Kapitel 2
Das erste Todesopfer
Tom Riddle fuhr erschrocken aus dem Schlaf. Ein Albtraum hatte ihn gepeinigt, einer, den er schon hundertmal gehabt haben musste und in dem es um seinen Vater ging, der ihn wieder und wieder verstieß.
Riddle wischte sich den Schweiß von der Stirn und setzte sich auf. Seine Schlafsaalgenossen schliefen alle noch, kein Wunder, es war mitten in der Nacht. Aber Riddle konnte und wollte jetzt nicht sofort wieder einschlafen. Zu deutlich sah er die Traubilder noch vor sich. Er stand auf und zog die Vorhänge rund um sein Bett zu. Dann entflammte er seinen Zauberstab, griff neben sich und zog seinen Taschenkalender hervor Er schlug ihn auf und begann im Lichtschein des Zauberstabes zu schreiben.
»Ich habe ihn wieder freigelassen! Oh ja, ich habe es wieder getan, und wieder und wieder. Er ist so ein gutes Haustier, so artig und versucht alles zu tun, was man von ihm verlangt! Aber dennoch, wir waren noch nicht erfolgreich. Noch haben wir die elenden Muggel nur erschreckt, noch haben wir niemanden vertrieben oder … Ja, noch leben sie alle. Aber ein Schrecken hat sich in Hogwarts ausgebreitet Etwas Schreckliches sei auf seinen Weg durch Hogwarts, sagen sie. Ja und sie haben Recht, etwas Schreckliches ist er und ich bin sein Meister. Ich kann ihn lenken! Ich habe die Macht über ihn! Und über alle, die verängstigt in der Schule hocken und sich gegenseitig Schauermärchen erzählen. Aber keiner ahnt was es wirklich ist. Sogar Schulleiter Dippet hat neuerdings Angst bekommen und steigt kaum noch aus seinem Büro herunter. Es ist erbärmlich, wie sie alle zittern.
Er wird langsam ungeduldig, ich habe ihn Ratten und andere Kleintiere fressen lassen, sein Appetit ist wirklich mächtig. Der ganze Tunnel ist schon übersäht mit Knochen. Ich muss ihm endlich etwas richtiges zu fressen geben…
Aber ich kann ihn nur bei Nacht rauslassen sonst mache ich mich verdächtig. Der einfältige Dumbledore, der seine spitze Nase überall reinstecken muss, hat sowieso schon ein Auge auf mich geworfen. Aber er kann keinen Verdacht haben, nein, tagsüber bin ich der vollkommene Tom. Aber nachts sind unsere Chancen einen Muggel zu kriegen gering.
…
Etwas anderes macht mir fast noch mehr Sorgen, bald sind Sommerferien. Ich werde nicht schon wieder in dieses Muggelwaisenhaus gehen. Niemals. Ich muss mir etwas einfallen lassen.«
Er hielt inne und las das eben Geschriebene noch einmal durch. Dann überlegte er eine Weile und klappte das Buch plötzlich energisch zu. Ihm war etwas eingefallen und mit einem zufriedenen Lächeln ließ er sich zurück in die Kissen gleiten. Er löschte seinen Zauberstab und schloss die Augen. Morgen würde er seine Idee in die Tat umsetzen.
Riddle raste mit wehender Robe die Treppe herunter. Sein Gesicht war zornig gerötet und er murmelte halblaut zahlreiche Verwünschungen. Dieser elende Muggel, der sich sein Vater nannte. Oh, wie ihn hasste!
Heute Morgen noch war Riddle so guter Laune gewesen, denn er hatte endlich eine Idee gehabt, wie er es umgehen konnte, nicht in den Sommerferien in das Muggelwaisenhaus gehen zu müssen. Er war nun 16 Jahre alt, Vertrauensschüler noch dazu, und so beliebt in der Schule, Schulleiter Dippet würde ihm bestimmt gestatten, über die Ferien in Hogwarts zu bleiben. Er hatte ihm einen Brief geschrieben, in dem er höflich darum bat. Den Brief hatte er eben dem Schulleiter gebracht, doch vorher war noch etwas geschehen, das ihn nun so in Zorn versetzte. Am Ende des Verwandlungsunterrichts war ihm der Brief aus der Schultasche gerutscht. Ausgerechnet eine Gryffindor hatte ihn vom Boden aufgelesen und auch noch gelesen. Sie hatte Riddle spöttisch, doch auch mitleidig angesehen und gefragt: »Du kommst aus dem Waisenhaus?«
Alle hatten ihn angestarrt und auch wenn die meisten ihn mitleidig angesehen hatten, war er trotzdem zornig geworden. Er konnte ihr Mitleid nicht leiden, sie wussten nicht wie das war, dorthin zu müssen. Er wollte nicht wie ein kleiner armer Waisenjunge angesehen werden, nein, er nicht. Doch genau das taten sie und Schuld an allem war nur sein Vater, sein gemeiner mieser Mugelvater, der ihm all das eingebrockt hatte. Riddle war fast außer sich vor Wut und rannte geradewegs auf die Mädchentoilette im letzten Korridor im 1.Stock zu. Er lief blindlings an den Kabinen vorbei und achtete nicht darauf, ob jemand darin war. Heute sollten es die Muggel büßen, alle! Er würde ihnen zeigen, dass sie ihn, den Mächtigen, nicht mitleidig ansehen brauchten.
