Ihr Lieben,

allen Widrigkeiten zum Trotz (Mandelentzündung, die Zweite, und Antibiotikum, das Dritte) und sogar schneller als vermutet (gell, BineBlack, ja ich weiß) kommt hier Kapitel Zwei der vom Frühlingswind verwehten Liguster-Familiensaga. Ich habe mich entschlossen, den Kapitelumbruch eins früher zu setzen, getreu dem Vorsatz zu nicht ganz so ellenlangen Kapiteln.

Noch ein paar Antworten, die ich schuldig geblieben bin (ich entschuldige mich und gelobe Besserung!)

Anna2509: es kommt sicher auch mal wieder etwas aus Emilias Perspektive. Kann aber dauern, denn für das Projekt nach „Willst du?" bietet sich Emilias Perspektive nicht an. Mal sehen. Sie bleibt jedenfalls weiterhin dabei.

Nuya: Ob die beiden „geslasht" haben? Na ja, man kann es so lesen, muss man aber nicht, und wer bin ich, dass ich mich in die Vorstellungskraft meiner Leserschaft einmische…

RheaLupin: Warum heißt Emilia mit Nachnamen Liguster? Zum einen, weil ich auf der Suche nach einem „botanischen" Namen war, um einen Bezug zum Tränkekochen herzustellen. Zum anderen, weil dem Liguster, wie der Eiche oder Mistel, magische Kräfte angedichtet werden. Zum dritten, weil es einfach schön klang, optimistisch und melodisch. Dass Mrs. Rowling die gleichen Quellen benutzt hat („Privet Drive" gleich Ligusterweg), habe ich später erst in Erfahrung gebracht und beweist nur mal wieder, wie klein die literarische Welt ist.

Die Zitate im Text entstammen dem Libretto aus Mozarts „Don Giovanni" (Slytherene: Meine besten Grüße an den Tränkemeister!), abzüglich natürlich des Abzählreims, der ist Allgemeingut.

Als Soundtrack empfehle ich heute: Sting, „Englishman in New York", vom Album „Nothing like the Sun".

Gewidmet, obwohl sie es nie lesen werden, ist dieses Kapitel meinen Schwiegereltern, die mich gezwungen haben, schwarzen Kaffee mit Zucker zu trinken :o)

Disclaimer: Diese hervorragenden Heiratskandidaten und das Universum, in dem sie sich bewegen, gehören immer noch nicht mir, es wäre ihnen aber zu wünschen, denn dann wäre das Schicksal nicht so hart zu ihnen. Lese gerade Band 6 zum zweiten Mal, bin immer noch verbittert.

oooOOOooo

Zwei: Saure Gummibärchen, eine beachtliche Anzahl malträtierter Vokale, die Systematik des Ligusterchaos, ein ausgeprägter Fall von Kontaktallergie, Tentakel und die Arithmantik der Familienplanung.

„Ich will Gummibärchen" sagt Emilia.

Ich, ihr Gepäck in der linken Hand, meines in der rechten, drücke mit dem Ellenbogen die Klinke zum Speisezimmer im Seitenflügel, der eine steile Karriere vom staubigen, abgedunkelten Raum zum frequentierten Apparierpunkt gemacht hat. Mit dem Rücken halte ich ihr die Tür offen, aber sie kommt nicht.

„Oh, Merlin" sagt sie. „Ich brauche sofort Gummibärchen."

„Wofür?" frage ich. Nicht besonders intelligent, zugegeben, aber ich bin verwirrt. In Gedanken bin ich noch unten, in der Küche, verabschiede mich von Sirius und quäle mich unter seinem waidwunden Blick („Nein, wirklich, Moony. Alles in Ordnung. Geh nur und hab deinen Spaß…")

„Die sauren" sagt sie. „Mit dem weißen Überzug. Die großen."

„Ich wusste bis Dato nicht, dass es so etwas gibt" sage ich. „Kommst du…?"

„Bitte" sagt sie und zupft mich am Ärmel. In ihrem Gesicht steht eine Mischung aus Begierde und unbedingter Entschlossenheit geschrieben, wie ich es bisher nur aus völlig gummibärchenfreien Zusammenhängen kenne. „Du musst mich in einen Gummibärchenladen apparieren. Bitte jetzt."

„Deine Eltern warten seit zwei Minuten auf uns" erinnere ich sie.

„Wer hat gesagt, dass wir da pünktlich sein müssen" sagt sie.

„Du" sage ich. „Mehrmals. Überflüssigerweise, nebenbei bemerkt. Ich bin von Natur aus ein pünktlicher Mensch."

„Pünktlich ist alles zwischen halb zwei und halb vier" sagt sie. „Und jetzt bitte, bitte, bitte ein Gummibärchenladen!"

„Ich kenne keinen Gummibärchenladen" sage ich und löse ungeahnte Verzweiflung aus.

„London ist eine Millionenstadt!" sagt sie und strapaziert meinen Ärmel. „Es muss doch irgendwo einen Gummibärchenladen geben!"

Ich sehe meine Liebste an. Der Mythos weiblicher Sprunghaftigkeit ist mir bisweilen begegnet, Emilia allerdings hat sich bisher als wohltuend beständig und berechenbar gezeigt. Es fällt mir schwer, dieses merkwürdige Verhalten einzuordnen. Ich gebe den Versuch mangels Zeit und geistiger Kapazitäten auf und nehme es hin.

„Barclay's Sugar Shop kann ich dir anbieten" sage ich. „In Diagon Alley. Alternativ Honeyduke's. Ich würde ungern ausgerechnet jetzt beginnen, Muggel-London nach einem Gummibärchenladen zu durchkämmen."

„Gibt's bei Barclay's Gummibärchen?" fragt sie, und ich sage „bestimmt" und hoffe das Beste.

Wir apparieren. Barclay's ist ruhig an diesem milden Frühlingsnachmittag, und sie haben Gummibärchen.

Wer hätte denn auch wissen können, dass die sich nicht bewegen dürfen.

„Deine Eltern kennen diese Dinge, nehme ich an" sage ich. „Du wirst nicht zum ersten Mal Zauberzeug nach Hause bringen."

„Wer redet denn von meinen Eltern" sagt sie. „Ich kann die nicht essen, wenn die sich bewegen!"

„Die sind auch nicht anders als Schokofrösche" versuche ich ihre Entscheidung zu beschleunigen. Ich komme furchtbar ungern zu spät, und die Tatsache, dass es meine zukünftigen Schwiegereltern sind, bei denen ich zu spät komme, multipliziert mein Unbehagen.

„Sprich nicht von Schokofröschen, sonst wird mir schlecht" sagt sie, seltsam blass. Etwas ist definitiv merkwürdig mit ihr. Vielleicht ist es die Aufregung.

„Ich kann sie dir entzaubern, wenn du willst" sage ich. „Dauert nur fünf Minuten" (und damit weniger lang als eine Apparition nach Honeyduke's mit anschließender Durchsuchung des Sortiments nach nicht-bewegenden Gummibärchen).

„Ich weiß nicht" sagt sie. „Bleibt immer noch die Erinnerung daran, dass sie sich mal bewegt haben. Das ist vielleicht noch viel ekliger. Ich meine, dann sind es nicht nur bewegte Gummibärchen, sondern tote, bewegte Gummibärchen."

Ich atme aus. Langsam.

„Sie sind nicht tot, weil sie nie gelebt haben" erkläre ich ihr, als wäre sie eine Muggel. Meine Stimme klingt unverändert ruhig. „Ich schlage vor, du nimmst sie mit und überlegst dir später, ob du sie bewegt oder unbewegt haben willst."

Sie starrt auf die transparente Packung, an der sich die Gummibärchen von innen ihre platten Nasen noch platter drücken.

„Sind die sauer?" will sie wissen. Ich schlucke ein Seufzen.

„Ich weiß es nicht" sage ich. „Ich bin nicht der Typ für Gummibärchen."

„Das ist doch zum Heulen" sagt sie und sieht aus, als würde sie's umgehend wahr machen. „Die moderne Zauberei kann Motorräder fliegen lassen und mich in die Karibik beamen, aber sie kriegt kein vernünftiges Gummibärchen hin!"

