ziemlich nervenaufreibend gewesen. Noch nie hatte ich solche Probleme mit einem Schüler gehabt und der Vater war auch nicht besser. Ich hoffte inständig, dass mir weitere Konfrontationen mit Lucius Malfoy erspart bleiben würden. So wie ich ihn kennengelernt hatte, war es gar nicht so abwegig, dass er mich aus der Schule werfen ließ, sollte ich seinem Sohn nocheinmal schlechte Noten verpassen.
Und so machte ich etwas, was ich schon lange nicht mehr getan hatte. Seufzend stand ich auf, an Schlaf war nicht mehr zu denken, und schlüpfte in eine weite schwarze Sporthose. Aus meinem Schrank kramte ich noch ein enges schwarzes Sportshirt und meine gelbe Sportjacke.
Meine Haare band ich mit einem Haarband im Nacken zusammen, dann schlüpfte ich in meine Turnschuhe und machte mich auf den Weg nach draußen.
Lange war ich nicht mehr gelaufen. Vor ein paar Jahren war ich noch jeden Morgen gelaufen und es hatte mir eigentlich immer geholfen, mich zu entspannen.
Die Sonne ging gerade auf und tauchte die Ländereien von Hogwarts in ein sanftes rotes Licht. Ich atmete die kühle Morgenluft ein und lief los. So früh war zum Glück noch keiner unterwegs, so dass ich mich ungestört auspowern konnte.
Ich verließ das Schlossgelände und lief zunächst am See entlang, bis der Weg an einer steilen Klippe endete. Dort machte ich ein paar Dehnungsübungen. Als sich meine Atmung wieder etwas normalisiert hatte, lief ich den Weg, diesmal in einem gemäßigteren Tempo, zurück.
Ich kehrte dem Schloss den Rücken und beschleunigte das Tempo wieder. Nach einer Weile passierte ich Hagrids Hütte und schlug den Weg Richtung Hogsmeade ein. Ich spürte wie mein Puls in die Höhe raste und mir das Blut in den Kopf schoss. Ein heftiges Ziehen in den Oberschenken warnte mich davor es nicht zu übertreiben, wenn ich nicht übersäuern wollte. Deshalb verringerte ich das Tempo, bis ich den Weg in einem lockeren Trab entlanglief und schließlich stehen blieb.
Mein Puls raste und mein Atem ging stoßweise. Ich stützte meine Hände auf die Oberschenkel und versuchte konzentriert ein und aus zu atmen.
Das Blut rauschte in meinem Kopf und ich spürte, wie das Adrenalin durch meinen Körper schoss.
Langsam richtete ich mich wieder auf und atmete tief durch. Meine Lungen brannten und der Schweiß lief mir in Strömen übers Gesicht. Doch ich fühlte mich gut.
Die Sonne war mittlerweile vollständig aufgegangen und die Vögel begannen mit ihrem Morgenkonzert.
Ich stand bestimmt eine geschlagene Viertelstunde lang still da, lauschte dem Singen der Vögel und pumpte die frische Luft in meine Lungen.
Nach und nach ließ das Rauschen in meinem Kopf nach und auch mein Herzschlag fuhr langsam wieder herunter.
Der ganze Stress der letzten Tage war verflogen und ich fühlte mich so frisch und ausgeruht, wie seit Tagen nicht mehr.
Zufrieden wollte ich mich auf den Rückweg machen, als ich im Wald rechts neben mir ein Knacken vernahm.
Ich erstarrte und erst jetzt wurde mir bewusst, wie nah ich dem verbotenen Wald gekommen war. Unterwegs musste ich wohl etwas vom Weg abgekommen sein, denn ich hatte nicht wirklich darauf geachtet, wohin ich lief.
Wieder ertönte das Knacken und diesmal war es gefährlich nahe. Unfähig mich zu bewegen, starrte ich auf die Bäume.
Und dann brach er aus dem Dickicht des Waldes heraus. Mein personifizierter Alptraum. Mit einem großen Satz landete er vor mir und sah mich aus lauernden gelben Augen an.
Sein menschliches Gesicht wurde von einer wilden Löwenmähne eingerahmt und der Kopf saß auf einem kräftigen Löwenkörper, dessen Fell in einem dunklen Rot erstrahlte.
Statt eines Löwenschwanzes besaß das Vieh den eines Skorpions, den es drohend nach vorne gebogen hatte, so dass seine gefährliche Spitze nur wenige Zentimeter über seinem Kopf schwebte.
„Menschenfleisch", knurrte der Mantikor mit einer tiefen kratzigen Stimme. „Wie lange habe ich darauf verzichten müssen."