Er zischte böse und der Eingang am Waschbecken öffnete sich. Riddle hörte nicht, dass sich in einer Kabine hinter ihm etwas bewegte und wie eine leicht weinerliche Stimme etwas fragte. Er zischte erneut, lang und anhaltend und schon hörte er, wie er sich herauf schlängelte. Die riesige Schlange erschien in der Rohröffnung und Riddle wollte ihr gerade neue Anweisungen geben, als sich eine Kabinentür öffnete. Ein plumpes Mädchen trat heraus, einen entrüsteten Ausdruck auf dem Gesicht, der nun großer Verblüffung wich. Sie starrte geradewegs in die gelben Augen des Basilisken und fiel auf der Stelle tot zu Boden. Riddle war herumgefahren und betrachtete stumm die Leiche auf dem Boden. Das Mädchen starrte mit glasigen leblosen Augen hinter einer dicken Perlmuttbrille an die Decke. Ihr ganzes Gesicht schien verheult, der Mund war noch immer in Verblüffung weit aufgerissen. Riddle stand eine ganze Weile über ihr und musterte sie. Er war kein bisschen mehr zornig. Er war auch nicht entsetzt über den toten Körper, der so plötzlich vor ihm lag. Stattdessen hatte sich in ihm ein Gefühl wie Genugtuung breit gemacht und er lächelte still vor sich hin. Das also war das erste Opfer. Es war wirklich leicht gewesen!
Der Basilisk hinter ihm schlenzte leicht mit dem Schwanz gegen seine Schuhe, so dass Riddle aus seinen Gedanken aufgeschreckt wurde. Plötzlich wurde er leicht unruhig. Er zischte der Schlange etwas zu und sie verschwand wieder in den Tiefen des Rohres. Riddle verschloss den Eingang und verschwand dann leise und ungesehen aus der Mädchentoilette. Er beeilte sich aus dem Korridor zu kommen, erst als er in den vorderen Fluren angekommen war, verlangsamte er seinen Schritt wieder. Er war noch nicht ganz an der Treppe, als er hinter sich einen lauten Schrei hörte und kurz darauf viele erschrockene Stimmen. Er lächelte erneut, stieg die Treppe herunter und verschwand im Gemeinschaftsraum, als wäre nichts geschehen.
Spät am Abend erhielt Riddle die Nachricht sich in Professor Dippets Büro einzufinden. Er erschrak leicht. Wusste man, dass er…? Nein, das konnte nicht sein. Trotzdem beschlich ihn ein ungutes Gefühl, als er sich auf den Weg zum Ostturm machte und schließlich vor das Büro des Schulleiters trat. Er klopfte an die Tür.
»Herein«, hörte er eine alte, schwache Stimme.
Riddle trat ein.
»Ah, Riddle», sagte der Schulleiter.
»Sie wollten mich sprechen, Professor Dippet?«, fragte er ein wenig nervös.
»Setzen Sie sich«, sagte Dippet. »Ich habe eben Ihren Brief gelesen.«
»Oh«, sagte Riddle. Er setze sich und klammerte die Hände fest zusammen.
»Mein lieber Junge«, sagte Dippet freundlich, »ich kann Sie unmöglich den Sommer über hier in der Schule lassen. Gewiss möchten Sie in den Ferien nach Hause?«
»Nein«, sagte Riddle sofort. »Ich würde viel lieber in Hogwarts bleiben als in dieses… in dieses…«
»Sie leben in einem Waisenhaus der Muggel, nicht wahr?«, fragte Dippet neugierig.
»Ja, Sir«, antwortete Riddle und errötete leicht.
»Sie stammen aus einer Muggelfamilie?«
»Halbblüter, Sir«, sagte Riddle mit zusammengebissenen Zähnen. »Vater Muggel, Mutter Hexe.«
»Und beide Eltern sind -?«
»Meine Mutter starb, kurz nachdem ich geboren wurde, Sir. Im Waisenhaus haben sie mir nur gesagt, sie habe mir noch meinen Namen geben können – Tom nach meinem Vater, Marvolo nach meinem Großvater.«
Mitfühlend schnalzte Dippet mit der Zunge. Riddles Blick verdüsterte sich.