„Vielleicht hast du ja gerade eine Marktlücke entdeckt" versuche ich sie zu trösten, und sie schnaubt und stellt die Bärchen zurück.

„Dann lieber gar keine" sagt sie. „Versuchen wir's bei Honeyduke's."

„Ungern" sage ich. „Ich glaube kaum, dass die etwas haben, was es hier nicht gibt. Honeyduke's rekrutiert seine Kundschaft hauptsächlich aus Hogwarts, und da sind Gummibärchen ohne Spezialeffekte nicht sonderlich gefragt."

Sie starrt auf die Bärchen. Ich werfe einen verstohlenen Blick auf die Uhr, die über der Ladentür hängt. Zwanzig vor vier.

„Können wir dann…?" frage ich vorsichtig.

„Hetz mich nicht" sagt sie finster.

Ich muss mich gedulden, bis sie sich eine Zuckerfeder (viertel vor vier) und ein paar nicht-bewegende Schoko-Gänseblümchen (zehn vor vier) ausgesucht hat, denen sie zutraut, angemessenen Trost für das gescheiterte Bärchenvorhaben zu bieten. Ich gedulde mich also (ich bin ein Meister des mentalen Fingertrommelns und Fußwippens bei gleichzeitiger äußerlicher Unbewegtheit), und dann, schließlich, glücklich, findet sie sich in meinen Armen ein, Papiertüte fest im Griff, sie ist ein bisschen blass um die Nase, aber völlig entspannt.

„Gehen wir" sagt sie, und ich appariere, bevor sie es sich anders überlegt.

oooOOOooo

Südliches Deutschland, Kleinstädterhausen, Reihenhaussiedlung, fünf vor vier.

Korrektur. Fünf vor drei. Bei uns auf der Insel ist alles ein bisschen anders, auch die Zeit.

Trotzdem, fünfundzwanzig Minuten zu spät, und kein einziges Bärchen.

Ich bin ein winziges, winziges bisschen nervös.

Wir erscheinen zwischen der Hecke und den Mülltonnen, laut Emilia völlig muggelsicher und etwas wie ihr persönlicher Apparierpunkt, wenn sie von dieser Möglichkeit des Reisens Gebrauch macht (was sie ungern tut). Der erste Blick auf Emilias Elternhaus ist wenig charmant. Zwei Stufen aus rissigen Betonplatten überbrücken das leichte Gefälle zwischen Fußweg und Haustür. Ein hoher, noch winterlich kahler Flieder füllt den Raum zwischen der mannshohen, bräunlich verfilzten Thujawand hinter mir und der Fassade, die man im oberen Teil mit dunklem Holz verkleidet hat. Das Häuschen wirkt höher als breit, fast wie ein gedrungener Turm, genau wie seine Nachbarn, eine Reihe merkwürdiger Türme, versetzt aneinander gebaut, nur durchbrochen von flachen, grauen Garagen und den unterschiedlich erfolgreichen Versuchen, Vorgärten anzulegen.

Trotz des botanischen Namens hat bei Ligusters wohl eher niemand einen grünen Daumen. Der Vorgarten ist ein Streifen schattiges, struppiges, winterbraunes Zeug, was auch vor dem gepflasterten Weg nicht Halt macht. Wo die Thuja endet, übernimmt ein brauner, morscher Jägerzaun deren Aufgabe, steht schief herum und sieht beliebig aus.

„Da sind wir" sagt Emilia überflüssigerweise. Ihre Stimme ist ein bisschen atemlos, und rote Flecken leuchten auf ihren Wangen. „Okay? Bereit?"

„Ich dachte, ich müsste mich nicht fürchten, und sie würden mich lieben" sage ich. Sie streicht mir das neue Hemd auf den Schultern glatt, wo es ein wenig zu lose sitzt (man hat mich massemäßig überschätzt beim Einkaufen), vielleicht will sie aber auch nur sicher gehen, dass ich nicht davon laufe, dann atmet sie durch, sagt „Ich weiß gar nicht, warum mir so schlecht ist" und macht einen Schritt aus dem Schatten der Mülltonne.

„Übrigens" sagt sie über die Schulter. „Hab ich dir noch gar nicht gesagt. Antonia und Leo sehen wir erst morgen. Die sind mit Leos Verwandtschaft beschäftigt. Aber es kommen ein paar andere Leute vorbei, um dich kennen zu lernen."

„Äh" sage ich. „Um mich… oh. Ich nehme an, ich soll ganz entspannt bleiben und mir keinen Druck machen."

„Genau" sagt sie. „Es wird nicht so schlimm. Mein Bruder mit Familie, und ein paar DiDios. Der Teil von Mamas Familie, der in Deutschland lebt. Im Höchstfall sind das zwanzig Leute."

„Hah" sage ich, oder so ähnlich.

„War nur ein Scherz" sagt sie und grinst. „Zehn, die Kinder mitgerechnet."

Ich finde alles, was sich im zweistelligen Bereich bewegt, höchst beunruhigend, aber ich komme nicht mehr dazu, einen entsprechenden Einwand zu formulieren, und schließlich wäre er ja auch fruchtlos, nun, da ich schon mal hier bin und den Vorgarten durchquert habe.

Liguster Konrad & Anna, steht auf dem Klingelschild, dessen papierne Ränder unter der vergilbten Plastikabdeckung Wasser gezogen und sich gewellt haben, und darunter, obwohl kaum mehr Platz, wurde Daniele Emilia Antonia gequetscht, letzteres nur leserlich, wenn man es weiß. Emilia klingelt. Ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken, dass ich für die Schwiegersohn-Antrittsbesuchs-Nummer, die mir mit dreißig sicher gut gefallen hätte, ziemlich genau dreizehn Jahre zu alt bin (und mich etwa dreißig Jahre zu alt dafür fühle). Eine tragende Männerstimme dringt durch den trüben braunen Glaseinsatz der Haustür.

„Mamaaaaaaaa! Sie sind daaaaaa!"

Gleich darauf wird die Tür aufgerissen, und ein breitschultriger Typ mit kurzen, vorne sich lichtenden Löckchen pflückt Emilia von der Stufe und zieht sie in eine enge, herzliche Umarmung.

„Heeeeee" sagt er, „Liiiilaaaa! Da bist du ja endlich. Dachte schon, du hättest dich verbeamt."

„Quatsch" sagt sie und macht etwas mit seinen Haaren, das schmerzhaft aussieht, das er jedoch erträgt wie ein Mann. „Hallo, Großer. Die Kleinen auch da?"

„Logisch" sagt er. „Alle an Bord, um dich zu begrüßen."

Die „Kleinen" lassen keinen Zweifel an ihrer Anwesenheit, sie tauchen mit Gebrüll von irgendwo auf und werfen sich auf „Tante Liiiilaaaaa!", während ich einen Gedanken auf die Frage verwende, ob das Malträtieren von Vokalen eine Ligustersche Familiengewohnheit ist oder eine Eigenart der deutschen Sprache, die ich bisher übersehen habe. Emilia geht auf die Knie, strahlt und lacht und lässt kleine Ärmchen sich um ihren Hals schlingen, und ich stelle mal das Gepäck auf der Stufe ab, es sieht aus, als würde es noch eine Weile dauern, bis der Ligusterknoten in der Tür sich auflöst.

„Hallo" sagt der Breitschultrige, in dessen Gesicht ich ohne Schwierigkeit die Familienähnlichkeit feststellen kann: nicht nur die gleichen Löckchen, sondern auch die männliche Ausgabe der gleichen Stupsnase und der hohen, etwas breiten Wangenknochen, und auch das gleiche offene Lächeln, während er mir die Hand hin streckt. „Ich bin Daniele."

„Hello" sage ich. „Hallo. Lupin. Es freut mich."

Wir schütteln uns über Emilias Kopf hinweg die Hand.