Ich wusste, dass es jetzt wohl an der Zeit wäre, die Beine in die Hand zu nehmen, doch ich konnte mich nicht rühren. Eine lähmende Angst hatte mich gepackt und ich konnte den Mantikor nur aus schreckgeweiteten Augen ansehen.
Die Welt um mich herum veränderte sich und ich war wieder vier Jahre alt.
„Cassie, lauf nicht zu weit in den Wald, hörst du?"
Der zehnjährige schwarzhaarige Junge versuchte lachend seine kleine Schwester daran zu hindern Richtung Wald zu laufen.
„Laß sie, Hades." Der Vater der beiden stand schmunzelnd neben ihnen.
Der Junge ließ seine Schwester los und sie flitzte in den Wald. Hades folgte ihr etwas langsamer.
„Cassie, wo bist du!" rief er, als er seine Schwester aus den Augen verloren hatte. Rechts neben sich vernahm er ein Glucksen und musste grinsen.
„Ich finde dich!" rief er und lief zu einem Farnbusch.
Cassie hatte sich hinter den Farnbusch gekauert und spielte mit ihrer Puppe, die sie nie aus den Händen legte. Was zur Folge hatte, dass sie samt Puppe bald über und über mit Dreck beschmiert war.
Die Farnwedel bogen sich auseinander und Hades musste husten, als seine Schwester ihm eine Ladung Erde ins Gesicht warf.
Doch er konnte ihr nicht böse sein. Er ging um den Farn herum und hob sie auf seine Arme, doch Cassie wollte noch nicht weg.
„Spielen!" krähte sie vergnügt und zeigte nach unten, begleitet von wildem Gestrampel.
„Am See ist es viel schöner", meinte Hades. Der Wald war ihm unheimlich, doch er wollte seiner kleinen Schwester keine Angst einjagen.
„Blöder See. Hier spielen." Cassie strampelte nun so heftig, dass Hades sie seufzend wieder herunter ließ.
Sie grub ihre kleinen Hände sofort wieder in die Erde und hielt sie ihm stolz entgegen.
„Da."
„Oh danke. Ich wollte schon immer mal Erde geschenkt bekommen."
Hades ließ sich neben seiner Schwester nieder und beobachtete sie dabei, wie sie ihre Puppe mit feuchter Erde voll schmierte, um dann mit dreckigen Findern an ihren Zöpfen zu ziehen.
Danach umfasste Cassie ihre eigenen Zöpfe und war eine ganze Weile fasziniert davon, wie sich ihre blonden Haare ganz leicht verfärben lassen konnten, indem man einfach etwas Erde hineinschmierte.
Hades sah ihr lachend dabei zu. Er liebte seine Schwester über alles, auch wenn sie mit ihren vier Jahren manchmal etwas nerven konnte.
Plötzlich ließ ein Knacken die Geschwister hochfahren. Hades wollte schon nach seiner Schwester greifen, doch Cassie entwischte ihm und lief genau auf die Stelle zu, woher das Knacken gekommen war.
Als Hades Cassie eingeholt hatte fuhr ihm der Schock in die Glieder.
„Mietzekätzchen", rief Cassie freudig und klatschte in die Hände. „Mietzekätzchen!"
„Cassie, nein", flüsterte der Junge und starrte entsetzt den Mantikor an, der vor ihnen aus dem Gebüsch gekommen war.
„Süße Mietzekatze." Cassie war noch viel zu klein, um zu begreifen welche Gefahr ihr drohte und Hades musste hilflos mitansehen, wie sie sich dem Mantikor näherte.
Der Mantikor hat den Kopf eines Mannes, den Körper eines Löwen und den Schwanz eines Drachen oder Skorpions
Dieser hier hatte den Schwanz eines Skorpions. Als er sah, wie sich seine Beute freiwillig näherte, grinste er breit und entblößte dabei drei Reihen scharfer Zähne.
Aus der Schule wusste Hades, dass der Mantikor ein äußerst gefährliches Wesen war. Denn er kann giftige Stacheln wie Pfeile abfeuern, die das Gift des Upa-Baumes enthalten. Zudem ist er sehr gewandt und kann kraftvolle Sprünge machen.
Normalerweise lebt er im IndischenDschungel. Kein Wunder also, dass Hades sich nicht erklären konnte, wie dieser hier herkam. Im Grunde war dafür nur eine Erklärung möglich. Er war aus dem magischen Zoo in München ausgebrochen.
Hades rutschte das Herz in die Hose, als Cassie mit ausgestreckten Händen dem Mantikor entgegenlief und arglos in seine Mähne grapschte.