»Die Sache ist die, Tom», seufzte Dippet. »Man hätte für Sie vielleicht eine Ausnahme machen können, aber unter den gegenwärtigen Umständen…«
»Sie meinen all diese Angriffe, Sir?«, fragte Riddle entsetzt.
»Genau«, sagte der Schulleiter. »Mein lieber Junge, Sie müssen einsehen, wie dumm es von mir wäre, wenn ich Sie nach Ende des Schuljahres im Schloss bleiben ließe. Besonders im Licht der jüngsten Tragödie … des Todes dieses armen kleinen Mädchens … In Ihrem Waisenhaus sind Sie bei weitem sicherer. Übriges überlegt man im Zaubereiministerium gerade, ob man die Schule schließen soll. Wir sind der – ähm – Quelle dieser Unannehmlichkeiten bisher keinen Schritt näher gekommen…«
Riddles Augen hatten sich geweitet.
»Sir, wenn diese Person gefangen würde – wenn alles aufhören würde -«
»Was meinen Sie damit?«, sagte Dippet mit einem Quieken in der Stimme und richtete sich in seinem Stuhl auf. »Riddle, wollen Sie sagen, dass Sie etwas über diese Angriffe wissen?«
»Nein, Sir«, sagte Riddle rasch und blickte zu Boden.
Dippet sank zurück und wirkte ein wenig enttäuscht.
»Sie können gehen, Tom…«
Riddle stand auf und ging aus dem Zimmer. Er ließ sich von der Wendeltreppe vor dem Büro hinabtragen und kam in einem dunklen Korridor heraus. Er hielt kurz inne und dachte angestrengt nach. Er biss sich auf die Unterlippe und hatte die Stirn in Falten gelegt. Dann fasste er einen Entschluss und stürmte los. Es würde jemand gefasst werden, oh ja!
Er begegnete niemanden, bis er die Eingangshalle erreicht hatte, wo ein großer Zauberer mit langen, wehendem, kastanienbraunen Haar und Bart von der Marmortreppe aus rief: »Was streunen Sie so spät hier herum, Tom?«
Riddle fuhr herum und erkannte Dumbledore, den Verwandlungslehrer. Er blickte ihn kalt an.
»Der Schulleiter wollte mich sprechen, Sir«, sagte er dann.
»Gut, nun aber rasch ins Bett«, erwiderte Dumbledore und starrte Riddle durchdringend an. »Jetzt sollte man lieber nicht in den Gängen umherwandern. Nicht, seit…«
Er seufzte tief, wünschte Riddle eine gute Nacht und schritt davon. Riddle wartete, bis er außer Sicht war, und ging dann mit raschen Schritten die steinernen Treppe zu den Kerkern herunter. Er lief zum Zaubertrankzimmer und öffnete die Tür. Drinnen waren die Fackeln gelöscht worden und Riddle stellte sich dicht hinter die Türe, die er bis auf einen kleinen Spalt zugezogen hatte, und wartete. Er war wie versteinert und es schien eine Ewigkeit zu verstreichen. Aber Riddle wusste genau, dass jemand kommen würde. Er hatte ihn oft genug beobachtet, den riesenhaften Tölpel aus Gryffindor, wie er hier runter schlich. Er versteckte irgendetwas hier unten, Riddle wusste zwar nicht was, aber er war sich sicher, dass es irgendein Monster war, denn es war Schulintern bekannt, dass Rubeus Hagrid aus Gryffindor eine Vorliebe für Monster hatte. Er war schon oft erwischt worden, wie er in den Verbotenen Wald geschlichen war, um dort mit Trollen zu raufen. Im letzten Jahr hatte er versucht Werwolfsjunge unter seinem Bett zu verstecken. Es war garantiert, dass er auch hier unten nichts Harmloses versteckt halten würde.
Jemand kroch den Gang entlang, Riddle konnte ihn am Kerker vorbei hören gehen. Stumm wie ein Schatten glitt er durch die Tür und schlich ihm nach. Etwa 5 Minuten folgte er den Schritten, bis er plötzlich anhielt und den Kopf neigte. Geräusche drangen an sein Ohr, eine Tür knarrte als sie geöffnet wurde und eine raue Stimme flüsterte: »Komm … muss dich hier rausbringen … komm jetzt … in die Kiste…«
Riddle machte einen Sprunge um die Ecke und stand vor dem Umriss eines riesigen Jungens, der vor einer offenen Türe kauerte, neben sich eine große Kiste.
»Schönen Abend, Rubeus«, sagte Riddle mit schneidender Stimme.
»Was machst du denn hier, Tom?«
Riddle trat näher.