„Gib schon mal die Taschen" sagt er, und ich sehe mich mit der irritierenden Eigenart der deutschen Sprache konfrontiert, jetzt und hier auf dieser Stufe entscheiden zu müssen, welchen Grad der Intimität ich unserer Kommunikation beimischen möchte: duze ich zurück? Einen wild fremden jüngeren Mann, nur weil er Emilias Bruder ist? Oder sieze ich, was mir wesentlich angenehmer wäre, auf die Gefahr hin, unhöflich zu wirken, was mir wiederum definitiv überhaupt nicht angenehm wäre? Und wie, um Merlinswillen, mache ich das mit meinen zukünftigen Schwiegereltern? Warum hat Emilia mir diesbezüglich keine Anweisung gegeben?

„Emilia sagte, du sprichst deutsch?" sagt er, und ich begreife, dass er sich wundert, warum ich immer noch neben den Taschen stehe, ohne mich zu rühren. „Ist das in Ordnung für dich?"

„Ja" sage ich schnell, damit er mich nicht für einen steifen britischen Idioten hält, was er wahrscheinlich ohnehin schon tut. „Ich spreche ein wenig Deutsch." (Und halleluja, ich kann mich auf die Position des Fremdsprachigen zurückziehen, dem man den einen oder anderen Fehlgriff verzeiht.)

„Sehr gut sogar" sagt Emilia von unten und löst behutsam das Gewirr von Ärmchen um ihren Hals. „Fließend."

„Nicht besonders" steuere ich einem falschen Eindruck entgegen. „Mein Deutsch ist ein wenig eingeröstet, aber ich werde zurecht kommen."

Daniele grinst aus mir nicht ersichtlichen Gründen und nimmt mir endlich die Taschen ab. Er stellt sie auf den ungefähr einzigen noch freien Platz in dem engen Windfang, unter die Garderobe, von der ein dickes Knäuel bunter Jacken quillt, und dann passen überraschenderweise noch ein paar Leute dorthin, wo eigentlich kein Platz mehr ist, denn meine künftigen Schwiegereltern sind Danieles durchdringendem Ruf gefolgt und schließen ihre Tochter in die Arme wie eine verloren Geglaubte.

Ich bleibe, wo ich bin, unter der Tür, und perfektioniere, was ich ohnehin schon gut kann: unverbindlich lächeln, nicht im Weg stehen. Die Ligusters haben eine irritierende Art, alle gleichzeitig aufeinander ein zu reden, wobei jeder offenbar alles zu verstehen scheint, was jeder zu jedem anderen sagt, eine multithematische Simultankommunikation, die mich vollständig verwirrt und meine Sprachrezeptoren unter Höchstlast stellt.

Ich habe ein paar Augenblicke, um die Eltern Liguster zu betrachten und mich von meiner Überraschung zu erholen, ehe ich ins Geschehen hinein gezogen werde. Anna Liguster konterkariert meine Vorstellungen auf drastische Weise. Ich weiß nicht, warum ich eine kleine, rundliche, lachende, ansatzweise ergraute Frau erwartet hatte, vermutlich bin ich auf ein Klischee herein gefallen. Anna Liguster ist groß und schlank, und tiefschwarzes Haar fällt ihr wellig über die Schultern. Sie hat gerade Augenbrauen, ein Profil wie eine römische Statue und einen sehr präzisen, durchdringenden Blick, mit dem sie mich auf der Türschwelle mustert.

„Was stehst aufe Tür herum" sagt sie. „Komme herein, Rrrremus."

Ich wusste nicht, was man mit meinem kurzen, zweisilbigen Namen alles machen kann. Man kann nicht nur das E bis an die Grenzen seiner Belastbarkeit ziehen, man kann auch das R nehmen und es rollen, bis der Wolf erschreckt ein Auge aufmacht und nach Gewitterwolken späht. Ich gehorche und schiebe mich auf den Fußabstreifer, der mich mit schwarzen Buchstaben auf braunem Grund „Willkommen" heißt.

Konrad Liguster kommt meiner klischeebehafteten Vorstellung näher als seine Frau. Er ist ein kastenbärtiger, lichthaariger, strickjackiger Mann, dem man von weitem den Pädagogen ansieht, er sieht aus wie Literatur und Geschichte und Kiefernholzregale im Arbeitszimmer, mit einem Hauch von Alt-Achtundsechziger. Er sieht aus wie etwas, das aus mir hätte werden können, hätte ich nicht den Wolf in mir, und ich glaube nicht, dass ich mich beklagt hätte, wäre es so gekommen. Ich erwidere seinen freundlichen, warmen Händedruck.

„Kommen Sie ruhig" sagt er und lächelt. „Lassen Sie sich nur nicht abschrecken. Ich würde ja gerne fragen, wie die Reise war, aber ich nehme an, das lohnt nicht, bei Ihrer Art der Fortbewegung."

„Ja" sage ich. „Danke. Die Reise war schnell, und ich entschuldige für die Verspätung."

„Kein Problem" sagt er. „Fällt überhaupt nicht auf."

Schließlich löst sich der Ligusterknoten, und ich memoriere Namen. Daniele, das ist der große Bruder. Das kleine Mädchen, seine Tochter, ist fünf und heißt Laura, ihr kleiner Bruder, drei, heißt Luis. Danieles Frau heißt Angela, sie ist eine zierliche Blondine mit Pferdeschwanz und einem für mich schwer verständlichen süddeutschen Dialekt, und warum Emilia hier von allen Lila genannt wird, ist mir unerklärlich. Man schiebt mich weiter, aus dem Windfang in einen schmalen Flur. Zu meiner Rechten führt eine gewendelte Holztreppe hinauf und hinunter, begleitet von einem grünen Gestänge, von dem die Farbe abblättert. Links geht es durch eine Tür in die Küche, geradeaus ins Wohnzimmer, und in einer Nische ist ein Fressplatz eingerichtet, es sieht nach Katze aus oder nach sehr kleinem Hund (Katze, vermutlich, nachdem in all dem Trubel noch nichts gebellt hat).

„Siehste du mude aus" lässt Emilia sich von ihrer Mutter schelten. „Haste viel Arbeit, armes Kind."

„Schon gut, Mama" sagt das arme Kind, kann aber die befehlsgewohnte Mutter Liguster nicht davon abhalten, zu wissen, was gut für ihre Tochter ist.

„Schlafste du dich gut aus" sagt sie. „Hochzeit wird anstrengende, nicht nur für Antonia, die gute Kind. So aufgeregte ist sie."

„Nicht halb so aufgeregt wie du" sagt Daniele und grinst, und Mutter Liguster macht eine wegwerfende Geste von einer Grandezza, die auf einer Opernbühne ihren angemessenen Rahmen hätte, nicht in einem abgewohnten Reihenhausflur.

„Bin ich gewohnte jetzt" sagt sie. „Alle Kinder heiraten, und wirde auch Zeit." Sie wirft mir einen durchdringenden Blick zu, und ich lächle unverbindlich. Eine Hochzeit nach der anderen, bitteschön.

„Ihr könnt eure Sachen rauf bringen" schlägt Konrad Liguster vor. „Wir haben euch dein Zimmer hergerichtet." Das geht an Emilia, und sie strahlt. „Soll ich einstweilen Kaffee kochen?" fragt er, und sie strahlt, wenn möglich, noch mehr.

„Jaaaaaa" sagt sie, und ich bekunde dem armen Vokal still mein Beileid. „Du glaubst gar nicht, wie ich einen vernünftigen Kaffee vermisst habe." Ich denke an die Kaffeekapseln, die sie sich in manchmal bedenklicher Anzahl einverleibt, und wundere mich. Vielleicht muss man ein Kaffeetrinker sein, um die Vorteile eines konventionell hergestellten gegenüber einem magisch aus der Kapsel gezoomten schätzen zu können. Für mich ist das eine wie das andere ungenießbare schwarze Brühe.

„Kommst du?" sagt sie und fasst meine Hand. „Ich zeig dir mein altes Zimmer."

Ich bin ganz erleichtert, dem Pulk fremder Menschen für einen Augenblick zu entkommen, und folge ihr mit den Taschen die Treppe hinauf. Auf der obersten Stufe sitzt eine dicke, rot gestreifte Katze und schaut pausbäckig auf uns herab.