Der Umstand, dass dieses Wesen sich unter anderem auch von Menschen ernährte, ließ Hades kreidebleich werden. Denn das Problem bei diesen Wesen war, dass sie nicht mit den normalen Tieren verglichen werden durften, da sie sprechen konnten und mühelos die Intelligenz eines Menschen erreichen konnten. (Anm. der Autorin: Dank an Wiki!)
„Ein kleines Menschlein", schnurrte der Mantikor und Cassie klatschte begeistert in die Hände.
„Mietzekätzchen!"
„Ja, ich bin ein liebes Kätzchen und wenn du mitkommst werd ich dir was schönes zeigen..."
„Cassie, nein!" rief Hades nun lauter und zog damit die Aufmerksamkeit des Mantikors auf sich.
„Ah, noch ein Menschlein. Komm her mein Kleiner!"
„Verschwinde!" fauchte Hades mutiger als er eigentlich war und machte einen Schritt auf Cassie und den Mantikor zu.
„Du wirst mir meine Beute nicht mehr entreißen", knurrte das Wesen. „Du wirst höchstens ihr Schicksal teilen."
„N...n... nein."
„Versuche mich aufzuhalten, Menschlein. Ich verspreche dir, dein Tod wird ehrenhaft sein."
Der Mantikor kümmerte sich nicht weiter um Hades, sondern packte Cassie mit seinem Maul und wollte sich schon mit seiner Beute aus dem Staub machen, als Cassie anfing wie am Spieß zu schreien. Scheinbar hatte auch sie endlich begriffen, dass das kein harmloses Mietzekätzchen war.
Ärgerlich spuckte der Mantikor sie wieder aus und versetzte ihr einen Hieb mit seiner Pranke.
„Sei still, elendes Menschenkind!"
Das Schreien erstarb und Cassie ließ nur noch ein angstvolles Wimmern hören.
„VATER!" brüllte Hades und verschaffte sich und Cassie somit etwas Zeit. Denn der Mantikor wandte sich fauchend dem schwarzhaarigen Jungen zu und kam mit einem kraftvollen Satz auf ihn zu gesprungen.
Hades konnte nicht mehr rechtzeitig ausweichen und wurde von den Füßen gerissen.
„Du kommst auch gleich noch dran", versprach der Mantikor mit einem breiten Grinsen und wandte sich wieder seiner ursprünglichen Beute zu.
Wieder packte er Cassie am Kragen und setzte schon zum Sprung an, als ein blauer Lichtblitz, begleitet von einem „Crucio!", in traf.
Der Mantikor ließ Cassie fallen und brüllte gepeinigt auf. Doch so schnell gab er nicht auf. Sich unter Schmerzen windend, packte er Cassie erneut, Seine Zähne bohrten sich in ihren Hals und ein paar Wirbel knackten verdächtig.
Verzweifelt fasste Robert seinen Zauberstab fester. Wenn er seine Tochter retten wollte, hatte er keine Wahl.
Er richtete den Stab erneut auf den Mantikor.
„Avada Kedavra!"
Ein grüner Lichtblitz schoss aus dem Stab hervor und traf den Mantikor, als dieser sich gerade im Sprung befand.
Er knallte zu Boden, begrub Cassie unter sich und blieb reglos liegen.
„Vater!" Hades hatte sich indes aufgerappelt und war zu seinem Vater gelaufen.
Robert drückte seinen Sohn kurz an sich und näherte sich dann dem Mantikor. Dass er tot war, daran bestand kein Zweifel.
Dem Todesfluch konnte keiner widerstehen.
Mit etwas Mühe schob Robert den schweren Körper zur Seite und sein Puls beschleunigte sich, als seine reglose Tochter zum Vorschein kam.
Mit aller Gewalt verdrängte ich die aufkommenden Erinnerungen.
Ich sah, wie der Mantikor sich zum Sprung bereit machte, aber ich konnte immer noch keinen Finger rühren. Zu stark war die Erinnerung an damals und zu tief saß die Angst vor diesem Wesen.
Der Mantikor spannte seine Muskeln und ich hatte das Gefühl, als würde sich der Zeitfluss aufeinmal verlangsamen.
Ein hämisches Grinsen trat auf sein Gesicht und der Blick seiner gelben Augen fixierte mich.
„Sag Good-Bye, Menschlein", fauchte er und sprang.
Wie in Zeitlupe sah ich ihn auf mich zufliegen. Ich stand wie gelähmt und wartete auf den Aufprall.
Doch plötzlich spürte ich, wie mich jemand am Arm packte und mich aus der Sprunglinie riss.