»Es ist aus«, sagte er. »Ich muss dich anzeigen, Rubeus. Man spricht schon darüber, Hogwarts zu schließen, wenn die Angriffe nicht aufhören.«
»Was m-meinst -«
»Ich glaube nicht, dass du jemanden töten wolltest. Aber Monster geben keine guten Haustiere ab. Ich denke, du hast es nur zum Üben rausgelassen und -«
»Es hat nie keinen umgebracht!«, sagte der riesige Junge und wich gegen die geschlossene Tür zurück. Dahinter war ein merkwürdiges Rascheln und Klicken zu hören.
»Mach schon, Rubeus«, sagte Riddle und trat noch näher. »Die Eltern des toten Mädchens kommen morgen. Das Mindeste, was Hogwarts tun kann, ist, dafür zu sorgen, dass das Wesen, das sie getötet hat, geschlachtet wird…«
»Er war es nicht!«, polterte der Junge, und seine Stimme hallte in dem dunklen Gang wider. »Er würd's nie tun! Er nie!«
»Geh zur Seite«, sagte Riddle energisch und zückte seinen Zauberstab.
Sein Zauberspruch tauchte den Gang jäh in flammendes Licht. Die Tür hinter dem riesigen Jungen flog mit solchen Wucht auf, dass sie ihn an die Wand gegenüber warf: und heraus drang etwas Riesiges, ein lang gezogener, haariger Körper und ein Gewirr schwarzer Beine; ein Glimmen vieler Augen und ein Paar rasiermesserscharfe Greifzangen – noch einmal hob Riddle seinen Zauberstab, doch es war zu spät. Das Wesen warf ihn zu Boden und krabbelte den Gang entlang davon und verschwand. Riddle rappelte sich auf und sah ihm nach, doch der riesige Junge stürzte sich auf ihn, packte seinen Zauberstab und warf ihn laut schreiend zu Boden: »NEIIIIIIIN!«
Riddle konnte sich nicht wehren, der Junge hatte enorme Kräfte, die sich jetzt noch zu verstärken schienen. Er brüllte erneut auf und schüttelte Riddle unsanft hin und her. Dabei traten ihm dicke Tränen in die käferschwarzen Augen und er sah Riddle vorwurfsvoll an.
Der Junge schüttelte Riddle immer noch, als es im Gang hinter ihnen plötzlich taghell wurde. Schnelle Schritte waren zu hören und Professor Dumbledore erschien, ihm dicht auf den Fersen Schulleiter Dippet. Sie schienen entsetzt über das was sie sahen, und Dumbledore beeilte sich, den riesigen Jungen von Riddle wegzuziehen. Riddle wich erleichtert ein paar Schritte nach hinten und rieb sich die schmerzenden Stellen, an denen der andere ihn gepackt hatte. Dippet hatte die Augen weit aufgerissen und er wandte sich aufgeregt an Riddle: »Riddle, was tun Sie hier? Was ist geschehen, wer hat geschrieen?«
»Sir, ich habe … ich habe ihn entdeckt«, stotterte Riddle, bevor er mit fester Stimme verkündete: »Ich habe Rubeus Hagrid erwischt, wie er das Monster freilassen wollte. Das Monster, das alle in Hogwarts angegriffen und das Mädchen getötet hat.«
Dippet erstarrte.
»Rubeus Hagrid aus Gryffindor? Er hat das Monster-«
»NEIN!«, heulte Hagrid erneut los. »Er war's nicht, nein!« Jetzt kullerten ihm tatsächlich Tränen die Wangen hinunter. Er machte einen ganz erbärmlichen Eindruck.
Dippets Gesicht jedoch hatte sich versteinert.
»Wo ist das Monster jetzt, Riddle?«, fragte er angespannt.
»Es ist weg, Sir. Geflohen. Es muss auf direkten Weg aus dem Schloss gerannt sein«, berichtete Riddle eilfertig.
Hagrid schluchzte erneut auf. Dippet strafte die Schultern und blickte ihn fassungslos an.
»Sie wissen, Hagrid, was das für sie bedeutet-«
»Direktor«, unterbrach ihn Dumbledore, der bis jetzt schweigend zugehört hatte. »Sollten wir alles weitere nicht in ihrem Büro klären?«
Dippet nickte verwirrt. »Ja, tatsächlich, das sollten wir. Ich gehe voraus.«
Damit drehte er sich um und marschierte den Gang hinauf. Dumbledore folgte ihm, wobei er Hagrid fest bei den Schultern gepackt hielt und vor sich her schob. Auch Riddle wandte sich um und wollte den beiden folgen, doch Dumbledore drehte sich noch einmal zu ihm um.
»Sie können zu Bett gehen Riddle. Ich denke, wir haben alles von Ihnen gehört, was wir wissen müssen. Gute Nacht!« Damit drehte er sich um und verschwand mit Hagrid um die Ecke. Riddle blickte ihm hasserfüllt nach.