„Garfield" sagt sie glücklich und streicht der Katze, die dem Namen nach zu urteilen ein Kater ist, über den Kopf. Dann nehme ich die letzte Stufe, und der Kater duckt sich fauchend weg und flieht weiter hinauf ins Dachgeschoss, den Schwanz zu einer Flaschenbürste aufgeplustert.

„Hoppla" sagt sie verblüfft.

„Tut mir leid" sage ich. „Er spürt den Wolf. Es ist ein Zeichen von Intelligenz, wenn dich das tröstet."

„Tatsächlich" sagt sie erstaunt. „Ich wusste gar nicht, dass Tiere so auf dich reagieren."

„Nicht alle" sage ich mit einem Blick über die Schulter, aber es ist uns niemand ins erste Stockwerk gefolgt. Ich habe keine Lust, die Angelegenheit zu vertiefen, und sie spürt es dankenswerter Weise.

„Hier" sagt sie und tritt aus dem winzigen Flur in ein winziges Zimmer zu meiner Rechten. Ich folge und sehe mich um.

Es scheint, als hätte sich das Emilia-Mädchenzimmer-Ambiente über die Jahre unverändert erhalten. Ein schmales Bett mit rosa Blümchenbezug steht an der einen Wand, ein abgeschabter, mit Aufklebern verunstalteter Schrank an der anderen. Dann gibt es noch einen mit künstlichen Rosanranken verzierten Spiegel, einen schon beim Anblick wackeligen, hölzernen Schreibtisch unter dem Fenster, dessen fleckige Oberfläche von angestrengtem Nachdenken und ungezählten Tintenunfällen kündet, und ein paar eselsohrige Poster (eines mit Pferden und zwei mit finster aussehenden Männern, die Gitarren in den Händen halten) Zwischen Bett und Schrank hat jemand eine Luftmatratze und Bettzeug auf dem Boden bereit gelegt, und ich sehe mich mit der furchtbar unangenehmen Vorstellung konfrontiert, dass meine künftigen Schwiegereltern sich Gedanken um unsere Schlafgewohnheiten, unseren Platzbedarf und möglicherweise über den Grad der uns zustehenden vorehelichen Intimität gemacht haben (sind nicht die Sizilianer die konservativsten und katholischsten unter allen Italienern, oder lasse ich mich wieder einmal von einem Vorurteil irre leiten?). Vor meinem inneren Auge erscheint das Bild meiner künftigen Schwiegermutter, wie sie mit Bewegungen, die eine Opernbühne füllen könnten, dieses rosa Blümchenlaken überstreift („Hör den Sturm! Weh dir, noch heut' an diesem Tage treffe dich der Rache Strahl!"), und ich weiß mit Sicherheit, dass jede Art von romantischer Interaktion so unerreichbar ist wie der Mond, so lange dieses Bild durch meinen Geist wandert.

„Was ist los?" sagt Emilia. „Es ist mein Kinderzimmer. Ich würde heute auch keine Scorpions-Poster mehr aufhängen, also schau nicht so entsetzt."

„Entschuldige" sage ich und stelle endlich die Taschen ab. „Es war nicht… ich habe nur… ach, vergiss es."

„Ich würde gern mal dein Elternhaus sehen" sagt sie und tritt über die Ecke der Luftmatratze auf mich zu.

„Es existiert nicht mehr" sage ich. „Die neuen Besitzer haben es abgerissen. Es war vollständig marode."

„Oh" sagt sie und schlingt ihre Arme um meine Mitte. „Wie traurig."

„Es war nur ein Haus" sage ich schulterzuckend. Es hat weh getan, damals, nach dem Tod meiner Mutter, als ich mit dem lächerlichen Verkaufserlös in der Tasche an der Straße stand und zusah, wie die Muggel mit dem Bulldozer kamen, aber es ist vorbei und ich bin froh, dass es auch ein paar Dinge gibt, die ich nicht ein Leben lang mit mir herum tragen muss.

Ihre Hände wandern, sie hakt ihre Finger in meine Gürtelschlaufen und zieht mich noch ein wenig näher. Ihr Atem geht über meine Wange.

„Wir brauchen die Luftmatratze nicht, oder?" murmelt sie.

„Ganz wie du möchtest" sage ich und lasse dieses Lächeln auf mein Gesicht, das ich dort so oft habe, seit sie zum ersten Mal aus dem Kamin in Nummer Zwölf gestiegen ist. „Du weißt, ich bin ziemlich platzsparend."

„Und ich bin ziiiiiiemlich" murmelt sie und küsst meine Unterlippe, „liebesbedürftig."

Wir küssen uns ein wenig, und es fühlt sich gut und vertraut an inmitten einer Umgebung, die dreißig Jahre wild fremdes Familienleben widerspiegelt und mir das Gefühl gibt, ein Eindringling zu sein. Das Vergnügen ist allerdings von kurzer Dauer.

„Küsst ihr euch?" kommt eine helle, völlig unbefangene Mädchenstimme von hinten. Ich schrecke zusammen und ziehe schlagartig alles zurück, was möglicherweise in ungebührlichem Kontakt mit meiner Liebsten gewesen sein könnte. Selbige jedoch hat die Ruhe weg.

„Ja" sagt sie und lächelt an mir vorbei auf Klein-Laura hinunter.

„Warum?" fragt Laura und legt die süße Stirn in Falten.

„Weil wir uns lieb haben" erklärt Emilia völlig unbefangen.

„So wie Mama und Papa?"

„Genau" sagt Emilia.

„Hm" sagt Laura und wirft uns einen sehr nachdenklichen Blick zu, bevor sie geht und einen Probe-Hüpfer in das rosa Bett macht, das erbärmlich quietscht. Ein klarer Punkt für die Luftmatratze. Ich wende meine glühenden Wangen von dem kritischen Blick der interessierten Weiblichkeit und versuche, zu entspannen. Emilia grinst. Sehr breit.

„Na, komm" sagt sie und gibt mir einen Klaps, der in seiner unzweideutigen Natur nicht zu meiner Entspannung beiträgt. „Gehen wir runter, oder?"

Ich räuspere an einem Frosch in meiner Kehle herum und nicke.

Die Aussicht auf Geschenke bringt Laura dazu, das Bett aufzugeben und uns die Treppe hinunter zu folgen. Unten befleißigt sich die Ligustersippe ihrer familientypischen Simultankommunikation: Ligusterlärm, während sie gleichzeitig durcheinander laufen und mit Geschirr klappern. Ein merklicher Prozentsatz der Unterhaltung findet auf Italienisch statt, und da niemand sich die Mühe macht, die Sprachen sauber zu trennen, rauscht die Unterhaltung wie ein mir nur vage bekanntes Gewässer an mir vorbei. Emilia wird von ihrer Nichte und ihrem Neffen absorbiert und hilft beim Geschenkeauspacken, und ich stehe hilflos herum und möglichst nicht im Weg und versuche, mir ein gedankliches Beispiel an Sirius zu nehmen, der in der Lage ist, zumindest es früher war, sich binnen fünf Minuten mit fast jeder beliebigen Gesellschaft zu befreunden. Er setzt dann dieses breite Lächeln auf, geht hin und quatscht die Leute an, und vermutlich denkt er sich nichts, schon gar nicht, dass man ihn vielleicht für einen steifen britischen Idioten hält, was enorm hinderlich ist, wenn man es tut, und mit ziemlicher Sicherheit dazu führt, dass man für einen steifen britischen Idioten gehalten wird.

Das Wohnzimmer der Ligusters ist genau so, wie der Flur es hat vermuten lassen. Ein riesengroßes, spinatgrünes Sofa nebst passendem Sessel füllt den Raum. Dahinter erlaubt ein Panoramafenster den Blick auf ein struppiges, grünbraunes Terrain etwa von der Größe eines luxuriösen Duschhandtuchs, der Garten, nehme ich an und rätsele, wie drei Kinder darin jemals Ball gespielt haben sollen. Es gibt ein paar größere Topfpflanzen, ein Aquarium, einen schönen, großen Esstisch in einer Nische unter einer Art Fensterchen, das in die Küche zeigt, und meine Rettung: ein Bücherregal. Ich verlagere mich dorthin und lese Bücherrücken.