Der Mantikor verfehlte mich und kam mit einem enttäuschten Brüllen auf den Füßen auf.
„Stupor!" hörte ich jemanden neben mir rufen und ein roter Lichtblitz streckte den Mantikor zu Boden.
Eine Gestalt schob sich in mein Blickfeld und musterte mich besorgt aus schwarzen Augen.
„Alles in Ordnung?" vernahm ich Snapes Stimme, doch es schien als wäre sie kilometerweit entfernt.
„Cassie?"
Snapes Konturen verschwammen vor meinen Augen. Meine Knie gaben unter mir nach und ich driftete in eine verlockende Dunkelheit.
Das letzte was ich noch wahrnahm war, wie ich von jemandem aufgefangen wurde, dann überließ ich mich dankbar dem Sog der Dunkelheit.
Snape sah, wie Cassies Augen sich verdrehten und fing sie geistesgegenwärtig auf, als sie zusammensackte.
Ein wenig hilflos stand er da und wusste nicht, was er jetzt machen sollte. Vorsichtig legte er seine junge Kollegin auf den Boden und näherte sich dem Mantikor. Er wollte sich davon überzeugen, dass dieser auch wirklich außer Gefecht gesetzt war.
Als feststand, dass von dem Wesen keine Gefahr mehr ausging, wandte Snape sich wieder Cassie zu.
Verdammt, fluchte er innerlich. Durch seine hirnlose Rettungsaktion hatte er sich in eine Zwickmühle gebracht, aus der er nicht so schnell wieder herauskommen würde.
Denn nun musste er den Mantikor dem Ministerium melden und wenn er es nicht tat, würde es jemand anderes tun.
Und genau das hätte nicht geschehen sollen, schließlich lief der Mantikor nicht aus einer Laune heraus auf den Ländereien von Hogwarts herum.
Aber Snape hatte handeln müssen. Schließlich sollte der Mantikor Cassie nicht töten, sondern ihr nur einen Schrecken einjagen. Doch die ganze Situation war irgendwie entgleist. Cassie hatte wie versteinert vor dem finsteren Wesen gestanden, welches natürlich sofort seine Chance gewittert hatte endlich wieder frisches Menschenfleisch zwischen die Zähne zu bekommen.
Snape war von Anfang an der Meinung gewesen, dass der Mantikor eine Schnapsidee war. Er war unberechenbar und hoch intelligent. Eine gefährliche Mischung. Doch sein Auftraggeber sah das anders.
Cassie sollte von Hogwarts verschwinden. Entweder zurück nach Deutschland oder direkt in die Fänge des Dunklen Lords. Egal, Hauptsache weg von Hogwarts und weg aus der Nähe von Harry Potter.
Da kein anderer in der Nähe war, grinste Snape breit. Der Dunkle Lord hatte ordentlich Muffensausen bekommen, als er erfahren hatte, dass Cassiopeia McCallahan Verteidigung gegen die dunklen Künste unterrichten sollte.
Sie war ihm schon lange ein Dorn im Auge, denn sie kannte sich ziemlich gut mit schwarzer Magie aus. Besser als gut für sie war. Demnach nur verständlich, dass der Dunkle Lord nicht wollte, dass sie ihr Wissen an die Schüler weitergab. Viel lieber hätte er es gesehen, wenn sie sich ihm angeschlossen hätte.
Vorsichtig hob Snape die bewusstlose Frau auf seine Arme, dabei spürte er, wie sein Puls sich leicht beschleunigte. Verärgert unterdrückte er die aufwallenden Gefühlsregungen, doch er konnte nicht leugnen, dass Cassie eine gewisse Anziehungskraft auf ihn ausübte.
Sie war klug, schön und die einzige die es wagte ihm zu widersprechen. Außerdem kannte sie sich gut mit seinem Lieblingshobby aus. Mit allem was schwarzmagisch war.
Auf dem Weg zum Schloss grübelte er weiter über seine derzeitige Situation nach. Eigentlich hatte der Voldemorts Auftrag gar nicht annehmen wollen. Aber seine Vergangenheit machte ihn erpressbar und so war ihm schließlich gar nichts anderes übrig geblieben.
Sein Auftrag lautete auch nur, Cassie aus dem Schloss zu vertreiben, wenn möglich in die Arme von Voldemorts Schergen. Doch wollte er das überhaupt noch?
Snape schnaubte ärgerlich. Er musste sich zusammenreißen, seine kindische Gefühlsduselei konnte ihm am Ende noch das Leben kosten.
Er lieferte Cassie bei Madame Pomfrey ab und machte sich dann auf den Weg zu Dumbledore, um den Mantikor zu melden.