Ich bin kein Experte der deutschen Literatur, aber ich sehe meine erste Vermutung bezüglich der Fächerkombination meines künftigen Schwiegervaters bestätigt: Niemand, der nicht vom Fach ist, hat so viel Hauptmann, Walser, Grass, Goethe, Brecht, Böll und Dürrenmatt im Regal stehen. Ich habe das Bedürfnis, einen Freund an meiner Seite zu wissen, und ziehe Billard um halb zehn raus, eine abgegriffene, vergilbte Taschenbuchausgabe mit einem seltsamen Bild vorne drauf. Ich schlage die erste Seite auf. Ah. Endlich wieder Deutsch, das ich verstehe. Natürlich habe ich nicht ernsthaft vor, mich zum Lesen nieder zu lassen, aber ein wenig mehr als die ersten fünf Zeilen hätte es schon sein dürfen: gerade weil seine Worte so korrekt blieben, lese ich, als sich schwiegermütterliche Präsenz in meinem Rücken manifestiert.

„Rrrremus" sagt sie, und ich klappe das Buch zu und fühle mich ertappt. Stecke ich mitten in einem Fauxpas? Ist es vielleicht in diesem Haus verboten, ungefragt Bücher aus dem Regal zu nehmen? Und wo ist Emilia, wenn ich sie brauche?

Ich drehe mich um, ein konziliantes Lächeln auf den Lippen, eines, mit dem ich vom Todesurteil bis zum Lottogewinn alles gefasst entgegen nehmen könnte, und tatsächlich weiß ich nicht, was auf mich zu kommt, als ich dem strengen, dunklen Blick begegne. Aber der jahrelange Umgang mit Severus hat mich gestählt, und ich bewahre tadellose Haltung.

„Hoffe nicht, so lang ich atme, unerkannt zu fliehn von hier!" sagt Donna Anna. Sagt sie natürlich nicht, und ich versuche, das irritierende Gesinge in meinem Kopf abzustellen.

„Erzähle mir, Rrrremus" sagt Donna Anna. „Was für Schule unterrichtest du?"

Treffer. Von allen ersten Themen, die ich mit meiner künftigen Schwiegermutter haben kann, muss es natürlich ausgerechnet die Lykantrophie sein.

„Es ist eine sehr kleine" sage ich vorsichtig. „Es sind nur vier Schüler. Ich habe gerade begonnen das Aufbau. Es sind Schüler mit… ein besondere Talent."

„Hochbegabte?" fragt sie, und ihre Augenbrauen wandern Richtung Haaransatz.

„Nicht direkt" sage ich. „Es ist vielmehr ein sehr spezielle Talent. Es hat zu tun mit Magie und ist schwer zu erklären."

„Aha" sagt sie, und ihr Blick ist, sagen wir, kritisch. „Vier Schuler. Iste das gute bezahlte Job, dann?"

Ich starre meine künftige Schwiegermutter an. Ich kann nicht glauben, dass sie mich auf mein Einkommen anspricht. Man spricht Menschen nicht auf ihr Einkommen an. Schon gar nicht, wenn man sie keine zehn Minuten kennt.

„Nein" sage ich (mein Vorrat an Euphemismen hat sich mit der Lykantrophie offenbar aufgebraucht).

„Erzähle weiter" fordert sie mich auf. „Welche Fache unterrichtest du?"

Ich gebe ihr einen kurzen Abriss meiner Tätigkeit, so weit mein deutscher Wortschatz es erlaubt, und halte mich gerade unter dem kritischen Blick. Ich versuche es wieder mit einem Lächeln, aber offenbar habe ich ihre Sympathien noch nicht errungen, denn ihr Gesicht bleibt sphinxenhaft, und auch die Befragung ist mit der Beleuchtung meines beruflichen Lebens noch nicht abgeschlossen.

„Sage, Rrrremus" sagt sie, gerade als ich den Böll ins Regal zurück geschoben habe und mich nonchalant in Richtung Emilia bewegen will, die mit Laura und Luis das fern gesteuerte Auto ausprobiert (Zauberspielzeug, so hat sie mir erklärt, ist verboten, weil die Kleinen sonst im Kindergarten herum erzählen, Tante Emilia sei eine Hexe, was unter Muggeln zu Missverständnissen führen könnte). „Wie alt biste du?"

„Dreiundvierzig" sage ich und beschließe, mich nicht zu wundern, wenn sie demnächst auch noch Umstände erfragt, für die mir anders als in höchst intimer Situation ohnehin die Worte fehlen.

„Gut" sagt Donna Anna. „Siehste aus wie funfzig. Iste nicht so große Altersunterschied, dann."

Ich lächle, nicke und schlucke eine Bemerkung über meine ausschweifende Lebensweise, die mich frühzeitig altern lässt.

„Sage ich dir ehrlich" sagt sie, „hätte ich lieber gehabt, Emilia hätte sich einen Muggel-Mann ausgesucht zum Heiraten. Hat sie so schlechte Erfahrunge gemacht mit Zauberer, arme Kind, das letzte Mal."

„Ich weiß" sage ich. „Aber ich denke, es hat nichts zu tun mit Magiebegabung. Es gibt ehrliche Menschen hier und dort, und welche, die es nicht sind."

Das fern gesteuerte Auto fährt mir gegen den Fuß, und Luis kreischt vor Begeisterung. Ich drehe es um und schicke es zurück zum Sofa, wo Emilia mit Laura auf dem Schoß sitzt und so glücklich und entspannt aussieht, dass mir ganz warm wird.

„Haste recht" sagt Donna Anna, die mich ansieht, während ich Emilia ansehe, und plötzlich doch lächelt. „Biste netter Mensch, Rrrremus. Komme vorbei ofte, damit wir dich besser kennen lerne."

„Äh" sage ich, verwirrt ob des plötzlichen Umschwunges, „danke", und dann bin ich gezwungen, mir eine sehr mütterliche, wenn auch glücklicherweise sehr kurze Umarmung gefallen zu lassen. Zu meiner Rettung klingelt es an der Tür: noch mehr Ligusters, und Donna Anna eilt zur Begrüßung. Ich bleibe am Bücherregal zurück und frage mich, ob ich jemals zuvor von einer Frau umarmt wurde, die ich weniger als zwanzig Minuten kannte, und ob man unbedingt ein steifer britischer Idiot sein muss, um sich damit unwohl zu fühlen. Ich gehe zu Emilia, um diese Frage zu klären, aber dann reicht es mir doch, ihre Hand zu nehmen und ihr Lächeln über mich fließen zu lassen wie warmen Honig.

„Na" sagt sie, „wusste ich's doch. Sie lieben dich."

„Das kann sein" sage ich vorsichtig. „Ich fühle mich trotzdem ein bisschen verloren."

„Das gibt sich" sagt sie, und ich hoffe, dass sie recht hat. Es könnte sonst ein wirklich langes Wochenende werden.

Es ist die fehlende Struktur, die mich irritiert, erkenne ich, während Emilia neben mir an der Fernbedienung fummelt und versucht, das Spielzeugauto wieder unter dem Tisch raus zu holen. Ich erinnere mich an Familienfeste bei mir zu Hause, als ich noch Kind war und noch Familie hatte, wenn auch eine kleine: die französischen und die englischen Großeltern, ein paar Großtanten, eine Cousine meiner Mutter. Es ging geordnet zu bei diesen Gelegenheiten. Es gab einen festlich gedeckten Tisch, Stoffservietten und Edelstahl-Besteck (und versteckte Nachfragen seitens der Tanten, wo denn das schöne alte Tafelsilber abgeblieben wäre), und meine Mutter, das Organisationstalent, verschwand nur gelegentlich in der Küche, um in einem Topf zu rühren oder eine Tarte anzuschneiden. Alle kamen pünktlich, man setzte sich zu Tisch, und das Tischgespräch fand auf Englisch statt, schön geordnet, so dass auch die französischen Großeltern mit ihren bruchstückhaften Sprachkenntnissen folgen konnten. Niemand wäre auf die Idee gekommen, durcheinander zu reden, durcheinander zu laufen oder sonst ein Durcheinander anzurichten. Ordnung galt als Tribut an den Gast, ein tradiertes Zeremoniell, von dem abzuweichen schier unmöglich war, und das ich mochte, auch wenn es seine Längen hatte.

Es sind nicht Ligusters, die angekommen sind, sondern die angekündigten DiDios, Mario, das ist Donna Annas Bruder, der in der nächsten größeren Stadt eine Pizzeria betreibt (ein Klischee! Endlich ein Klischee!) und seine Frau Marietta. Ich werde vorgestellt mit „Das iste de Engelander!" und schiebe meinen Namen nach, auf die Gefahr hin, dass sie wieder etwas Unaussprechliches damit machen. Ich schüttle Hände und reime mir die kryptischen sechzig Prozent einer Geschichte zusammen, deren vierzig verständliche Prozent irgendwie von einem Sohn handeln, der in Tobago studiert, vielleicht auch in Toledo, Toronto oder Tirol, und bedauerlicher Weise dem Großereignis nicht beiwohnen kann. Marietta DiDio, einer kleinen, rundlichen, italienischen Ausgabe von Molly Weasley, sind offenbar auch einige Klischees geläufig, denn sie beginnt umgehend, mich nach den britischen Teesitten zu befragen, nach Pfefferminzsauce und nach dem regnerischen Wetter. Unser radebrechendes Gespräch kommt allerdings schnell an einen toten Punkt, als ich das maritime Inselklima erwähne und sie lachend abwinkt, England hätte ja wohl nicht das Geringste mit dem Mittelmeer zu tun. Dann will sie noch wissen, warum die Engländer eigentlich Linksverkehr haben, was ich ihr als Nicht-Autofahrer nicht beantworten kann, und dann bringt Emilias Schwägerin Angela glücklich einen Teller mit Kuchen rein und ruft etwas, woraufhin die versammelten Ligusters und DiDios gemächlich zum großen Tisch strömen, auf dem sich schon eine Anzahl von Tellern und Tassen locker versammelt hat. Emilia kriecht schließlich noch unter den Tisch und rettet das Auto, das sich irgendwie verfahren hat und nicht mehr auf die Fernbedienung hört, bevor alles sich setzt (mit Verzögerung, denn es fehlt ein Stuhl, der erst noch von irgendwo organisiert wird). Ich lande am äußeren Eck (was mir recht ist), zwischen Laura und meinem künftigen Schwiegervater (was mir nicht so recht ist, ich vermisse Emilia als Übersetzerin und Krisenmanagerin an meiner Seite). Ich kriege ein Stück Kuchen auf meinen Teller und bedanke mich artig, obwohl ich sicher nichts essen kann. Meine Kuchengabel sieht vorne nicht aus wie Silber und hat einen blauen Griff, in dem kleine Luftbläschen glitzern. Zumindest von dieser Seite droht keine Gefahr. Dann bemerke ich, wie Laura sich interessiert zu mir herüber beugt.

„Was hast du mit deinen Händen gemacht?" fragt sie und greift nach meiner Rechten. Ich verstecke mein Unbehagen hinter einem Lächeln, ich bin gewohnt, dass Kinder fragen, manchmal ist mir das lieber als die stummen, versteckten Blicke der Erwachsenen. Ich lasse ihr die Hand. Ihre sind klein und klebrig.

„Ich hatte ein schlimmes Unfall, als ich ein Kind war" erkläre ich ihr. „Ein Hund hat mir gebissen."

„Das heißt, mich gebissen" sagt sie mit großem Ernst.

„Ein Hund hat mich gebissen" wiederhole ich brav, und sie strahlt.

„Darf ich die Kirsche von deinem Kuchen haben?" fragt sie, und das Thema ist erledigt. Freundlich ignoriert sie den strafenden Einwand ihres Vaters, sie möge doch vom eigenen Teller essen, während es mir leider nicht gelingt, die Offerte meiner künftigen Schwiegermutter ebenso elegant an mir abperlen zu lassen.

„Nimmste du Kaffee, Rrrremus" sagt sie.

„Oh, nein danke" schlage ich tapfer die verlorene Schlacht. „Ich bin kein Kaffeetrinker."

„Iste beste Kaffee der Welt" sagt sie selbstbewusst. „Musste du versuchen."

Befehlston ist verhängnisvoll für mich. Ich bin der geborene Befehlsempfänger. Eine Tasse mit tintenschwarzem Zeug wird mir unter die Nase gehalten, die ich nur unter Auslassung jeglicher Höflichkeit nicht annehmen könnte. Ich nehme sie also und stelle sie ab. Die Menge entspricht etwa einer Einzeldosis Wolfsbann. Ich kann das schaffen.

Schon stähle ich mich innerlich, als der nächste Befehl folgt.

„Nimmste du Zucker" sagt Donna Anna und streckt mir die Zuckerdose entgegen. „Iste starke, italienische Kaffee. Muss schwarz und süß sein wie Sünde."

Ich denke, dass Zucker vielleicht nicht schaden kann, und nehme die Dose entgegen.

„Und den Schokorand?" fragt Laura, die mein Kuchenstück mittlerweile zu einem löcherigen Krümelarrangement umgestaltet hat.

„Nimm das, wenn du möchtest" sage ich und beobachte, wie sie zielsicher an ihrer Serviette vorbei greift, um sich die Fingerchen am Tischtuch abzuwischen. Gleich darauf hopst sie erschreckt auf ihrem Stuhl, und der Ligusterlärm erstirbt, als die Zuckerdose klirrend auf meinem Teller einschlägt, entzwei geht und die Kuchenreste unter einem weißen Zuckerberg begräbt. Ich habe sie fallen lassen, zusammen mit dem Zuckerlöffel, der aus Silber ist. Der Schmerz schießt mir den Arm hinauf und krampft meinen Magen zu einem harten Klumpen zusammen. Ich taumele von meinem Stuhl rückwärts und krümme mich über meiner Hand, auf der die Haut Blasen schlägt, dort, wo ich Idiot (steifer, britischer) mich, ohne nachzudenken, mit dem Löffel in Kontakt gebracht habe. Der Ligusterlärm schwillt wieder an, Verwirrung und Schreck modulieren die Tonlage, und ich zerknirsche mir schmerzhaft die Zähne, um mein Stöhnen zu schlucken. Dann ist Emilia an meiner Seite, sagt: „Silber?", und ich nicke verkrampft, und sie sagt „Mist, Mist, Mist", legt den Arm um mich und bringt mich rüber in die Küche, wo sie meine Hand unters kalte Wasser hält.

Die Kälte betäubt den Schmerz ein wenig, und ich komme zu Atem und zwinkere Tränen aus den Augen, was nur dazu führt, dass ich besorgte Gesichter unter der Tür wahrnehme, die offensichtlich auf eine Erklärung warten.

„Kontaktallergie" sage ich schwach. „Silber."

„Wow" sagt Daniele beeindruckt. „So was hab ich ja noch nie gesehen."

„Besonders schwere Fall" sage ich.

„Es tut mir so leid" sagt Emilia neben mir unglücklich. „Ich hab' nicht an den blöden Löffel gedacht. Nur an die Gabeln, und die waren ja in Ordnung…"

„Es ist nicht dein Job, daran zu denken" sage ich und drehe den Wasserhahn zu. Ein neuer, feurig roter Streifen ziert die Innenseite meiner Finger. „Ich war abgelenkt. Ich hätte besser aufpassen müssen."

Angela bringt ein Verbandspäckchen in knisternder Folie und ein paar Pflaster, sagt etwas kryptisch-süddeutsches und lächelt nett. Ich bedanke mich und lächle zurück, es geht noch etwas mühsam. Emilia macht mir einen Verband drum und gibt mir ein Küsschen auf die Hand, dort, wo es nicht weh tut. Ich halte sie ein wenig fest und überlege, heute Abend nach Nummer Zwölf zurück zu apparieren, nur für eine kurze Pause, eine ruhige Nacht, zum Atemholen, schließlich ist da noch die Schule und der Orden und Sirius und der Wolf, die alle ihren Teil von mir beanspruchen, und beansprucht bin ich dieser Tage wirklich, beansprucht wie mein altes Hemd, das in Nummer Zwölf hängt und an den Manschetten ausfranst. Aber dann denke ich doch wieder, dass ich am liebsten von allem ihr glückliches, entspanntes Gesicht sehen möchte und ihr nichts trüben, worauf sie sich seit Wochen gefreut hat, und wenn ich weiter dafür nichts tun muss als Kaffee trinken, mich mit kryptischem süddeutschem Dialekt herum schlagen und mich vor Relikten eines in Gänze verschollenen Familiensilbers hüten, ist das ein fairer Preis.

Es wird besser von da an. Niemand außer mir verliert ein Wort über die zerbrochene Zuckerdose, und auch ich lasse gehorsam vom Thema, als es mir befohlen wird („Hörste auf dich zu entschuldigen, Rrrremus, war nur eine blöde Zuckerding!"). Ich kann mich sogar um den Kaffee drücken, ohne dass es auffällt, und danach werde ich von den Kindern zum Spielen abkommandiert, und wir bauen Häuser und Autos aus winzigen Legosteinchen, die sich über den Wohnzimmerfußboden verteilen, als hätten sie ein Eigenleben. Gegen Ende des Nachmittags bin ich voll umfänglich informiert über Bob des Baumeisters trickfilmische Biographie, und Laura kann einen englischen Abzählreim fast fehlerfrei aufsagen, selbst Luis rezitiert mit Begeisterung: „Ente dibobei – wanzakoda fischerlei!" Wir sitzen ein wenig im Weg, da auf dem Fußboden, was sich auf Grund der Enge kaum vermeiden lässt, und gelegentlich kommt Angela vorbei, fragt etwas und deutet auf die Kinder, und ich lächle und nicke und verstehe kein Wort und habe ganz unbemerkt begonnen, mich wohl zu fühlen. Dann werden die Kinder langsam müde, und Daniele steckt sie in ihre Jacken und Mützen, während ich mit Angela eine gefühlte Million kleiner Legosteine vom gemusterten Teppich aufsammle, händisch, nicht magisch, denn die Kinder sollen ja nichts erzählen und die DiDios sind ohnehin uneingeweihte Muggel (erschreckend, welche Gräben diese Trennung durch eine Familie ziehen kann). Wir verabschieden uns; man wird sich am Samstag auf der großen Feier wieder begegnen; und dann klappen die Autotüren und sie knattern davon und hinterlassen die eigenartige Stille, die immer einsetzt, wenn Kinder nicht mehr da sind. DiDios verabschieden sich bald darauf unter Hinweis auf das Pizzageschäft, das angeschoben werden will, und ich verbleibe in angenehm übersichtlicher Situation mit Emilia, ihren Eltern, dezentem Kopfschmerz hinter der Stirn und der Hoffnung auf einen frühzeitigen Rückzug auf die Luftmatratze.

„Siehste du, Kind" sagt Donna Anna, die aus der Küche kommt und eine Schüssel im Arm hält.. „Habe ich extara gekocht für dich, bekommste du nicht in Engeland. Deine Lieblingsgericht."

„Ach, Mama" sagt Emilia, sichtlich gerührt. „Du bist so lieb. Bei all dem Stress stellst du dich noch in die Küche." Sie geht hin und hebt den Deckel der Schüssel, und dann passiert etwas Merkwürdiges: Sie lässt den Deckel fallen, der klirrend auf dem Schüsselrand aufschlägt, presst die Hand vor den Mund und stürzt an mir vorbei in das kleine Badezimmer, wo sie sich, dem Geräusch nach zu urteilen, übergibt.

„Was iste mit die Kind?" fragt Donna Anna, die mit ihrer Schüssel in der Küchentür zurück geblieben ist, verwirrt und sieht mich an, als wüsste ich die Antwort.

„Sorry" sage ich, hebe hilflos die Schultern und gehe nach Emilia sehen.

Die kommt gerade wieder in die Höhe und stöhnt. Ich nehme ein kleines Gästehandtuch vom Haken, halte es unters Wasser und gebe es ihr. Sie drückt mir ihre Brille in die Hand und vergräbt das Gesicht im Handtuch. Ich versuche, mir nicht vorzustellen, was in der Schüssel ist. Es gelingt mir nicht. Waren es nicht eigentlich die Engländer, die für glibberiges Zeug mit grünlicher Soße verschrien sind? Um mich abzulenken, praktiziere ich ein wenig stablose Magie und reinige Emilias Brille. Dann taucht sie aus dem Handtuch auf, nimmt mir die Brille ab, wirft einen Blick in den Spiegel über dem kleinen Waschbecken, gibt ein gequältes Stöhnen von sich und kippt gegen meine Brust.

„Ich seh' so scheiße aus" jammert sie erstickt. „Ich werde die einzige auf dieser Hochzeit sein, die scheiße aussieht."

Ich probiere ein paar Antworten durch: Aber nein, Liebes, da werden sicher noch andere sein, die sch... Hm. Aber nein, Liebes, du siehst großartig aus, auch wenn du gerade mit deinem Kopf aus dieser Schüssel… nein, auch nicht. Tatsächlich, Liebes, weißt du, ohne meine Brille kann ich das schlecht beurteilen. Puh. Ich befürchte, Ritter Remus steckt in einer dieser klassischen Situationen, in denen Mann nicht gewinnen kann.

„Wir diskutieren gerne dein Äußeres, wenn du dich dadurch besser fühlst, aber lass mich dann zuerst meine Brille holen" sage ich schließlich.

„Idiot" sagt sie, aber ich spüre, wie sie lächelt. Ich sage nichts. Ritter Remus, erstaunt und erfreut, so ungeschoren davon gekommen zu sein, sammelt sein Schwert auf und begibt sich eilig auf sicheren Grund: Nacken kraulen, Öhrchen küssen, Iloveyous murmeln und die auch so meinen, und simultan besorgte Ligusters abwimmeln, für die in dem winzigen Badezimmerchen wirklich kein Platz mehr ist. Schließlich macht Emilia sich von mir los, lächelt schief und dreht das Wasser auf, um einen Schluck zu trinken.

„Was ist nur los mit mir" sagt sie kopfschüttelnd. „Ich kenne mich gar nicht mehr, seit einiger Zeit."

„Es gäbe da eine ziemlich nahe liegende Erklärung" sage ich (es hat nichts mit Zauberei zu tun, und man muss auch kein Arithmantiker sein, um bei der Addition von eins und eins das richtige Ergebnis zu erzielen: drei, in diesem Fall, möglicherweise, die arithmantische Beweisführung hat noch ein paar Lücken). „Dir ist ziemlich häufig schlecht. Du entwickelst, sagen wir, originelle Ernährungsgewohnheiten. Du bist unausgeglichen…"

Sie wirft mir im Spiegel einen scharfen Blick zu.

„Nur ein wenig" versichere ich ihr. „Kaum spürbar. Nichts weiter als ein flüchtiger Eindruck."

„Sag's nicht" sagt sie.

„Aber warum nicht?" sage ich. „Es wäre doch wundervoll. Ich wäre der glücklichste Mensch auf der Welt."

„Ich will aber nicht drüber nachdenken, bevor ich nicht sicher sein kann" sagt sie. „Ich will mir die Enttäuschung ersparen, falls es doch nicht so ist."

Ich kann der internen Logik dieser Überlegung, falls eine vorhanden ist, nicht ganz folgen. Dem Wolf allerdings, der einen leichten Schlaf hat, seit wir auf freundliche Art miteinander verkehren (oder es zumindest versuchen), hebt den Kopf, schnüffelt an der Gefährtin und entwickelt den spontanen Drang, sie in eine Höhle zu zerren und sich am Eingang zu postieren, damit niemand ihr nahe kommen möge. Für einen Augenblick sehe ich mich knurrend unter der Badezimmertür sitzen.

„Was grinst du so?" fragt Emilia und sieht mich im Spiegel an.

„Nichts" sage ich. „Ich bin von Natur aus heiter."

„Aha" sagt sie.

„Was war denn nun in der Schüssel?" frage ich.

„Hältst du's für klug, mich daran zu erinnern?" sagt sie und verzieht das Gesicht. „Ich hatte eine Panna Cotta erwartet. Es war keine."

Später gebe ich meiner Neugier nach und lüfte den Deckel, der den Rücksturz auf die Schüssel unversehrt überstanden hat. Der Inhalt riecht nach Zitrone und Gewürzen. Es sind… ich gucke ein zweites Mal. Zwiebelringe… mit Tentakeln. In mundgerechte Häppchen geschnitten. Mit hübschen, kleinen Saugnäpfen dran.

„Oktopus-Salat" sagt mein Schwiegervater in spe durch das Küchen-Wohnzimmer-Fensterchen. „Traditionelles sizilianisches Rezept. Man legt ihn ein, und dann kocht man ihn etwa drei Stunden, damit er weich wird. Schade, dass sie's nicht mehr mag. Sie war früher ganz wild drauf."

„Das ist… schwer zu nachvollziehen" sage ich und denke, disgusting.

„Komm rüber" sagt Konrad. „Wir trinken noch ein Gläschen Wein, und dann lassen wir's gut sein für heute."

So machen wir es, und es ist friedlich und angenehm auf dem spinatgrünen Sofa, bis auf einen kurzen Zwischenfall, der sich ereignet, als ich Emilia ihr Weinglas vorenthalte und sie statt dessen mit Apfelsaft versorge, was mir ein gerüttelt Maß an Bemerkungen über gluckenhaftes Verhalten von ihrer Seite und einen messerscharfen Röntgenblick seitens Donna Annas einbringt. Ich kann immer noch nicht richtig damit umgehen, dass dies keine konventionelle Besuchs-Situation ist, wie überhaupt Konventionen in diesem Haus nicht bis kaum vorhanden zu sein scheinen. Jeder tut einfach das, wobei ihm am wohlsten ist: Konrad blättert müde in der Zeitung, Donna Anna geht Gästelisten durch und etwas, das aussieht wie eine Sitzordnung, Emilia lehnt in meinem Arm, lässt sich von ihrer Mutter etwas auf italienisch erzählen und sagt gelegentlich „Si", „No" und „Hmmm" und manchmal auch zweisilbige Worte, die ich nicht verstehe, und ich versuche noch, heraus zu finden, was mir das Wohlste wäre, ich kann nicht so plötzlich ohne gesellschaftliche Regeln, selbst wenn mir deren Abwesenheit ein überraschend angenehmes Gefühl der Zugehörigkeit vermittelt. Schließlich, weil der Böll außerhalb meiner Reichweite ist, so lange Emilia an mir lehnt, lasse ich mir den Teil der Zeitung abgeben, den Konrad schon gelesen hat, und genehmige mir einen Blick auf die deutsche Sichtweise der internationalen Lage, was mich, zusammen mit dem Rotwein, der ebenfalls aus Sizilien stammt, das Tentakelzeug aber um Längen schlägt, endgültig reif für die Luftmatratze macht.

Es wird noch einmal unangenehm für den steifen britischen Idioten, als er im Obergeschoss ein wild fremdes, grün-braun gefliestes Siebzigerjahre-Badezimmer benutzen muss, das voll gestopft ist mit allem, was der sorgenfrei lebende Zivilisationsmensch im Badezimmer nützlich findet. Es ist das Eindringen in das intime Herz eines fremden Reviers, das mich nervös macht, aber ich putze meine Zähne wie ein Mann und verberge meine Erleichterung, als ich mich schließlich in die Überbleibsel von Emilias Mädchenzeit zurück ziehen kann (die Männer mit den Gitarren werden nicht so finster drein blicken, wenn das Licht erst mal aus ist). Ich rolle mich auf der Luftmatratze zusammen, schließe die Augen und wünsche dem Wolf gute Nacht (wenn man schon eine gespaltene Persönlichkeit ist, kann man wenigstens höflich miteinander umgehen). Dann, ich bin schon fast eingeschlafen, wobbelt die Luftmatratze unter mir, und Emilia krabbelt unter meine Decke.

„Warum bist du nicht im Bett?" fragt sie.

„Knarzt" murmele ich.

„Und warum bist du nicht nackt?" fragt sie.

„I beg your pardon?" sage ich und reiße die Augen auf. Ich trage ein T-Shirt und… das nötigste, was man trägt, wenn man schläft, und… ach so. Schlafen ist nicht angesagt.

„Emilia" sage ich ein wenig überrumpelt. „Hör mal, es war ein langer Tag, und ich weiß nicht…"

„Sag bloß, du hast deine Migräne" sagt sie und lacht, und steckt ihre kalten Hände unter mein T-Shirt.

„Das nicht" sage ich, „aber… ich weiß nicht. Ich denke nur…"

„Denken ist ganz falsch" sagt sie und küsst meinen Mundwinkel, mein Kinn, meinen Hals.

„Ja" sage ich hilflos, „nur… ich meine, dies ist dein Mädchenzimmer. Du hast hier mit Puppen gespielt, und Hausaufgaben gemacht, und deine Eltern sind nebenan, und… ich kann das nicht abstrahieren."

„Ich hab hier nicht nur mit Puppen gespielt" murmelt sie und reibt sich an mir, dass die Luftmatratze leise schaukelt. „Da waren auch ein paar… sehr aufschlussreiche… Doktorspielchen dabei."

„Oh, Merlin" sage ich schwach. „Das hilft nicht wirklich."

„Natürlich nie mit einem richtigen, echten Doktor" sagt sie und streift das T-Shirt über meinen Kopf, ich bin gezwungen zu helfen, um einer Strangulation zu entgehen. „Das waren alles Dilettanten. Also bitte, Doktor Lupin, wenn Sie so freundlich wären…"

„Ich bin Arithmantiker, kein Mediziner" murmele ich. „Ich kann nur Zahlenspielchen."

„Ich weiß" sagt sie und lächelt gegen meinen Bauch. „One, two, three four, five…", ich bekomme fünf Küsschen, jeder davon ein bisschen tiefer als der vorige, „once I caught a wolf alive…"

„Fish" korrigiere ich, aber meine Stimme klingt nicht sehr überzeugend.

„Six, seven, eight, nine, ten" fährt sie unbeirrt mit ihrer Küsschen-Taktik fort, die, Männer mit Gitarren und dilettantische Doktorspielchen hin oder her, ihre Wirkung nicht verfehlt, „and never let it go again!"

Sie macht etwas mit mir, das meinen Atemrhythmus erheblich ändert, und gibt sich nicht die Mühe, ihren Triumph zu verstecken. Dennoch ist es eine sehr süße Niederlage, in die ich mich bereitwillig füge.

„Sei vorsichtig" sage ich ihr. „In der nächsten Strophe kommt was von beißen vor."

„Beiß mich ruhig" sagt sie, und ich beiße sie in den rechten kleinen Finger, wie der Reim es vorschreibt, und reimunabhängig noch hier und da, und besuche all die himmlischen Hügel und traumschönen Täler, die mein Zuhause geworden sind, oder mein Revier, und meine silbergepeinigte Hand heilt auf ihrer Haut.

oooOOOooo

Statistik:

Ungelöste Rätsel: eines (Lila?)

Unsanfte Landung: eine. Luftaustritt vermutlich durch romantische Interaktion beschleunigt.

Unvermuteter Wiederfund transparenter, scharfkantiger Legosteine auf dem gemusterten Boden: zwei. Aua. Warum eigentlich immer auf die Sockengänger?

Unausgeschlafener Kandidat für frühmorgendliche Apparitionsausflüge: ich, natürlich. (Welcher vernünftige Mensch kauft um zehn nach sechs Gummibärchen an der Tankstelle? Antwort: ich, davon ausgehend, dass Vernunft nichts ist, das sich durch vermutete Vaterschaft verliert)

Und wo liegt eigentlich die Oberpfalz?